10
IRGENDETWAS STIMMTE NICHT mit Julian. Das spürte Grace, als sie zum French Quarter fuhren. Bewegungslos saß er neben ihr und starrte durch die Windschutzscheibe. Ein paar Mal versuchte sie ein Gespräch zu beginnen. Aber er gab ihr nur einsilbige Antworten. Sie nahm an, die Ereignisse im Badezimmer hätten ihn zutiefst deprimiert. Natürlich musste es einen Mann bedrücken, wenn er den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung verlor.
»Wie heiß es heute ist!«, bemerkte sie, als sie auf dem Parkplatz aus dem Auto stiegen.
Mit der Sonnenbrille, die sie ihm gekauft hatte, sah er sehr attraktiv aus. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen.
»Ist es dir zu heiß in der Stadt?«, fragte sie. Vielleicht fühlte er sich nicht wohl in seinen Jeans und dem Strickhemd.
»Davon werde ich nicht sterben, falls du das meinst«, erwiderte er sarkastisch.
»Oh, sind wir schlecht gelaunt?«
»Tut mir leid, ich lasse meinen Zorn an dir aus, obwohl du nicht schuld daran bist.«
»Schon gut, ich bin’s gewöhnt, den Fußabstreifer zu spielen. Damit verdiene ich sogar mein Geld.«
Weil die Sonnenbrille seine Augen verbarg, konnte sie nicht feststellen, ob er ihren Scherz amüsant fand.
»Laden deine Patienten ihren Seelenmüll bei dir ab?«
Grace nickte. »Manchmal zerrt das wirklich an meinen Nerven. Wenn mich die Frauen anschreien, ist es nicht so schlimm. Aber die Männer …«
»Haben sie dich jemals verletzt?« Die Fürsorge, die in seiner Stimme mitschwang, machte sie glücklich. Jahrelang hatte sie einen Beschützer vermisst.
»Nein, noch nie«, entgegnete sie und hoffte, dabei würde es bleiben. Aber seit Rodney Carmichaels Anruf fürchtete sie, er könnte die Ausnahme von der Regel bilden. Mach dich nicht lächerlich. Nur weil er ein bisschen unheimlich ist, muss er dir nicht gefährlich werden.
»Du solltest einen anderen Beruf ergreifen«, sagte Julian in energischem Ton.
»Ja, vielleicht«, antwortete sie, obwohl sie nicht beabsichtigte, seinen Rat zu befolgen. »Wohin gehen wir zuerst? «
Nonchalant zuckte er die Achseln. »Das ist mir egal.«
»Dann besichtigen wir das Aquarium«, entschied sie, nahm seinen Arm und führte ihn über den Parkplatz zum Moonwalk. Im Aquarium angekommen, bezahlte sie die Eintrittskarten.
Unterwegs hatte Julian beharrlich geschwiegen, und er sprach erst wieder, als sie durch den Wassertunnel wanderten, der verschiedene Meeresgeschöpfe in ihrer natürlichen Umgebung präsentierte. »Unglaublich«, murmelte er und bewunderte einen Stachelrochen, der über seinen Kopf hinwegschwamm. Seine glänzenden Augen erinnerten Grace an ein Kind.
Plötzlich ertönte ihr Piepser, und sie fluchte leise, als sie die Nummer sah. Wer rief an einem Samstag aus ihrer Praxis an? Seltsam … Sie holte ihr Handy hervor und wählte die Nummer.
»Hi, Grace«, meldete sich Beth. »Ich bin in meinem Büro. Hier wurde letzte Nacht eingebrochen.«
»Großer Gott, wer macht denn so was?« Grace sah Julians neugierigen Blick und lächelte beruhigend, während sie Beth Livingstone zuhörte, der Psychiaterin, die sich mit Luanne und ihr selbst die Büroräume teilte.
»Keine Ahnung. Jetzt sind gerade ein paar Leute von der Spurensicherung hier und suchen nach Fingerabdrücken. Soweit ich feststellen konnte, wurde nichts Wichtiges gestohlen. Gibt es in deiner Praxis irgendwas Wertvolles?«
»Nur meinen Computer.«
»Der steht noch auf deinem Schreibtisch. Sonst nichts? Kein Geld?«
»Nein, ich lasse keine Wertsachen herumliegen.«
»Bleib dran, der Officer will mit dir reden.«
Grace wartete, bis eine Männerstimme aus dem Handy drang. »Dr. Alexander?«
»Ja.«
»Ich bin Officer Allred. Offenbar hat jemand Ihren Rolodex und ein paar Akten entwendet. Wissen Sie, wer sich dafür interessieren könnte?«
»Nein. Soll ich in meine Praxis kommen?«
»Nicht nötig. Rufen Sie uns bitte an, wenn Ihnen was einfällt«, fügte er hinzu und gab Beth das Telefon zurück.
»Brauchst du mich?«, fragte Grace.
»Bemüh dich nicht. Das alles ist ziemlich langweilig.«
»Okay, Beth, melde dich, falls ich dir irgendwie helfen kann.«
»Ja, danke.«
Grace drückte auf die Aus-Taste und steckte das Handy in ihre Tasche.
»Ist was passiert?«, erkundigte sich Julian.
»Letzte Nacht ist jemand in meine Praxis eingebrochen. «
»Wieso?«
»Das weiß ich nicht.« Verwirrt runzelte sie die Stirn. »Und ich verstehe nicht, warum meine Adresskartei geklaut wurde. Den Rolodex benutze ich gar nicht mehr, seit ich im Frühling einen Palm Pilot gekauft habe. Sonderbar …«
»Müssen wir das Aquarium verlassen?«
»Nein.« Sie führte ihn herum, zeigte ihm verschiedene Meeresbewohner und las die erklärenden Texte vor, weil ihm die Schriftart fremd war.
Wie er den Klang ihrer Stimme liebte … So tröstlich und besänftigend … Während sie herumschlenderten, legte er einen Arm um ihre Schultern, und sie umfing seine Taille, den Daumen in einer Gürtelschlaufe.
Über diese Geste freute er sich. Und im selben Moment erkannte er, wofür er seit einigen Tagen lebte – nur mehr, um Graces Nähe zu spüren. Vorzugsweise, wenn sie beide nackt waren.
Als sie ihn anlächelte, pochte sein Herz schneller. Warum bezauberte ihn diese Frau so sehr – wie keine andere je zuvor?
Und dann konnte er die Frage beantworten. Weil sie ihn sah. Nicht nur seinen Körper, die Kraft eines Kriegers – sie schaute in seine Seele. Dass es solche Menschen gab, hatte er nicht gewusst. Sie behandelte ihn wie einen Freund. Und sie bemühte sich, ihm zu helfen. Zumindest erweckte sie diesen Eindruck.
Das gehört zu ihrem Beruf. Oder steckte mehr dahinter?
Würde ein Mann wie er einer so wundervollen Frau wirklich etwas bedeuten?
Das Kinn auf ihrem Scheitel, lauschte er ihrer melodischen Stimme und atmete ihren Duft ein, sah die Fische umherschwimmen und wünschte, sie wären wieder daheim.
Dort würde er sie sofort ausziehen.
Noch nie hatte er eine Frau so leidenschaftlich begehrt wie Grace. In ihr wollte er sein Ich verlieren, ihre Fingernägel spüren, die sich in seinen Rücken gruben, den Schrei ihrer Erfüllung hören.
Möge ihm das Schicksal gnädig sein – sie ging ihm wahrlich unter die Haut. Und das erschreckte ihn. Denn sie eroberte allmählich einen Ort in seinem Innern, der ihm Schmerzen bereiten konnte, wie er sie nie zuvor erlitten hatte.
Nur sie allein vermochte ihn ganz und gar zu beherrschen.
Kurz vor ein Uhr verließen sie das Aquarium. Grace stöhnte in der Mittagshitze. An solchen Tagen überlegte sie, wie die Menschheit so ein Wetter vor der Erfindung der Klimaanlage überlebt hatte.
Aber da war jemand, den sie danach fragen konnte. Lächelnd wandte sie sich zu Julian. »Was habt ihr früher gemacht, wenn es so heiß war?«
»Hier ist es nicht heiß.« Nonchalant zog er die Brauen hoch. »Du solltest mal mit einem Heer durch eine Wüste marschieren, in schwerer Rüstung, und nur einen einzigen Wasserschlauch besitzen.«
»Oh, das klingt ja grauenhaft!« Grace spähte zum Jackson Square hinüber. »Besuchen wir Selena? Sie müsste in ihrem Kiosk sitzen. Am Samstag macht sie immer die besten Geschäfte.«
»Wohin du auch gehst – ich folge dir.«
Lachend ergriff sie seine Hand, und sie überquerten den großen Platz. Wie erwartet trafen sie Selena in ihrem Kiosk an, wo sie gerade einen Kunden bediente. Um die beiden nicht zu stören, wollte Grace mit Julian umkehren.
Aber Selena winkte sie zu sich. »Hallo, Gracie, erinnerst du dich an Ben? Oder eher – an Dr. Lewis aus unserer Schule?«
Grace zögerte, als sie den korpulenten Mittvierziger erkannte, der ihr den Notendurchschnitt vermasselt hatte. Ganz zu schweigen von seinem Ego – so groß wie Alaska – und seiner Neigung, die Schüler zu schikanieren. Bei den Abschlussprüfungen hatte er sich so sadistisch verhalten, dass ein armes Mädchen in Tränen ausgebrochen war, und er hatte lauthals darüber gelacht.
»Hi«, grüßte Grace und verbarg ihre Antipathie. Wahrscheinlich konnte der Mann nichts dafür, dass er so widerlich war. Nachdem er seinen Dr. phil. in Harvard gemacht hatte, glaubte er, die ganze Welt müsste sich um ihn drehen.
»Ah, Miss Alexander«, sagte er in demselben abfälligen Ton, den sie damals gehasst hatte.
»Genau genommen Dr. Alexander«, verbesserte sie ihn und beobachtete voller Genugtuung, wie er verblüfft die Augen aufriss.
»Verzeihen Sie«, murmelte er, was keineswegs wie eine Entschuldigung klang.
»Gerade habe ich mich mit Ben über das alte Griechenland unterhalten«, verkündete Selena und grinste Julian verschwörerisch an. »Nach meiner Ansicht war Aphrodite die Tochter von Uranos.«
Gepeinigt schaute Dr. Lewis zum Himmel hinauf. »Und ich sage Ihnen zum hundertsten Mal – nach einer allgemein akzeptierten These wurde sie von Zeus und Dione gezeugt. Wann werden Sie mir endlich zustimmen?«
Selena ignorierte ihn und wandte sich zu Julian. »Wer hat denn Recht?«
»Eindeutig Sie, Selena«, versicherte er, und Ben rümpfte hochmütig die Nase.
Wie Grace ihm anmerkte, sah er in Julian einfach nur einen attraktiven jungen Mann, der sich vermutlich mit Biersorten und Automarken auskannte, aber nichts von der griechischen Mythologie verstand. »Haben Sie jemals Homer gelesen? Wissen Sie überhaupt, wer das war?«
Grace bekämpfte ihren Lachreiz. Gespannt wartete sie auf Julians Antwort.
»Oh ja, ich habe Homer gelesen, sogar ausgiebig«, erklärte er lächelnd. »Die Texte, die ihm zugeschrieben werden, sind eine Mischung aus mündlich überlieferten Legenden, die immer wieder erzählt wurden, bis sich die Fakten im Altertum verloren. Schließlich verfasste Hesiod mit der Hilfe Klios, der Muse der Geschichte, die Theogonie, ein Werk über die Abstammung der Götter. Gemeinsam mit Homer gilt er als Schöpfer der Götterwelt.«
Dr. Lewis sagte etwas auf Altgriechisch.
»Oh, das ist keineswegs nur eine Theorie, sondern eine Tatsache«, erwiderte Julian in Englisch.
Ben starrte ihn an, immer noch skeptisch. Anscheinend konnte er nicht glauben, dass jemand, der so aussah, über solche Kenntnisse verfügte. Noch dazu auf seinem Fachgebiet. »Woher wissen Sie das?«
Diesmal antwortete Julian auf Altgriechisch.
Zum ersten Mal, seit Grace den Lehrer kannte, sah sie ihn verblüfft nach Luft schnappen. »Mein Gott, Sie beherrschen diese Sprache, als wären Sie in der griechischen Antike aufgewachsen!«
Julian zwinkerte Grace belustigt zu.
»Sind Sie endlich überzeugt, Ben?«, warf Selena ein. »Niemand kennt die griechischen Götter und Göttinnen so gut wie unser Freund.«
Jetzt entdeckte Dr. Lewis den Ring an Julians Finger. »Ist es das, was ich glaube? Ein Generalsring?«
»Ja«, bestätigte Julian.
»Darf ich ihn sehen?«
Julian zog den Ring vom Finger und reichte ihn dem Lehrer.
Bens Atem stockte. »Makedonien? Zweites Jahrhundert vor Christi, nehme ich an.«
»Sehr gut«, lobte Julian.
»Was für eine unglaubliche Reproduktion!«, meinte Ben und gab ihm den Ring zurück.
Julian steckte ihn wieder an seinen Finger. »Oh, das ist keine Reproduktion.«
»Was?«, rief Ben ungläubig. »Das kann unmöglich ein Original sein. Dafür sieht er viel zu neu aus.«
»Bisher befand er sich in einer Privatsammlung«, mischte sich Selena ein.
Ben schaute zwischen den beiden hin und her. »Und wie sind Sie in den Besitz dieser Kostbarkeit gelangt?«, fragte er Julian.
Eine Zeit lang schwieg Julian und entsann sich, wie man ihm den Ring verliehen hatte. Gemeinsam mit Kyrian von Thrakien war er befördert worden, nachdem sie – nur zu zweit – Themopolis vor den Römern gerettet hatten. Es war ein langer, brutaler, blutiger Kampf gewesen.
Völlig demoralisiert, war das Heer geflohen und hatte es den beiden Kriegern überlassen, die Stadt zu verteidigen. Julian erwartete, dass auch Kyrian das Weite suchen würde. Aber der junge Narr lächelte ihn an, ergriff mit jeder Hand ein Schwert und rief: »Welch ein schöner Tag, um zu sterben! Wollen wir möglichst viele von diesen Bastarden niedermetzeln, bevor wir Charon die Überfahrt zum Hades bezahlen?«
Schon immer hatte Kyrian mehr Mut als Verstand bewiesen.
Bei der Siegesfeier tranken sie einander unter den Tisch. Und am Morgen waren sie erwacht – und befördert worden.
Von all den Menschen, die Julian in Makedonien gekannt hatte, vermisste er Kyrian am schmerzlichsten – seinen einzigen treuen Freund.
»Dieser Ring ist ein Geschenk gewesen«, erklärte er nun.
Voller Ehrfurcht betrachtete Ben das Schmuckstück an Julians Hand. »Würden Sie ihn verkaufen? Für eine beträchtliche Summe.«
»Niemals«, entgegnete Julian und dachte an die Wunden, die er bei der Verteidigung von Themopolis erlitten hatte. »Sie ahnen gar nicht, Sir, was ich durchmachen musste, um diesen Lohn zu erhalten.«
Wehmütig schüttelte Ben den Kopf. »Ich wünschte, jemand würde mir so etwas schenken. Wissen Sie, wie viel der Ring wert ist?«
»Mein Gewicht in Gold – als ich ihn zuletzt schätzen ließ.«
Lachend warf Ben seinen Kopf in den Nacken und schlug mit der Faust auf Selenas Kartentisch. »Sehr gut! Lösegeld für Kommandanten in Kriegsgefangenschaft?«
»Für Krieger, die zu feige waren, um im Kampf zu sterben.«
Der Lehrer schaute Julian respektvoll an. »Wissen Sie, wer den Ring früher besaß?«
Nun meldete sich Selena wieder zu Wort. »Julian von Makedonien. Haben Sie schon einmal von ihm gehört, Ben?«
»Meinen Sie das ernst?« Bens Kinnlade klappte nach unten. »Wissen Sie denn, wer das wahr?«
Statt zu antworten, zuckte Selena nur die Achseln.
Da er vermutete, sie hätte keine Ahnung, fuhr er fort: »Hesiod schrieb, Julian sollte die Nachfolge Alexanders des Großen antreten. Sein Vater war Theokles von Sparta, auch unter dem Namen ›Theokles der Schlächter‹ bekannt. Neben diesem Mann würde der Marquis de Sade wie Ronald McDonald aussehen. Einem Gerücht zufolge wurde Julian von Aphrodite und General Theokles gezeugt, nachdem er einen ihrer Tempel vor der Entweihung bewahrt hatte. Aber in jüngeren Zeiten setzte sich die Theorie durch, seine Mutter sei eine von Aphrodites Priesterinnen gewesen.«
»Tatsächlich?«, fragte Grace.
Seufzend verdrehte Julian die Augen. »Wer Julian war, interessiert niemanden. Schon vor langer Zeit ist der Mann gestorben.«
Aber Ben beachtete ihn nicht und fuhr fort, mit seinem Wissen zu prahlen. »Den Römern war er als Augustus Julius Punitor bekannt …« Zu Grace gewandt, erläuterte er: »Julian der Große Rächer. Zusammen mit Kyrian von Thrakien hinterließ er während des vierten Krieges zwischen Makedonien und Rom eine blutige Spur in ausgedehnten Regionen des Mittelmeers. Er verachtete Rom und gelobte, sein Heer würde die Stadt vernichten. Beinahe wäre es Julian und Kyrian gelungen, die Römer in die Knie zu zwingen.«
In Julians Kinn zuckte ein Muskel. »Wissen Sie, was mit Kyrian von Thrakien geschah?«
Ben stieß einen Pfiff aus. »Trotz aller Heldentaten fand er ein unrühmliches Ende. Im Jahr 47 vor Christi wurde er von den Römern gefangen genommen und gekreuzigt.«
Mit gesenktem Blick berührte Julian den Generalsring. »Wahrscheinlich zählte er zu den besten Kriegern, die jemals gelebt hatten. Er liebte den Kampf wie kein anderer Mann, den ich zu meiner Zeit kannte.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Einmal durchbrach er mit seinem Streitwagen einen Schutzwall der Römer. Bei diesem triumphalen Sieg erlitt sein eigenes Heer nur geringfügige Verluste.« Skeptisch runzelte er die Stirn. »Dass er gefangen genommen wurde – das kann ich kaum glauben.«
Ben hob lässig die Schultern. »Nach Julians Verschwinden war Kyrian der einzige makedonische General, der imstande war, ein Heer zu befehligen. Deshalb jagten ihn die Römer unerbittlich und gnadenlos.«
»Was wurde aus Julian?«, fragte Grace, um zu erfahren, was die Historiker über jene Ereignisse herausgefunden hatten.
Julian starrte sie mit schmalen Augen an.
»Das weiß niemand«, sagte Ben, »eines der größten Geheimnisse der Antike … Eben noch ein unbesiegbarer Feldherr – und plötzlich verschwindet er spurlos, im Alter von zweiunddreißig Jahren.« Ben klopfte mit einem Finger auf Selenas Tisch. »Zuletzt wurde Julian bei der Schlacht von Conjara gesehen. Mit einem brillanten Schachzug veranlasste er Livius, seine vermutlich uneinnehmbare Stellung aufzugeben. Das war eine der schlimmsten Niederlagen der römischen Geschichte.«
»Wen interessiert das schon?«, murrte Julian, aber Ben ignorierte die Unterbrechung.
»Nach der Schlacht ließ er Scipio dem Jüngeren angeblich mitteilen, er würde sich an ihm für den Sieg über die Makedonier rächen. Vor lauter Angst gab Scipio seinen Kriegsdienst in Makedonien auf und meldete sich freiwillig für die Kämpfe in Spanien.« Ben schüttelte den Kopf. »Aber bevor Julian seine Drohung wahrmachen konnte, verschwand er. Seine Familie wurde ermordet in seinem Haus gefunden. Da gibt es einige Ungereimtheiten. Den makedonischen Berichten zufolge hat Livius ihn auf dem Schlachtfeld tödlich verwundet. Von höllischen Schmerzen geplagt, ritt Julian nach Hause und tötete seine Familie, um ihr die Sklaverei in der Gewalt des römischen Feindes zu ersparen. Aber laut der römischen Version befahl Scipio einigen Soldaten, Julian mitten in der Nacht anzugreifen. Sie töteten ihn ebenso wie seine Frau und die Kinder, zerstückelten ihn und versteckten die Leichenteile.«
»Unsinn!«, protestierte Julian verächtlich. »Scipio war ein Feigling und ein primitiver Rabauke. Niemals hätte er es gewagt, gegen mi…«
»Ist das nicht ein herrliches Wetter?«, fiel Grace ihm ins Wort, bevor er sich verraten konnte.
»Oh nein, er war kein Feigling«, widersprach Ben. »Das darf nach seinen Erfolgen in Spanien niemand behaupten.«
Grace sah wilden Hass in Julians Augen glitzern.
Aber das bemerkte der Lehrer nicht. »Junger Mann, dieser Ring stellt einen unschätzbaren Wert dar. Nur zu gern wüsste ich, wie er in jene Privatsammlung gelangt ist – und welches Schicksal dem ursprünglichen Eigentümer beschieden war.«
Unbehaglich wechselte Grace einen Blick mit Selena, und Julian lächelte ironisch. »Er zog sich den Zorn der Götter zu und wurde für seinen Hochmut bestraft.«
»Also eine weitere Theorie …« In diesem Moment ertönte ein Piepser in Bens Tasche. »Verdammt, ich muss meine Frau abholen!« Resignierend reichte er Julian die Hand. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt – Ben Lewis.«
»Julian.« Höflich schüttelte der Makedonier die Hand des Engländers.
Ben lachte, bis er merkte, dass dies kein Scherz wahr. »Tatsächlich?«
»Nun, man könnte sagen, ich bin nach dem berühmten General genannt worden.«
»Dann muss Ihr Vater die Griechen ebenso geliebt haben wie meiner.«
»Eigentlich fühlte er sich eher mit Sparta verbunden.«
Nun lachte Ben noch lauter und wandte sich zu Selena. »Bringen Sie Ihren Freund doch zur nächsten Versammlung unseres Sokratesclubs mit. Ich würde ihn gern unseren Freunden vorstellen. Nur ganz selten lerne ich jemanden kennen, der fast so viel über die Geschichte des Altertums weiß wie ich.« Er drehte sich wieder zu Julian um. »War mir ein Vergnügen.«
Nachdem er in der Menschenmenge untergetaucht war, verkündete Selena: »Soeben haben Sie eine fantastische Leistung vollbracht, Julian, und einen der führenden Altertumskundler dieses Landes beeindruckt.«
Darauf schien sich Julian nichts einzubilden. Aber Grace war hellauf begeistert. »Glaubst du, Lanie, Julian könnte eine Professur bekommen, wenn er den Fluch besiegt hat? Ich dachte, er …«
»Vergiss es, Grace«, unterbrach er sie.
»Irgendetwas musst du doch tun.«
»Nein, ich bleibe nicht hier.« In seinen Augen erschien wieder jener kalte, emotionslose Ausdruck, der sie am ersten Abend erschreckt hatte. Eine böse Ahnung stieg in ihr auf. »Was meinst du?«
»Athene hat mir die Heimkehr angeboten«, erwiderte er und wich ihrem Blick aus. »Wenn der Fluch bezwungen ist, schickt sie mich nach Makedonien zurück.«
»Oh, ach so«, sagte sie in beiläufigem Ton, obwohl irgendetwas in ihrem Innern zu sterben begann. »Du wirst meinen Körper benutzen – und dann verschwinden.« Schmerzhaft verengte sich ihre Kehle.
Julian zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. »Was willst du eigentlich von mir, Grace? Warum soll ich hierbleiben?«
Welche Antwort konnte sie ihm geben? Nur eins wusste sie – dass sie ihn nicht verlieren wollte. Aber wenn er sich für die Heimkehr nach Makedonien entschied, würde sie ihn nicht daran hindern. »Um ehrlich zu sein – ich lege gar keinen Wert auf deine Anwesenheit. Warum ziehst du nicht für ein paar Tage zu Selena? Würde dir das was ausmachen, Lanie?«
Wie ein Fisch, der nach Luft schnappte, öffnete und schloss Selena den Mund.
Julian streckte eine Hand aus. »Bitte, Grace …«
»Rühr mich nicht an!«, fauchte sie und wich vor ihm zurück. »Sonst kriege ich eine Gänsehaut!«
»Was ist denn los mit dir, Grace?«, fragte Selena erbost. »Ich fasse es einfach nicht …«
»Schon gut.« Julians Stimme klang hart und kalt. »Wenigstens spuckt sie mir nicht mit ihrem letzten Atemzug ins Gesicht.«
Sie hatte ihn verletzt. Das las Grace in seinen Augen. Aber er hatte auch ihr wehgetan – ganz schrecklich. »Auf bald, Lanie«, sagte sie leise und ließ Julian stehen.
Während er Grace nachschaute, stieß Selena langsam den Atem aus, den sie angehalten hatte. Reglos stand er da.
»Zwei Schüsse, zwei Treffer«, seufzte sie. »Mitten in die Herzen.«
Julian warf ihr einen feindseligen Blick zu. »Erklären Sie es mir doch, weises Orakel! Was hätte ich sagen sollen?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte sie. Bedrückt mischte sie ihre Karten. »Aber ich glaube, mit der Ehrlichkeit liegt man niemals falsch.«
Julian rieb sich die Augen und setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch. Natürlich hatte er Grace nicht verletzen wollen.
Und er würde niemals ihre verächtlichen Worte vergessen. Rühr mich nicht an. Sonst kriege ich eine Gänsehaut.
Als er tief durchatmete, brannten seine Lungen. Die Schicksalsgöttinnen verhöhnten ihn immer noch. Wahrscheinlich langweilten sie sich da oben auf dem Olymp.
»Soll ich Ihnen die Karten legen?« Selenas Vorschlag holte ihn aus der Vergangenheit zurück.
»Warum nicht?« Sicher würde sie ihm nichts Neues erzählen – er wusste schon alles.
»Was möchten Sie erfahren?«
»Werde ich jemals …« Nach einer kurzen Pause stellte er ihr dieselbe Frage wie einst dem Orakel von Delphi. »Werde ich den Fluch jemals besiegen?«
Selena mischte die Karten und legte drei auf den Tisch. Bestürzt beugte sie sich vor.
Diese Karten musste sie nicht deuten. Deutlich genug sah er den Turm, den ein Blitz traf, drei Schwerter in einem Herzen und einen Dämon, der zwei Menschen in Ketten gelegt hatte. »Nicht so schlimm«, flüsterte er. Ich habe ohnehin nie an meinen Erfolg geglaubt.«
»Nein, Julian, die Karten sagen etwas anderes – Sie müssen einen harten Kampf bestehen.«
Da lachte er bitter. »Daran bin ich gewöhnt.« In einem Kampf würde er nicht sterben. Nur der Schmerz in seinem Herzen würde ihn töten.
Als Grace in die Zufahrt ihres Hauses bog, wischte sie die Tränen von ihren Wangen. Mit zusammengebissenen Zähnen stieg sie aus dem Auto und warf die Tür zu.
Zum Teufel mit Julian! Sollte er doch für immer in seinem Buch dahinvegetieren! Sie war kein Gebrauchsgegenstand, der einfach nur seinen Bedürfnissen diente.
Wie konnte er nur … Mit bebenden Fingern sperrte sie die Tür auf. »Und was soll er sonst tun?«, wisperte sie. Allmählich verebbte ihr Zorn, und sie erkannte ihre Unvernunft. Julian war nicht an Pauls grausamer Selbstsucht schuld. Ebenso wenig an ihrer Angst, benutzt zu werden. Das alles durfte sie ihm nicht verübeln – es war ungerecht.
Und doch … So verzweifelt sehnte sie sich nach einem Mann, der sie liebte, der bei ihr bleiben wollte.
Sie hatte gehofft, wenn sie Julian half, würde er seine Zukunft mit ihr verbringen und …
Niedergeschlagen schloss sie die Tür und schüttelte den Kopf. Was sie sich wünschte, war unmöglich. Sie hatte Bens Bericht über das Leben des makedonischen Generals gehört – und was Julian den Kindern über seine Schlacht erzählt hatte.
Und dann erinnerte sie sich, wie er mitten in den dichten Straßenverkehr gestürmt war, um das Leben eines Kindes zu retten.
Wie auch immer – er war dazu geschaffen, große Heere zu kommandieren. In diese Welt gehörte er nicht, sondern in seine eigene.
Sicher wäre es reiner Egoismus, wenn ich ihn hier festhalten würde – wie ein niedliches Haustier, das ich gerettet habe …
Schweren Herzens stieg sie die Stufen hinauf. Sie musste sich einfach nur vor ihm schützen – das war alles, was sie tun konnte. Denn sie wusste es in der Tiefe ihres Herzens – je näher sie ihn kennen lernte, desto mehr würde er ihr bedeuten. Und wenn er sie verlassen wollte, würde sie daran zerbrechen.
Auf halber Höhe der Treppe hörte sie, wie es an der Tür klopfte. Sofort erwachten neue Lebensgeister. Julian … Doch dann öffnete sie die Tür und sah die Umrisse eines kleinen Mannes auf der Veranda – Rodney Carmichael.
Er trug einen dunkelblauen Anzug mit einem gelben Hemd und einer roten Krawatte. Seine kurzen schwarzen Haare waren glatt nach hinten gekämmt. Strahlend lächelte er sie an. »Hi, Grace.«
Nur mühsam verbarg sie ihre Furcht. Von diesem schmächtigen Mann ging eine seltsame, bedrohliche Aura aus. »Was machen Sie hier, Mr Carmichael?«, fragte sie kühl.
»Oh, ich wollte nur vorbeikommen und guten Tag sagen. Und ich dachte, wir könnten …«
»Sie müssen gehen.«
»Warum?« Erstaunt runzelte er die Stirn. »Ich will nur mit Ihnen reden …«
»In meinem Haus empfange ich keine Patienten.«
»Das weiß ich, aber ich bin kein …«
»Bitte, Mr Carmichael«, unterbrach sie ihn in strengem Ton, »Sie müssen wirklich gehen. Wenn Sie sich weigern, verständige ich die Polizei.«
Ohne den energischen Klang ihrer Stimme zu beachten, nickte er verständnisvoll. »Oh, sicher sind Sie sehr beschäftigt. Auch ich habe viel zu tun. Soll ich später wiederkommen? Heute Abend könnten wir zusammen essen.«
Entgeistert starrte sie ihn an. »Nein!«
»Kommen Sie schon, Grace«, mahnte er nachsichtig. »Seien Sie nicht so störrisch. Wir beide sind füreinander bestimmt. Das wissen Sie. Wenn Sie mir einfach nur erlauben würden …«
»Verschwinden Sie!«
»Okay, aber ich komme zurück. Wir haben sehr viel zu besprechen.« Höflich verneigte er sich und ging davon.
Als sie die Tür schloss und versperrte, schlug ihr Herz wie rasend. »Dafür bringe ich dich um, Luanne«, flüsterte sie. Auf dem Weg zur Küche durchquerte sie das Wohnzimmer und sah einen Schatten am Fenster.
Rodney.
Einer Panik nahe, lief sie zum Telefon und rief die Polizei an.
Es dauerte fast eine Stunde, bis die Beamten eintrafen. Die ganze Zeit war Rodney Carmichael von einem Fenster zum anderen gewandert, um Grace durch die Schlitze der geschlossenen Jalousien zu beobachten. Erst beim Anblick des Streifenwagens rannte er durch den Garten und tauchte im Gebüsch unter.
Mit einem tiefen Atemzug beruhigte sie ihre überreizten Nerven und ließ die Polizisten ins Haus. Sie blieben nur lange genug, um ihr zu erklären, sie könnten nichts gegen Mr Carmichael unternehmen. Wenn sie versuchte, eine einstweilige Verfügung zu erwirken, um ihn fernzuhalten, sei das sinnlos, weil sie ihn bis zu Luannes Rückkehr psychologisch betreuen musste.
»Tut mir leid«, sagte einer der Beamten, bevor sie sich verabschiedeten. »Aber er hat kein Gesetz gebrochen. Deshalb sind uns die Hände gebunden. In Zukunft werden wir etwas öfter durch diese Gegend fahren. Leider gibt’s im Sommer besonders viel zu tun. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Dr. Alexander – vielleicht sollten Sie eine Zeit lang bei einer Freundin wohnen.«
»Danke.« Nachdem die Polizisten das Haus verlassen hatten, vergewisserte sie sich, dass alle Türen und Fenster geschlossen waren. Voller Angst schaute sie sich um. Halb und halb erwartete sie, Rodney Carmichael würde wie eine Küchenschabe durch eine Mauerritze hereinkriechen.
Wenn sie bloß wüsste, ob er gefährlich war oder nicht … In dem Krankenbericht, den sie von der Klinik für Geistesgestörte bekommen hatte, stand nur, er habe mehrere Frauen belästigt, aber keine einzige verletzt. Nur mit seiner hartnäckigen, aufdringlichen Gegenwart würde er seinen Opfern Angst einjagen.
Um ein genaueres Krankheitsbild zu erhalten, habe man ihn in eine geschlossene Anstalt eingewiesen. Als Psychologin sagte sich Grace, Rodney würde ihr nichts antun. Als Frau empfand sie kalte Angst.
Auf keinen Fall wollte sie auf der Liste der Frauen stehen, die ihm schlaflose Nächte verdankten.
Nein, sie würde sicher nicht hierbleiben und auf seine Rückkehr warten. Und so rannte sie nach oben und packte eine Reisetasche.