Die normannische Burg

 

 

 

»Wehr dich, du Feigling!« John keuchte und setzte einen Ausfallschritt nach vorn. Sein stumpfes Schwert krachte klirrend gegen das Schwert seines Bruders Rupert. Verbissen parierte der Jüngere Johns Angriffe. Er handhabte das Schwert geschickt, doch seinem Gesicht war anzusehen, dass er zu diesem Kampf keine Lust hatte. Seine schwarzen Augen fixierten hasserfüllt seinen Bruder. Er verwünschte ihn in den hintersten Winkel der großen väterlichen Burg. Doch im Augenblick musste er sich gegen Johns Attacken wehren. Sie versetzten ihn in Wut. Diese Wut brodelte unter seiner Haut, in seinen Adern.

»Na, was ist?« John hielt sein Schwert mit beiden Händen erhoben und provozierte Rupert zum Angriff. Der schlanke, schwarzhaarige Junge setzte seinerseits einen Ausfallschritt nach vorn und hieb sein Schwert gegen seinen Bruder. John parierte den Hieb mit einer Hand, während seine Linke zielsicher an Ruperts Kinn flog. Mit einem dumpfen Laut schlug Rupert rücklings in den Sand.

Rupert fühlte sein Gesicht wie hinter einer tauben Maske, während in seinen Ohren überlaut Johns hämisches Lachen dröhnte.

»Du darfst deine Deckung nicht vernachlässigen«, höhnte John. »Und du musst immer damit rechnen, dass dein Gegner noch gemeiner denkt als du.«

Er wandte sich ab und Cedric, der Waffenmeister, nickte ihm anerkennend zu. »Das war eine wirkungsvolle Finte. Aber du hättest nicht so hart zuzuschlagen brauchen.«

Cedric reichte Rupert die Hand, doch der Junge schlug sie verärgert aus. Er rappelte sich hoch und wischte mit dem Handrücken den dünnen Blutfaden weg, der aus seinem Mundwinkel sickerte. Er warf einen grimmigen Blick auf seinen immer noch grinsenden Bruder und schleuderte mit einer wütenden Bewegung das Schwert vor Cedrics Füße.

Der große, muskulöse Mann, der am Rande des Platzes die Szene beobachtete, schüttelte missbilligend den Kopf. Langsam schlenderten John und Cedric zu ihm hin.

»Was soll bloß aus dem Jungen werden?«, seufzte der Ältere.

»Wie war ich, Vater?«, fragte John und blickte mit strahlenden Augen auf.

»Ganz passabel. Deine Angriffe kommen noch zu zögerlich. Wenn du jemanden töten musst, dann schlage mit dem Schwert zu, ohne nachzudenken.«

»Ich denke nie nach, Vater«, erwiderte John.

Guy de Cazeville kratzte sich nachdenklich seinen struppigen Bart. »Ich werde in der kommenden Woche mit Lord Heathcliff reden, ob er dich als Knappen nimmt.«

»Oh, das wäre eine Auszeichnung, Vater!« Johns Augen glänzten noch um eine Spur heller.

»Verzeihung, Mylord, aber ich finde es zu zeitig. Wir sollten erst noch seine Technik etwas verbessern…«

Guy de Cazeville legte Cedric seine Hand auf die Schulter. »Lasst es gut sein, Sir Cedric. Ich weiß selbst, dass er noch längst nicht perfekt ist. Aber er hat hier keinen ebenbürtigen Gegner… außer Euch natürlich. Was er noch lernen muss, lernt er bei Lord Heathcliff. Deshalb halte ich die Zeit für gekommen, dass er als Knappe in seine Dienste tritt. Auf Heathcliff kann ich mich verlassen.«

»Ja, Mylord«, erwiderte der Ritter. Er schlenderte neben seinem Herrn her. Um Rupert kümmerte sich niemand.

Aufatmend schlüpfte der Junge in den Pferdestall und verkroch sich hinter einem Berg Heu. Wie er die Waffengänge hasste! Natürlich wusste er, dass es seine Pflicht war, und irgendwann würde sein Vater ihn auch als Knappen in den Dienst eines befreundeten Ritters stellen, aber er tat das alles ohne Lust und innere Bereitschaft.

Verlegen tupfte er das Blut aus seinem Gesicht und kramte unter dem Heu ein dickes, in dunkles Leder gebundenes Buch hervor. Behutsam öffnete er das vergilbte Pergament und versenkte sich in die Zeichen und Bilder. Es war ein Buch über die Natur, über Pflanzen und Tiere, über den Kreislauf der Jahreszeiten und das Werden und Vergehen des Lebens. Es war in Latein abgefasst und er wünschte sich, diese Sprache besser zu beherrschen, um den Inhalt der Schrift zu verstehen.

Guy de Cazeville hielt es für verschwendete Zeit, wenn seine drei Söhne über Büchern brüteten. Er wollte sie zu ordentlichen Rittern erziehen, die mit dem Schwert umzugehen wussten und sich ihren Platz bei Hofe durch Mut und Tapferkeit errangen. Erst die Normannen, so meinte Lord Guy, hatten den bäuerlichen Angelsachsen die hohe Kriegskunst gebracht und schon allein deshalb war er stolz auf seine eroberungsfreudigen Vorfahren.

John und Roger kamen in diesem Sinn auch ganz nach ihrem Vater, übten sich schon beizeiten an den Waffen und waren bald berüchtigte Raufbolde in der Umgebung der Burg. Ab und zu musste der Vater sie zügeln, damit sie nicht mit ihrem Temperament übers Ziel hinausschossen, denn schließlich stand ihnen noch eine ruhmreiche Karriere bevor. Ein Makel auf der Rüstung eines de Cazeville konnte bei Hofe ein ernsthaftes Hindernis werden.

Nur Rupert schlug aus der Art und Lord Guy hasste seinen Sohn deshalb. Der Junge verkroch sich schon als kleines Kind lieber in der Bibliothek, ließ sich von seiner Mutter Geschichten erzählen und stellte unzählige Fragen, die weder der Magister noch der Kaplan noch Lady Marjorie beantworten konnten.

Lady Marjorie war eine feinsinnige, gebildete Frau, die viel Wert auf die Kunst des Schreibens und Lesens legte. Sie hatte es gegen den Willen ihres Gatten durchgesetzt, dass ein Magister auf die Burg gerufen wurde, um sich der Bildung der Kinder anzunehmen. Mit John und Roger hatte er gewaltige Probleme, denn sie schwänzten konsequent den Unterricht. Und blieben sie tatsächlich einmal einige Stunden auf den harten Stühlen der Bibliothek sitzen, verärgerten sie den Magister mit allerlei Dummheiten und garstigen Streichen, sodass er gar nicht so unglücklich darüber war, wenn sie dem Unterricht fernblieben.

Mit gestelzten Schritten umrundete Roger das junge Mädchen, das sich bemühte, ihr Kichern zu unterdrücken. Der Musikant begleitete die ungelenken Tanzversuche auf einer Fiedel. Lady Marjorie klatschte im Takt dazu, schüttelte aber immer wieder missbilligend den Kopf.

»Warum soll ein junger Mann denn so etwas lernen?«, knurrte Guy de Cazeville. »Wichtiger ist doch, dass er mutig und gewandt ist und mit den Waffen umgehen kann.«

Seine Gattin blinzelte ihm lächelnd zu. »Wenn er bei Hofe etwas werden will, dann muss er die Kunst des Tanzes und der Minne beherrschen. Die neue Königin gilt als sehr Kunst liebend. Sie soll in ihrer Heimat in Aquitanien einen glänzenden Hof führen mit Dichtern, Troubadouren, Künstlern aller Art…«

»Pah, musst du alles nachäffen, was die neue Königin macht? Gutes Benehmen und die Bereitschaft zu dienen sind Bestandteil der Ritterehre und ich glaube, dass meine Söhne sich dessen bewusst sind…« Er unterbrach sich. »Was ich bei Rupert bezweifle.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Er tanzt nicht einmal.«

»Weil John alle auslacht. John, lach deinen Bruder Roger nicht aus, er tanzt wunderbar!« Lady Marjorie munterte ihren Zweitältesten Sohn auf. Im gleichen Augenblick trat er der jungen Dame auf den Saum ihres Kleides. Und als sie sich einen Schritt von ihm fortbewegte, gab es einen lauten Ratsch. Mit einem Aufschrei und rotem Kopf starrte sie auf ihr zerrissenes Kleid, hob den Rock schnell auf und hastete aus der Halle.

»Trampel!«, zischte sie im Weglaufen Roger ins Ohr. Als Tochter einer der Gesellschaftsdamen Lady Marjories sollte es ihr zwar eine Ehre sein, als Tanzpartnerin der jungen Herren zu dienen, aber diese stellten sich derart linkisch an, dass man dabei schon die Beherrschung verlieren konnte. Auch wenn es der Kleinen nicht zustand, Roger derart zu beleidigen, fühlte sich dieser schuldig. Mit einem Hilfe suchenden Blick zu seiner Mutter bat er: »Darf ich es nicht erst einmal mit einem Gedicht versuchen? Eines zur Entschuldigung.«

Seine Mutter nickte. »Gern, sie wird sich sicher darüber freuen und dir deinen kleinen Fehltritt nicht übel nehmen.«

Sie wandte sich John zu. »Und nun du, mein Sohn.« Sie übersah geflissentlich Johns sauertöpfische Miene.

»Ich bitte dich, Marjorie, die Jungs machen sich doch zum Narren. Kannst du dieses alberne Gehopse nicht lassen? Ich will sie mit Sir Cedric lieber noch etwas an den Waffen üben lassen. Für John wird es Zeit, dass ich ihn in Lord Heathcliffs Obhut gebe. Der Junge ist so weit. Er soll eine glänzende Vorstellung geben, wenn ich mit ihm nächste Woche…«

»Nächste Woche? Aber er ist doch noch ein Kind!«, ereiferte sich Lady Marjorie.

»Ein Kind? Er ist zwölf Jahre alt! Es wird höchste Zeit, dass er Knappe wird. Willst du aus ihm so ein Muttersöhnchen machen wie Rupert?« Zornig stand er von seinem Lehnstuhl auf und straffte sich. »Genug der peinlichen Vorstellungen. Wir werden jetzt etwas an den Waffen üben. Alle drei!« Mit Genugtuung bemerkte er, wie Rupert zusammenzuckte, während Roger und John erleichtert aufatmeten.

»Rupert hat sein Gedicht noch nicht vorgetragen«, warf Lady Marjorie hastig ein.

»Dann soll er rezitieren«, erwiderte Lord Guy im Hinausgehen. »Für ihn sehe ich sowieso schwarz.«

Rupert kniete sich zu Füßen seiner Mutter, die ihm liebevoll über den Kopf strich. Unwillig ruckte Rupert ab. Sie war daran schuld, dass sein Vater und die Brüder ihn hänselten. »Nun, mein Sohn, lass dein Gedicht hören«, forderte sie ihn mit sanfter Stimme auf.

»Ich habe kein Gedicht geschrieben«, erwiderte er leise. »Ich weiß nicht, wem ich es widmen soll.«

»Irgendeiner feinen Dame. Es gibt doch genug nette Mädchen hier. Hauptsache, es erzählt von Freude und Qualen der unerfüllten Liebe.«

»Ich mag die Mädchen nicht, die sind so albern und zickig. Und wieso soll ich über die Liebe schreiben, wenn sie Qualen bereitet? Wieso bereitet sie Qualen und auch Freuden? Das ist doch ein Widerspruch.«

»Ach, du mit deinen philosophischen Diskussionen! Hast du darüber nicht mit dem Kaplan oder deinem Lehrer gesprochen?«

»Er gibt mir keine erschöpfende Antwort darauf. Der Kaplan sagt, er ist nur für die himmlische Liebe zuständig. Alles andere ist Sünde.«

Lady Marjorie lächelte nachsichtig. »Damit hat er natürlich Recht. Zumindest zum Teil. Aber für jeden Edelmann ist es Pflicht, sich unglücklich in eine Dame zu verlieben, zu deren Ehren er Heldentaten vollbringt und Lieder und Verse dichtet.«

»Warum ist er dann unglücklich?«

»Weil diese Liebe keine Erfüllung finden wird. Und von dieser Qual singt er dann.«

»So ein Unsinn!« Rupert sprang auf. »Wozu verliebt er sich dann? Ich werde mich nicht verlieben!«

»Aber am Hof des Königs erlangst du nur Ansehen, wenn du auch ein guter Troubadour bist. Die Damen werden dir zu Füßen liegen.«

Rupert stand schon an der Tür. »Dazu hat man doch Hunde«, erwiderte er verächtlich.

 

 

»Hier steckst du!« Eine helle Mädchenstimme erklang vom Tor her und Rupert zog den Kopf ein. »Du brauchst dich nicht zu verstecken, ich habe dich entdeckt!«

Alice hopste auf den Heuberg und ließ sich neben ihren Bruder fallen. Rupert klappte das Buch zu und starrte seine kleine Schwester unfreundlich an.

»Keine Angst, ich verrate nicht, dass du gelesen hast«, sagte sie versöhnlich und lächelte. »Ich möchte es ja auch gern lernen. Aber du weißt ja, dass Vater nicht viel davon hält. Dass Mädchen lesen können, gleich gar nicht. Meine mageren Schreibkünste habe ich Mutter zu verdanken.« Sie seufzte, doch im gleichen Moment sprang sie schon wieder auf und Übermut kehrte in ihr Gesicht zurück. »Hast du Lust, mit mir auszureiten? Am Bach blühen die ersten Krokusse.«

Rupert erhob sich. »Gern. Wenn es Vater erlaubt.«

»Wir werden Vater nicht fragen, denn er erlaubt es nicht. Ich will nicht, dass er uns eine Begleiteskorte mitschickt. Sie passen auf, dass ich den Damensattel benutze, nicht zu schnell reite und nicht auf die Bäume klettere…«

Rupert lächelte. Es verlieh seinem schmalen, scharf geschnittenen Gesicht mit den kohlschwarzen Augen einen weichen Ausdruck. Beide rutschten den Heuberg herunter, nahmen zwei leichte Sättel aus der Sattelkammer und legten sie ihren Pferden auf. Dann legten sie das Zaumzeug an und führten die Tiere leise auf den Hof hinaus. Niemand war zu sehen, der Lord hielt sich sicher mit Cedric und seinen beiden älteren Söhnen in der Waffenkammer auf. Lady Marjorie stickte mit ihren Gesellschaftsdamen an einem großen Wandteppich. Niemand vermisste die Kinder.

Sie trieben ihre Pferde an und galoppierten über die sanften Hügel hinab in das Tal, wo sich ein Bach seinen Weg suchte. Weiden säumten seinen gewundenen Lauf, an deren Zweigen sich das erste zarte Grün der Sonne entgegenstreckte. Auf den Südhängen blühten die Boten des Frühlings, in den Hecken zwitscherten die Vögel. Über den Wiesen lag ein zarter Schleier aus Nebel und tauchte das Land in ein geheimnisvolles Licht, das die Trennung von Himmel und Erde aufhob. Schwarze Raben krächzten in den uralten, knorrigen Bäumen, die in einzelnen Gruppen auf den weitläufigen Grashügeln standen. Einige Vögel, aufgescheucht durch die beiden Reiter, flogen wie schwarze Schatten über ihre Köpfe hinweg.

Rupert ließ seinen Blick über die erwachende Natur streifen und atmete den intensiven Duft nach Erde ein. Doch plötzlich schob sich ein anderes Bild vor seine Augen, drei rote Knäuel, oder waren es Feuer?

Unwillig schüttelte er den Kopf. Es ängstigte ihn, dass er manchmal von seltsamen Visionen heimgesucht wurde. Einmal hatte er mit seiner Mutter darüber gesprochen, doch die hatte ihn nur entsetzt angeschaut und händeringend gebeten, mit niemandem darüber zu sprechen. Es musste etwas Schreckliches sein, Krankhaftes oder sogar Schlimmeres. So machte er es mit sich selbst aus und versuchte diese Bilder, die ihm dann und wann erschienen, zu verdrängen.

Die Pferde schnaubten leise, ihre Hufe malten eine Spur in das saftige Gras am Bachufer. Alice seufzte zufrieden, als der laue Frühlingswind durch ihr Haar fuhr. Alles schien still und friedlich, das Wasser des Baches gluckste und perlte lebhaft nach der Schneeschmelze.

Rupert war nicht überrascht, als er die roten Schöpfe von Pete, Hengist und Tom entdeckte. Es waren die Söhne von Lord Kynance, einem angelsächsischen Ritter, dessen Ländereien an die von Lord de Cazeville grenzten. Seit Rupert denken konnte, befehdeten sich die beiden Familien.

»He, du normannisches Arschloch, hast du die Hosen voll?«, brüllte Tom. Rupert bereute, sein Schwert nicht angelegt zu haben. Alice’ Gesicht war fahl geworden.

Die Jungs hatten die Pferde umringt und beunruhigten sie, indem sie mit Weidenruten nach ihnen schlugen. Zum Glück saß Alice auf einem Herrensattel und konnte sich mit den Knien festklammern, als ihr Pferd nervös stieg.

»Halt dich fest!«, rief Rupert ihr zu und trieb sein Pferd vorwärts. Doch Hengist hatte ihm in die Zügel gegriffen und Pete zerrte ihn aus dem Sattel. Zu dritt warfen sie sich auf Rupert und schlugen mit den Fäusten auf ihn ein. Sie umringten ihn derart, dass er die Arme nicht heben konnte. Ein Schlag traf ihn mit voller Wucht an die Schläfe. Schwindel und Übelkeit übermannten ihn. Ein Stoß in die Magengrube ließ ihn in die Knie sinken. Er machte den schwachen Versuch, seinen Peinigern wenigstens auf die Hirschlederstiefel zu kotzen, aber der Schmerz überwältigte ihn. Mit den Stiefeln traten sie in sein Gesicht und er hörte, wie sein Nasenbein brach. Warmes Blut rann über sein Gesicht. Mühsam schnappte er nach Luft. Seine Zunge schien unförmig anzuschwellen. Irgendwo schrie Alice. Als sich Rupert nicht mehr wehrte, ließen sie von ihm ab und wandten sich dem Mädchen zu.

»Lauf weg!«, rief Rupert ihr zu, doch ein erneuter Tritt ins Gesicht brachte ihn zum Schweigen. Staub drang in seine Augen, in Mund und Nase, er krächzte und spuckte schwarzes Blut. Wie durch einen Nebel sah er, wie sie Alice packten. Hengist und Tom hielten sie an Armen und Beinen fest, während Pete ihren Rock zerriss.

»Mein Gott, sie ist doch noch ein Kind«, stöhnte Rupert und seine Hände krallten sich in den Boden. Alice schrie aus Leibeskräften, doch ihre Schreie gingen im höhnischen Lachen der rothaarigen Jungen unter.

Unter Aufbietung aller Kräfte rappelte Rupert sich auf und stürzte sich von hinten auf Pete. Seine Finger schlossen sich um den schlanken Hals des Jungen, ertasteten den Kehlkopf. Plötzlich wurde Rupert ganz ruhig. Er spürte keinen Schmerz, sein Körper schien neue Energien aufzutanken. Und gleichzeitig wandelten sich diese Energien in eine unheimliche Kraft, die in seine Hände floss. Seine Finger schlossen sich, er hörte das Knirschen des Knorpels im Kehlkopf. Er ließ erst los, als Petes Körper kraftlos nach vorn sackte.

Alice starrte entsetzt auf Petes Gesicht, dass sich grauenvoll verzerrte. Seine Augen traten aus den Höhlen, die Zunge quoll hervor. Ihr folgte ein Schwall hellen Blutes.

Tom und Hengist ließen Alice los. Sie wand sich wie ein Wurm unter dem leblosen Körper von Pete hervor. Rupert richtete sich auf und streckte seine Hände vor.

»Wer ist der Nächste?«, fragte er mit sich überschlagender Stimme. Die Jungs wichen vor seinen Händen zurück wie vor einem Dämon. Dann wandten sie sich um und rannten Hals über Kopf davon.

Rupert blieb stehen und blickte ihnen nach. Er stieg über Petes Leiche hinweg und hob seine Schwester auf. Alice lag erstarrt in seinen Armen. Er trug sie bis zum Bach und setzte sie vorsichtig ins junge Gras.

Plötzlich überkam Alice ein heftiges Schütteln und ihre Zähne schlugen aufeinander. »Ich hatte solche Angst«, flüsterte sie mit aufgerissenen Augen.

»Es ist ja alles gut«, tröstete Rupert. »Pete ist tot und die anderen sind weg.«

Alice schüttelte mechanisch den Kopf, tiefes Grauen in ihrem Blick. »Ich hatte Angst vor dir.«

Es war totenstill in dem kalten Raum, nur der heftige Atem Guy de Cazevilles klang wie fernes Meeresbrausen. Rupert kniete auf dem harten Boden, den Kopf gesenkt. Über ihm, mit unheilvollem Gesicht, stand sein Vater, übermächtig und allgewaltig. Aus den Augenwinkeln sah Rupert seine beiden Brüder John und Roger. Rogers Miene war ernst, seine Augen jedoch weit aufgerissen, als erwarteten sie etwas Schreckliches. Um Johns Mundwinkel dagegen zuckte ein hämisches Grinsen. Alice war nicht anwesend.

»Rache!«, brüllte Guy de Cazeville. »Lord Kynance will Rache!« Rupert zuckte bei jedem Wort zusammen. »Rache für einen feigen Mord!«

Rupert holte Luft, um etwas zu entgegnen, doch mit einer herrischen Armbewegung gebot ihm sein Vater zu schweigen.

»Warum bist du nicht gleich nach deiner Geburt gestorben?«, schrie Lord Guy weiter. »Stattdessen muss ich meinen missratenen und schwächlichen Sohn auf der Turnierbahn verteidigen. Du bist eine Schande für die Familie!«

Rupert warf einen verstohlenen Blick auf seine Mutter, die ihm jetzt noch zarter und verletzlicher erschien. Sie saß, um Haltung bemüht, auf dem schweren Audienzstuhl, die Augen auf ihren Gatten gerichtet. »Ich kann dich ja nicht einmal selbst in die Fehde schicken, will ich mich nicht dem Hohn und Spott aller Ritter Englands aussetzen, weil du nicht einmal ein Schwert richtig handhaben kannst.« Rupert hörte John kichern. Zu seinem Erstaunen trat Roger vor.

»Vater, wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich an meines Bruders statt kämpfen. Schließlich gilt es, dem Namen de Cazeville wieder die Ehre zurückzugeben.«

»Bist du verrückt?«, zischte John. Rogers Augen lagen fest in denen seines Vaters. Der strich sich, nachdenklich geworden, seinen Bart.

»Es ehrt dich, mein Sohn, dass dir Stolz und Familienehre so viel wert sind, dass du auch einen schwächlichen Spross unserer Sippe verteidigen willst. Ja, es entspricht den ritterlichen Idealen, dass der Starke den Schwachen verteidigt. Aber hier liegt der Fall etwas anders. Dieser da«, sein Zeigefinger schoss wie ein Pfeil auf Rupert zu, »ist nicht nur schwach, sondern auch dumm und hinterhältig. Denn er musste sich nicht vor einem Gegner zur Wehr setzen, sondern hat hinterhältig und hinterrücks gemeuchelt. Dafür verdient er den Strang, aufgeknüpft wie ein gemeiner Verbrecher.«

»Vater, er hat nur unsere Schwester verteidigt«, wandte Roger ein.

»Halt doch den Mund«, versuchte John ihn leise zum Schweigen zu bewegen.

»Es war zutiefst verantwortungslos, einfach mit Alice allein auszureiten. Er hat sie erst in diese Gefahr gebracht. Nein, es gibt kein Wort der Verteidigung für ihn. Und du bist mir zu schade, für diesen Nichtsnutz in die Fehde zu gehen. Aus dir soll ein mutiger Ritter werden, du wirst in deinem Leben noch genug Gelegenheit bekommen, Schwächere zu beschützen. Schwächere, die deinen Schutz verdienen, mein Sohn.« Guy de Cazeville stemmte seine Fäuste in die breiten Hüften. »Dieses eine Mal werde ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Der alte Kynance ist zwar nicht mein Freund, aber ich werde ihn in die Schranken weisen. Und du«, wandte er sich wieder an Rupert, »wirst eine angemessene Strafe bekommen. Du gehst sofort in deine Kammer und verlässt sie erst, wenn ich dich rufen lasse. Auch ihr, meine Söhne, seid entlassen.«

»Meinst du nicht, dass du zu hart mit ihm warst«, wagte Lady Marjorie einzuwenden, als ihre Söhne den Saal verlassen hatten.

Guy de Cazeville lachte höhnisch auf. »Zu hart für diese Schande, die er mir bereitet hat? Es gibt überhaupt keine Strafe, die angemessen wäre, außer der Tod!«

»Du versündigst dich«, flüsterte Lady Marjorie und bekreuzigte sich.

»Ach? Warum ist denn der Bengel so ein Versager? Weil du ihn verzärtelst und ihn wie ein Mädchen erziehst! Wozu muss ein Mann Lesen und Schreiben können wie ein Klosterbruder? Ich kann es auch nicht, bin ich deshalb ein schlechterer Ritter? Ich setze meinen Willen mit dem Schwert durch, das ist das überzeugendste Argument. Ich habe Rupert beim Waffengang beobachtet. Es ist eine Schande!« Hektisch marschierte Guy de Cazeville auf und ab und raufte sich seine Haare.

»Dann lass ihn doch ins Kloster gehen«, bat Lady Marjorie. »Er hat eben ein anderes Wesen.«

»Ja, und ich frage mich wieso. Ist das überhaupt ein de Cazeville, ist das überhaupt mein Sohn?«

Marjorie errötete bis unter die Haarwurzeln und bemühte sich um Fassung. »Mein Gemahl, was unterstellst du mir?«, hauchte sie mit erstickter Stimme.

»Er sieht so anders aus. Alle Männer meiner Familie sind richtige Normannen, groß, kräftig, mit hellem Haar und blauen Augen. Dieser Nichtsnutz ist schwarzhaarig, hat Augen wie glühende Kohlen und eine braune Haut.«

»Wie ich, jawohl«, verteidigte sich Lady Marjorie. Sie war immer noch eine rassige Schönheit, wenngleich sie sie hinter dem dichten Schleier versteckte, der Haar und Hals verhüllte und nur das schmale Gesicht frei ließ. »Und wie Alice.«

»Aber er ist kein Mädchen!«, ereiferte sich Guy de Cazeville. »Wieso ist er dann anders?«

Lady Marjorie schwieg. Sie konnte ihrem Gatten nicht sagen, wie anders Rupert war. Hätte er von den Visionen des Jungen, von seiner seltenen Gabe des zweiten Gesichtes, von seinen seherischen Fähigkeiten erfahren, er hätte ihm wahrscheinlich sein Schwert ins Herz gebohrt wie einem lebensschwachen Stück Vieh.

»Er ist dazu ausersehen, einen anderen Weg zu gehen, mein Gemahl«, versuchte Lady Marjorie eine erneute Rettung. Mit warmer, demütiger Stimme bat sie: »Gott wollte, dass er den geistlichen Weg einschlägt. Lass ihn in ein Kloster gehen, wo er Gottes Wort leben, wo er die Schrift studieren kann. Es ist nichts Schlechtes daran, Gott zu dienen. Es ist seine Berufung.«

»Mein Sohn ein Pfaffe«, schnaubte Guy de Cazeville verächtlich. »Schon das allein ist eine Schande. Aber immerhin besser als ein unfähiger Ritter. Soll er gehen, ich will ihn nie wieder sehen!«

Lady Marjorie atmete heimlich auf und sandte ein Stoßgebet zu Gott. Ich danke dir für deine Güte, HERR, dass du meinen Gemahl zur Einsicht gebracht hast. Laut sagte sie: »Ich habe mich bereits erkundigt, wo sich ein geeignetes Kloster befindet.«

»Das ist mir egal, nur weit weg von hier. Am besten nach Wales.«

»Nach Wales?«, rief Lady Marjorie entsetzt. »Nein, nein, dort herrschen noch schreckliche Sitten, wo Geistliche heiraten dürfen. Ich dachte an Irland.«