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Abby Summers fliegt nach Haiti:
Die Leiche ihrer Schwester ist verschwunden.
Die Behörden verweigern jede Auskunft.
Da taucht ein geheimnisvoller Fremder auf...
Als Abby Summers nach Haiti fliegt, um den Leichnam ihrer Schwester Linda nach England zu überführen, erwartet sie am Anfang noch, eine Insel voll karibischen Flairs vorzufinden. Tatsächlich aber taucht sie in eine Welt ein, die von Chaos, Elend und Korruption reagiert wird. Lindas Leichnam ist verschwunden, die Behörden sind keine Hilfe. Mutig macht sich Abby selbst auf die Suche, um bald darauf festzustellen, dass es nicht nur wilde Voodoopraktiken sind, die diese Insel in der Karibik zur Hölle machen.
"Ein packender, minutiös recherchierter Thriller, der den Leser nach Haiti entführt und damit in eine Welt, von der man kaum fassen kann, dass sie - hier! heute! - neben der existiert, die wir kennen. Vergessen Sie, was Sie über Voodoo zu wissen glaubten. Alles."
Andreas Eschbach
"Rainer Wekwerth hat einen Debütroman der Sonderklasse geschrieben. Straff organisierter Plot, packende Spannung und realitätsnahe Hintergrundschilderungen eines ungewöhnlichen Schauplatzes in der Karibik findet der Leser in "Traumschlange". Die Figuren des Thrillers überzeugen durchweg. "Traumschlange" fesselt von der ersten bis zur letzten Seite."
Yahoo News
Rainer Wekwerth
Traumschlage
1. Loa
7. Juli, Haiti
Das Gesicht des alten Mannes sah aus wie gegerbtes Leder. Ein Eindruck, der noch verstärkt wurde, als er den Kopf zum Wolken verhangenen Himmel hob, die Nasenlöcher blähte und geräuschvoll die Luft einsog.
Sein Körper war hager und pendelte auf seinen ständig gekrümmten Knien beim Gehen nach links und rechts. Er wirkte wie ein Seemann, der zum ersten Mal seit Monaten wieder festen Boden unter den Füßen hatte, als er sich gegen den heftigen Wind stemmte und den Berg hinaufstapfte, den er sich für das bevorstehende Ritual ausgesucht hatte.
Seine Kleidung, ein abgetragener dunkler Anzug von unbestimmter Farbe, den er über der bloßen, schwarzen Haut trug, schlotterte an ihm. An den Füßen waren zerschlissene Sandalen befestigt. Er wirkte arm und war dennoch einer der reichsten Männer dieses Landes. Wie alle Menschen der Karibikinsel versuchte er nicht, die Aufmerksamkeit der Götter auf sich zu lenken, vom Neid seiner Nachbarn ganz zu schweigen.
Er war ein Hungan, ein mächtiger Voodoo-Priester. Dies war das Land der Magie, der schwarzen Magie - Haiti. Die Insel, die sich die Loa, Gottheiten und Dämonen, ausgesucht hatten, um ihr Wirken in die Welt zu tragen und einen Pakt mit den Menschen einzugehen. Die Einwohner seines Dorfes nannten ihn ehrfurchtsvoll Bokor, was soviel wie ‚schwarzer Zauberer’ bedeutete. Bei diesem Gedanken glitt ein Lächeln über sein faltiges Gesicht. Dies waren alles Bezeichnungen für etwas, das nicht zu bezeichnen war. In ihm lebte die Macht der alten Götter Afrikas, von verschleppten Sklaven nach Haiti gebracht und über viele Generationen hinweg bewahrt.
Der Name des Alten war Arthur Baptiste. Hätte man ihn nach seinem Alter gefragt, hätte er nur den Kopf geschüttelt und zahnlos gegrinst. Zeit war etwas so Unbedeutendes. Leben entstand und verging wieder, das war der Lauf der Welt von Anbeginn an. Was machte es für einen Sinn, die Ewigkeit messen zu wollen?
Der Wind wehte nun landeinwärts und seine Schritte wurden beschwerlicher. Der Pfad, dem er folgte, bestand aus festgetretenem Lehm und kroch einer Schlange gleich den Hügel hinauf. Seine Füße scheuerten gegen den Bast der Sandalen, aber er beachtete den aufkommenden Schmerz nicht.
Ich werde alt, dachte er. Nein, ich bin alt. Ein alter Mann.
Noch vor wenigen Jahren wäre dieser Marsch keine Anstrengung für ihn gewesen, aber seit er sich im letzten Winter eine schwere Bronchitis zugezogen hatte, verließ ihn seine körperliche Kraft zusehends.
Es wird Zeit, dass ich mich zurückziehe und die Aufgaben eines hungan an meinen ältesten Sohn übergebe, grübelte er.
Aber innerlich wusste der Alte, Charles war noch nicht so weit. Die zobop, die geheime Gemeinschaft der hungan, der er angehörte, würde seinen Sohn nicht akzeptieren. Noch war Charles nur ein hunsi. Er hatte die Initiationsriten durchlaufen und assistierte ihm, aber er war noch kein Priester. Es mochten noch Jahre vergehen, bis es soweit war.
Baptiste seufzte laut und lenkte seine Gedanken wieder auf das bevorstehende Ritual. Ein unangenehmer Nieselregen setzte ein und weichte seine Kleidung auf. Der beständige Druck in seiner schmächtigen Brust nahm noch zu, trotzdem beschleunigte er seine Schritte.
Endlich hatte er es geschafft. Erschöpft ließ er sich neben dem knorrigen Stamm eines Mahaudeme-Baumes zu Boden sinken.
Hier würde er die Vorbereitungen für die Zeremonie treffen, die seinen fürchterlichen Ruf aufs Neue festigen würden.
Sein Atem ging keuchend, der Pulsschlag ließ seine geschlossenen Augenlider beben. Trotzdem spürte er die Macht des Baumes, dessen Holz viel Blut enthält.
Als er wieder zu Kräften gekommen war, kramte er aus einem ausgebleichten Leinensack verschiedene tönerne Schalen und mehrere Beutel mit geruchlosem, unterschiedlich gefärbten Pulvern hervor, die er gleichmäßig auf die flachen Gefäße verteilte. Er spuckte auf die Erde und stellte die Schalen vor sich auf dem Boden, dass sie ein magisches Muster bildeten. Nun wurde es Zeit, die loa anzurufen, aber zuerst musste er noch zu legba, dem Gott, der die Schranken öffnet, sprechen und ihn begrüßen. Seine Stimme begann langsam den uralten Gesang zu flüstern.
Atibô-Legba, l’uvri bayè pu mwê, Agoé!
Papa-Legba, l’uvri bayè pu mwê
Pu mwê pasé
Lò m’a tunê, m’salié loa-yo
Vodu Legba, luvri bayè pu mwê
Pu mwê sa râtré
Lò m’a tunê m’a rémèsyé loa-yo, Abobo.
Atibon-Legba, öffne mir die Schranke, agoé!
Papa-Legba, öffne mir die Schranke
Damit ich passiere
Wenn ich zurückkehre, werde ich die loa grüßen
Voodoo-Legba, öffne mir die Schranke
Damit ich eintrete
Wenn ich zurückkehre, werde ich den loa danken, Abobo.
Das Rascheln der Blätter im Wind verriet ihm, dass legba seinem Anliegen wohl gesonnen war. Nun musste er noch mit den Göttern sprechen, dann konnte er das Gift für die blanc, die weiße Frau mischen.
2. Der Brief
12. Juli, London
Abby Summers humpelte mit ihrem Gipsfuß durch die Galerie, bis sie vor einem offenen Schaltkasten stand, der eine Vielzahl von farbigen Drähten beinhaltete. Sie kratzte sich nachdenklich am Ohr. Dieses Ohrenkratzen war fast eine Manie. Immer wenn sie nachdachte, musste sie sich kratzen.
Habe ich an alles gedacht?, fragte sie sich selbst mit lautloser Stimme. Sie blickte an ihrem Körper hinunter und betrachtete den weißen Gips, der unter ihrer Arbeitshose hervorragte, als wisse er die Antwort. Den Fuß hatte sie sich vor vier Wochen angebrochen, als sie die Lichtinstallation eines Kaufhauses überprüft hatte, ohne sich abzusichern.
Sie legte den Lichtschalter um. Versteckte Strahler tauchten die Galerie in eine Komposition aus Hell und Dunkel, in eine Symphonie aus Licht und Schatten. Zufrieden lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand, verschränkte Arme und Beine und begutachtete ihr Werk.
Die Kegel der Scheinwerfer erhellten die Skulpturen, ließen sie plastisch, beinahe lebendig erscheinen und den Hintergrund des Raumes verschwinden. Robert Ternham, ihr Auftraggeber und Besitzer der Galerie Ternham Ternham, würde hoffentlich genauso viel Gefallen an den Lichtinstallationen finden wie sie, aber eigentlich hatte sie daran keinen Zweifel.
Sie hatte schon früher für ihn gearbeitet und er hatte sich stets als umgänglich erwiesen, ließ sich gern von ihren Vorschlägen überzeugen, selbst wenn er ursprünglich andere Vorstellung gehabt hatte.
Als studierte Innenarchitektin hatte sich Abby selbst nach drei Jahren Selbstständigkeit noch immer nicht daran gewöhnt, dass ihre Pläne von den Kunden abgeändert wurden. Ihre Vorstellung von Innenarchitektur deckte sich nur selten mit den Wünschen der Kundschaft. Da es ihr widerstrebte eine Arbeit abzuliefern, die sich nicht mit ihrer Vorstellung von Design deckte, war die Anzahl ihrer Kunden zusammengeschmolzen. Nun litt sie unter Geldmangel, während die Banken auf Rückzahlung der gewährten Kredite drängten.
Der Auftrag von Ternham Ternham war genau zum richtigen Zeitpunkt hereingekommen. Sie hatte keinen Augenblick gezögert, ihn anzunehmen. Die Umbauten der Galerie hatten mehr als drei Wochen in Anspruch genommen, aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen.
Die Handwerker waren am Tag zuvor fertig geworden, aber Abby hatte gewartet, um die endgültige Wirkung ihres Entwurfs allein zu begutachten. Dies war ein Moment, den sie stets genoss. Wenn alle Arbeiten beendet waren und das Objekt zum ersten Mal in noch jungfräulichem Licht erstrahlte.
Sie hörte, wie die Tür im Eingangsbereich geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen wurde. Leise Schritte näherten sich über den hellen Marmor, den sie für den Boden ausgesucht hatte. Sie wandte den Kopf und blickte in Robert Ternhams lächelndes Gesicht. Kurz vor ihr blieb der Galeriebesitzer stehen und drehte sich mit ausgebreiteten Armen bewundernd um die eigene Achse.
„Wunderbar!“, rief er begeistert aus. „Einfach wunderbar!“
„Es gefällt Ihnen?“
Sein Blick barg milde Ironie. „Gefallen? Es ist phantastisch.“
Er trat einen Schritt näher und legte ihr seine schmale Hand auf die Schulter. Normalerweise waren Abby solche Vertraulichkeiten zuwider, doch sie mochte Ternham. Er war ein gut aussehender, schlanker Mann in den Vierzigern, der ihrem Lieblingsmusiker Sting ähnelte, mit langen blonden Haaren und Gesichtszügen, die ein wenig feminin wirkten. Über seiner rechten Oberlippe hatte er eine halbmondförmige Narbe, die wie ein winziges Lächeln wirkte.
Ternham war die Art von Mann, die Abby gefiel, aber sie wusste, sie brauchte sich keine Hoffnung machen, denn Ternham war schwul. Schon mehrfach hatte sie beobachtet, wie sein Lebensgefährte ihn abends von der Galerie abholte und dabei ungeniert auf den Mund küsste. Zuerst war sie darüber schockiert gewesen, dennoch beneidete sie die beiden insgeheim um ihr Glück. Sie selbst war seit einem Jahr Single und hasste das Alleinsein.
„Was halten Sie von den Figuren?“, fragte Ternham.
„Sie möchten meine Meinung wissen?“
„Ja.“
Abby ließ ihren Blick in die Runde schweifen, obwohl sie die Skulpturen in den letzten Wochen schon hundertfach betrachtet hatte.
Manray Adams arbeitete ausschließlich mit Holz, das er bearbeitete und polierte, aber niemals lackierte. Er wollte die Struktur des Materials erhalten, die seinen Figuren, die selten höher als dreißig Zentimeter waren, ein merkwürdiges Eigenleben einhauchte. Seine Werke waren abstrakt, aber dennoch so gegenständlich, dass man sie interpretieren konnte.
Eine Skulptur hatte es Abby besonders angetan. Es war die vereinfachte Darstellung einer Frau, ohne Kopf und Gliedmaße. Der Künstler hatte die Form auf die schlichte Linie des weiblichen Rückens reduziert, die sich sanft von einem imaginären Hals bis zum Steiß schwang. Ohne sich dessen bewusst zu werden, vollendete der Betrachter im Geist, was der Künstler nur angedeutet hatte. Die Figur war atemberaubend. Abby war während ihrer Arbeit in der Galerie immer wieder fasziniert vor dem Sockel stehen geblieben, auf dem die ‘Venus’ befestigt war. Auch jetzt berührte das Werk etwas in ihrem Inneren, von dem Abby wusste, dass es da war, das sie aber trotzdem nicht benennen konnte.
„Er ist ein großartiger Künstler“, sagte sie leise zu Ternham. „In seiner Arbeit ist Wahrhaftigkeit erkennbar. Leid ist Leid, Freude ist Freude. Es gibt nichts Dazwischen. Die Wahrheit existiert in einer Klarheit, die schwermütig macht. So sollte das Leben sein und ist es doch nie, denn das Leben ist grau, niemals schwarz oder weiß und dass macht es so eintönig.“
Ternham lächelte und sie schwieg verlegen. „Sie haben recht. Ich beurteile seine Werke genauso.“ Sein Blick durchforschte ihr Gesicht. „Sie haben eine erstaunliche Beobachtungsgabe.“
Abby sah auf ihre Armbanduhr. „Jetzt muss ich aber gehen.“ Sie erhob sich, griff nach ihrem Werkzeuggürtel und ging zur Tür. Dort zögerte sie einen Moment.
„Danke für den Auftrag.“
Bevor der Galeriebesitzer etwas erwidern konnte, war Abby verschwunden.
Abby hielt den Brief in ihren Händen und starrte ihn stumm an. Sie stand im Eingang ihres Hauses, die Einkaufstüten neben sich auf den Boden gestellt und fixierte den schlichten grauen Umschlag an. In der rechten oberen Ecke klebte eine bunte Briefmarke mit tropischem Pflanzenmotiv, ansonsten sah der Umschlag aus wie Tausende andere Umschläge auch. Und trotzdem, das Papier ließ ihre Hände zittern und ihre Finger feucht werden. Sie hatte den Brief zwar noch nicht geöffnet, aber sie wusste, dass der Inhalt ihr Leben verändern würde. Ab jetzt musste die Zeit in ein ‘davor’ und ein ‘danach’ eingeteilt werden. In eine Zeit vor und nach diesem Brief.
Der Stempel auf der Briefmarke verriet als Absendeort Port-au-Prince, Haiti. Ihre Schwester Linda arbeitete und lebte seit über einem Jahr auf der tropischen Insel, aber dieser Brief war nicht von ihr. Die Adresse war mit Maschine geschrieben, etwas dass Linda nie tun würde. Außerdem sprachen sie nicht mehr miteinander. Linda hatte England im Streit verlassen. Der Grund war ein Mann gewesen. Peter, Lindas Verlobter, hatte sich auch für Abby interessiert, aber obwohl sie ihm immer wieder zu verstehen gegeben hatte, dass ein Verhältnis mit ihm für sie nicht in Frage kam, hatte er sie weiter bedrängt. Auf Lindas Abschiedsparty war es dann zum Eklat gekommen. Peter hatte zuviel getrunken und Abby auf dem Weg zur Toilette abgepasst. Zunächst hatte er nur auf sie eingeredet, aber dann hatte er sie gepackt und gegen ihren Willen geküsst. Als sie sich endlich von ihm befreien konnte, stand sie plötzlich Linda gegenüber. Das Gesicht ihrer Schwester war aschfahl gewesen, die Lippen hatten stumm gezittert, dann hatte sie Abby geohrfeigt, sich abgewandt und das Haus verlassen. Am nächsten Tag war Linda nach Haiti geflogen. Abbys Briefe, in denen sie die Situation zu klären suchte, waren alle ungeöffnet zurückgesandt worden.
Seit diesem Vorfall gab es keinen Kontakt mehr zwischen ihnen, aber nun hielt sie einen Brief aus Haiti in ihren zitternden Händen und ahnte, dass Linda tot war.
Die Luft im Hausgang schien kühler geworden zu sein. Obwohl es Sommer war, fröstelte Abby. Ihr Asthma meldete sich ohne Vorwarnung. In letzter Zeit hatte die Anzahl der Anfälle zugenommen, aber besonders schlimm wurde es nur, wenn sie unter psychischen Druck oder in Stresssituationen geriet. Dann hatte sie das Gefühl zu ersticken.
Abby griff in ihre Jackentasche und zog das Sedacanol heraus. Sie schob sich die Plastiköffnung in den Mund und drückte heftig den kleinen Metallbehälter des Medikaments hinunter. Sekundenlang stand sie mit geschlossenen Augen, den Rücken an die Wand gelehnt und wartete auf die Wirkung des Medikaments.
Als ihr das Atmen wieder leichter fiel, seufzte sie tief auf.
Eines Tages wird es vielleicht nicht mehr wirken, dann werde ich ersticken.
Sie hatte panische Angst bei der Vorstellung, wie ein gestrandeter Fisch, auf dem Boden zu zappeln und auf den Tod zu warten.
Abby steckte den Brief in die Tasche ihrer Jeans, hob die Tüten auf und ging die zwei Stockwerke zu ihrem kleinen Apartment hinauf. Es dauerte einen Moment bis sie den Schlüssel im Schloss hatte, um dann mit dem Ellbogen die Tür aufzustoßen.
Sie brachte den Einkauf in die Küche und räumte die Lebensmittel in den Kühlschrank. Erst dann nahm sich Abby Zeit für den Brief. Sie setzte sich in den abgewetzten Ohrensessel, den sie von ihrer Großmutter Justine geerbt hatte und legte den Gipsfuß auf einen gepolsterten Schemel. Das Papier raschelte eigenartig, als sie den Umschlag aufriss und danach den schlichten grauen Briefbogen entfaltete.
Sehr geehrte Miss/ Mrs. Summers,
wir bedauern, Ihnen den Tod Ihrer Schwester Linda mitteilen zu müssen. Sie verstarb am 23.Juli 2003 um 9.30 Uhr nach einer plötzlichen Fiebererkrankung im Krankenhaus St. Lucie, Port-au-Prince. Ihr Leichnam wurde in Übereinstimmung mit den hiesigen Landesgesetzen noch am gleichen Tag beerdigt.
Eine Überprüfung aller Angaben und die Einsicht in die Krankenhausunterlagen haben ergeben, dass die verantwortlichen Ärzte alles in ihrer Macht stehende getan haben, um das Leben Ihrer Schwester zu retten. Eine Kopie, der polizeilichen Untersuchung liegt diesem Schreiben bei.
In dieser schweren Stunde wird es kein Trost für Sie sein, aber die Krankheit Ihrer Schwester war nur von kurzer Dauer und sie verstarb, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.
Herzliches Beileid.
Britische Botschaft Haiti, Port-au-Prince
Die hingeworfene Unterschrift war nicht zu entziffern. Sicherlich hatte der Beamte, der Ihr diesen Brief geschrieben hatte, den Vorfall inzwischen längst vergessen.
Ihre Gedanken schwammen auf einem trägen Fluss. Linda, tot? Sie erkannte die Wahrheit hinter diesen zwei Worten, war aber nicht bereit, die Tatsache zu akzeptieren.
Konnte es wirklich sein, dass Linda nie wiederkommen würde, dass sie nie wieder mit ihrer Schwester Arm in Arm durch die Portobello-Road schlendern würde? Abby wusste, dass Linda nicht zurückkommen würde.
Niemals wieder.
Unbewusst fasste sie an ihre rechte Hüfte. Ihre Finger ertasteten die schmale, zehn Zentimeter lange Narbe. Die Narbe stammte von einer Organtransplantation. Abby hatte in ihrer Jugend an Niereninsuffizienz gelitten, einer schweren Krankheit und nur eine Transplantation hatte ihr helfen können. Linda hatte sich ohne zu zögern bereit erklärt, eine ihrer Nieren zu spenden. Dass Abby heute ein normales Leben führen konnte, hatte sie Lindas Selbstlosigkeit zu verdanken.
Nun war ihre Schwester tot.
Und sie würde ihre Schuld niemals abtragen können.
Als dieser Gedanke ihr Bewusstsein streifte, kam der nächste Asthmaanfall. Er dauerte zwei Stunden.
Die nächsten Tage verschwammen zu einem Traum, zu einer Reise zwischen den verschiedenen Ebenen ihres Bewusstseins. Abby hätte nicht sagen können, wann sie wach war und wann sie schlief. Bilder aus ihrer Kindheit blitzten auf und verschwanden wieder, sobald sie sich darauf konzentrierte. Es war wie in einem Kino, auf dessen einziger Leinwand mehrere Filme gleichzeitig abliefen. Benommen wandelte sie, einem Geist gleich, durch die kleine Wohnung, ließ das Telefon klingeln, ohne den Hörer abzunehmen und öffnete die Tür nicht, wenn es schellte.
In regelmäßigen Abständen überfielen Abby Weinkrämpfe, denen sie sich widerstandslos ergab. Oft lag sie zusammengekrümmt auf dem Boden, ein zerknittertes Foto von Linda in ihrer Hand.
Dieser erste Abschnitt der Trauer endete nach achtundvierzig Stunden, als alle Tränen versiegten. Dann kam der Zorn. Linda war gestorben. Nun war sie ganz allein in dieser kalten Welt. Zuerst ihr Vater, dann ihre Mutter und nun auch noch Linda. Alle hatten sie verlassen.
In ihrem Kopf hatte sich ein Gedanke festgesetzt. Ja, er quälte Abby regelrecht, flüsterte mit einer ohrenbetäubenden Stimme, die sie nicht ignorieren konnte.
Hol sie heim! Hol Linda heim!, wisperte die Stimme unaufhörlich. Schließlich gab sich Abby diesen Worten hin. Linda war in einem fremden Land, unter einem fremden Himmel begraben worden. Abby beschloss, ihre Schwester heimzubringen, damit sie ihre letzte Ruhestätte neben ihrer Mutter finden konnte.
Diese Entscheidung gab ihr neue Kraft, milderte den Schmerz und dämpfte ihren Zorn. Es war eine Geste der Versöhnung mit der Verstorbenen. Es war etwas, dass Abby tun musste, um zu überleben.
Ihr Vorhaben erwies sich schwieriger als erwartet. Abby verbrachte Stunden am Telefon, rief verschiedene Regierungsstellen an, bis man sie schließlich an das Auswärtige Amt verwies. Am nächsten Morgen nahm sie ein Taxi, um den Antrag auf Rückführung des Leichnams ihrer Schwester zu stellen.
Ein kleinwüchsiger Beamter in mittleren Jahren, dessen spärlicher Haarkranz ihn wie einen Dominikanermönch wirken ließ, las Linda Summers Sterbeurkunde und erklärte, Abby müsse sich zuerst eine Genehmigung vom Staatlichen Gesundheitsamt besorgen, das ihr die Einführung des Leichnams erlaubte.
Sie suchte die entsprechende Behörde auf und musste sich einen halbstündigen Vortrag über Infektionsgefahren und Bestimmungen anhören, bevor man ihr die gewünschte Genehmigung erteilte. Zudem erhielt sie die Auflage, dass der Leichnam in einem verzinkten, feuerfesten und verschlossenen Sarg transportiert und ungeöffnet beerdigt werden müsse.
Zurück beim Auswärtigen Amt nahm ihr der zwergenhafte Beamte das Formular ab. Sein runder Kopf hob sich, nachdem er den Stempel zum letzten Mal auf das Papier geschmettert hatte.
„Sie wissen, dass Sie den Antrag persönlich in Haiti bei den entsprechenden Behörden einreichen müssen, da dieses Land einer Freigabe des Leichnams sonst nicht zustimmen wird.“
„Ich soll nach Haiti fliegen?“, fragte Abby entsetzt.
„Wenn Sie ihre Schwester hier bestatten wollen, wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben.“
„Sehen Sie das!“, zischte Abby und hob ihren Gipsfuß an, dass ihn der Mann hinter dem Schreibtisch sehen konnte. „Ich habe einen gebrochenen Fuß. Kann nicht die Botschaft...?“
„Nein“, stellte der Mann lapidar fest.
Abby stöhnte auf. „Und wo bekomme ich einen verzinkten, feuerfesten Sarg für den Transport?“
Der Beamte zuckte mit den Schultern und wandte sich einer ältere Frau mit Perücke zu, die seit geraumer Zeit hinter Abby stand.
Wütend verließ Abby das große Gebäude und nahm die U-Bahn nach Hause. Von dort führte sie mehrere Auslandsgespräche nach Haiti. Die Telefonnummer des Krankenhauses St. Lucie in Port-au-Prince hatte sie dem offiziellen Stempel der Sterbeurkunde entnommen. Sie versuchte mehrfach, den Arzt an den Apparat zu bekommen, der Linda behandelt und ihr Ableben amtlich beglaubigt hatte, aber es gelang ihr nicht.
Anschließend unternahm sie noch den fruchtlosen Versuch per Telefon eine Genehmigung zur Ausfuhr des Leichnams ihrer Schwester zu erwirken, aber dieses Ansinnen wurde von dem Beamten, mit dem sie sprach, brüsk abgelehnt. In Haiti, erläuterte er ihr, könne eine derartige Angelegenheit nicht anders gehandhabt werden und sie müsse persönlich erscheinen, den Antrag stellen und mit ihrer Unterschrift besiegeln.
Nach einer Stunde und horrenden Telefonkosten war Abby nahe dran vor Zorn zu explodieren, aber sie riss sich zusammen und bedankte sich bei der knurrenden Stimme. Die einzig brauchbare Information war die Tatsache, dass sie den geforderten Zinksarg in Port-au-Prince gegen eine wahnwitzige Gebühr zur Verfügung gestellt bekommen würde.
Abby überprüfte ihren Terminkalender. In nächster Zeit lagen keine dringenden Aufträge an. Sie würde also nach Haiti fliegen können, aber wie sollte sie das Ticket bezahlen? Ihre Reserven waren erschöpft. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als ihr Konto zu überziehen. Hoffentlich zahlte Ternham seine Rechnung pünktlich, ansonsten hatte sie nicht einmal genug Geld für die nächste Miete, von Lindas Beerdigung ganz zu schweigen.
Abby hob den Hörer ab und ließ sich über die Auskunft die Nummer von British Airways geben. Eine junge, freundliche Stimme meldete sich.
„Guten Tag, British Airways. Mein Name ist Ann Muller.“
„Hallo. Abby Summers. Ich möchte mich nach einer Flugverbindung nach Haiti erkundigen.“
„Wann möchten Sie fliegen?“
„Sobald als möglich.“
Die Frau antwortete nicht sofort. Abby konnte hören, wie sie die Sprechmuschel mit der Hand abdeckte und gedämpft mit einer Kollegin sprach. Kurz darauf war sie wieder am Apparat.
„Tut mir leid. Alle Direktflüge sind ausgebucht. Die einzige Möglichkeit wäre ein Flug nach Santo Domingo, Dominikanische Republik. Von dort aus könnten Sie dann einen Inlandflug nach Port-au-Prince buchen.“
„Okay. Wann könnte ich fliegen?“
„Das kommt darauf an, wie eilig Sie es haben.“
Abby überlegte kurz. Sie hatte es eilig. Je schneller sie die traurige Angelegenheit hinter sich bringen konnte, desto besser.
„Morgen oder übermorgen.“
„Augenblick bitte.“
Das Klappern der Computertastatur drang aus der Ohrmuschel.
„Morgen geht ein Flug um 20.30 Uhr ab Heathrow. Für diese Maschine könnte ich Sie buchen, allerdings nur in der Business-Class.“
„Wie viel würde mich der Flug kosten?“
„879 Pfund Sterling.“
Abby dachte zuerst, sie habe sich verhört. „Wie viel?“
„879 Pfund Sterling.“
„Wann gäbe es die nächste Möglichkeit zu einem günstigeren Preis zu fliegen?“
Wieder das Klappern der Tastatur. „In fünf Tagen ab Gatewick. Der Preisunterschied beträgt 237 Pfund Sterling.“
„Buchen Sie mich für morgen.“
Obwohl es Abby widerstrebte, sich so in Unkosten zu stürzen, blieb ihr kaum eine andere Wahl. Sie gab der Frau ihre Daten und die Anschrift.
„Ihr Ticket wird für Sie am British Airways Schalter hinterlegt. Bitte checken Sie eine Stunde vor Abflug ein.“
Abby bedankte sich und legte auf. Sie fühlte sich erschöpft, aber noch war dieser Tag nicht zu Ende. Als nächstes musste sie sich um die Beerdigung ihrer Schwester kümmern. Abby stöhnte und nahm erneut den Hörer ab.
„Sie sind verrückt“, stöhnte der Arzt. Seine Augen stierten Abby ungläubig an. „Das kann einfach nicht ihr Ernst sein.“
„Machen Sie den Gips runter!“, erwiderte Abby energisch.
„Sind Sie sich über die Folgen im Klaren? Der Bruch ist noch längst nicht ausgeheilt. Frühestens, und ich meine frühestens, in einer Woche wäre daran zu denken, den Gips zu entfernen. Wollen Sie Ihr Leben lang humpeln?“
Abbys Gesicht verzog sich zu einem humorlosen Grinsen. Sie saß zurückgelehnt in einem unbequemen Stuhl vor dem wuchtigen Schreibtisch und fixierte ihren Hausarzt. Geduld war nicht gerade einer ihrer Stärken und dass Dr. Hedson sich seit fünf Minuten weigerte ihrem Wunsch nachzukommen, ärgerte sie.
„Ich habe es Ihnen schon mehrfach erklärt, Doc. Morgen fliege ich nach Haiti, um die Rückführung des Leichnams meiner Schwester nach England in die Wege zu leiten. Wenn die Beamten dort nur halb so stur wie in England sind, kann ich davon ausgehen, dass ich von Amt zu Amt hetzen muss, bis alle Formalitäten erledigt sind. Mit einem schweren Gipsfuß bei vierzig Grad im Schatten dürfte das kaum zu bewältigen sein. Also...“
„Aber...“
„...Sie schneiden jetzt den Gips auf oder ich mache es selbst!“
Hedson gab sich mit einem Seufzer geschlagen. Er kannte Abby seit ihrem siebten Lebensjahr und wusste, sie meinte es ernst.
„In Ordnung, ich nehme Ihnen den Gips ab, aber Sie unterschreiben mir eine Bescheinung, in der Sie versichern, dass ich Sie über Folgen und Risiken aufgeklärt habe und dass diese Aktion gegen meinen ausdrücklichen medizinischen Rat erfolgt.“
„Was immer Sie wollen! Und jetzt runter mit dem Ding, ich habe noch einiges zu erledigen.“
3. Die Hitze des Tages
Port-au-Prince lag, wie von einem Riesen achtlos hingeworfen, in einer heißen, tropischen Senke am Ende einer natürlichen Meeresbucht. Auf beiden Seiten der Stadt erhoben sich Berge, in deren Hintergrund sich weitere Felsmassen auftürmten und so den Eindruck von Weite erweckten.
Abby hatte während des Fluges von London nach Santo Domingo in einem Reiseführer gelesen, dass Haiti nur über eine Landfläche von 10000 Quadratmeilen verfügte, auf der sich 6 Millionen Menschen drängten. Es war also nur eine Illusion. Haiti war kleiner als es erschien.
In dem Reiseführer waren auch mehrere Hotels aufgeführt. Abby hatte sich für das „Oloffson“ entschieden, dass Graham Greene in seinem Buch „Die Stunde der Komödianten“ unsterblich gemacht hatte. Abby hatte das Buch nie gelesen, aber sie kannte die Verfilmung mit Liz Taylor und Richard Burton und glaubte sich an ein altes Haus im Gingerbread-Stil zu erinnern.
Nach einem Flug, der sie erschöpft hatte, saß sie nun in einem alten, verbeulten amerikanischen Taxi und holperte über eine Straße voller Schlaglöcher durch die Stadt. Der Fahrer hatte die Fenster geöffnet. Heiße, staubige Luft drang in das Fahrzeug. Abby brach der Schweiß aus allen Poren. Das leichte Sommerkleid, das sie trug, klebte unangenehm auf ihrer Haut.
Während sich das Taxi durch ein verwirrendes Chaos aus Fahrzeugen, Radfahrern und Fußgängern zwängte, brabbelte der Fahrer unablässig auf sie ein. Sein Gesicht ähnelte in Form und Aussehen einer vertrockneten Dattel und schien ständig zu lächeln. Wenn es wieder einmal langsamer voranging, wandte er sich zu Abby um, grinste anzüglich und offenbarte dabei schlechte Zähne, von denen nur noch braune Stummel übrig waren.
Seine Blicke glitten dann über ihre Beine und obwohl Abby demonstrativ den Stoff tiefer herunterzog, konnte ihn das nicht davon abhalten, sie an der nächsten Kreuzung oder Ampel erneut anzustarren. Abby gab es schließlich auf und konzentrierte sich auf die langsam vorbeiziehende Stadt.
Zwischen halbfertigen Monumenten und verfallenen Häusern waren unglaublich viele Menschen unterwegs. Der Geruch von gebratenem Fisch, Süßigkeiten, Exkrementen und Asche wehte herein und ließ sie schwer schlucken. Der Lärm war ohrenbetäubend. Musik aus plärrenden Lautsprechern, Tap-Taps, für Personentransporte umgebaute Lastwagen mit ihren, in niedrigen Gängen, kreischenden Motoren und ein beständiges, beunruhigendes Gemurmel, das wie Nebel über allem lag, schmerzte in ihren Ohren. Als sie am Marktplatz Marché de Fer vorbeikamen, nahm die Lautstärke durch die Schreie der Verkäufer an den Ständen noch zu.
Zwischen all dem Schmutz und Unrat erhob sich plötzlich der Präsidentenpalast. Der Palais National strahlte unnatürlich weiß. Hinter einem hohen Metallgitter erstreckte sich makellos gepflegter Rasen, der wie ein Teppich vor dem Gebäude lag, um die Gäste zu begrüßen. Der Palast selbst, mit seinen drei Kuppeln, erinnerte Abby an eine Moschee. Vor dem Haupteingang ragten vier Säulen nach oben, so als versuchten sie die ganze Konstruktion zu stützen.
Hier befanden sich kaum Menschen auf den Straßen. Drei Männer knieten mitten auf der Straße und zupften Unkraut zwischen den Pflastersteinen. Dem dicht an ihnen vorbeiströmenden Verkehr schenkten sie keine Beachtung. Abby entdeckte eine Gruppe Passanten, die langsam auf den Präsidentenpalast zuging. Die Frauen trugen weite bunte Kleider, hatten die Köpfe hochgereckt und schritten elegant und selbstbewusst aus. Sie waren wunderschön, mit edlen Gesichtern, auf den sich Hochmut spiegelte. Die Männer standen dem mit ihren klassischen Zügen und den schlanken Körpern kaum nach. Es gab also doch so etwas wie Schönheit in diesem Abfallhaufen von einer Großstadt.
Schließlich war die Fahrt zu Ende. Das Taxi hielt mit kreischenden Bremsen vor dem Hotel Ollofson, einem zierlichen, alten Haus in Bougainvillea. Ein Page im Knabenalter stürzte heran und öffnete Abby die Tür. Anschließend hob er ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Obwohl der Junge schmächtig und der Koffer schwer war, schien er keine Mühe mit dem Gewicht zu haben. Abby bezahlte den Fahrer, der ein letztes Mal anzüglich grinste, bevor er davonfuhr.
Das Hotel schien noch aus der Zeit der ersten amerikanischen Besatzungszeit zu stammen. Eine verblasste Fahne mit den Stars Stripes wehte über dem Eingang.
Das Kolonialhotel lag auf einem Hügel der Stadt. Ein altes Herrenhaus mit offener Veranda, ein kleiner anmutiger Palast mit Türmchen und spitzen Minaretten, dessen weiße Farbe vom lackierten Tropenholz abblätterte. Wie ein winziger, zerklüfteter Berg ragte es aus einem verwilderten Park, in dem sich Palmen, Bananenstauden und Hibiskusbäume, um den wenigen Platz stritten.
Abby durchschritt ein verrostetes Tor, das von Lianen überwuchert wurde und betrat das Hotel. Nach der Hitze des Tages war es in der Hotelhalle angenehm kühl. Ihre Augen mussten sich zunächst an das Halbdunkel gewöhnen, bevor sie die Rezeption entdeckte.
Der Besitzer Richard Morse, mit einer Haut wie Milchkaffee und zu Zöpfchen geflochten Haaren, stellte sich vor und begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln. Er schob ihr ein Klemmbrett mit dem Anmeldeformular über die Empfangstheke. Abby schätzte ihn auf Anfang vierzig. Sein Englisch war perfekt.
Auf dem Formular standen die Namen der Suiten und Zimmer. Manche von ihnen trugen die Namen berühmter Gäste, als Haiti noch die Reichen und Prominenten anlockte: Marlon Brando, Truman Capote, Paulette Goddard, Graham Greene. Wie die abbröckelnde Farbe an der Fassade kündeten sie von einer vergangenen, einer besseren Zeit.
Abby trug sich ein und wurde einem Pagen, der ohne weiteres ein Bruder des Jungen sein konnte, der sie zum Empfang gebracht hatte, in den zweiten Stock geführt. Ihr Zimmer war schlicht, aber sauber und gemütlich mit altertümlichen Sesseln, einem flachen Holztisch und einem überdimensionalen Bett mit Baldachin. Zwei Glastüren mit weiß gestrichenen Rahmen führten auf einen winzigen, gemauerten Balkon, von dem man eine herrliche Aussicht auf die Bucht und die Stadt hatte.
Zufrieden mit ihrer Unterbringung gab Abby dem Pagen einen Dollar Trinkgeld, die einzige Währung, die in Haiti wirklich galt und die den Gourde fast verdrängt hatte. Der Junge schob den Schein breit lächelnd in seine Hosentasche. Als er gegangen war, ließ sich Abby auf das weiche Bett fallen. Kurz darauf war sie eingeschlafen.
Die Geräusche der nach der Hitze des Tages erwachenden Stadt, weckten Abby aus ihrem traumlosen Schlaf. Sie ging ins Badezimmer hinüber, wusch ihr Gesicht und kämmte sich. Anschließend zerrieb sie etwas Gel in den Händen und massierte es in ihr Haar ein. Zufrieden mit ihrem Aussehen zog sie einen kurzen beigefarbenen Rock und eine schwarze Bluse an.
Der Klang von Musik zog von der Stadt zu ihrem Zimmer hinauf. Abby ging auf den Balkon und lehnte sich über die Brüstung. Die Luft war jetzt von angenehmer Frische. Ein leichter Wind brachte den Geruch des Meeres mit sich.
Port-au-Prince sah im Abendlicht wunderschön aus. Straßenlaternen schufen goldene Kegel, in denen Insekten Tänze aufführten. Selbst der Straßenlärm war nun gedämpft und nur noch wenig Lärm störte die Stille.
Abbys Gedanken wanderten zu ihrer verstorbenen Schwester. Wie oft mochte Linda die salzig schmeckende Luft eingeatmet und die Ruhe genossen haben? Ohne das Abby es bemerkte, liefen Tränen über ihre Wangen.
Linda, wo magst du jetzt wohl sein?
Sie blickte zum Himmel empor, an dem sich die ersten Sterne zeigten. Noch schwach, aber das Funkeln gewann mit jeder Minute an Kraft.
Während ihre Augen in die Weite des Universums eindrangen, kamen die Bilder der Erinnerung.
Vergangenheit
„Lass es sein. Tue es nicht, Abby. Er wird dich beißen.“
Abby sah durch die Zaunmaschen und beobachtete den großen schwarzen Hund, der im anderen Garten stand und bösartig knurrte, sobald sie den Zaun berührte.
Mr. Garuther, der Besitzer des Deutschen Schäferhundes, war nirgends zu sehen, und ihr Ball lag auf dem Grundstück. Ein leuchtend roter Fleck. Er wirkte deplaziert zwischen all dem Grün, so als sei er direkt vom Himmel auf einen fremden Planten gefallen.
Linda hatte ihr den Ball zu heftig zugeworfen. Abby hatte keine Chance gehabt, ihn zu fangen. Nun lag der Ball auf der anderen Seite des Zaunes, bewacht von einem knurrenden Monster.
„Ich werde ihn holen“, erklärte Abby bestimmt.
Linda stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Ihr Mund klappte auf. Panik verzerrte die hübschen Züge.
„Bitte nicht. Lass uns warten bis Mr. Garuther wiederkommt. Er kann ihn uns herüberwerfen.“
Die acht Jahre alte Abby schüttelte energisch den Kopf. Sie hatte Angst vor dem Hund. Die Angst ließ sogar ihre Knie zittern, aber das würde sie vor Linda nicht zugeben. Sie wollte Lindas Respekt erringen und dies war eine perfekte Gelegenheit.
Linda gelang immer alles. Sie war eine hervorragende Schülerin, hatte jede Menge interessante Freundinnen und wurde von ihren Lehrern aufmerksam behandelt. Abby hingegen erreichte nur mittelmäßige Leistungen in der Schule. Außer Linda hatte sie keine Freundin und sie hielt sich für tollpatschig und hässlich. Das kleine Entlein neben dem schönen Schwan.
Sobald Linda ein Zimmer betrat, widmeten sich ihr alle Anwesenden. Ob Kinder oder Erwachsene, alle erlagen ihrem Charme. Abby liebte ihre Schwester, aber sie beneidete sie insgeheim und hoffte, eines Tages genauso bewundert werden zu würden.
Dieser Tag war noch fern, das wusste sie, aber heute war eine Gelegenheit, das Machtverhältnis ein wenig zu ihren Gunsten zu verändern.
Linda würde es niemals wagen, über den Zaun zu klettern.
Ohne ein weiteres Wort trat Abby an den Zaun und legte beide Hände auf die Holzlatten. Der Hund schlich lauernd heran und verharrte zwei Meter entfernt von ihr. Sein Knurren hatte den Klang eines fernen Gewitters angenommen. Abby hatte mehr Angst als jemals zuvor in ihrem Leben.
Sie atmete tief aus und zog sich hoch. Als sie ihren Fuß auf die Querstrebe setzen wollte, rutschte sie ab und fiel auf die andere Seite des Zaunes.
Das Letzte was sie hörte, war Lindas gellender Schrei, dann war der Hund wie ein fliegender Schatten über ihr.
Abbys Gedanken kehrten in die Realität zurück. Das Jucken der alten Narbe an ihrer rechten Wade erinnerte sie daran, dass sie damals Glück gehabt hatte. Mr. Garuther war aus dem Haus gerannt, nachdem er Lindas Schrei hörte und hatte den rasenden Hund weggerissen. Die Bisswunden waren tief gewesen, aber Abby hatte Lindas Respekt gewonnen. Letztendlich zählte nichts anderes. Wunden heilten.
Abby strich sich geistesabwesend durch das Haar. Ihr Blick senkte sich, die Sterne verschwanden aus ihrem Sichtfeld.
Nun war Linda tot.
Abby drängte das Selbstmitleid zur Seite und ging ins Zimmer zurück. Im Bad wusch sie erneut das Gesicht, schminkte sich und ging zur Rezeption hinunter.
Richard Morse blickte von seiner Zeitung auf, als er Abby auf sich zukommen sah.
„Guten Abend“, sagte er mit dunkler Stimme.
Abby erwiderte seine Begrüßung und sagte: „Sie sprechen hervorragend Englisch.“
„Danke. Mein Vater war Amerikaner. Ein Weißer. Ich habe lange Zeit in New York gelebt.“
„Und Ihre Mutter stammt von hier?“
„Ja, sie ist eine berühmte haitianische Tänzerin.“
„Wann sind Sie zurückgekommen?“
„Eigentlich bin ich Musiker. Ich spiele „Racine“. In Amerika kann man davon nicht leben. Dort wollen Sie Jazz hören. Da unser Familienbesitz, das Oloffson, leer stand und immer mehr verfiel, bin ich 1985 zurückgekehrt, um zu retten, was noch zu retten ist.“
„Sie haben es sehr gut hinbekommen“, lobte Abby.
Richard Morses Gesicht verzog sich zu einem breiten Lachen, dass sowohl Freude wie auch Schmerz beinhaltete.
„Danke, aber es gibt noch viel zu tun. Im Augenblick habe ich nicht die Mittel, um nach dem Hauptflügel auch die Nebenflügel herzurichten. Seit einiger Zeit kommen kaum noch Touristen nach Haiti. Zuviel Gewalt. Zuviel Armut.“
Abby nickte, was hätte sie darauf auch antworten können.
„Ich möchte ausgehen. Können Sie mir ein Restaurant empfehlen?“
„Nachts sollten Sie auf keinen Fall nach Port-au-Prince gehen. Im Hafenviertel gibt es zwar das „Le Lambi“, wo man einen hervorragenden Barbancourt-Rum serviert bekommt und man zur Musik der Compas-Gruppen tanzen kann, aber für eine Weiße wäre es zu gefährlich. Bleiben Sie in Pétonville. Hier leben die Reichen. Alles ist gut bewacht und es kochen einige der besten Köche der Karibik in den Restaurants. Ich rufe Ihnen ein Taxi.“
4. Karibische Nacht
Die karibische Nacht umfing Abby mit einem Mantel aus warmer Luft und ferner Musik. Sie stieg aus dem Taxi, gab dem Fahrer ein angemessenes Trinkgeld und ließ sich in der Menschenmenge treiben. Der intensive Geruch, diese Mischung aus gebratenem Fisch, Süßigkeiten und Asche, den sie schon im Taxi wahrgenommen hatte, erwartete sie auch diesmal, aber er war nicht mehr unangenehm, sondern schien zu diesem Land zu gehören.
Hier war alles anders als in Port-au-Prince. So hatte sie sich die Karibik vorgestellt. Die Menschen in den engen Straßen trugen ein Lächeln auf dem Gesicht. Ihre farbenfrohe Kleidung strahlte selbst im Halbdunkel der Nacht und wenn die Frauen in ihren weiten, luftigen Röcken durch den Lichtschein einer Straßenlampe schritten, wirkten sie wie tanzende Schmetterlinge im Sonnenschein. Die Atmosphäre von Pétonville nahm Abby gefangen. Das Rauschen des Windes, der vom Meer heraufstrich, verwob sich mit dem Lachen der Menschen. Sie begann sich zu entspannen.
Zu ihrer Überraschung stellte Abby fest, dass sie hungrig war. Ihr Magen knurrte. Nicht weit entfernt lud ein Restaurant seine Gäste auf eine offene Terrasse ein. Die Luft war lau und Abby beschloss, sich draußen einen Platz zu suchen.
Sie entdeckte einen frei werdenden Tisch und zwängte sich zwischen den gepolsterten Rattanstühlen hindurch, als sie unverhofft mit einem Mann zusammenstieß.
Er hielt ein Glas Rotwein in der Hand und stand vor einer atemberaubenden, dunklen Schönheit in einem gelben Wickelkleid. Das Getränk ergoss sich über die Frau, die mit einem erstickten Schrei nach hinten sprang, aber es war zu spät. Dunkelrote Flecken bildeten ein blutiges Muster auf dem ehemals makellosen Kleid.
Der Mann wirbelte herum. In seinem Gesicht spiegelte sich ungezügelte Wut. Schwarze Augen fixierten Abby. Sein Mund öffnete sich zu einer Beschimpfung, blieb dann aber stumm.
Abby stand erschrocken vor ihm. Sprachlos. Sie wusste nicht, was sie sagen konnte oder sollte.
Plötzlich ging eine Veränderung im Gesicht des Mannes vor sich. Gerade hatte er noch wütend ausgesehen, nun wirkte er verwirrt.
Abby bemühte sich um eine Entschuldigung, die von der Frau in dem gelben Kleid mit einem Schwall unverständlicher Flüche beantwortet wurde. Ihr Benehmen blieb von den anderen Gästen des Restaurants nicht unbemerkt. Die Gespräche verstummten. Die Menschen wandten sich auf ihren Stühlen um und beobachteten das Geschehen.
„Es tut mir wirklich leid“, wiederholte Abby ihre Entschuldigung. „Hören Sie...“
„Sie kann Sie nicht verstehen“, unterbrach sie der Mann. „Sie spricht ihre Sprache nicht.“
Ein Lächeln spielte um seinen Mund. Aus irgendeinem Grund schien ihn die Angelegenheit zu amüsieren.
Die Stimme seiner Begleiterin ging in ein Kreischen über, das endgültig dafür sorgte, dass sich keiner der Anwesenden mehr um sein Essen kümmerte.
„Können Sie Ihr bitte sagen, dass es mir leid tut“, wandte sich Abby an den Mann. „Ich werde natürlich für die Reinigung aufkommen oder falls das Kleid nicht mehr zu reinigen sein sollte, es ihr ersetzen.“
„Das wird nicht nötig sein.“
Er sprach leise auf die Frau ein, die schon nach dem ersten Wort verstummte und den Blick demütig zu Boden senkte. Abby verstand kein Wort. Schließlich nickte seine Begleiterin mit dem Kopf und verließ mit erhobenem Haupt das Restaurant, ohne sich nochmals umzudrehen.
„Wo geht sie hin?“, fragte Abby verblüfft.
„Nach Hause.“
„Nach Hause?“, echote sie. „Oh...“
„Vergessen Sie es.“ Sein Blick glitt über Abby. „Sie sind fremd hier?“
Abby betrachtete ihn. Er sah gut aus. Ein Meter neunzig groß, vielleicht ein bisschen weniger, da er sich ausgesprochen aufrecht hielt. Seine Figur war schlank, muskulös. Sein Gesicht schmal und braungebrannt, mit ebenmäßigen Zügen, einer leicht gekrümmten Nase und vollen Lippen. Die linke Augenbraue wurde durch eine kleine, weiße Narbe unterbrochen und ähnelte der Silhouette einer fliegenden Möwe. Das schwarze lockige Haar hatte er kurz geschnitten. Es stand im Kontrast zu dem legeren weißen Leinenanzug zu dem er ein schwarzes Seidenhemd trug. Der Mann stellte das leere Rotweinglas auf den Tisch und Abby bemerkte kraftvolle, schöne Hände.
Ihre Aufmerksamkeit blieb ihm nicht verborgen. Sein Lächeln wurde breiter. Ertappt! Abby spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.
„Ja, ich bin fremd hier“, sagte Abby hastig. „Heute Morgen erst gelandet.“
„Darf ich Sie nach all der Aufregung zu einem Drink einladen?“ fragte er. „Sozusagen als Willkommensgruß.“
„Sie wollen mich einladen, nachdem ich das Kleid ihrer Freundin ruiniert habe?“ Abby lachte laut auf. „Eigentlich sollte es umgekehrt sein. Ich sollte sie einladen oder besser noch ihre Freundin. Sie sah nicht besonders glücklich aus.“
„Sie ist nicht meine Freundin. Nur eine Bekannte“, erklärte er knapp.
Warum sagt er mir das?
Abby fühlte, wie Hitze ihren Körper durchflutete. Sie war in dieses Land gekommen, um den Leichnam ihrer Schwester heimzuholen, nun stand dieser aufregende Mann vor ihr und machte Anstalten mit ihr zu flirten.
„Nun, ich denke, wir könnten beide einen Drink vertragen“, sagte er.
Er hob seine Hand. Wie aus dem Nichts erschien ein Kellner. Er sprach leise auf ihn ein, worauf die Bedienung sie zu einem Tisch im Hintergrund führte. Als sie beide Platz genommen hatten, streckte ihm Abby die Hand über den Tisch entgegen und sagte: „Abby Summers.“
„Patrick Ferre.“ Er umfasste sie sanft und hielt sie fest.
Die intensive Berührung verwirrte Abby und sie zog hastig die Hand zurück. Ferre tat so, als habe er nichts bemerkt und griff nach der Weinkarte.
„Was möchten Sie trinken? Wein? Oder etwas anderes?“
„Wein wäre schön.“
Er rief den Kellner, der wenige Schritte entfernt gewartet hatte.
„Weiß oder rot?“, wollte Patrick Ferre wissen.
„Was immer Sie trinken.“
„Rot. Es gibt einen sehr guten Bordeaux Château La Louvière. Wenn Sie einverstanden sind, nehmen wir ihn.“
„Bitte.“
Abby hatte keine Ahnung von Wein und wusste nicht, ob sie einen Bordeaux von einem anderen Rotwein unterscheiden konnte. Sie hoffte nur, dass der Wein nicht zu trocken war.
Ferre gab die Order an den Kellner weiter, der kurz darauf mit einer Flasche zurück war. Die Entkorkung des Weines artete in ein Ritual aus und die Gläser wurden erst eingeschenkt, nachdem ihr Tischnachbar gekostet und bestätigt hatte, dass der Wein ausgezeichnet war.
„Sie sprechen sehr gut Englisch“, machte sie ihm ein Kompliment.
„Danke, aber es könnte besser sein“, wehrte er ab. „Hier auf der Insel wird kreolisch oder französisch gesprochen. Ich habe also nicht oft die Gelegenheit, in Übung zu bleiben.“
„Wo haben Sie die Sprache gelernt?“
Seine Nase kräuselte sich, als ein breites Lächeln auf seinem Gesicht erschien. „Ich hatte Privatunterricht bei einem alten Englischprofessor.“
Abby nahm einen Schluck Wein, er war vollmundig und schwer, aber erfrischte. Mit dem Zeigefinger wischte sie sich einen einzelnen Tropfen von der Lippe. Eine Geste, die nicht unbemerkt blieb und mit einem erneuten Lächeln quittiert wurde.
„Was treibt Sie hierher?“, fragte Ferre.
„Eine Familienangelegenheit“, antwortete Abby unfreundlicher als vorgesehen.
„Oh, tut mir leid. Ich wollte Ihnen...“
„Nein. Ich muss mich entschuldigen. Es sollte nicht so... hart klingen.“
„Möchten Sie darüber sprechen?“
Abby schüttelte energisch den Kopf. Alles bloß das nicht. Sie hatte sich lange nicht mehr so entspannt und zufrieden gefühlt. Nein, sie wollte nicht darüber sprechen.
„Haben Sie schon zu Abend gegessen?“, fragte sie ihn stattdessen. „Ich sterbe vor Hunger.“
„Nein, noch nicht. Wenn es Ihnen recht ist, bestellen wir.“
Er hob erneut die Hand und Sekunden später stand der Kellner neben dem Tisch.
Das ist ja wie Zauberei, dachte Abby und fühlte, dass ihr der Wein zu Kopf stieg. Sie unterdrückte ein Kichern.
Ferre schien nichts zu bemerken, aber vielleicht hinderte ihn auch seine gute Erziehung daran, nachzufragen, was so lustig sei. Er studierte die Speisekarte und legte dabei seine Stirn in Falten. Abby fand, dass er wie ein Schuljunge aussah, der verzweifelt versuchte, eine schwierige Rechenaufgabe zu lösen.
„Ich würde die Gemüsesuppe mit Jamswurzeln und Taros empfehlen, danach die Riesengarnelen mit Kokoskruste und das Lamm-Pilaw.“ Patrick Ferre sah ihre Verwirrung. „Sie müssen sich keine Sorge machen. Die Suppe schmeckt nicht allzu ungewöhnlich und von den Garnelen werden sie begeistert sein. Sie werden in einer Mischung aus Knoblauch und Zitronensaft mariniert und anschließend mit Kokosraspeln paniert, bevor sie in einer großen Pfanne ausgebacken werden. Sie mögen doch Meeresfrüchte?“
Abby bejahte. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Seit dem kurzen Frühstück im Flughafen von Santo Domingo hatte sie nichts mehr gegessen.
„Was ist Lamm-Pilaw?“
„Ein Lammgericht mit Reis und verschiedenen Kräutern.“
„Klingt alles sehr lecker.“
„Gut“, stellte er mit seiner Auswahl zufrieden fest. Er rief den wartenden Kellner an den Tisch und gab die Bestellung auf.
Abby leerte ihr Glas und sofort erschien eine weitere Bedienung und schenkte ihr nach. Langsam dämmerte ihr, dass dies vielleicht ein teures Restaurant war. Sie hatte überhaupt keine Vorstellung davon, was ein derartig üppiges Menü hier kosten mochte. Abby schob den Gedanken beiseite. Der Abend war zu schön, um ihn sich verderben zu lassen. Dann würde sie den Rest ihres Aufenthaltes in Haiti eben kürzer treten müssen. Eine leichte Brise verfing sich in ihrem Haar und brachte angenehme Kühlung.
„Ein schöner Anblick“, sagte Ferre kaum hörbar.
„Wie bitte?“
„Verzeihung. Ich wollte Ihnen keineswegs zu nahe treten.“
„Nein.“ Sie winkte ab. „Ich bin Komplimente nur nicht mehr gewöhnt.“
„Das ist schade.“
„Ja.“
„Sie sind nicht verheiratet?“
Hoppla, dachte Abby. Er horcht dich aus.
„Nein. Und Sie?“
„Nein.“
Konnte es wirklich wahr sein? Dieses Prachtstück von einem Mann lief noch frei herum? Abby beschloss, ihm nicht zu glauben.
Die Suppe kam und die Unterhaltung erstarb. Kurz nach der Suppe wurden die Kokos-Krabben serviert. Knusprig und herrlich duftend waren sie ein Hochgenuss. Patrick zeigte ihr, wie man die Garnelen aß, indem man sie an den Schwänzen hielt und dann abbiss. Das Lamm-Pilaw schmeckte ebenfalls hervorragend, allerdings war Abby inzwischen so satt, dass sie den größten Teil des Gerichtes zurückgehen ließ.
„Möchten Sie einen Nachtisch?“, fragte Patrick Ferre, nachdem er seinen Teller von sich geschoben hatte.
„Um Gottes Willen, nein. Ich habe das Gefühl zu platzen. Es war vorzüglich. Vielen Dank, Patrick.“ Es war das erste Mal, dass sie ihn mit seinem Vornamen ansprach. Er reagierte darauf mit einem freundlichen Blinzeln.
„Kaffee oder Brandy?“
„Beides!“, lachte Abby.
Als die Gläser vor ihnen standen, nahm Abby die Gelegenheit wahr, sich bei Patrick Ferre für ihre heftige Reaktion auf seine Frage, warum sie Haiti besuche, zu entschuldigen.
„Ist schon in Ordnung, wenn Sie nicht darüber sprechen möchten.“
„Nein, vielleicht ist es genau das. Vielleicht sollte ich darüber sprechen.“ Und dann erzählte sie ihm von Lindas Tod und dass sie hier war, um ihren Leichnam nach London zu bringen. Als sie endete, wirkte er verlegen.
„Das mit Ihrer Schwester tut mir leid“, sagte er sanft.
„Ja, mir auch.“
Beide schwiegen für einen Moment, bis Abby schließlich fragte: „Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“
Patrick Ferres Hände wanderten über das makellose Weiß der Tischdecke. „Nun, das ist schwer zu beantworten. Mein Vater, eigentlich ist er mein Stiefvater, hat eine große Plantage im Norden des Landes. Ich helfe ihm, so gut ich kann.“
Das klingt nach Beruf ‘reicher Sohn’, dachte Abby automatisch. „Was bauen Sie an?“
„Alles mögliche.“
Warum weicht er mir aus?
„Auch Zuckerrohr?“
„Ja, unter anderem.“
„Dann kannten Sie vielleicht meine Schwester“, platzte Abby aufgeregt heraus. „Sie war die Zuckerrohrankäufer eines europäischen Konzerns, hier, auf Haiti. Vielleicht hatten Sie sogar geschäftlich mit ihr zu tun.“
„Nein, ich kannte sie nicht. Wir verkaufen direkt an ein Konsortium, das sich aus allen Anbauern des Landes zusammensetzt. Dadurch können wir beim Verhandeln mit den Abnehmern einen einheitlichen Preis erzielen, ohne dass der eine den anderen im Angebot unterbietet und im Endeffekt alle billiger verkaufen müssen. So wird es schon seit zwanzig Jahren gehandhabt.“
Abby hatte das Gefühl, angelogen zu werden. Aber warum sollte Patrick sie anlügen? Er kannte sie erst seit einer Stunde.
Die Luft war herrlich mild, als sie den Hügel zu Abbys Hotel hinaufgingen. Der Weg führte verschlungen durch mehrere Gassen bevor er in einen weiten, grünen Park mündete. Über allem lag der Duft blühender Büsche, die zahlreich neben dem schmalen Pfad wuchsen. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Es war das einzige Geräusch, außer dem Zirpen der Insekten, die zum nächtlichen Liebesspiel riefen.
Hier oben war vom Lärm der Stadt nichts mehr zu hören. Selbst die allgegenwärtige Musik drang nur noch gedämpft herauf. Abby und Patrick schwiegen. Abby genoss die Stille nach der Hektik der letzten Tage. Ihr Fuß schmerzte durch die ungewohnte Belastung, aber sie zwang sich, nicht zu hinken.
Patrick ging stumm neben ihr. Abby nutzte die Gelegenheit ihn zu beobachten. Er sah unglaublich gut aus.
Im schwachen Schein der Lampen, die den Pfad beleuchteten, wirkte er wie ein Wesen von einem anderen Stern. Die eine Hälfte seines Gesichts lag im Schatten, was ihm ein mysteriöses Aussehen gab.
Abby roch das schwache Aroma seines Aftershaves, aber auch den männlichen Geruch von Schweiß. Erregung durchströmte sie.
Wie mag es wohl sein, in seinem Armen zu liegen?
Sie schalt sich selbst für diesen dummen Gedanken und doch war da die Sehnsucht nach einer Berührung, nach zärtlichen Fingerspitzen auf ihrer bloßen Haut.
Patrick Ferre hatte das Abendessen bezahlt und für einen Moment hatte Abby befürchtet, er erwarte dafür eine Gegenleistung, aber er war der perfekte, charmante und höfliche Gastgeber geblieben und hatte sich lediglich angeboten, sie zum Hotel zu begleiten.
„Geben Sie mir Ihre Hand“, sagte Patrick nun leise. „Der Weg wird ein wenig schlüpfrig und das Licht der Laternen reicht nicht bis hierher.“
Abby griff nach seiner Hand, die kühl und trocken die ihre umfasste. Es war ein angenehmes, ein sinnliches Gefühl, aber gleichzeitig versteifte sich Abby innerlich.
„Haben Sie etwas?“, wollte Patrick wissen.
„Nein, ich versuche nur, nicht zu stolpern.“
Der Weg war kaum noch erkennbar und schlängelte sich zwischen den duftenden Büschen dahin.
Was tue ich, wenn er versucht mich zu küssen?
Aber Patrick Ferre schritt ohne Zögern aus. Schließlich verließen sie den Park und vor ihnen ragte die Fassade des Hotels auf.
„Wir sind da“, stellte Patrick fest.
Abby wusste nicht so recht, was sie jetzt tun sollte. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen.
Ferre nahm ihr die Entscheidung ab. Er beugte sich zu Abby hinab, hauchte einen Kuss auf ihre Wange und flüsterte ein leises ‘Adieu’.
Dann verschwand er in den Schatten der Nacht. Abby stand noch eine Weile verblüfft vor dem Hotel, lauschte seinen Schritten auf dem Kiesweg, bis sie nicht mehr zu hören waren. Dann wandte sie sich um.
Sie betrat die Lobby, ging zum Empfangstresen und ließ sich ihren Zimmerschlüssel geben. Der Junge, der bei ihrer Ankunft das Gepäck ausgeladen hatte, saß auf einem wackligen Stuhl und starrte gebannt auf einen kleinen Schwarzweiß-Fernseher. Er sah nicht einmal auf, als er ihr den Schlüssel reichte.
Abby ging hinüber zu der breiten Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Die Stufen waren mit einem verblichenen Teppich belegt, der an vielen Stellen Löcher aufwies. Im gedämpften Licht der Deckenbeleuchtung wirkte er schäbig.
Warum hat er mich nicht geküsst?, grübelte Abby. Sie wusste nicht, wie sie auf einen Annäherungsversuch reagiert hätte, aber dass er nicht einmal versucht hatte, ihr nahe zu kommen, irritierte sie.
Ich habe ihn nicht nach seiner Telefonnummer gefragt, fluchte sie innerlich. Der aufregendste Mann, dem ich je begegnet bin und ich lasse ihn gehen, ohne ihn nach seiner Nummer zu fragen.
Inzwischen stand sie vor ihrem Zimmer. Als sie die Tür hinter sich schloss, wurde aus der Enttäuschung eine alles umfassende Müdigkeit. Sie schlüpfte aus ihrem Rock, warf die Bluse über eine Stuhllehne und ging ins Badezimmer. Sie ließ kaltes Wasser über ihren angeschwollenen Fuß laufen und hatte die Vorahnung, dass sie Patrick Ferre vielleicht doch wiedersehen würde.
Ein Lächeln glitt über Ferres Gesicht, als Abby das Hotel betrat. Er stand von einem Busch verdeckt, abseits der Laternen, keine zwanzig Meter von der Stelle entfernt, an der er sich von Abby verabschiedet hatte. Der aufgehende Mond ließ seinen Umriss mit der Umgebung verschmelzen, während er ihr nachblickte und beobachtete, wie sie zur Rezeption schritt, um ihren Zimmerschlüssel abzuholen.
Seine Hand fasste in die Seitentasche seines Jacketts und zog ein silbernes Zigarettenetui und ein silbernes Feuerzeug heraus. Er klappte das Etui auf und schob sich ein Stäbchen zwischen die Lippen. Als er die Zigarette anzündete, fiel der Schein des Feuerzeugs auf sein Gesicht. Patrick Ferre grinste.
Während er den warmen Rauch der Zigarette inhalierte, dachte er darüber nach, wie ähnlich sich die beiden Schwestern doch waren. Im Restaurant, bei dem Zusammenstoß, hatte er für einen Moment geglaubt, Linda gegenüber zu stehen. Aber das war natürlich vollkommen unmöglich. Noch immer lächelnd warf er die Kippe ins Gebüsch und schritt summend den Weg in die Stadt hinunter.
5. Vier Meilen
Der Verkehrslärm weckte Abby. Quäkendes Gehupe und der nervtötende Klang unzähliger Mopeds zerfetzten ihren Traum und zwangen Abby, die Augen zu öffnen. Müde wälzte sie sich herum und tastete nach ihrer Armbanduhr. Sechs Uhr morgens. Wahnsinn. Bereits jetzt herrschte ein Krach auf den Straßen, der ahnen ließ, was sie im Lauf des Tages noch zu erwarten hatte.
Die Vorhänge hatten sich im Fensterladen verfangen und der Wind klapperte mit den Holzläden gegen die Wand. Abby verließ das Bett, tappte hinüber und bereitete dem nervtötenden Geklapper ein Ende. Die Luft war kühl, als sie auf den Balkon trat, aber die Hitze des Tages war schon zu spüren. Abby beugte sich über das Geländer. Ihre Augen suchten den kleinen Park ab, den sie letzte Nacht mit Patrick Ferre durchquert hatte. Still und verlassen, lag er am Fuß des Hügels. Ein Ort der Ruhe in all der Hektik, die ihn umgab.
Die Menschen von Port-au-Prince nutzten die Kühle des Morgens, um ihren Beschäftigungen nachzugehen. Abby sah fliegende Händler, die ihre Stände in den Gassen aufbauten. Kinder trieben Ziegen vor sich her, die sich meckernd einen Weg zwischen den Fußgängern bahnten. Männer und Frauen trugen die unterschiedlichsten Dinge zum nahen Markt. Körbe mit Obst und Gemüse, meist von Frauen auf dem Kopf balanciert. Lebende Hühner, die Füße zusammengebunden und wie Würste an einem Stock aufgehängt, gackerten erbärmlich, während ihr Besitzer sich ungerührt durch die Menge zwängte. Ein Mann rollte einen LKW-Reifen die Straße hinunter. Nie zuvor hatte Abby ein derartiges Chaos gesehen. Die Menschen verschmolzen miteinander zu einem lebendigen Wesen, das sich seinen Weg durch die Gassen wühlte. Hier schien Dantes Hölle Wirklichkeit geworden zu sein. Und das um sechs Uhr morgens.
Abby wandte sich ab und ging ins Badezimmer. Die Dusche war nicht mehr als ein Eisenrohr, an dessen Ende ein überdimensionaler Brausekopf befestigt war, aber sie lieferte warmes Wasser und Abby konnte den Schweiß der Nacht abspülen. Erfrischt zog sie ein leichtes Sommerkleid an.
Ob es wohl schon Frühstück gab? Inzwischen war es fast sieben Uhr. Sie hatte viel Zeit im Badezimmer vertrödelt, aber die Ämter, die sie aufsuchen musste, öffneten wahrscheinlich erst später am Morgen.
Sie hob den Hörer des Hoteltelefons ab und wählte die Null. Sekunden später meldete sich Richard Morses Stimme.
„Bonjour.“
„Guten Morgen. Ab wann gibt es Frühstück?“
„Wann möchten Sie denn ihr Frühstück?“
„Haben Sie keine bestimmten Zeiten?“
„Im Augenblick haben wir nur wenige Gäste. Sie können also frühstücken, wann immer Sie möchten. Es macht keine Umstände.“
„Wie wäre es mit jetzt?“
„Kein Problem.“
„Wo finde ich den Frühstücksraum?“
„Neben der Rezeption. Sie können es sich aber auch aufs Zimmer bringen lassen.“
„Nein, danke. Ich komme herunter.“
„Gut, geben Sie uns zehn Minuten für die Vorbereitungen.“
Der Frühstücksraum war größer als Abby gedacht hatte. Schätzungsweise zehn Tische, mit Platz für jeweils vier Personen verteilten sich in einem Raum, der Ähnlichkeit mit einem Ballsaal hatte. Der Parkettboden hatte seinen Glanz verloren und Belag erinnerte inzwischen an die abgezogene Haut eines Tieres. Im Hintergrund erhob sich eine Balustrade, zu der links und rechts schmale Treppe führten. Hohe Fenster ließen das helle Morgenlicht herein, sodass Abbys Schatten auf dem Weg zwischen Tischen ständig vor ihr davoneilte. Sie war der einzige Gast und es war nur ein Tisch gedeckt, neben dem der Page stand, der auch ihren Koffer nach oben getragen hatte.
Er trug eine weiße Jacke, die ihm an den Ärmeln zu kurz war und die so aussah, als wäre sie gerade erst frisch gestärkt worden.
„Guten Morgen“, begrüßte sie der Junge.
Als Abby sich setzte, sprang er herbei und rückte ihr den Stuhl zurecht. Anschließend nahm er wartend neben dem Tisch Aufstellung.
„Möchten Sie Kaffee oder Tee?“
„Kaffee, bitte.“
„Ein Frühstücksei?“
„Ja, danke.“
Der Junge eilte davon. Wenig später war er wieder zurück. In seinen Händen balancierte er ein Silbertablett, von dem er eine Kaffeekanne, ein Körbchen mit aufgeschnittenem Baguettebrot, eine kleine Schale Marmelade, angewärmte Milch, ein gekochtes Ei und ein Stück Butter auf einem Bananenblatt, vor ihr abstellte.
„Arbeitest du jeden Tag im Hotel?“, fragte Abby, als er die Sachen auf dem Tisch anordnete.
„Nein.“ Er sah nicht auf, sondern goss den kräftig duftenden Kaffee in eine zierliche Porzellantasse. „Mein Bruder ist auf dem Markt. Es ist nicht viel zu tun.“
„Müsst ihr nicht in die Schule?“
Seine Augen leuchteten bei dem Wort ‚Schule’ kurz auf, dann nahmen sie wieder einen gleichgültigen Ausdruck an.
„Nein. Ist mit dem Frühstück alles in Ordnung?“
Abby betrachtete ihn neugierig. Der Junge hatte nicht erklärt, warum er nicht zur Schule ging, aber sie beschloss nicht nachzuhaken.
„Ja, danke“, sagte sie stattdessen.
„Dann wünsche ich einen guten Appetit.“
Abby hatte das Frühstück beendet, als der Junge wieder auftauchte. In seinen Händen hielt er einen üppigen Blumenstrauß, den er wie den heiligen Gral vorsichtig vor sich hertrug.
„Für mich?“, fragte Abby, als er damit vor ihr stehen blieb.
„Ja, Mademoiselle.“ Auf dem schmalen Gesicht lag ein Grinsen, während er ihr den Strauß reichte. Es war ein Gebinde der schönsten Blumen, die Abby je gesehen hatte. Orangefarbene, gelbe und lila Blüten in allen möglichen Formen waren kunstvoll arrangiert worden. Die meisten der Blumen kannte Abby nicht einmal. Der Strauß strömte einen intensiven Duft aus.
„Es ist eine Karte daran befestigt“, erklärte der Junge. Sein Grinsen war noch breiter geworden und hatte inzwischen die Ohren erreicht.
„Wie heißt du eigentlich?“
„Louis.“
„Danke, Louis.“
Er warf den Kopf in einer überraschten Geste nach oben, als er erkannte, dass Abby allein zu sein wünschte, bevor sie die Karte las. Wahrscheinlich hatte er darauf gehofft, ihr über die Schulter spähen zu können. Langsam ging er zur Saaltür hinaus, als wolle er Abby die Gelegenheit geben, ihn doch noch zurückzurufen. Die Tür klapperte ins Schloss
Abby zog einen Stuhl heran. Sie legte den Strauß ab, zupfte die angeheftete Karte vom dünnen Papier und klappte sie auf.
„Ich hoffe, Sie haben den Abend ebenso wie ich genossen. Darf ich Sie wiedersehen?“
Patrick Ferre
Ihr Herz machte einen Freudensprung. Ohne es zu bemerken, lächelte sie. Sie würde ihn wiedersehen. All ihre Sorgen waren wie weggeblasen. Auch Patrick Ferre hatte der Abend etwas bedeutet und er wollte sich erneut mit ihr treffen. Abby wandte den Kopf zu den hohen Fenstern. Draußen schien die Sonne, nicht anders als vor zwei Minuten, aber nun schien ihr Strahlen heller geworden zu sein. Und der Straßenlärm hatte sich in den Pulsschlag einer aufregenden Stadt verwandelt, den sie auf ihrer Haut spüren konnte.
Sie würde ihn wiedersehen!
Diesmal war der Taxifahrer ein junger Mann. Er hieß Pierre und war Anfang zwanzig. Seine Zähne waren bedeutend besser als die des Fahrers, der sie vom Flugplatz zum Hotel gebracht hatte. Allerdings hatte er dieselbe lüsterne Art auf ihre Beine zu starren. Abby bereute, einen Rock angezogen zu haben. Normalerweise reichte ihr der Stoff bis knapp über die Knie, aber im Sitzen war es fast unmöglich, ihn soweit hinunterzuziehen, dass er nicht ihre Oberschenkel entblößte.
„Sind Sie zum ersten Mal in Port-au-Prince?“, fragte er in makellosem Englisch. Er schaffte es, den Verkehr im Blick zu behalten und sie trotzdem aus dem Augenwinkel anzuglotzen.
„Ja, ich bin gestern angekommen.“
„Gefällt es Ihnen?“
„Manches, ja. Manches, nein.“
„Ich weiß, was Sie meinen.“
Er deutete mit der Hand nach draußen. Soweit das Auge reichte, türmte sich der Müll entlang der Straße zu einer Wand auf. Abgemagerte Schweine suhlten sich in den Bächen aus Kloake. Frauen wuschen sich in den Pfützen, während ihre Kinder sich mit dem ölig schimmernden Wasser bespritzten. Grüner Rauch drang aus den Müllbergen und stieg träge zum leuchtend blauen Himmel auf. Der Gestank war atemraubend.
Pierre musste immer wieder Kratern auf der Straße ausweichen, die so tief waren, das man glauben konnte, auf Port-au-Prince wäre vor kurzem ein Bombenhagel herabgeregnet.
Abby starrte verblüfft auf die Ruine, die einmal eine schöne, tropische Stadt gewesen sein musste. Auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel war sie zu erschöpft gewesen, um all das Elend zu realisieren. Abends hatte der Mantel der Nacht seinen sanften Schleier über alles gelegt und das Abendessen in dem französischen Restaurant hatte sie glauben lassen, sich noch immer in der zivilisierten Welt zu befinden. Nun im grellen Tageslicht zeigte Haiti sein wahres Gesicht. Eine Fratze aus Armut, Krankheit und Tod.
Als der Wagen wegen einigen Fußgängern anhalten musste, schlurfte ein alter Mann heran. Er trug einen übergroßen Strohhut und verwaschene Nike-Sporthosen. Ansonsten war er unbekleidet. Seine eingefallene Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg, als er sich mit einer Hand auf dem Dach des Wagens abstützte und die andere bittend durch das offene Fahrzeugfenster hereinstreckte. Er murmelte etwas auf Französisch, das Abby nicht verstand.
„Will er Geld?“, wandte sie sich an den Fahrer.
„Ja, aber anders als Sie denken. Er ist ein Geldscheinputzer. Für eine kleine Gebühr reinigt er ihr Geld.“
„Was?“, fragte Abby verblüfft.
„Geldscheinputzer“, wiederholte der Taxifahrer geduldig. „Er putzt Geldscheine. Aber geben Sie ihm nichts. Wir fahren gleich weiter.“
Danach schimpfte Pierre lautstark auf Kreolisch. Der Alte zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und verschwand in der Menge. Mit einem Ruck fuhr das Taxi wieder an.
Sie kamen nur langsam voran. Die Menschenleiber drängten sich immer dichter, überfluteten die Straße. Sobald die Passanten erkannten, dass sich ein Ausländer in dem Taxi befand, stürmten sie heran und streckten Abby bettelnd ihre Hände entgegen. Abby hatte auf Pierres Empfehlung das Seitenfenster hochgekurbelt und die Wagentür von innen verriegelt. Doch die Armut hinter den verschmierten Scheiben wurde dadurch nicht besser, nur irrealer, bis Abby glaubte, sich in einem Traum zu befinden.
Immer wieder rumpelte das Taxi durch mit Regenwasser gefüllte Löcher im Straßenbelag. Schreiend sprangen die Passanten auseinander und versuchten dem schmutzigen, nach Öl, Kot und Urin stinkendem Wasser auszuweichen. Oft gelang ihnen der rettende Sprung nicht rechtzeitig, dann wurden Fäuste in die Luft geschüttelt und dem Taxi Flüche nachgeschleudert.
Ungerührt behielt Pierre das Lenkrad in der rechten Hand, während er mit der linken Hand in monotonen Rhythmus seine brennende Zigarette vom Mund zum Fenster, wo er die Asche hinausschnippte, und zurück zum Mund führte. Er strahlte eine Gleichgültigkeit aus, die Abby mehr erschütterte, als das Elend auf den Straßen. Es waren Landsleute, die da im Unrat wühlten, bettelten und versuchten dem spitzenden Dreck des Taxis auszuweichen, während er sich rücksichtslos seinen Weg bahnte.
Ein kleines Kind lief auf die Straße. Pierre dachte nicht einmal daran, auszuweichen, beschleunigte sogar noch, obwohl er die Gefahr erkannt hatte. Im letzten Augenblick riss ein mütterlicher Arm den Jungen auf die Sicherheit des Gehwegs zurück. Pierre grinste, als er das Geschrei der aufgebrachten Mutter hörte und machte eine obszöne Geste.
„Müssen Sie so rasen?“, herrschte ihn Abby an.
Er schnippte die Kippe aus dem Fenster. „Ich rase nicht. Wenn ich wegen jeder Kleinigkeit anhalte, sind wir morgen noch nicht im Hospital.“
„Sie sagten doch, es wären nur vier Meilen.“
„Madame“, sagte er herablassend. „Vier Meilen können auf Haiti so lang sein wie eine Reise zum Mond.“
6. Zeit und Kraft
Die Frau hinter der Empfangstheke des Krankenhauses blickte Abby verständnislos an. Über ihr feistes, schwarzes Gesicht strömte Schweiß, den sie mit einem aufgeweichten Papiertaschentuch wegwischte. Obwohl im Krankenhaus eine angenehme Temperatur herrschte, wirkte die Schwarze als habe sie einen dreitägigen Wüstenmarsch hinter sich. Auf dem Kragen ihrer weißen Schwesterntracht hatten sich dunkle Flecken gebildet, deren Salzränder, wie das Werk eines Neoimpressionisten wirkte.
Mein Gott, wie kann man nur so fett sein?, dachte Abby.
Nach all der Armut und dem Elend, dem sie auf der Fahrt hierher begegnet war, schien diese Frau von einem anderen Planeten zu stammen. Diese Frau, die sich seit zehn Minuten weigerte auch nur ein Wort von dem zu verstehen, was Abby ihr erklärte.
„Ich möchte einen Arzt sprechen“, wiederholte Abby ungeduldig. „Doctor. D-O-C-T-O-R.“
Ein Schwall Kreolisch brach über Abby herein. Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
„Ich verstehe Sie nicht!“
Das Telefon der Empfangstheke klingelte. Die Schwester hob ab und begann vergnügt ein Gespräch zu führen, das nur privater Natur sein konnte. Abby verfolgte eine Minute lang die Unterhaltung, dann wandte sie ab und ging zu einem Hinweisschild hinüber. Alles wurde auf Französisch erklärt, aber wenigstens gab es einen farbigen Grundriss des Krankenhauses, der aufzeigte, an welcher Stelle sie sich befand und wie sie zu den einzelnen Stationen gelangen konnte.
Nach einigem Suchen entdeckte Abby die Station für Infektionskrankheiten, station infectieuse, zweiter Stock. Sie blickte sich suchend nach einem Fahrstuhl um, aber es gab keinen, also schritt sie zu der breiten Treppe hinüber, von der sie annahm, dass es der Aufgang zu den einzelnen Etagen war.
Rechts von der Treppe führte ein weiterer Gang tiefer in das Krankenhaus hinein. In dem nackten, trostlosen Flur, der von schwachen Deckenstrahlern nur ungenügend ausgeleuchtet wurde, saß ein kleines Mädchen auf dem Fußboden.
Es mochte vielleicht fünf Jahre alt sein. Die Haare waren zu zwei dünnen Zöpfen geflochten, die ihr links und rechts auf die Schulter fielen. Sie trug ein rotes, geblümtes, an vielen Stellen zerschlissenes Kleid. Abby konnte nicht erkennen, was das Kind tat, aber es sah aus, als spielte es mit seinen Zehen. Mit beiden Händen hielt es seinen rechten Fuß umfasst und bog die Zehen zurück. Es wirkte wie ein Abzählreim, der beim großen Zeh begann, nach rechts und wieder zurück ging.
Abby trat einen Schritt näher. Das Mädchen blickte auf und entdeckte sie. Es schien keine Angst zu haben.
Was macht ein Kind hier allein auf dem Gang eines Krankenhauses? Wartet es auf seine Eltern, die auf Besuch bei einem Angehörigen sind?
Nein, es gab keinerlei Türen, die zu Patientenzimmern führen konnten. Abby überlegte, ob sie zurück zum Empfang gehen sollte, verwarf dann aber den Gedanken. Das Mädchen sah Abby unverwandt an. Abby ging vor dem Kind in die Hocke.
„Hallo.“
Die braunen Augen forschten in ihrem Gesicht. Abby ihrerseits nahm das Mädchen in Augenschein. Es war zierlich, mit feinen ebenmäßigen Zügen. Ihre Haut war wesentlich heller als die Hautfarbe der meisten Haitianer, denen Abby bisher begegnet war.
„Was machst du denn hier?“, fragte Abby ohne Hoffnung verstanden zu werden, aber das Kind begriff instinktiv, was sie von ihm wissen wollte. Lächelnd deutete es auf seinen Fuß.
Der Schock traf Abby unvorbereitet. Sie sprang auf und wich einen Meter zurück. Der Fuß war deformiert, nicht mehr als ein Stück rohes Fleisch mit brandigen Geschwüren übersät, aus denen grauer Eiter floss. Abby hatte keine Vorstellung davon, welche Krankheit eine derartige Entstellung hervorrufen konnte, aber der Fuß sah aus, als müsse er sofort behandelt, vielleicht sogar amputiert werden.
Sie würgte den aufkommenden Brechreiz hinunter, beugte sich zu dem Mädchen hinab und hob es auf. Die Kleine ließ es widerstandslos geschehen, lehnte sich mit dem Kopf an ihre Schulter und begann leise ein Lied zu singen. Abby stand einen Augenblick ratlos da. Ihr Verstand weigerte sich einen klaren Gedanken zu fassen, aber dann wandte sie sich um und hinkte zum Empfang zurück. Das Geräusch ihrer Sommersandalen hallte unheimlich von den Wänden des Ganges wieder. Abby hatte das Gefühl, in einem Alptraum gefangen zu sein, als sie mit dem fremden Kind auf den Armen durch den Flur humpelte.
Die Frau vom Empfang war nicht mehr hinter dem Tresen. Niemand war da. Verzweifelt blickte sich Abby um. Die Halle lag still und verlassen vor ihr.
Was soll ich jetzt tun?
Ohnmachtsgefühle wallten in ihr auf. Sie war auf so etwas nicht vorbereitet. Sollte sie am Empfang warten, bis die Krankenschwester wiederkam oder sollte sie sich auf die Suche nach Hilfe machen. Das Kind begann zu weinen. Sein Schluchzen nahm Abby die Entscheidung ab. Das Mädchen musste medizinisch versorgt werden - sofort!
Obwohl alles in ihr drängte loszugehen, nahm sie sich die Zeit, tröstende Worte in das Ohr der Kleinen zu flüstern.
„Alles wird gut. Du wirst es sehen. Wir finden einen Arzt und der hilft dir. Hab keine Angst.“
Ihr Versuch, das Kind zu beruhigen, schlug fehl. Das Mädchen begann wild zu strampeln und um ein Haar wäre sie ihr aus den Armen geglitten. Abby presste sie noch enger an sich und ging los. Sie war kurz vor einer Panik. Ihr verletzter Fuß fühlte sich an, als sei er zwischen einen Schraubstock geraten und die Schmerzen wurden mit jedem Schritt schlimmer.
Station infectieuse, zweiter Stock.
Ja, dorthin würde sie die Kleine bringen. Der Fuß sah infektiös aus und selbst wenn er es nicht war, irgendwo auf der Station würde sie einen Arzt finden.
Sie stolperte die Treppe hinauf. Ihr Herz raste in der Brust. Keuchend erreichte sie den obersten Treppenabsatz. Eine massive Glastür versperrte ihr den Weg. Abby riss sie auf und stand unvermittelt einem Mann gegenüber. Sein weißer Kittel kennzeichnete ihn als Arzt.
Er war noch jung. Vielleicht in ihrem Alter, mit müden Augen, unter denen sich dunkle Ringe abzeichneten. Seine Hautfarbe war ebenso hell wie die des kranken Mädchens. Sein schwarzes Haar war kurz geschoren und wirkte wie die Frisur eines Strafgefangenen. Um seinen Hals hing ein Stethoskop, dessen silbrig glänzendes Ende nach links und rechts baumelte, als er einen Schritt auf sie zumachte.
„Estelle!“, rief er aus. Seine Hände griffen nach vorn, nahmen ihr das Kind aus den Armen. Das Mädchen lächelte und schmiegte sich an seinen Hals. Sie flüsterte etwas in leisem Singsang. Die Antwort war ebenso leise.
„Was ist mit ihr?“, fragte Abby.
„Wo haben Sie Estelle gefunden?“ Sein Englisch hatte einen leichten Akzent. Seine Stimme war weich. Dunkel.
Abby deutete mit der Hand auf die Treppe, die sie hochgekommen war.
„Unten in der Aufnahme.“
Sein Blick folgte ihrer Hand. Dann schüttelte er den Kopf.
„Das ist nicht die Aufnahme. Sie waren im Verwaltungstrakt. Er wird bald stillgelegt. Wahrscheinlich ist Estelle hinunter gegangen, um dort in Ruhe zu spielen. Hier...“ Er wandte demonstrativ den Kopf. „... ist das leider kaum möglich.“
Abby hatte bisher nur Augen für das Mädchen und den Arzt gehabt, als sie sich nun umsah, erkannte sie, was er meinte. Der Gang erstreckte sich scheinbar endlos vor ihr. Neonlicht, aus Fliegendreck verschmierten Glasröhren, flackerte neben Deckenventilatoren, die mühsam gegen die stickige Luft ankämpften. An einer Seite des Ganges standen Betten wie Soldaten beim Morgenappell. Einfache Holzgestelle, in den Patienten auf eine Behandlung warteten oder mit ihrem Besuch plauderten. Über allem lag ein Geruch aus Desinfektionsmitteln und fauligem Obst. Obwohl es hier nicht laut war, schmerzte das Gesumme der Unterhaltungen in ihren Ohren.
„Das ist ja Wahnsinn“, ächzte Abby.
„Nein“, erwiderte der Arzt ruhig. „Alltag.“
Er wollte sich abwenden und gehen, aber Abby zupfte ihn am Ärmel seines Kittels.
„Sie haben mir nicht geantwortet. Was ist mit dem Mädchen?“
Seine Augenbrauen zuckten nach oben. „Sie möchten wissen, an welcher Krankheit das Kind leidet?“
Abby nickte.
„Der lateinische Begriff würde Ihnen nichts sagen. Wir nennen die Krankheit la démocratie. Die Krankheit wird durch kleine Verletzungen hervorgerufen, die sich entzünden. Oft treten die Kinder beim Spielen in rostigen Stacheldraht. Wenn die Wunde nicht sofort behandelt wird, entzündet sie sich in der tropischen Hitze.“
„Sie nennen die Krankheit «Demokratie»?“, fragte Abby.
Sein Lächeln war bitter. „Die Amerikaner haben insgesamt fünf Mal Haiti besetzt, um uns die Demokratie zu bringen. Wenn sie kamen, haben sie als erstes um ihre Camps Stacheldraht ausgerollt. Wenn sie später dann wieder abzogen, blieb von der Hoffnung auf Demokratie nur der Stacheldraht zurück, der heute unsere Kinder verstümmelt.“
„Wird Estelle wieder gesund?“
„Ja, die Wunde sieht schlimmer aus als sie in Wirklichkeit ist. Estelle wickelt sich immer den Verband ab, um nachzusehen, ob ihre Zehen noch da sind und erschreckt damit die Leute. In ein paar Wochen sieht der Fuß wieder ganz normal aus und seine Beweglichkeit bleibt auch erhalten. Sie hat Glück gehabt. Es gibt Kinder mit weniger Glück, denen wir beide Beine amputieren mussten.“
„Das ist ja furchtbar.“
Seine dunklen Augen forschten in ihren. „Sie sind aus England, nicht wahr?“
„Ja, ich...“
„Warten Sie einen Moment“, unterbrach sie der Arzt. „Ich bringe Estelle auf ihr Zimmer.“
Erst jetzt bemerkte Abby, dass das Kind in seinen Armen eingeschlafen war.
Wenn Kinder schlafen, sehen sie wie Engel aus, die Gott uns Menschen auf der Erde zurückgelassen hat.
Wer hatte das gesagt? Abby wusste es nicht mehr, aber als sie Estelle beobachtete, wie sie sich in die Halsbeuge des Mannes schmiegte, spürte sie den Wahrheitsgehalt dieser Worte.
Der Arzt ging den Gang hinunter. Immer wieder blieb er kurz stehen, sprach hier ein Wort, drückte dort eine Hand oder befühlte eine heiße Stirn. Inmitten des Durcheinanders wirkte er wie ein Kapitän, der trotz eines heftigen Sturms ruhig sein Schiff auf Kurs hält. Abby kam nicht umhin, ihn zu bewundern. Sie selbst hätte als Mediziner angesichts der Zustände einen Nervenzusammenbruch erlitten. Zehn Minuten verstrichen, dann war der Arzt zurück.
„Bitte kommen Sie in mein Büro. Dort können wir uns unterhalten.“
Abby folgte ihm in einen Seitengang. Hier gab es keine Patienten, die auf eine Behandlung warteten und auch keine Besucher, die mit ihren kranken Familienangehörigen schwatzten. Dafür war der Gang auf beiden Seiten mit Regalen vollgestellt. Dicke Ordner stapelten sich darin. Schriftstücke quollen daraus hervor, als versuchten sie zu fliehen.
„Wie gesagt, der Verwaltungstrakt wird aus Kostengründen geschlossen, dementsprechend beengt geht es bei uns zu.“ Er öffnete eine Tür und bedeutete Abby einzutreten.
Sein Büro war klein und noch überladener als der Gang. Auf dem Schreibtisch stand ein einsamer Computer, dessen Monitor ausgeschaltet war. Auch hier gab es vollgestopfte Regale. Zusätzlich türmten sich auf dem Fußboden weitere Aktenstapel. In dem winzigen Raum roch es nach altem Papier und etwas Undefinierbarem. Abby konnte den Geruch zunächst nicht einordnen, aber schließlich begriff sie, dass der süßliche Gestank von Mottenpulver herrührte.
Es gab nur einen Stuhl. Einen drehbaren Bürostuhl mit dunkelblauer, zerschlissener Auflage, den er Abby heranschob und sie einlud Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich auf eine Kante des Schreibtischs.
„Ich würde Ihnen gern Kaffee anbieten, aber die Maschine ist hinüber“, lächelte er entschuldigend.
„Danke, ich habe schon im Hotel gefrühstückt.“
„Gut. Was kann ich für Sie tun?“
„Mein Name ist Abby Summers...“
„Oh, Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Jean Mitchard.“ Verlegen streckte er Abby seine Hand entgegen. Sein Griff war fest, ohne unangenehm zu sein.
„Sie sind Arzt hier am Krankenhaus, richtig?“
„Ja.“
Abby öffnete ihre Handtasche und zog die Sterbeurkunde, die man ihr von Haiti aus zugesandt hatte.
„Meine Schwester, Linda Summers, ist vor einer Woche hier im Krankenhaus verstorben.“
Sein Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. „Das tut mir leid.“
„Ich würde gern mit dem behandelnden Arzt sprechen.“ Abby reichte ihm das Dokument. „Der Name steht unten.“
Mitchard nahm das Papier und las es aufmerksam durch. „Die Sterbeurkunde wurde von Dr. Muncine ausgefüllt, meinem Vorgesetzten. Ich habe von dem Fall gehört. Ihre Schwester wurde spät nachts mit hohem Fieber eingeliefert und fiel ins Koma. Sie verstarb, ohne noch einmal das Bewusstsein zu erlangen.“
„An welcher Krankheit ist sie gestorben?“
„Tut mir leid. Die Ursache ihres Todes konnte nicht geklärt werden.“
„Warum nicht?“
Mitchard fuhr sich zerstreut mit der Hand durchs Haar. „Sehen Sie, Haiti ist ein armes Land. Ein sehr armes Land. Der Staat ist bankrott und überall muss gespart werden. Unsere technischen Geräte sind hoffnungslos veraltet und funktionieren größtenteils nicht. Es gibt kaum Medikamente und das Wenige, das wir noch zur Verfügung haben, stammt aus Spenden ausländischer Organisationen wie dem Roten Kreuz, dem Roten Halbmond und der WHO, aber es reicht bei weitem nicht. Strom gibt es nur wenige Stunden am Tag und oft streikt die Wasserversorgung. Die Belegschaft des Krankenhauses ist hoffnungslos überlastet. Es grenzt an ein Wunder, dass das System noch nicht zusammengebrochen ist, aber wir stehen kurz davor. Wir haben also weder die Mittel noch die Zeit, um uns um die Todesursachen verstorbenen Patienten zu kümmern. Unsere Zeit und Kraft muss den Lebenden gehören. Ich weiß, es klingt hart, aber es ist die tägliche Realität, mit der wir zurechtkommen müssen.“
Abbys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Zorn blitzte darin auf. „Das sind ja schöne Zustände.“
Mitchards Gesichtsausdruck blieb unverändert, nur seine Augen wirkten plötzlich müde und alt. „Weder ich noch irgendein anderer Angestellter dieses Krankenhauses hat in den letzten neun Monaten sein Gehalt bekommen. Wir arbeiten alle, um zu helfen. Die meisten von uns haben noch einen Nebenjob, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Ich fahre nachts Taxi, falls es Sie interessiert.“
Abby schoss die Röte ins Gesicht. Verdammt, wie hatte sie sich bloß so gehen lassen können. Der Tod ihrer Schwester, die Schmerzen in ihrem Fuß und das Chaos, das in diesem Krankenhaus herrschte, hatten sie dazu verleitet, voreilige Schlüsse zu ziehen. Dieser junge Arzt sah nicht so aus, als würde ihn sein Beruf reich oder auch nur wohlhabend machen. Wahrscheinlich verdiente sie selbst in einem Monat mehr als Mitchard im ganzen Jahr.
„Es...“
„Vergessen Sie es. Ich verstehe, wie Sie sich fühlen müssen. Sie kommen aus einer anderen Welt. Haiti muss auf Sie wie ein lebendig gewordener Albtraum wirken. Aber glauben Sie mir, es gibt hier auch viel Schönheit und Wunderbares.“
Das konnte sich Abby nun wirklich nicht vorstellen. Die Taxifahrt hierher und die Zustände in diesem Krankenhaus ließen sie inzwischen glauben, dass es sehr wohl eine Hölle auf Erden gab.
„Kann ich Dr. Muncine sprechen?“
„Nein, tut mir leid. Dr. Muncine versorgt mit einer mobilen Krankenstation die nächsten zwei Wochen die Landbevölkerung im Norden.“ Mitchard verschwieg beschämt die Tatsache, dass die mobile Krankenstation aus einem alten, verbeulten Toyota Landcruiser und zwei Notfalltaschen mit Minimalausrüstung bestand.
„Dann gibt es also keine Möglichkeit, mehr über den Tod meiner Schwester zu erfahren?“, hakte Abby nach.
„Ich kann in den Computer sehen“, meinte Mitchard, aber es klang nicht so, als glaube er daran, Abby helfen zu können.
„Tun Sie das bitte.“
Mitchard rutschte vom Schreibtisch, ging um ihn herum und beugte sich über die Tastatur.
„Möchten Sie Ihren Stuhl?“, fragte Abby.
„Nein, danke. Es geht schon.“
Abby konnte sehen, wie er die Maus bewegte. Offensichtlich blätterte er sich durch verschiedene Menüs. Sie nutzte die Zeit, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Die Aussicht war nicht gerade erbaulich. Direkt hinter dem Krankenhaus begannen die Slums von Port-au-Prince. Wellblechhütte reihte sich an Wellblechhütte. Es waren kaum Menschen zu sehen. Wahrscheinlich flüchtete alles vor der beginnenden Hitze des Tages in den Schatten. Selbst die unvermeidlichen Schweine suhlten sich nicht auf der Strasse. Abby sah lediglich eine einsame Ziege, die angepflockt an einem dürren Strauch zupfte.
„Das ist komisch“, sagte Mitchard.
„Was?“, zuckte Abby zusammen.
„Ihre Schwester wird nicht in den Krankenhausunterlagen geführt.“
„Bei diesem Chaos hier, überrascht mich das nicht“, seufzte Abby. „Die Patientendaten sind also auch nicht auf dem neuesten Stand, aber...“
Mitchard wirkte verwirrt. „Nein, ich meine, Ihre Schwester wurde laut unseren Daten nie hier aufgenommen. Ich habe in der Einlieferungsdatei nachgesehen, aber keine Notiz gefunden. Gar nichts. Nicht einmal Angaben wie Name, Geschlecht, Alter sind vermerkt. Laut diesen Daten wurde Linda Summers hier nie behandelt.“
„Vielleicht hat jemand vergessen, die Daten einzugeben?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Kann ich mir nicht vorstellen. Wenigstens das Aufnahmeformular sollte ausgefüllt und eingegeben sein. Sehen Sie, für Haitianer ist die Behandlung kostenlos. Ausländische Besucher erhalten eine Rechnung. Ich denke nicht, dass jemand aus der Verwaltung diesen wichtigen Umstand übersehen hätte. Das Krankenhaus braucht jeden Dollar.“
„Sie sagten ‚Aufnahmeformular’. Es gibt also möglicherweise ein Schriftstück.“
„Sollte es geben“, meinte Mitchard frustriert.
„Wo befinden sich die Unterlagen über die Patienteneingänge?“
Der Arzt lächelte bitter. „Hier in diesem Büro oder einem anderen. Draußen auf dem Gang in einem der vielen Regale oder im Keller. Wer weiß das schon.“
„Gibt es die Möglichkeit, dass jemand nachsieht.“ Abby wurde im gleichen Moment bewusst, was sie da verlangte. „Ich bezahle, was es kostet. Ich bin weit gereist und ich möchte nicht zurückfliegen, ohne die genauen Umstände zu kennen, unter denen meine Schwester verstorben ist.“
„Sie müssen dafür nicht bezahlen. Ich werde sehen, ob ich die Patientenakte Ihrer Schwester finde, aber es kann eine Weile dauern. Zuerst muss ich meinen Dienst beenden. Wo kann ich Sie erreichen?“
„Ich wohne im Hotel Ollofson. Kennen Sie es?“
„Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Port-au-Prince kennt dieses Hotel. Es ist berühmt und erzählt von einer besseren Zeit. Einer Zeit von der wir alle hoffen, sie möge bald wiederkommen.“
„Dann werde ich von Ihnen hören?“
„Sobald es mir möglich ist.“
Abby erhob sich. Sie ging zu Mitchard und reichte ihm die Hand.
„Vielen Dank.“
„Danken Sie mir erst, wenn ich etwas gefunden habe.“
Als Abby das Krankenhaus verließ, traf sie auf Patrick Ferre, der an einen schwarzen Mercedes gelehnt, auf sie wartete. Diesmal trug er helle Jeans und ein weißes Hemd, das an der Brust offen stand. Seine Augen waren von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt, die aber sofort abnahm, als Abby auf ihn zuging.
„Hallo“, meinte Ferre und lächelte charmant.
„Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen.“
„Kein Zufall, ich gebe es zu. Ich war in Ihrem Hotel und wollte Sie zu einem Ausflug abholen. Der Portierjunge hat mir gesagt, wo ich Sie finden kann.“
„Danke auch für die wundervollen Blumen, die Sie mir geschickt haben.“
Er grinste schelmisch. „Ein Bestechungsversuch, damit ich Sie wiedersehen darf.“
„Nun, da bin ich.“
„Dann haben Sie Lust, ein wenig mit mir aufs Land zu fahren?“
Abbys gute Laune verflog schlagartig, als er einfiel, dass sie noch die Ausfuhr des Leichnams ihrer Schwester in die Wege leiten musste.
„Ich würde gern“, erklärte sie. „Wirklich gern. Aber ich muss zum Gesundheitsministerium.“
„Sind Sie krank? Haben Sie das gestrige Essen nicht vertragen?“
Abby gönnte sich ein kurzes Lachen, als sie begriff, welche Schlüsse Ferre aus ihrem Besuch im Krankenhaus und ihrem jetzigen Vorhaben ziehen musste.
„Nein. Ich habe Ihnen doch vom Tod meiner Schwester und dem Grund meines Aufenthaltes in Haiti erzählt. Es gibt noch Formalitäten zu erledigen.“
Ferres Gesicht nahm einen trübsinnigen Ausdruck an. „Entschuldigung. Ich hatte es nicht vergessen, aber für einen Moment verdrängt. Natürlich begleite ich Sie, wenn Sie es möchten.“
„Das müssen Sie nicht, Patrick.“
„Ich könnte Ihnen eine Hilfe sein. Die Beamten auf Haiti können ziemlich stur werden. Ich kenne die hiesige Mentalität und weiß, wie man mit diesen Leuten umgehen muss.“ In seinen Augen blitzte wieder die gute Laune auf. „Außerdem dürfte es hilfreich sein, jemanden dabei zu haben, der Kreolisch und Französisch spricht.“
Sicherlich hatte Patrick Ferre Recht. Abby zögerte nur kurz. Ihr Fuß schmerzte noch immer. Ein Taxi war weit und breit nicht zu sehen und die Hitze inzwischen mörderisch. Selbst nach nur wenigen Augenblicken in der Sonne, konnte Abby bereits spüren, wie ihre Haut auf den nackten Armen und im Gesicht zu kribbeln begann.
„Vielen Dank, Patrick. Ich nehme Ihre Hilfe gern an.“
„Gut, dann los. Vielleicht dauert es ja nicht allzu lang, bis wir den dementsprechenden Beamten geweckt haben und uns bleibt noch genug Zeit, zu den „Heiligen Kaskaden“ von Saut d’Eau oder nach Cap Haïtien zu fahren.“
„Was sind das für Orte? Touristenattraktionen?“
„Die Wasserfälle von Saut d’Eau bei dem Dörfchen Ville-Bonheur sind ein magischer Ort. Man sagt, dass dort Mitte des 19. Jahrhunderts in der Nähe des Wasserfalls Saut d’Eau die Jungfrau Maria in einer Palmenkrone erschienen ist. Jedes Jahr vom 12. bis 16.Juli findet eine Wallfahrt nach Ville-Bonheur statt. Tausende Haitianer strömen dann zu den „Heiligen Kaskaden“. Die einen hoffen, die Jungfrau erscheine wieder und die anderen beten zu ihren Schutzgeistern, den ‚Loas’. So ist das auf Haiti. Wir glauben alle an irgendetwas.“
„Und Sie? An was glauben Sie?“
„Ich glaube, die „Heiligen Kaskaden“ von Ville-Bonheur sind von so einzigartiger Schönheit, dass Sie nicht abreisen dürfen, ohne sie gesehen zu haben.“
Abby konnte gar nicht anders. Sie musste lachen. „Gut, dann lassen Sie uns zum Gesundheitsministerium fahren. Wenn es nicht allzu lang dauert, können wir ja anschließend der heiligen Jungfrau noch einen Besuch abstatten.“
Jean Mitchard hatte seinen Dienst nicht wieder aufgenommen. Noch immer saß er in seinem Büro und grübelte darüber nach, warum Linda Summers Patientendaten nicht im Computer zu finden waren.
Als die junge Engländerin hier gewesen war, hatte er es nicht zugeben wollen, aber die ganze Angelegenheit war merkwürdig. Hier am Krankenhaus funktionierte nur wenig, doch es war noch nie vorgekommen, dass die Unterlagen eines Patienten nicht auffindbar waren. Besonders, da es sich hier um den Todesfall einer ausländischen Person handelte.
Mitchard hob den Hörer von seinem altmodischen schwarzen Telefonapparat und wählte die ‚1’. Es klingelte nur einmal, dann wurde am anderen Ende abgehoben.
„Ja?“, meldete sich die Stimme von Corinne Savalle, der Leiterin der Verwaltung.
„Hallo, ich bin es, Jean.“
„Was kann ich für dich tun? Sag nicht, du brauchst Geld für neue Medikamente! Wir haben kein Geld!“
Patrick schmunzelte. Corinne war eine fast sechzigjährige Französin, die seit über 30 Jahren auf Haiti lebte und ständig gute Laune verbreitete. Sie war die Seele des Krankenhauses, und wenn er tatsächlich ein dringendes Medikament benötigte, setzte die Verwaltungschefin Himmel und Hölle in Bewegung, um es zu besorgen.
„Nein. Diesmal will ich kein Geld von dir.“
„Ah, mal etwas ganz Neues. Du rufst an, um mit mir zu flirten.“
„Wieder falsch. Du bist zu jung für mich.“
Corinne Savalle prustete ins Telefon. “Das war mit Sicherheit die charmanteste Lüge, die ich in meinem Leben gehört habe. Also, um was geht es dann?“
„Du erinnerst dich vielleicht an den Todesfall der jungen Engländerin hier am Krankenhaus. Linda Summers. Sie wurde letzte Woche spät nachts eingeliefert und verstarb am frühen Morgen.“
„Ja, wir haben darüber geredet.“
„Gerade war ihre Schwester hier.“
„Ihre Schwester?“
„Sie ist gestern in Haiti eingetroffen, um die Rückführung des Leichnams nach England zu organisieren. Sie fragte mich nach den Einzelheiten der Krankheit, aber ich wusste zu wenig über den Fall. Muncine hatte Dienst, als sie aufgenommen wurde. Er hat auch die offizielle Sterbeurkunde unterschrieben.“
„Und?“
„Muncine ist unterwegs, also konnte ich ihn nicht fragen. Und im Computer finde ich Linda Summers Patientendaten nicht.“
Für einen Moment herrschte Schweigen. Lediglich das Knacken der Verbindung drang noch aus dem Hörer. Dann sagte Corinne Savalle: „Unmöglich! Ich habe letztes Wochenende die Krankenhausdateien auf den neusten Stand gebracht und Linda Summers Daten eingeben. Wir müssen mit dem Gesundheitsministerium abrechnen, auch wenn die uns kaum noch Mittel zur Verfügung stellen.“
„Aber ich finde nichts.“
„Augenblick.“
Jean konnte das hektische Klappern der Computertastatur hören. Dann ein Seufzen.
„Du hast Recht. Linda Summers steht nicht in unserem Computer. Ich verstehe das nicht.“
„Hast du noch die Originalunterlagen?“
„Ja, die müssen hier irgendwo sein.“
„Suchst du sie für mich heraus und sagst mir Bescheid?“
„Du hörst von mir.“
Mitchard legte den Hörer auf die Gabel. Im Moment konnte er nicht mehr tun. Auf der Station warteten die Patienten auf ihn. Er nahm sein Stethoskop von der Schreibtischplatte und hängte es sich um. Heute Abend, wenn er nicht zu müde war, würde er die Sache weiter verfolgen.
7. Sechzig Dollar
Der Beamte sah aus wie Beamten überall auf der Welt aussehen. Unscheinbar, mit missmutigem Gesichtsausdruck, so als ahne der schon die kommenden Unannehmlichkeiten, sah er Abby hochmütig an. Wahrscheinlich gibt es eine Gussform für Staatsdiener, dachte Abby.
Sie und Patrick Ferre saßen auf zwei harten Holzstühlen, deren gerade Lehnen, es unmöglich machten, bequem zu sitzen. Ohne Ferres Hilfe würde sie immer noch durch das riesige Kolonialgebäude irren und versuchen, die französischen Bezeichnungen der einzelnen Abteilungen zu entziffern. Patrick hatte lediglich fünf Minuten gebraucht, um herauszufinden welcher Beamte für sie zuständig war. Nun saßen in einem Büro, dessen Ausmaße nur knapp unter dem von Abbys Hotelzimmer lagen und warteten darauf, dass der Beamte die Ausfuhrgenehmigung für einen Leichnam ausfüllte. Abby hatte ihm ihr Anliegen in Englisch vorgetragen, aber seitdem sie dem Mann die Sterbeurkunde ausgehändigt hatte, war nicht viel geschehen. Der Beamte hatte kurz das Telefon abgehoben und etwas auf Kreolisch gesagt. Nun schwiegen beide Seiten und starrten sich an.
„Worauf warten wir eigentlich?“, flüsterte Abby Patrick zu.
„Er hat angeordnet, ihm die nötigen Unterlagen zu schicken.“
„Das war vor zehn Minuten.“
„Wenn der Bürobote in der nächsten halbe Stunde kommt, können wir von Glück reden.“
„Himmel“, stöhnte Abby.
„Nein, Haiti“, erwiderte Ferre gelassen.
„Gefällt Ihnen Ihr Aufenthalt auf unserer Insel?“, begann der Beamte ein Gespräch, um sich die Zeit zu vertreiben.
Abby blickte in das schwarze Gesicht. Der Mann hatte fein geschnittene Züge, aber Zähne, die aussahen als habe er seit Jahren keine Zahnbürste mehr benutzt. Der Anzug, den er trug, war an den Schultern und den Ärmeln fadenscheinig geworden. Das weiße Hemd darunter zeigte gelbliche Flecken. Vor ihm auf dem Schreibtisch stand ein Aschenbecher aus dem die Kippen quollen. Ungeachtet der dicken Rauchschwaden, die schon jetzt über dem Büro lagen, zündete sich der Beamte die nächste Zigarette an. Es war eine deutsche Marke, von der Abby noch nie gehört hatte, aber sie konnte die Schrift auf der Packung sehen.
„Ich bin nicht zum Vergnügen hier.“
„Ja“, meinte der Mann stoisch.
„Wie lange dauert es noch?“
Der Beamte zuckte gelassen die Schultern und widmete sich genussvoll seiner Zigarette.
Patrick erhob sich plötzlich. Er griff in seine Hosentasche und zog eine Geldspange hervor. Die Augen des Beamten sprangen beim Anblick der vielen Dollars fast aus ihren Höhlen. Ferre zählte einige der grünen Scheine ab und legte sie vor dem Mann auf den Schreibtisch. Eine blitzschnelle Bewegung und das Geld war in einer Schublade verschwunden.
„Was machen Sie da?“, fragte Abby leise, aber Patrick bedeutete ihr zu schweigen.
Der Beamte hob erneut den Hörer ab. Obwohl Abby kein Wort verstand, klang seine Aufforderung diesmal wie ein Befehl. Keine fünf Minuten später wurde die Tür geöffnet. Eine zierliche Frau von unbestimmbarem Alter betrat zögerlich das Büro. Ihre dünn geflochtenen Rastalocken wippten, als sie eine dünne Mappe auf den Schreibtisch legte und wortlos wieder verschwand.
Der Beamte nahm den Ordner und blätterte ihn auf. Sein Zeigefinger wanderte über die oberste Papierseite, verharrte dann aber an einer Stelle. Der Blick des Mannes richtete sich auf Patrick Ferre. Ein kurzer Schwall kreolischer Worte wurde ausgesprochen.
Patrick antwortete ebenfalls in Kreolisch. Mehrfach hatte Abby das Gefühl, er fluche oder beschimpfe den Beamten. Aus dem unverständlichen Kauderwelsch hörte sie mehrfach das Wort ‚Boule’ heraus, dessen Bedeutung ihr jedoch schleierhaft blieb.
„Boule?“, wiederholte der Beamte mehrfach ungläubig. Seine Augen fieberten durch Ferres Gesicht. Er schien sich unwohl zu fühlen. Als Abby sich Patrick zuwandte, konnte sie sehen, dass er den Mann hinter dem Schreibtisch fixierte. Jede Freundlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Harte Linien hatten sich um die Mundwinkel gebildet. Ferre sah zornig aus.
„Was ist denn?“, flüsterte Abby erregt, aber Patrick antwortete ihr nicht, sondern starrte weiter seinen Gegner an.
„Miss Summers“, räusperte sich der Beamte. „Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie den Leichnam Ihrer Schwester nicht ausführen können.“
„Was?“, stieß Abby entsetzt hervor. „Wieso nicht?“
„Nun...“ Der Mann wandte sich regelrecht auf seinem Stuhl. „Es gibt keinen Leichnam mehr. Die Leiche von Linda Summers wurde verbrannt.“
Sämtliches Blut wich aus Abbys Gesicht. Ihre Lippen wurden taub, so als habe sie etwas Scharfes gegessen. In ihrem Inneren schien sich plötzlich ein Eisklumpen gebildet zu haben.
„Ich bin viele tausend Meilen geflogen und habe mich in Unkosten gestürzt, die ich mir nicht leisten kann. Und Sie sagen mir...“
„Der Gesundheitsminister hat in diesem speziellen Fall die Verbrennung der Leiche angeordnet. Dies geschah in Übereinstimmung mit unseren Landesgesetzen zur Eindämmung der Seuchengefahr. Ihre Schwester verstarb an einer unbekannten Krankheit, deren Ursache ungeklärt ist. Sie verstehen hoffentlich, dass es die vorrangige Aufgabe dieser Behörde ist, die Bürger Haitis und deren Gesundheit zu schützen.“
„Nein, ich versteh nicht!“, keuchte Abby heiser. „Ich habe eine Sterbeurkunde und eine Benachrichtigung der britischen Botschaft über das Ableben meiner Schwester. Nirgends wird mit einem Wort erwähnt, dass ihr Leichnam verbrannt wurde. Ich habe von England aus ihre Behörde angerufen. Niemand, und ich betone niemand, hat mir erklärt, die Leiche sei bereits eingeäschert worden.“
„Ein bedauerliches Versehen...“
Abby ließ ihn nicht ausreden. „Was ist mit den Überresten meiner Schwester geschehen?“
„Überresten?“, wiederholte der Beamte. „Die Leiche wurde...“
„Die Asche? Was ist mit ihrer Asche?“
Der Blick des Mannes wanderte zu Ferre, der einen kurzen Satz auf Kreolisch ausstieß.
„Ich nehme an, die Asche wurde in einer Urne beigesetzt“, stammelte der Beamte.
„Sie wissen es nicht?“, fragte Abby angestrengt. Ihr Asthma war kurz vor dem Ausbruch. Sie konnte spüren, wie sich ihre Lungen zusammenzogen. Ein Anfall stand unmittelbar bevor. Sie griff nach ihrer Handtasche und begann fieberhaft nach dem Sedacanol zu suchen.
„Leider, nein. Aber ich werde nachforschen. Ist Ihnen nicht gut?“
Abby hörte die letzten Worte nicht mehr. Der Asthmaanfall hatte sie im Griff. Würgend versuchte sie Luft in ihre gepeinigten Lungen zu pumpen, aber durch die Verkrampfung konnte sie nur noch wenig Sauerstoff einatmen.
„Das...Sedacanol...meine Handtasche...“, keuchte Abby. Ihr Gesicht hatte eine ungesunde Färbung angenommen. Die Lippen wirkten blau als wären sie mit Tinte gefüllt.
Ferre reagierte augenblicklich. Er riss Abby die Handtasche aus den Fingern und drehte sie um. Es gab ein metallisches Geräusch, als der Inhalator auf den Parkettboden polterte. Patrick griff danach und schob Abby das Mundstück zwischen die zusammengepressten Lippen. Sein Daumen presste den Druckknopf herunter. Einmal. Zweimal. Dreimal pumpte er eine Dosis des Medikaments heraus.