12

SIE ERREICHTEN DAS Haus zur selben Zeit wie die Polizei. Misstrauisch wandte sich der bullige junge Officer zu Julian. »Wer ist er?«

»Ein Freund«, erklärte Grace.

Der Beamte streckte eine Hand aus. »Okay, geben Sie mir die Schlüssel. Während ich mich da drin umsehe, bleibt Officer Reynolds hier draußen bei Ihnen.«

Widerspruchslos reichte sie ihm ihren Schlüsselbund. Während er ins Haus ging, kaute sie nervös an ihrem Daumennagel. Bitte, lieber Gott, lass Rodney da drin sein …

Aber ihr Gebet wurde nicht erhört. Eine Viertelstunde später kam der Polizist heraus und schüttelte den Kopf.

»Verdammt«, flüsterte sie, dann folgte sie ihm zusammen mit Julian und Officer Reynolds in die Diele.

»Stellen Sie mal fest, ob da oben was fehlt, Dr. Alexander«, bat der jüngere Polizist.

»Hat Carmichael was durcheinandergebracht?«

»Nur im Schlafzimmer.«

Bedrückt stieg sie vor den drei Männern die Treppe hinauf. Sie war so blass, dass die Sommersprossen stärker denn je hervortraten, und Julian hätte den Schurken, der ihr das alles antat, am liebsten niedergeschlagen. Keine Frau dürfte sich so sehr fürchten. Schon gar nicht in ihren eigenen vier Wänden.

Am Treppenabsatz blieb sie kurz stehen, sah eine offene Tür und rannte darauf zu. »Oh nein!«

Julian eilte ihr nach. Schweren Herzens spürte er ihre Verzweiflung, sah die Tränen über ihre Wangen rollen. Das Bett war zerwühlt, der Inhalt der Schubladen und des Schranks auf dem Boden verstreut, als wäre Zephyr voller Zorn durch den Raum gestürmt.

Tröstend berührte Julian ihre Schulter.

»Wie konnte er ihr Zimmer so verwüsten?«, wisperte sie.

»Ihr Zimmer?«, wiederholte Officer Reynolds. »Leben Sie nicht allein?«

»Doch … Das Zimmer hier bewohnten meine Eltern, bis sie starben.«

Ungläubig schaute sie sich um. Dass es Carmichael auf sie abgesehen hatte, verstand sie. Aber warum hatte er diesen Raum verwüstet?

Sie betrachtete die Sachen, die sie an so viele wundervolle Momente erinnerten. Manchmal hatte sie sich den Lieblingspullover ihrer Mutter ausgeliehen. Und die Ohrringe hatte der Vater seiner Frau zum Hochzeitstag geschenkt, kurz vor dem tödlichen Unfall. Und jetzt lag alles auf dem Teppich, als wäre es völlig wertlos.

Aber ihr bedeutete es sehr viel. Außer diesen Gegenständen war ihr nichts von ihren Eltern geblieben. »Wie konnte er nur?«, stieß sie wütend hervor.

Julian nahm sie in die Arme. »Schon gut, Grace.«

Nein, es war nicht gut. Allein schon der Gedanke, dass der Bastard die Kleider ihrer Mutter angefasst und die Laken vom Ehebett gerissen hatte, drehte ihr den Magen um. Wie konnte er es wagen …

»Wir finden den Kerl«, versicherte Reynolds.

»Und was dann?«, fragte Julian.

»Das muss ein Gericht entscheiden.«

Verächtlich seufzte Julian. Von den Richtern dieses Zeitalters, die Verrückte ungehindert herumlaufen ließen, hielt er nichts.

»Auch wenn es Ihnen schwerfällt, Dr. Alexander …«, begann Reynolds zögernd. »Sehen Sie bitte nach, ob etwas fehlt – das ist wichtig.«

»Natürlich.«

Julian bewunderte ihre Tapferkeit, als sie sich aus seinen Armen befreite und ihre Tränen wegwischte. Systematisch durchsuchte sie die verstreuten Sachen, und er kniete neben ihr nieder. Falls sie ihn brauchte, wollte er in ihrer Nähe bleiben.

Schließlich stand sie auf. »Nein, hier fehlt nichts«, erklärte sie und ging in ihr eigenes Schlafzimmer, wo ein ähnliches Chaos herrschte.

Julians Kleidung war ebenso durchwühlt worden wie ihre. Unterwäsche und Bettzeug lagen auf dem Boden.

Wie bedauerlich, dass Carmichael das Schwert unter dem Bett nicht gefunden und berührt hatte … Das wäre höhere Gerechtigkeit gewesen.

Doch es befand sich immer noch an derselben Stelle. Und der Schild, den Julian an die Wand gelehnt hatte, war nicht entfernt worden.

Beim Anblick ihrer verstreuten Kleider fühlte sich Grace so verletzt, als hätten Rodneys widerwärtige Hände ihren Körper betastet.

Die Tür zur kleinen Bibliothek war nur angelehnt. Erschrocken lief sie hinein. »Oh Gott, meine Bücher!« Beinahe blieb ihr das Herz stehen.

Julian folgte ihr und rang nach Luft.

Unfassbar – jedes einzelne Buch war zerfetzt worden.

»Nein – nicht meine Bücher …«, würgte Grace hervor und sank kraftlos auf die Knie.

Mit bebenden Fingern strich sie über die zerrissenen Seiten der Werke, die ihr Vater geschrieben hatte. Unersetzliche Kostbarkeiten … Nie wieder würde sie in diesen Lehrbüchern blättern und glauben, seine Stimme zu hören, nie wieder den Roman »Black Beauty« aufschlagen, den ihr die Mutter vorgelesen hatte.

Alles zerstört. Plötzlich kam es ihr so vor, als hätte Rodney Carmichael ihre Eltern ein zweites Mal getötet. Und dann fiel ihr Blick auf die entweihte »Ilias«. Die Augen voller Tränen, entsann sie sich, wie erfreut Julian gewesen war, als sie ihm dieses Buch gezeigt hatte. Und sie dachte an die magischen Stunden, die sie den berühmten Legenden verdankten. Im Paradies ihrer Zweisamkeit.

»Kein einziges Buch hat er verschont«, stöhnte sie. »Um Himmels willen, wie lange muss er hier gewesen sein …«

»Ma’am, es sind doch nur …« Auch Reynolds hatte die Bibliothek betreten.

Julian packte seinen Arm und zog ihn aus der kleinen Kammer. »Für Grace sind das nicht nur Bücher!«, fuhr er ihn an. »Spotten Sie nicht über ihren Kummer!«

»Tut mir leid«, entschuldigte sich der Officer verlegen.

Als Julian zu Grace zurückkehrte, schluchzte sie unkontrolliert. »Warum ist das geschehen?«

Er hob sie hoch, trug sie ins Schlafzimmer und legte sie aufs Bett. In diesem Moment schrillte das Telefon. Schreiend richtete sich Grace auf.

»Pst!« Julian hielt sie mit sanfter Gewalt fest. »Sei ganz ruhig, ich bin bei dir.«

Officer Reynolds reichte ihr den Hörer. »Wenn das Carmichael ist, melden Sie sich, Ma’am.«

Empört starrte Julian ihn an. Was für ein gefühlloser Kerl! Verlangte er tatsächlich von ihr, mit diesem Monstrum zu reden?

»Hi, Selena …« Während Grace die Ereignisse schilderte, brach sie wieder in Tränen aus.

Julians Gedanken überschlugen sich. Würde es ihm gelingen, Grace vor diesem Geistesgestörten zu schützen, der in ihr Haus eingedrungen war und ihre Seele so tief verwundet hatte? Am meisten beunruhigte ihn die Erkenntnis, dass der Mann genau wusste, wie er sie verletzen konnte. Deshalb war er noch viel gefährlicher, als es die Polizisten vermuteten.

Seufzend beendete Grace das Telefonat und entschuldigte sich für ihren Nervenzusammenbruch. »Für mich war das ein schwerer Schock.«

»Das verstehen wir, Ma’am«, beteuerte Reynolds.

Julian beobachtete, wie sie sich zusammenriss, mit einer Willenskraft, über die wohl nur wenige Männer verfügten.

Nach ein paar Minuten stand sie vom Bett auf und führte die Polizisten durch das restliche Haus.

»Das muss Carmichael übersehen haben«, meinte der jüngere Polizist und reichte ihr Julians altes Buch, das er auf dem Couchtisch im Wohnzimmer entdeckt hatte.

Julian nahm es ihr aus der Hand.

Im Gegensatz zu dem Beamten bezweifelte er, dass es der Aufmerksamkeit des Schurken entgangen war. Falls er es zu zerfetzen versucht hatte, war er sicher verblüfft gewesen, denn das Buch konnte nicht vernichtet werden. Darum hatte sich Julian im Lauf der Jahrhunderte oft genug bemüht. Nicht einmal eine Feuersbrunst vermochte es zu beschädigen. Und das erinnerte ihn an die Vollmondnacht, nach der er Grace verlassen musste.

Wer würde sie dann beschützen?

Bei diesem Gedanken fühlte er sich elend.

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Kurz nachdem die Polizisten davongefahren waren, hielt Selenas Jeep vor dem Haus. Von einem großen, dunkelhaarigen Mann mit einem Gipsarm begleitet, rannte sie zur Tür. »Bist du okay?«, fragte sie und umarmte Grace.

»Ja.« Grace spähte über die Schulter ihrer Freundin und begrüßte den Mann. »Hallo, Bill.«

»Hi, Grace, wir sind gekommen, um dir zu helfen.«

Sie machte ihn mit Julian bekannt, dann gingen sie in die Diele. Vor der Wohnzimmertür griff Julian nach Selenas Hand und zog sie beiseite. »Würden Sie Grace für eine Weile hier unten festhalten?«

»Warum?«

»Weil ich was erledigen muss.«

»Also gut …«, stimmte sie zögernd zu.

Er wartete, bis die drei im Wohnzimmer saßen. Dann eilte er in die Küche und holte ein paar Müllsäcke, stieg die Treppe hinauf und betrat die verwüstete Kammer.

So schnell wie möglich räumte er auf, damit Grace das deprimierende Chaos nicht mehr sehen musste. Bei jeder zerrissenen Buchseite, die er berührte, wuchs sein Zorn. Voller Begeisterung hatte Grace ihm ihre kostbare Bibliothek gezeigt. In seiner Fantasie sah er ihr strahlendes Gesicht, hörte ihre ausdrucksvolle Stimme, mit der sie ihm seine geliebte »Ilias« vorgelesen hatte …

»Heiliger Himmel!«, rief Bill von der Tür her. »Das hat dieser Kerl angerichtet?«

»Ja.«

»Oh Mann, was für ein gemeingefährlicher Irrer!«

Schweigend stopfte Julian das zerfetzte Papier in die Müllbeutel, von wilder Rachsucht erfüllt. Nicht einmal Priapos hatte einen so abgrundtiefen Hass in seiner Brust geweckt wie Rodney Carmichael. Denn der grausame Fruchtbarkeitsgott verletzte nur ihn – nicht Grace

Die Schicksalsgöttinnen mochten den Mann vielleicht verschonen – Julian würde keine Gnade kennen.

»Sind Sie schon lange mit Grace zusammen, Julian?«

»Nein.«

»Das dachte ich mir. Selena hat Sie gar nicht erwähnt – obwohl sie dauernd ihr Bestes tat, um ihre Freundin mit irgendwem zu verkuppeln. Aber seit der Geburtstagsparty hat sie sich keine Sorgen mehr um Grace gemacht. Also müssen Sie damals schon aufgekreuzt sein.«

»Ja.«

»Ja, nein, ja … Sie reden nicht viel, was?«

»Nein.«

»Okay, ich verstehe den Wink mit dem Zaunpfahl. Bis später.«

Julian strich über den Einband von »Peter Pan«, Graces Lieblingsbuch. Bedrückt musterte er das Titelbild, dann steckte er es in einen Müllbeutel.

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Wie lange Grace reglos auf der Couch saß, wusste sie nicht. Nur eins war ihr bewusst – welch ein schweres Leid Rodney Carmichael ihr zugefügt hatte.

Selena brachte ihr eine heiße Schokolade. Als Grace daran nippen wollte, zitterte ihre Hand so heftig, dass sie die Tasse auf den Tisch stellen musste. »Nun sollte ich da oben sauber machen.«

»Darum hat sich Julian schon gekümmert.« Bill rekelte sich im Lehnstuhl und zappte durch die TV-Kanäle.

»Was?«, fragte Grace erstaunt. »Wann?«

»Vorhin.«

Grace lief die Treppe hinauf und fand Julian im Zimmer ihrer Eltern. Verwundert blieb sie auf der Schwelle stehen und beobachtete, wie er den Raum in Ordnung brachte. Dieses Werk hatte er fast vollendet. Nun faltete er gerade eine Pyjamahose ihres Vaters zusammen – auf eine Weise, die den Unmut ihrer Mutter erregt hätte – und legte sie in ein Schubfach.

Tief gerührt schaute sie dem legendären Feldherrn bei der Hausarbeit zu, die er ihr zuliebe übernommen hatte, und ihr Herz flog ihm entgegen.

Jetzt hob er den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Die liebevolle Sorge in seiner Miene tröstete ihre verletzte Seele.

»Danke«, sagte sie.

Gleichmütig zuckte er die Achseln. »Ich hatte nichts anderes zu tun.« In seiner Stimme schwang ein Unterton mit, der sein nonchalantes Verhalten Lügen strafte.

»Ich bin dir trotzdem dankbar.« Langsam ging sie durch das Zimmer und berührte das Fußende des Mahagonibetts. »Darin haben schon meine Großeltern geschlafen. Mein Großvater war ein Tischler, und er hat es für meine Großmutter gezimmert. Das weiß ich von meiner Mutter.«

Die Stirn nachdenklich gefurcht, betrachtete er ihre Hand, die auf dem Holz lag. »Es ist sehr schwierig, nicht wahr?«

»Was?«

»Die Menschen gehen zu lassen, die man liebt.«

Er sprach aus eigener Erfahrung – aus dem Herzen eines Vaters heraus, der seine Kinder verloren hatte. Obwohl er nachts nicht mehr um sich schlug, hörte sie ihn die Namen seines Sohnes und seiner Tochter flüstern. Wie oft mochte er von ihnen träumen? Und wie oft dachte er in qualvoller Trauer an die beiden?

»Ja«, bestätigte sie leise. »Aber das weißt du besser als ich.« Er schwieg, und sie schaute sich im Zimmer um. »Natürlich muss ich ohne meine Eltern weiterleben, das weiß ich. Trotzdem höre ich immer noch ihre Stimmen – und spüre ihre Nähe.«

»Es ist ihre Liebe, die du fühlst. Und die erwärmt dich nach wie vor.«

»Sicher hast du Recht.«

»He!«, rief Selena durch die Tür. »Bill bestellt gerade eine Pizza. Habt ihr Appetit?«

»Hm, ich denke schon«, erwiderte Grace.

»Und Sie, Julian?«

Vielsagend lächelte er Grace an. »Ich hätte sehr gern eine Pizza.«

Belustigt erinnerte sie sich, wie sie ihn heraufbeschworen und wie er kurz danach um eine Pizza gebeten hatte.

»Okay, also Pizza für alle.« Selena eilte davon.

»Das habe ich auf dem Boden gefunden«, erklärte Julian und reichte Grace den Ehering ihrer Mutter.

Statt ihn auf den Toilettentisch zu legen, hielt sie ihn eine Zeit lang in der Hand, dann steckte sie ihn an ihren Finger. Zum ersten Mal seit Jahren tröstete sie der schmale goldene Reif.

Als sie den Raum verlassen hatten, wollte Julian die Tür schließen.

»Nein, lass sie offen«, bat Grace.

»Bist du sicher?«

Sie nickte. Als sie ihr Schlafzimmer betrat, sah sie, dass er auch hier Ordnung gemacht hatte. Doch der Anblick der leeren Bücherregale trieb ihr neue Tränen in die Augen, und Julian schloss die Tür der kleinen Kammer. Diesmal protestierte sie nicht.

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Nach dem Dinner überzeugte sie ihre Freunde endlich, nun würde sie ohne deren Hilfe zurechtkommen. »Wirklich, ihr könnt jetzt gehen«, versicherte sie zum zehnten Mal. Dankbar für Julians Anwesenheit, berührte sie seinen Arm. »Außerdem habe ich Julian.«

»Wenn du was brauchst, ruf uns an«, mahnte Selena.

»Ja, das werde ich tun.«

Selena und Bill verließen das Haus, und Grace versperrte die Tür.

Dann stieg sie mit Julian die Treppe hinauf. Während sie im Bett lagen, gestand sie: »Ich fühle mich so verletzlich.«

»Das verstehe ich. Schließ die Augen. Ich bin hier. Und ich werde dich beschützen.«

Zufrieden schmiegte sie sich an ihn. Aber es dauerte lange, bis sie einschlief, von ihrer Erschöpfung überwältigt.

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Mit einem halb erstickten Schrei erwachte sie.

»Ich bin hier, Grace.«

Sobald sie Julians Stimme an ihrer Seite hörte, beruhigte sie sich. »Oh, Gott sei Dank – du bist es. Ich hatte einen bösen Traum.«

Zärtlich küsste er ihre Schulter. »Das dachte ich mir.«

Sie drückte seine Hand, dann stand sie auf, weil sie zur Arbeit gehen musste. Nachdem sie geduscht hatte, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück. Ihre Hände zitterten so heftig, dass sie nicht einmal ihre Bluse zuknöpfen konnte.

»Lass dir helfen«, bat Julian und schloss die Bluse. »Glaub mir, du musst dich nicht fürchten, Grace. Niemals werde ich ihm erlauben, dich zu verletzen.«

»Ja, ich weiß. Und wenn ihn die Polizei geschnappt hat, kann er mir ohnehin nichts mehr antun.«

Kurz danach fuhren sie in die City. Graces Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und sie vermochte kaum zu atmen. Doch sie würde sich zusammenreißen. Rodney Carmichael durfte ihr Leben nicht kontrollieren. Niemals, gelobte sie sich, ich bin viel stärker als er.

Trotzdem war sie froh über Julians Gegenwart – obwohl sie nicht über den Trost nachdenken wollte, den er ihr spendete.

»Was ist das?«, fragte er, als sie ihn zum antiken Aufzug des Bürogebäudes führte, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts erbaut worden war.

Sobald sie in der geschlossenen Liftkabine standen, bemerkte sie sein Unbehagen. »Das ist ein Aufzug. Wenn man einen dieser Knöpfe drückt, fährt er zum gewünschten Stockwerk. Meine Praxis liegt ganz oben, im achten«, fügte sie hinzu und drückte auf den alten Knopf.

Als sich der Lift bewegte, fragte Julian beklommen: »Sind wir hier sicher?«

Erstaunt hob sie die Brauen. »Fürchtet sich der Mann, der das römische Heer besiegt hat, vor einem Lift?«

»Die Römer habe ich verstanden«, entgegnete er ärgerlich. »Aber dieses Ding ist mir rätselhaft.«

Besänftigend legte sie einen Arm um seine Taille. »Da gibt’s nicht viel zu erklären.« Sie zeigte zur Falltür hinauf. »Außerhalb dieser Tür befinden sich die Kabel, die den Lift hinauf- und hinunterbefördern. Und hier gibt’s ein Telefon.« Sie wies auf den Hörer unterhalb der Knöpfe. »Wenn wir stecken bleiben, rufen wir einfach nur den Sicherheitsdienst an und werden befreit.«

»Bleibt der Lift oft stecken?«, erkundigte sich Julian erschrocken.

»Nein. In den vier Jahren, seit ich hier arbeite, ist es kein einziges Mal passiert.«

»Wenn du nicht drin bist, wieso weißt du, ob er feststeckt oder nicht?«

»Wenn das geschieht, ertönt sofort ein schriller Alarm. Keine Bange, sollte uns dieser Schicksalsschlag treffen, wird es jemand merken.«

Nachdenklich sah er sich um, und dann funkelten seine Augen. »Kann man absichtlich dafür sorgen, dass der Lift stecken bleibt?«

»Ja«, antwortete sie belustigt. »Aber ich möchte nicht in flagranti erwischt werden.« Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass er sie so kurz nach der schrecklichen Nacht erheitern konnte. »Was für ein unartiger Junge du bist!«, tadelte sie und schmiegte sich an ihn.

»Gerade das gefällt dir so gut an mir.«

»Stimmt«, gab sie zu und lachte leise.

Die Tür glitt auseinander, und Grace führte ihn zu ihrer Praxis.

Als sie das Vorzimmer betraten, riss Lisa die Augen auf.

Dann inspizierte sie Julian von Kopf bis Fuß und strahlte über das ganze Gesicht. »Was für einen attraktiven Freund Sie haben, Dr. Alexander!«

Grace machte die beiden miteinander bekannt und zeigte Julian ihr Büro. Während sie ihren Computer einschaltete und die Handtasche in einer Schreibtischschublade verstaute, schlenderte er zum Fenster. »Willst du den ganzen Tag in meinem Büro herumhängen?«

»Was Besseres habe ich nicht zu tun.«

»Du wirst dich langweilen.«

»Daran bin ich gewöhnt.«

Natürlich – sie wusste, wie er sich fühlen musste, in dem alten Buch gefangen, in dunkler Einsamkeit. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Danke, dass du mich hierher begleitet hast. Ohne dich würde ich es nicht ertragen.«

»War mir ein Vergnügen«, beteuerte er an ihren Lippen.

In diesem Moment ertönte die Sprechanlage. »Soeben ist der Patient eingetroffen, der einen Termin um acht Uhr hat.«

»Ich warte draußen«, sagte Julian. Bevor er sie verließ, drückte er ihre Hand.

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Während der nächsten Stunde konnte sie sich nur mühsam auf ihre Arbeit konzentrieren. Unentwegt musste sie an den Mann denken, der sich im Vorzimmer aufhielt – und der ihr so viel bedeutete. Nach der Sitzung begleitete sie den Patienten hinaus.

Lisa zeigte Julian gerade, wie man auf dem Computer Solitär spielte. »Wussten Sie, dass er noch nie Patiencen gelegt hat, Dr. Alexander?«

Amüsiert wechselte Grace einen Blick mit Julian. »Wirklich nicht?«

Lisa schaute in den Terminkalender. »Übrigens – der Drei-Uhr-Termin wurde abgesagt. Und der Patient, der um neun Uhr kommen soll, hat gerade angerufen, er wird sich um ein paar Minuten verspäten.«

»Okay.« Grace zeigte mit dem Daumen zur Tür. »Während ihr beide spielt, hole ich rasch meinen Palm Pilot aus dem Auto.«

»Das mache ich«, entschied Julian.

»Nein, ich möchte es selber erledigen.«

Entschlossen ging er um Lisas Schreibtisch herum und streckte die Hand aus. »Gib mir den Autoschlüssel«, befahl er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Da sie nicht mit ihm streiten wollte, reichte sie ihm den Schlüssel. »Der Palm Pilot liegt unter dem Fahrersitz.«

»Gut, Gleich bin ich wieder da.«

Grace schlug die Hacken zusammen und salutierte, was ihn kein bisschen belustigte. Ohne ein weiteres Wort verließ er die Praxis. Vor dem Lift blieb er stehen, griff nach dem Knopf, und dann zögerte er. Wie er dieses beengte quadratische Ding hasste … Und der Gedanke, allein darin zu stehen … Er blickte sich um und entdeckte eine Treppenflucht. Erleichtert ging er darauf zu.

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Während Grace in ihrer Aktentasche nach Rachel Thibideauxs Krankenblatt suchte, erinnerte sie sich, dass sie ein paar schriftliche Unterlagen auf dem Rücksitz ihres Wagens zurückgelassen hatte.

»Wo habe ich nur meinen Kopf?«, schalt sie sich.

Doch das wusste sie nur zu gut – ihre Gedanken irrten zwischen den beiden Männern hin und her, die ihr Leben so dramatisch verändert hatten.

Verärgert über sich selbst, ergriff sie die Aktentasche und folgte Julian.

»Wohin gehen Sie, Dr. Alexander?«, fragte Lisa.

»Leider habe ich auch ein paar Papiere in meinem Auto vergessen. In ein paar Minuten komme ich zurück.«

»Okay.«

Auf dem Weg zum Lift wühlte Grace noch einmal in ihrer Aktentasche, um festzustellen, ob die fehlenden Unterlagen vielleicht doch darin steckten. Ohne aufzublicken, betrat sie den Lift und drückte automatisch auf den Knopf für das Erdgeschoss. Erst als sich die Türen schlossen, merkte sie, dass sie nicht allein war.

Rodney Carmichael stand ihr gegenüber und starrte sie an. »Wer ist er?«

Zwischen Angst und Sorgen hin und her gerissen, erwiderte sie seinen durchdringenden Blick. Am liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt. Aber obwohl er für einen Mann klein war, fühlte sie sich seiner Kraft nicht gewachsen, die sein Wahnsinn noch verstärken würde. Und so bekämpfte sie ihre aufsteigende Panik. Mit ruhiger Stimme fragte sie: »Was machen Sie hier?«

Spöttisch kräuselte er die Lippen. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Wem gehört die Männerkleidung in Ihrem Haus?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Verdammt!«, kreischte er.

Würde er in der Liftkabine über sie herfallen? Nicht auszudenken …

»Alles, was Sie betrifft, geht mich was an.«

»Hören Sie mir zu, Mr Carmichael«, versuchte sie die Situation zu kontrollieren. »Wir kennen uns nur flüchtig. Warum Sie auf mich fixiert sind, weiß ich nicht. Wie auch immer, Sie dürfen mich nicht mehr belästigen.«

Zu ihrem Entsetzen drückte er auf den Knopf, der den Lift stoppte. »Jetzt hören Sie mir zu, Grace. Wir beide sind füreinander bestimmt. Das wissen Sie ebenso wie ich.«

»Also gut«, sagte sie so sanft wie möglich. »Sprechen wir in meiner Praxis darüber.« Grace drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss.

Aber er hielt den Aufzug erneut an. »Nein – reden wir hier.«

Um ihre Nerven zu beruhigen, holte sie tief Atem. Wenn sie seine Wut schürte, wären die Folgen unabsehbar, und das musste sie verhindern. »In meinem Sprechzimmer hätten wir’s bequemer.«

Als sie wieder nach dem Knopf für das Erdgeschoss griff, hielt er ihre Hand fest. »Warum wollen Sie nicht mit mir reden?«

»Wir reden doch …« Unauffällig trat sie näher an das Telefon heran.

»Mit ihm unterhalten Sie sich stundenlang, nicht wahr? Sie stimmen in sein Gelächter ein … Und nur Gott weiß, was Sie sonst noch mit ihm treiben! Sagen Sie mir, wer er ist!«

»Bitte, Mr Carmichael …«

»Rodney!«, schrie er. »Verdammt, ich heiße Rodney!«

»Okay, Rodney, nun wollen wir …«

»Sicher hat er Sie überall angefasst mit seinen dreckigen Händen, nicht wahr?«, stieß er hervor und drängte sie in eine Ecke. »Wie oft haben Sie mit ihm geschlafen, seit Sie mich kennen?«

Entsetzt wich sie vor dem irren Glitzern in seinen kleinen Augen zurück. Jeden Moment würde er durchdrehen. Sie tastete hinter ihrem Rücken nach dem Telefon. Aber bevor sie es berührte, umklammerte er ihr Handgelenk. »Was zum Teufel machen Sie?«

»Sie brauchen Hilfe.«

»Nein!«, fauchte er und schmetterte das Telefon gegen die Knöpfe. »Nur Sie brauche ich. Reden Sie mit mir! Hören Sie? Das – ist – alles, – was – ich – brauche.« Bei jedem Wort hämmerte er das Telefon gegen die Knöpfe.

Hilflos beobachtete sie, wie der Apparat zerbrach. Und dann begann er an seinen Haaren zu zerren.

»Er hat Sie geküsst! Das weiß ich! Er hat Sie geküsst …« In einem fort wiederholte er diese Sätze. Büschelweise riss er sich die Haare aus.

Heiliger Himmel, sie war mit einem Wahnsinnigen in der Liftkabine gefangen. Und es gab keinen Fluchtweg.

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Den Palm Pilot in der Hand, kehrte Julian in die Praxis zurück. »Wo ist Grace?«, fragte er Lisa, nachdem er einen Blick ins Sprechzimmer geworfen hatte.

»Haben Sie Dr. Alexander nicht getroffen? Ein paar Minuten nach Ihnen ist sie zum Auto hinuntergegangen.«

»Sind Sie sicher?«, fragte er besorgt.

»Ja, sie hat ein paar Akten in ihrem Wagen liegen lassen.«

Bevor er weitere Fragen stellen konnte, kam eine attraktive Afro-Amerikanerin herein, in einem konservativen schwarzen Kostüm, mit einem Aktenkoffer. Neben der Tür blieb sie stehen, schlüpfte aus einem Schuh und rieb sich die Ferse. »Typisch Montag, Lisa! Gerade musste ich acht Stockwerke heraufsteigen, weil der Lift stecken geblieben ist. Nun, welche wundervollen Neuigkeiten haben Sie für mich?«

»Hi, Dr. Livingstone.« Lisa blätterte in ihrem Terminkalender. »Um neun kommt Rodney Carmichael zu Ihnen.«

Bestürzt hielt Julian den Atem an.

»Nein, warten Sie«, fügte Lisa hinzu. »Das sind Dr. Alexanders Termine, und Ihre …«

»Sagten Sie – Rodney Carmichael?«, fiel Julian ihr ins Wort.

»Ja, er hat angerufen und seinen Termin vorverlegt.«

Julian warf den Palm Pilot auf Lisas Schreibtisch, dann stürmte er aus dem Büro und zum Lift. Sein Herz schlug wie rasend, und er kannte nur einen einzigen Gedanken. So schnell wie möglich musste er zu Grace gelangen.

Erst jetzt erinnerte er sich – vorhin war ein schriller Alarm erklungen. Über seinen Rücken lief ein kalter Schauer. Intuitiv wusste er, was geschehen war – Carmichael hatte den Lift gestoppt. Und Grace war darin gefangen – zusammen mit diesem Verrückten.

Plötzlich drang ein gedämpftes Stöhnen durch die geschlossene Tür des Aufzugs. Angst und Wut verschleierten seinen Blick. Mit aller Kraft stemmte er die Tür zum Lichtschacht auf – und erstarrte.

Er sah die Kabine nicht – nur einen schwarzen Abgrund, der dem Inferno in seinem alten Buch glich. Wenn er da hinabstieg, würde er sich genauso fühlen wie unter dem Joch seines Fluchs, von undurchdringlicher Finsternis umschlossen.

Um sein Grauen zu bezwingen, atmete er tief durch. Da unten saß Grace fest, in der Gewalt eines Wahnsinnigen. Und niemand half ihr …

Mit zusammengebissenen Zähnen sprang er zwischen die Kabel.

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Verzweifelt stieß sie Rodney von sich.

»Niemals werde ich Sie mit ihm teilen!«, zischte er und packte wieder ihre Arme. »Weil Sie mir allein gehören!«

»Niemandem gehöre ich!«, widersprach sie ihm und rammte ihr Knie zwischen seine Schenkel. »Nur mir selber!«

Ächzend sank er zu Boden, und Grace versuchte auf die Haltestange zu steigen, um die Falltür zu erreichen. Wenn sie das schaffte …

Aber Rodney umschlang ihre Taille und schleuderte sie in die Ecke zurück. Das Gesicht vor Zorn verzerrt, stemmte er seine Arme zu beiden Seiten ihres Kopfes gegen die Wand. »Wie heißt der Mann, mit dem Sie ins Bett gehüpft sind, Grace? Sagen Sie es mir – damit ich weiß, wen ich töten muss!«

Wieder erschien jenes unheimliche Flackern in seinen Augen, und er begann, seine Wangen zu zerkratzen. Unter seinen Fingernägeln bildeten sich blutende Striemen.

»Wissen Sie das nicht? Sie sind meine Frau. Für immer werden wir zusammenbleiben. Oh ja, ich werde für Sie sorgen – viel besser als er!«

Blitzschnell duckte sie sich unter einem seiner Arme hindurch, zog ihre hochhackigen Schuhe aus und schwang sie hoch. Keine geeigneten Waffen. Aber besser als gar nichts …

»Ich will endlich wissen, mit wem Sie zusammen waren!«, kreischte er.

Als er wieder nach ihr griff, öffnete sich die Falltür über ihren Köpfen, und Grace schaute nach oben.

Julian sprang herab, gebückt und federnd landete er auf beiden Füßen, wie ein geschmeidiges Raubtier. Nur in seinen Augen loderte ein wildes Feuer. Ansonsten strahlte er eine gefährliche Ruhe aus. Ohne seine Mordlust zu verhehlen, starrte er Rodney an.

Dann richtete er sich langsam auf, und Rodney erstarrte, als er merkte, wie beängstigend groß dieser Mann war. »Wer zum Teufel sind Sie?«

»Der Mann, mit dem sie zusammen ist.«

Da klappte Rodneys Kinnlade nach unten.

Mit einem kurzen Blick vergewisserte sich Julian, dass Grace in Sicherheit war, bevor er Rodney gegen eine Wand des Aufzugs warf – so kraftvoll, dass sie glaubte, der Körper des Mannes würde eine Delle in der Holzverkleidung hinterlassen.

Dann packte er Rodney am Kragen. Beinahe ließ seine eisige Stimme das Blut in Graces Adern gefrieren. »Schade – Sie sind zu klein und erbärmlich, deshalb kann ich Sie nicht töten. Sonst müsste ich mich selbst verachten. Aber wenn ich Sie jemals wieder in Graces Nähe antreffe – wenn sie Ihretwegen auch nur eine einzige neue Träne vergießt, würde mich keine Macht der Welt daran hindern, Sie zu zermalmen. Haben Sie mich verstanden?«

Erfolglos versuchte sich Rodney von dem harten Griff zu befreien. »Sie gehört mir! Wenn Sie sich zwischen uns stellen, bringe ich Sie um!«

Julian traute seinen Ohren nicht.

»Sind Sie völlig verrückt?«

Statt zu antworten, trat Rodney in Julians Magen.

Die Augen schwarz vor Zorn, schlug Julian ihm eine eisenharte Faust ans Kinn. Lautlos brach Rodney zusammen. Als Julian neben ihm niederkniete, seufzte Grace erleichtert. Endlich war der Albtraum überstanden.

»Am besten bleiben Sie eine Zeit lang bewusstlos«, empfahl Julian dem reglosen Mann, bevor er aufstand und Grace umarmte. »Bist du okay?«

Weil er sie so fest an sich drückte, bekam sie kaum Luft. Doch das war ihr egal. »Ja«, wisperte sie. »Und du?«

»Jetzt geht es mir wieder gut – denn ich weiß, dass dir nichts zugestoßen ist.«

Ein paar Minuten später stemmten einige Polizisten die Tür des Lifts auf, der zwischen zwei Etagen feststeckte. Julian hob Grace hoch, und sie ergriff die ausgestreckte Hand eines Officers, der sie auf den Boden eines Stockwerks zog.

Dann beobachtete sie, wie zwei andere Beamte Julian halfen, den ohnmächtigen Rodney nach oben zu befördern.

»Wieso wussten Sie, was hier geschehen ist?«, fragte sie.

»Die Telefonistin rief uns an«, erklärte einer der Cops, »und sie meinte, aus der Liftkabine, die hier eingeklemmt ist, würden verdächtige Geräusche dringen, die nach einem Kampf klangen.«

»Genau das war’s auch«, erwiderte sie nervös.

»Wem müssen wir Handschellen anlegen?«

»Dem bewusstlosen Mann.«

Während sie wartete, bis Julian zu ihr kam, bemerkte sie das unheimliche Dunkel im Lichtschacht, dem schmalen Raum, durch den er zu ihr gelangt war.

Und dann erinnerte sie sich an seine Angst in jener Nacht, nachdem sie das Licht gelöscht hatte, an sein Unbehagen in der Liftkabine, auf der Fahrt nach oben zu ihrem Büro.

Trotzdem war er zu ihr geeilt, um sie zu retten. In ihren Augen brannten Tränen. Was muss er durchgemacht haben, mich zu beschützen …

Sobald er aus dem Schacht geklettert war, schlang sie beide Arme um seinen Hals.

Überwältigt von ihrem Gefühlsausbruch, presste er sie ganz fest an sich und küsste sie.

»Nein!«

Verwirrt ließ er sie los, im selben Augenblick, als Rodney nach einem Polizisten trat. An einem seiner Unterarme hingen Handschellen, mit der anderen Hand riss er die Pistole aus dem Schulterhalfter des Beamten und zielte auf ihn.

In zahllosen Schlachten waren Julians Reflexe erprobt worden. Blitzschnell schob er Grace zur Seite, bevor der Schuss krachte. Rodneys Kugel verfehlte ihr Ziel. In der nächsten Sekunde eröffneten die beiden anderen Beamten das Feuer auf den geistesgestörten Mann.

Julian drückt Graces Gesicht an seine Brust, als er Rodney sterben sah. »Schau nicht hin«, flüsterte er, »solche Erinnerungen brauchst du nicht.«