10

 

Das tote Mädchen, das Shane zur Kirche gebracht hatte, hieß Jeanne Jackson, eine Studentin im zweiten Jahr, die nach der Party einer Studentinnenverbindung verschwunden war. Die Papiere besagten, dass sie vergewaltigt und erdrosselt wurde, von Verdächtigen stand dort nichts und zu Claires großer Erleichterung tauchten auch keine Cops auf, um Shane zu vernehmen. Er hatte etwas Idiotisches getan, aber sie verstand seine Paranoia. In Morganville war er nur einen Verdachtsmoment davon entfernt, Jasons alte Zelle zu belegen, egal ob er tatsächlich etwas getan hatte oder nicht. Das heißt, wenn die Vampire nicht darauf bestanden, Lynchjustiz zu üben.

Captain Durchblicks Eckzahn-Rundschau enthielt einen weit ausführlicheren Artikel über die Morde. Dort wurden die anderen beiden, von denen Claire wusste, mit diesem Mord in Verbindung gebracht und es wurde darüber spekuliert, dass dieses Mal die Gefahr nicht von den Vampiren drohte, sondern von Menschen. Claire fiel auf, dass Captain Durchblick von der Idee, Wachpatrouillen gegen jemanden mit einem schlagenden Herzen zu bilden, nicht so begeistert schien. Nicht dass es für die ermordeten Mädchen einen Unterschied machte, welche Art von Monster sie umbrachte.

Sie erhielt eine Nachricht von Amelie, die ihr für den Rest der Woche von ihrer Arbeit mit Myrnin freigab, deshalb beschäftigte sie sich damit, in ihren Kursen aufzuholen. Diese waren härter, als sie gewohnt war, was sie irgendwie erleichterte. Sie liebte ordentliche Herausforderungen und die Professoren schienen sogar darauf zu achten, ob ihre Studenten eine Ahnung hatten oder nicht. Mythen und Legenden entsprach nicht dem, was sie erwartet hatte, ganz und gar nicht; es ging nicht um griechische Götter oder gar indianische Trickbetrügergeschichten. Nein, es ging um... Vampire. Vergleichende Vampirstudien sozusagen, wobei die Literatur und die Volkskunde von der frühesten, schriftlich belegten Geschichte bis hin zum Vampir als Held der Popkultur untersucht wurden. Jetzt, wo Claire darüber nachdachte, stellte sie fest, dass dies wohl eine moderne Version von Mythen und Legenden war. Seltsam für Morganville war, dass der Professor den Teil über die Methoden, Vampire zu töten, nicht ausließ, aber Claire ging davon aus, dass sie sowieso eine der wenigen war, die wirklich wusste, um was für eine Stadt es sich hier handelte. Der Rest würde sich ahnungslos die ein oder zwei Jahre durchmogeln, auf eine größere Schule wechseln und nie erfahren, dass er auf Partys mit echten Monstern auf Tuchfühlung gewesen war.

Sie sagte nichts, was sie in Schwierigkeiten bringen konnte, denn der Professor trug ebenfalls ein Armband. Sie versuchte, sein Bildzeichen Vampiren zuzuordnen, und nahm an, dass er einer Vampirin namens Susan gehörte, die in Finanzen zu machen schien. Susan hatte jedenfalls ein großes Vermögen und war ein hohes Tier im Bank- und Investmentwesen von Morganville.

Claire begann, sich in einem extra Notizbuch Bildzeichen, Vampire und wem was gehörte, zu notieren. Nicht weil sie irgendeinen Plan hatte, sondern einfach nur weil es interessant war und eines Tages nützlich sein könnte. Sie glaubte, dass Amelie ihr alles darüber erzählen würde, wenn sie sie fragte, aber es war eine größere Herausforderung, es selbst herauszufinden – und auf diese Weise konnte Amelie nicht wirklich sicher sein, wie viel Claire wusste, und das konnte kein Fehler sein. Sie ist freundlich, wenn es ihr in den Kram passt. Das bedeutet nicht, dass sie nett ist.

Und am Freitag hatte Eve einen Zettel an den Badezimmerspiegel gesteckt, den Claire beim Aufstehen finden sollte.

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CB, vergiss nicht, dass heute die Party ist. Ziel: Du musst heißer aussehen als Monica und dafür sorgen, dass alle total vergessen, wer die Party eigentlich schmeißt. Dein Outfit hängt hinter der Tür. Du kannst mir das Geld später geben. E.

**

Das Outfit hätte sich Claire nie, nie, nie selbst gekauft. Erstens war der schwarze Lederrock... kurz. Also, echt kurz. Dazu gehörten eine gemusterte Strumpfhose und ein durchsichtiges rotes Shirt mit großen Rosen, die mit beflocktem Material in den Stoff eingewebt waren. Und ein schwarzes Hemdchen für darunter.

Ein weiterer Zettel war am Rock befestigt. Schuhe stehen unter dem Schrank. Claire schaute nach. Es waren dicke, klobige Plateauschuhe aus glänzendem Lackleder.

Sie nahm alles mit zurück in ihr Zimmer und legte es hin, dann trat sie zurück und starrte es einige Sekunden lang an. Das kann ich nicht tragen. Das bin nicht ich.

Aber Eve würde sich total über sie lustig machen, wenn sie in ihren Jeans auf die Party gehen würde. Außerdem hatte sie sich so viel Mühe gegeben, denn die Sachen waren alle in Claires Größe, nicht in Eves. Sogar die Schuhe.

Und... Monica würde es wahnsinnig ärgern, wenn Claire heißer aussähe als sie (sie würde niemals heißer aussehen als Monica, das war pure Fantasie, aber trotzdem). Als Claire langsam mit den Fingern über das weiche Leder des Rocks strich, stellte sie sich Monicas Gesichtsausdruck vor. Nein, ich kann nicht.

Und dann stellte sie sich Shanes Gesicht vor, wenn er sie sah.

Na ja, vielleicht konnte sie es doch.

***

Sie hatte sich, was sein Gesicht anging, getäuscht, denn als sie die Treppe herunterkam, sah Shane sie so fassungslos an, wie sie es sich nicht besser hätte vorstellen können. Sein Mund klappte regelrecht auf. Michael, der neben ihm stand, drehte sich zu ihr um, und obwohl sie nicht damit gerechnet hätte, überlief es sie warm und prickelnd, weil ein total heißer Vampir, der aussah wie ein Goldengel, blinzelte und sie rasch und unwillkürlich von oben bis unten musterte.

Claire hielt über ihnen auf den Stufen an und versuchte einen zaghaften Hüftschwung. »Okay?«, fragte sie. Shanes Mund klappte mit einem leisen Geräusch wieder zu und Michael räusperte sich.

»Hübsch«, sagte Michael.

»Hübsch?« Das war Eve, die hinter Claire die Treppe herunterkam. Sie schlängelte sich um sie herum und boxte Michaels Arm. »Sie sieht super aus. Ich finde, sie sieht total heiß aus – und ich stehe nicht das kleinste bisschen auf Frauen.«

Shane sagte überhaupt nichts mehr. Claire wurde warm und ein wenig schwindlig davon, wie er sie ansah. Sie widerstand dem Bedürfnis nachzuschauen, ob ihr Rock richtig saß – sie hatte das bereits ein Dutzend Mal getan –, und zwang sich, seinen Blick und sein Lächeln zu erwidern.

»Bist du sicher, dass das klug ist?«, fragte Shane. Das war nicht das, was sie erwartet hatte, ganz und gar nicht. »Du siehst fantastisch aus.«

»Danke...«

Er unterbrach sie. »Fantastisch bedeutet in dieser Stadt, dass du plötzlich ganz oben auf der Take-away-Speisekarte stehst.«

Sie hob ihre linke Hand und deutete auf ihr Handgelenk. Das goldene Armband war deutlich zu sehen. »Mir wird nichts passieren«, sagte sie. »Die Vamps werden mir nichts tun.«

»Ich meine nicht mal die Vamps. Du wirst jeden Typen dort anlocken, der darauf aus ist, auf seine Kosten zu kommen.«

Eve rollte mit den Augen. »Mein Gott, Shane, du Spaßbremse! Sie sieht großartig aus und du brauchst deswegen nicht gleich eifersüchtig und gluckenhaft zu werden! Sie wird mit uns dort sein, wir werden alle auf sie aufpassen. Und du musst zugeben, sie sieht wirklich gut aus, wenn sie gestylt ist. Ich hab ihr auch die Haare gemacht. Verdammt heiß, nicht wahr?« Das mit der Frisur war fast ein wenig zu viel des Guten, fand Claire. Sie schien überwiegend aus Gel und Sprays und so Kram zu bestehen, wirkte aber tatsächlich so sorgfältig zerzaust wie bei einem Model.

Eve sah an diesem Abend auch nicht gerade wie ein Mauerblümchen aus. Sie trug ein atemberaubendes, bodenlanges schwarzes Kleid, das ihre blassen Arme zeigte. Es hatte einen sehr tiefen Ausschnitt und einen Schlitz bis zur Hüfte. Dazu Netzstrümpfe. Das war ungeheuer sexy, und wenn Michael gerade noch damit beschäftigt war, Claires Verwandlung zu bewundern, war er jetzt völlig auf Eve fixiert.

Eve zwinkerte ihm zu und wirbelte herum, um ihm den Rücken zu zeigen. Dort war wenig Stoff und hauptsächlich Haut zu sehen und eine blutrote, tätowierte Rose unten an ihrem Rücken.

»Oh, Mann«, sagte Shane. »Das ist einfach – yeah.«

Erst als sie die Reaktionen der beiden verdaut hatte – die wirklich lustig waren –, fiel Claire auf, dass Eve auch beim Outfit der Jungs Hand angelegt haben musste...sie sahen erstaunlich chic aus. Michael trug eine schwarze Hose und einen schwarzen Ledermantel, darunter ein dunkelblaues Hemd aus Seide. Das brachte ihn schlicht und ergreifend zum Leuchten – wie weißes Gold auf dunklem Samt.

Shane sah so gut aus, dass sie ihn am liebsten zurück in ihr Zimmer geschleift hätte. Eve musste ihn dazu gezwungen haben, den schlimmsten Teil seiner Mähne zu glätten, was seine hohen Wangenknochen und sein kräftiges Kinn zur Geltung brachte. Er trug ebenfalls Schwarz, kombiniert mit einem dunkelbraunen Strickshirt. Claire hatte ihn noch nie in einem Sakko gesehen. Sie beschloss, dass er es nie wieder auszuziehen brauchte.

Michael schüttelte den Kopf und bot Eve seinen Arm an. Sie nahm ihn und ihre tiefroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Dann zwinkerte sie Claire zu. Claire zwinkerte zurück und kam sich plötzlich sehr verrucht vor, dann hakte sie sich bei Shane unter.

»Ich kann nicht fassen, dass wir das tun«, sagte Shane.

Das würde ein Spaß werden.

***

Claire hatte die Adresse nicht vergessen, obwohl sie die Einladung weitergegeben hatte, und Michael kannte Morganville wie seine Westentasche – oder wie Eves Rücken, von dessen nackter Haut er nicht die Augen lassen konnte, ganz zu schweigen von dem Tattoo. Außerdem konnte man die Party unmöglich verpassen, sobald man sich bis auf wenige Häuserblocks genähert hatte. Bei den grellen Lichtern und den tiefen Bässen war Schlafen ausgeschlossen, wenn man in der Nähe wohnte.

Michael fuhr auf der Suche nach einem Parkplatz um den Block und fand schließlich eine schmale Parklücke an der Seite. Beim Einparken sagte er: »Grundregeln: Wir trennen uns nicht. Vor allem ihr nicht, Eve und Claire. Nicht nur wegen der Vampire, sondern wegen Jason. Verstanden?«

Sie nickten.

»Außerdem«, sagte Shane und zupfte spielerisch an Claires vor Gel strotzenden Haaren, »möchte ich Monicas Gesicht sehen, wenn sie euch beide entdeckt. Das wird ein filmreifer Moment.«

Eve kramte in ihrer winzigen, sargförmigen Handtasche und zückte ein nagelneues Handy mit Kamera. »Ich bin bereit.«

»Ich auch«, sagte Claire und zog das schicke Handy hervor, das Amelie ihr geschenkt hatte. Sie war plötzlich beschämt, als Shane einen Blick darauf warf, aber sie riss sich zusammen. Sie konnte sich nicht die ganze Zeit schämen und außerdem war das doch gar nicht so schlimm, oder? Auch nicht anders, als hätte man einen Beruf. Nur... anders.

»Passt auf, was ihr esst und trinkt«, fuhr Michael fort. »Monicas Party ist vermutlich ein Date-Rape-Drogen-Himmel. Ich kann riechen, was sie in die Drinks tun; ihr nicht. Und wenn ihr in irgendwelche Schwierigkeiten geratet, dann haltet die Füße still, ich regle das dann. Wenn ihr schon einen irren Vampirfreund habt, dann nutzt es wenigstens aus.«

Shane gab keine Antwort, aber Claire konnte sehen, dass ihm irgendein Klugscheißer-Kommentar auf der Zunge brannte. Sie war froh, dass er ihn für sich behielt. Es war schön, sich wieder wie vier Freunde zu fühlen anstatt wie vier Menschen, die dabei waren, in vier verschiedene Richtungen abzudriften.

»Sonst noch was, Dad?«, fragte Eve. Michael küsste sie, sehr leicht und lippenstiftschonend.

»Ja«, sagte er. »Ihr seht zum Fressen gut aus. Versprecht mir, das nicht zu vergessen.«

Claire konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich freuen sollte oder Gänsehaut kriegen, und sie merkte, dass es Eve genauso ging.

***

Das Haus der Morrells sah aus wie Tara aus Vom Winde verweht, und zwar nach Shermans Marsch. Claire beobachtete blinzelnd, wie ein Mob betrunkener Jungs aus einer Studentenverbindung den Gartenweg herunterkam, etwas brüllte, das sie nicht verstand, und ein Sofa wegtrug.

Das Sofa stellten sie in den gigantischen Springbrunnen, der sich vor dem Haus befand. Offensichtlich verlagerten sie gerade den überwiegenden Teil des Wohnzimmers dorthin. Einige Partygäste saßen bereits in Sesseln, durchnässt vom feinen Sprühregen des Springbrunnens, und jetzt drängten sich drei oder vier von ihnen kichernd auf das nasse Sofa.

»Das da«, sagte Shane respektvoll, »geht wirklich zu weit. Das gefällt mir.«

Die Party war völlig außer Kontrolle. Die vier standen neben Michaels schimmerndem, vampirgetöntem Wagen und schauten bewundernd zu. Das Haus war hell erleuchtet, überall auf dem Rasen standen leicht schräge Tiki-Fackeln herum, die aussahen, als wären sie betrunken, und es wimmelte von Partygästen. Sie knutschten unter den Bäumen im vollen Licht der Sicherheitsbeleuchtung. Tranken einen Kurzen auf den Stufen des mit weißen Säulen ausgestatteten Vorbaus. Ein Mädchen rannte vorbei, sie hatte lediglich einen halben Bikini an. Die obere Hälfte.

»Verdammt«, sagte Michael. »Monica weiß wirklich, wie man eine Party schmeißt.«

Ohne Witz. Claire beobachtete, wie ein großer Sattelschlepper im Schritttempo durch ein Menschenknäuel lenkte und hinten an das Haus heranfuhr. Er hatte ein Logo, auf dem »Bobs feine Spirituosen« stand. Offenbar hatte Monica bereits flüssigen Nachschub bestellt, obwohl die Nacht noch jung war.

»Nun?«, sagte Eve. »Bleiben wir die ganze Nacht hier draußen stehen? Ich wäre jetzt nämlich dazu bereit, jemanden aus den Latschen kippen zu lassen.«

Die vier schlenderten die Auffahrt hinauf und hielten Ausschau nach Verbindungsjungs und wandelndem Mobiliar. Sie gingen zusammen die Vordertreppe hinauf, auf der etwa zehn Leute ein kompliziertes Spiel spielten, zu dem Schnapsgläser, Spraydosen mit fluoreszierender Farbe und hysterisches Kichern gehörten. Selbst die Betrunkensten unter ihnen schauten sich nach ihnen um und stießen anerkennende Pfiffe aus.

Die Verbindungsjungs, die Betrunkenen im Springbrunnen und die noch Betrunkeneren auf der Veranda trugen alle normale, saloppe College-Kleidung, zumeist Shorts und T-Shirts. »Ähm«, sagte Claire, »vielleicht sind wir ein bisschen overdressed.«

»Auf keinen Fall«, sagte Eve. »Wenn, dann richtig.«

»Erinnere mich daran, dass ich nachher mit dir Poker spiele«, sagte Michael. »Ich liebe ein Mädchen, das gern aufs Ganze geht.«

Sie versetzte ihm einen Stoß mit der Hüfte. »Das möchtest du also nachher mit mir machen? Junge, Junge. Du solltest wenigstens Respekt vor meinem Kleid haben.«

Michael ließ seine bleichen Finger entlang der Wirbelsäule bis hinunter zu der roten Rose gleiten. Eve erschauerte und machte die Augen halb zu. Was immer Michael ihr ins Ohr flüsterte war vermutlich zu intim, als dass es gehört werden durfte, dachte Claire.

Nicht dass sie es hätte hören können, denn genau in diesem Augenblick flog die Eingangstür auf und eine sirupartige Woge aus hämmernden Techno-Klängen und lauter Unterhaltung schwappte zu ihnen heraus. Zwei Jungs kamen durch die Tür gestolpert, sie stützten sich gegenseitig. Claire blinzelte und erkannte zwei der Spieler, denen sie damals auf dem Campus Monicas Einladung gegeben hatte.

»Verdammt coole Party«, schrie einer von ihnen und fiel vornüber auf sein Gesicht.

»Offensichtlich.« Eve stieg über ihn und stürzte sich, gefolgt von Michael, ins Partygeschehen. Claire wollte ihnen nachgehen, aber Shanes Griff um ihren Arm war fester geworden und er hielt sie zurück.

»Was?«, fragte sie und wandte sich zu ihm um. Gott, er sah wunderbar aus. Sie wünschte, Eve würde immer aussuchen, was er anzog.

»Bevor wir reingehen«, sagte er, beugte sich vor und küsste sie. Claire hörte von weit her die Pfiffe und Rufe der Schnapstrinker – von weit her deshalb, weil der Kuss so süß und heiß war und etwas Verrücktes in ihm lag, das sie innerlich beben und alles andere vergessen ließ.

Viel zu früh wich er wieder zurück. »Bleib bei mir«, sagte er, seine Lippen direkt an ihrem Ohr, und sie nickte. Als würde ich dich aus den Augen lassen.

Und dann folgten sie Michael und Eve auf die Party des Jahrhunderts.

Es war die zweitgrößte Party, auf der Claire je war – abgesehen von Geburtstagspartys und Partys, auf denen genauso viele Anstandswauwaus wie Kids waren. Die größte war der Dead Girls’ Dance gewesen, der von der EEK-Studentenverbindung geschmissen wurde. Die Party war nicht besonders gut ausgegangen, weil Shanes Dad dort Amok gelaufen war und Vampire pfählen wollte. So wie es aussah, war diese Party womöglich noch verrückter.

Sie war froh, dass sie mit ihren Freunden gekommen war. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie beängstigend es wäre, ganz allein hier zu sein. Die Eingangshalle war hoch und geräumig, aber vollgestopft mit Leuten, die sich unterhielten, tanzten, knutschten und grabschten – es war wie in einem heißen Klub, nur dass alle Lichter an waren. Claire streifte ein Paar, das gerade – was machten die da eigentlich? Sie schaute weg, bevor sie sich vergewissern konnte, wo genau die Hand des Typen hinwanderte.

Michael und Eve drängten sich durch die Menschenmenge in den nächsten Raum und Claire und Shane blieben ihnen auf den Fersen. Einige der Leute in dem großen Wohnbereich waren chic angezogen, aber die meisten trugen ganz gewöhnliche Standard-College-Klamotten, und irgendwie wurde Claire das Gefühl nicht los, dass die zwanglos gekleidete Masse uneingeladen gekommen war.

Monica stand mit verschränkten Armen oben an der Treppe und schaute geradewegs zu ihnen herüber.

»Ooooh, das ist ein filmreifer Moment«, sagte Eve und hielt ihr Handy hoch, um Monicas finsteres Gesicht zu knipsen. »So. Das hätten wir.«

Sie gab Shane, der offensichtlich schon darauf gewartet hatte, einen Highfive. Monica verbannte mühsam die Verärgerung aus ihrem Gesicht und kam die Treppe herunter. Sie trug ein anliegendes rosafarbenes Etuikleid mit riesigen, lindgrün umrandeten Blumen, zu dem ihre rosa Schuhe perfekt passten. Sehr chic.

»Claire, du hast Leute von der Straße mitgebracht«, sagte Monica. »Wie schön.« Und dann machte sie seltsamerweise ein Gesicht, als täte es ihr leid. »Dich meine ich damit nicht, Michael. Du bist immer willkommen.«

Er zog seine blassen Augenbrauen hoch. »Bin ich das?«

»Natürlich.«

Claire stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Weil du ein VIP bist. Vampire Important Person.«

Zwei weitere Spieler, die Claire mit der Einladung beglückt hatte, torkelten vorbei. Einer davon ergriff Claires Arm und platzierte einen nassen, schlabbrigen Kuss auf ihre Wange. »Wir haben Kopien verteilt«, sagte er und kicherte. »Hoffe, das war okay. Großartige Party!«

Shane seufzte, legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn weg. »Jaja, wie auch immer. Nacktes Mädel, heiß wie ein Vulkan, im Nebenzimmer. Du beeilst dich besser.«

Die Spieler wurden ganz schnell wieder nüchtern und verdrückten sich. Monicas perfekte, geglosste Lippen standen offen, ihre Augen waren geweitet.

»Du?«, sagte sie. »Du hast das getan? Diese Idioten haben Flyer hergestellt! Sie haben sie überall auf dem Campus verteilt! Es sollten nur die Besten kommen!«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Eve zuckersüß. »Wir sind ja da.« Sie lächelte triumphierend und erinnerte mit ihrem Lippenstift an die Böse Hexe des Westens aus dem Zauberer von Oz. »Küsschen!« Sie gab in der Nähe von Monicas Wange ein »Mmuah« von sich. »Nette Party. Schade um die Möbel. Ts, ts!« Sie tänzelte an Michaels Arm davon, als wäre sie die Königin des Universums was war schon Morganville? Claire holte ihre Kamera heraus und hielt den mörderischen Blick, den Monica Eve zuwarf, für die Ewigkeit fest.

»Du hinterlistige kleine Schlampe!«, zischte Monica.

Claire ließ das Handy sinken und sah ihr für einen langen Moment in die Augen. Sie hatte keine Angst, nicht mehr. »Du hast deine Freunde dazu gebracht, mir Drogen ins Glas zu mischen, und du hast zu ihnen gesagt, dass ich es gern derb hätte. Alles, was ich getan hab, war, deine Einladung zu recyceln. Sagen wir mal, jetzt sind wir quitt.«

»Sagen wir mal, wir sind nicht quitt!«

Shane beugte sich vor, senkte die Stimme, sodass Monica sich anstrengen musste, ihn zu verstehen, und sagte: »Beruhige dich. Du bekommst rote Flecken im Gesicht, wenn du dich aufregst. Und wenn du noch einmal Schlampe zu meiner Freundin sagst, dann bin ich nicht mehr so nett.«

Monicas Blick war böse und wild, aber sie rührte sich nicht und einen Moment später drehte sie sich um und rannte die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich ihre chic angezogenen Freunde zusammendrängten wie die Kandidaten von Das Inselduell.

»Eins zu null für die Kleinen«, sagte Shane. Er starrte einem Rudel Typen in Fußballtrikots nach, die mit einem Bett an ihnen vorbeipolterten. Claire blinzelte. Ja, das war ein Bett. »Okay, ich will es eigentlich gar nicht wissen. Also. Was zu trinken?«

In der Küche setzte eine Gruppe Leute gerade Bowle in einem Mülleimer an. Claire hoffte, dass es ein neuer Mülleimer war. Aber so zugeschüttet, wie die Typen waren, die das Zeug einfüllten, konnte man sich da echt nicht so sicher sein.

»Das Zeug da würde ich meiden«, sagte Shane dicht an ihrem Ohr. »Siehst du jemanden, den du kennst?«

Sie war sich nicht sicher. Es war so eng, dass man sich kaum bewegen konnte zwischen all den Leuten, die zu den Küchentheken hindrängten und mit roten Plastikbechern in der Hand aus und ein gingen...

Eine Schockwelle durchlief ihre Wirbelsäule. »Ja«, sagte sie. »Ich kenne jemanden.«

Wie zum Teufel war Eves Bruder auf die Party gekommen? Er stand lässig in einer Ecke und grinste hämisch. Das Haar hing ihm strähnig über die Schulter und er hatte die gleichen schmuddligen Bad-Boy-Klamotten an wie damals, als er Claire in der Cafeteria bedroht hatte. Er trank etwas, aber er war nicht betrunken – in seinem Blick lag zu viel glühende Verachtung, als er ihn über die Menge schweifen ließ. Irre Augen. Oh Gott, so sehen diese Typen aus, die plötzlich anfangen, in einem Raum voller Menschen herumzuballern.

Ihre Blicke trafen sich und er bedachte sie mit einem schrägen Lächeln. Beunruhigt schaute Claire Eve an, aber sie stand mit dem Rücken zu ihrem Bruder und unterhielt sich mit Michael; offensichtlich hatte sie das Problem gar nicht bemerkt.

»Was?«, fragte Shane. Claire wandte sich wieder um und deutete in die Ecke.

Jason war verschwunden.

Shane schüttelte den Kopf, als sie es ihm erzählte, und wandte sich ab, um mit Michael zu sprechen. Michael nickte, dann reichte er Eve an Shane weiter. Claire sah, wie sich seine Lippen bewegten: Pass auf sie auf.

Und dann ging Michael durch die Menge davon.

So viel zum Thema Zusammenbleiben.

Shane legte ihnen beiden den Arm um die Schultern und sagte: »Das hier ist das Leben. Sollen wir uns ein Zimmer nehmen, Mädels?«

Eve rollte ihre stark mit Mascara geschminkten Augen. »Als wüsstest du, was du mit einer von uns anfangen solltest, ganz zu schweigen von zweien. Wo geht er hin?«

»Toilette«, sagte Shane ungerührt. »Selbst Vampire gehen pinkeln.«

Was, nach allem was Claire wusste, wahr sein konnte, aber sie war sich sicher, dass das nicht der Grund war, weshalb Michael weggegangen war. Shane lenkte die beiden zur Theke und angelte für Claire eine noch nicht geöffnete Flasche Wasser und zwei Bierflaschen, die er dann selbst aufmachte. Kein Risiko eingehen, dachte Claire und schraubte die Flasche auf, um einige Schlucke von dem herrlich kalten Wasser zu nehmen. Ihr war bis dahin gar nicht aufgefallen, wie heiß es war, aber sie spürte, wie ihr beflocktes Netz-Shirt an ihrer nackten Haut klebte.

Jemand grabschte ihr an den Hintern. Claire kreischte und fuhr zusammen, dann drehte sie sich um und sah einen sternhagelvollen Verbindungsjungen, der sich zu ihr beugte. »Oh, Baby, du, süß!«, brüllte er ihr ins Ohr. »Du, ich, draußen, okay?« Er gab eine betrunkene Pantomime dessen zum Besten, was er draußen mit ihr vorhatte, und sie überkam eine heiße Welle aus Verlegenheit und Scham.

»Verschwinde«, sagte sie und schubste ihn weg. Seine Kumpels schleuderten ihn zu ihr zurück und dieses Mal brachte er sie aus dem Gleichgewicht, als er in sie hineinkrachte, und drückte sie gegen die Bar. Das nutzte er aus und sie fühlte seine Hände überall; seine Hüften drückten sie gegen die Theke.

Shane packte ihn am Kragen seines TPU-Poloshirts, wirbelte ihn herum und schlug ihm mitten ins Gesicht.

Großartig, dachte Claire erschüttert und empört. Dass das hier immer die Reaktion sein muss. Jemanden schlagen. Aber andererseits konnten vernünftige Gespräche heute Abend wohl nicht viel ausrichten.

Und natürlich waren sofort die Freunde des Typen zur Stelle. Eve griff Claire an der Hand und zog sie aus dem Weg; ein enger Kreis aus johlenden und klatschenden Leuten formierte sich um die beiden. »Wir müssen ihn aufhalten!«, schrie Claire. Eve tätschelte ihr die Schulter.

»Das hier ist Shanes Vorstellung von einem gelungenen Abend«, sagte sie. »Glaub mir. Du willst jetzt nicht versuchen, ihn aufzuhalten. Lass ihn diese Sache durchziehen. Es wird ihm guttun.«

Claire fand es schrecklich. Sie fand es schrecklich zu sehen, wie Shane geschlagen wurde, und es gefiel ihr auch nicht, wie seine Augen aufleuchteten, wenn er mitten in einer Auseinandersetzung steckte. Vermutlich war es dumm, sich deswegen aufzuregen, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sie ihn unter anderem gerade deshalb attraktiv fand – weil er sich, ohne zu zögern, überall hineinstürzte, vor allem, wenn es darum ging, andere zu beschützen.

Eve las praktisch ihre Gedanken. »Lass ihn ganz er selbst sein«, sagte sie. »Ich weiß, dass das schwierig ist, Typen sind im Allgemeinen völlig planlos, und das möchtest du geradebiegen, aber – lass ihn einfach. Du möchtest nicht, dass er versucht, sich zu ändern, oder?«

Stimmt. Das wollte sie nicht, obwohl er sie sehr wohl veränderte, ob ihm das bewusst war oder nicht. Nicht zum Schlechten, dachte sie. Aber...er veränderte sie. Noch vor einem Jahr wäre sie starr vor Angst gewesen bei dem Gedanken, auf eine solche Party zu gehen, und noch mehr bei der Vorstellung, auf diese Weise von einem Fremden angegrabscht zu werden.

Jetzt war sie vor allem schlicht und ergreifend genervt und hatte das Gefühl, duschen zu müssen.

Eve wirbelte herum. »Hey! Ich weiß, dass mein Arsch toll ist, aber anfassen verboten, kapiert?« Ein Ausbruch betrunkenen Gelächters. Sie nahm Claires Hand. »Wir brauchen eine Wand hinter uns, um das Risiko zu verringern, heimlich befummelt zu werden.«

»Aber...«Sie gab nach, als ihr noch mal jemand den Hintern tätschelte. »Stimmt. Okay.«

Dadurch waren sie eine Zimmerhälfte von Shane entfernt, der jetzt irgendwo mitten in einem Knäuel von ungefähr zehn Typen steckte, die alle aufeinander losgingen (wobei es kaum zu Zusammenstößen kam, weil alle schon zu betrunken waren, um ernstlich Schaden anzurichten). Claire lehnte sich erleichtert an die Wand und nippte an ihrem Wasser. Irgendwie war es dazu gekommen, dass sie Shanes Bier in der Hand hielt, und mit einem schnellen Seitenblick zu Eve nahm sie auch davon einen Schluck. Igitt. Eklig.

»Was für Kenner«, sagte Eve und lachte über ihren Gesichtsausdruck. »Shane sucht Bier aus wie ein College-Junge. Wenn es billig ist und auf der Werbung ein Mädchen im Bikini abgebildet ist, muss es großartig sein.«

»Das ist widerlich«, sagte Claire und nahm einen weiteren großen Schluck von ihrem Wasser, um ihre Zunge zu spülen. Sogar das Wasser schmeckte danach bitter.

»Na ja, fairerweise muss man sagen, dass es bei Bier hauptsächlich um die Dröhnung geht und nicht um den Geschmack«, sagte Eve. »Wenn man Geschmack und Dröhnung will, trinkt man so etwas wie Cola mit Rum oder einen White Russian.« Plötzlich schien ihr wieder einzufallen, wie alt Claire war. »Nicht dass ich übrigens zulassen würde, dass du so etwas trinkst. Wir haben es deinen Eltern versprochen.« Sie schaffte es beinahe, seriös auszusehen, als sie das sagte, und nahm Claire Shanes Bier aus der Hand. »Ich nehme das.« Eve hob ihre normalerweise sanfte Stimme zu einem feldwebelhaften Bellen. »Hey, Shane! Hör mit der Klopperei auf, sonst trinke ich dein Bier!«

Gelächter perlte durch den Raum. Die Schlägerei war ohnehin mehr oder weniger zu Ende und Shane schubste den letzten torkelnden Verbindungsjungen weg, der versucht hatte, ihm eine zu verpassen. Mit dem Handrücken wischte er sich Blut vom Mund und verließ das Schlachtfeld. Er sah zerzaust, erhitzt und irgendwie wild aus und Claire fühlte, wie etwas in ihr darauf reagierte.

Sie starrte ihn mit großen Augen an. Ich bin nicht bereit dafür.

Ein Teil von ihr war es eindeutig.

»Trink, Galahad«, sagte Eve und reichte ihm seine Flasche. Sie stießen an. »Unser Held. Hier. Ordne dein Haar.« Sie zupfte mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln daran herum, zog es in die eine und in die andere Richtung, bis es wieder diesen glamourösen, sorgfältig-lässigen Look hatte. »Gott, bist du heiß. Schon begrabscht worden?«

»Mehrmals«, sagte er und lächelte Claire an. »Tu ihnen nicht weh. Sie konnten nicht anders.«

Eve prustete und schaute um sich. »Wo ist Michael?«

»Steht wohl noch vor der Toilette an.« Shane zuckte die Achseln. Das konnte sogar stimmen, aber Claire glaubte nicht, dass das der Grund war. Dass Shane Eve zu lange anschaute, ohne zu blinzeln, war definitiv ein untrügliches Zeichen dafür, dass er log. »Ladys? Lasst uns spazieren gehen.«

Es war weniger ein Spazieren als vielmehr ein Sich-Durchschlängeln, wie Lachse, die flussaufwärts wandern. Was Claire vom Haus sah, war fantastisch – Gemälde an den Wänden, wunderbare alte Möbel (auf den meisten waren Drinks verschüttet oder sie waren an die Wand geschoben worden, damit die Partygäste Platz zum Tanzen hatten), große, teure orientalische Teppiche (Claire hoffte, dass man sie reinigen lassen konnte) und riesige Plasmafernseher, die alle bei ohrenbetäubender Lautstärke denselben Musikkanal sendeten. Im Moment lief »Closer« von den Nine Inch Nails und trotz guter Vorsätze bewegte sich Claire im Rhythmus dazu. Eve tanzte auch und dann tanzten sie zusammen. Shane bildete den dritten Punkt in ihrem Dreieck, aber Claire konnte sehen, dass er sich nicht wirklich auf die Partystimmung einließ. Er suchte die Menge ab und hielt Ausschau nach Ärger. Oder nach Michael.

Jemand versuchte, ihr etwas in die Hand zu drücken – ein Schnapsglas mit einer klaren Flüssigkeit. Sie schüttelte den Kopf und gab es wieder zurück. Nicht, dass sie nicht in Versuchung gewesen wäre, aber nach dem, was ihr auf der letzten Party beinahe zugestoßen wäre, würde sie dieses Mal nicht so dumm sein.

Na ja, nicht dümmer jedenfalls, als sie ohnehin schon war, weil sie überhaupt hierhergekommen war.

Mehr Getränke und Drogen tauchten auf. Liquid Ecstasy, Poppers, Schnäpse, sogar etwas, von dem sie fast sicher war, dass es eine Crack-Pfeife war. In Morganville hatte man etwas übrig für Drogen, kein Wunder. Schließlich gab es hier höllisch viel, dem man entfliehen wollte.

Sie tanzte weiter. Auch Shane und Eve nahmen nichts – zumindest bemerkte Claire nichts. Shane schien immer weniger interessiert am Partygeschehen und wurde immer unruhiger.

Michael kam nicht zurück. Zwei Lieder später – zwei lange Lieder später – brachte Eve Shane dazu, ihn zu suchen, und alle drei zogen sie durchs Erdgeschoss und schauten in alle Zimmer (alle überfüllt), Michael war nirgends. Vor der Toilette wartete eine Schlange von Leuten, aber keine Spur von einem großen blonden Vampir.

Als sie die große, beeindruckende Treppe hinaufgingen, musste Claire an Rhett Butler denken, wie er in Vom Winde verweht Scarlett getragen hatte. Ihre Mom liebte diesen Film. Claire hatte ihn immer langweilig gefunden, aber diese Szene war ihr im Gedächtnis geblieben und sie hatte sie in diesem Haus unwillkürlich vor Augen. Doch statt Scarlett stand noch immer Monica Morrell oben an der Treppe, umringt von einem schützenden Kreis aus Speichelleckern. Gina und Jennifer waren wieder da, beide trugen Kleider, die schlichter waren als das von Monica, es aber farblich ergänzten. Ihr ganz persönlicher Beistand. Zu der Gruppe gehörten noch ein paar weitere Mädchen, aber überwiegend bestand sie aus Typen – aus gut aussehenden, geschniegelten Typen. Alles, was in Morganville Rang und Namen hatte – und jeder Einzelne von ihnen trug ein Armband.

»Oh«, sagte Monica. »Sieh mal einer an, wer da seinen Weg nach oben macht.« Die Menge lachte. Monicas Augen waren boshaft. Wenn sie irgendwelche menschlichen Züge gehabt hatte, als Claire und sie allein im Café waren, so war sie inzwischen darüber hinweggekommen. »Unkraut bleibt unten. Nach dieser Sache hier müssen wir das Haus sowieso abreißen und neu bauen.«

»Ja, ich wette, Dad wird außer sich sein, wenn er nach Hause kommt«, sagte Eve. »Was ich fragen wollte – ist das Kleid vintage? Ich könnte schwören, ich habe es schon an meiner Mutter gesehen.« Sie ging nach oben und ging geradewegs auf einen von Monicas großen, starken Footballern zu; er sah verwirrt aus und ging ihr aus dem Weg. Shane und Claire folgten. Monica war gefährlich still, vermutlich war ihr klar, dass jegliche Retourkutsche, die sie versuchen könnte, billig klingen würde.

»Wir werden wohl Schwierigkeiten haben, hier wieder herauszukommen«, sagte Shane. Oben war es ruhiger, obwohl der anhaltende Lärm durch den Fußboden und die Wände von unten heraufdrang. Der Flur war verlassen, alle Türen waren zu. Überall hingen kostbare Porträts und gerahmte, repräsentative Fotos der Familie Morrell. Es überraschte nicht, dass Monica ein hübsches Bild abgab. Mrs Bürgermeister hatte Claire noch nie gesehen, aber da war sie, auf den Familienfotos – eine zarte, fast schon ätherische Frau, deren Blick nie auf ihre Familie gerichtet war. Irgendwie sah sie unglücklich aus. Richard Morrell schien bodenständig zu sein und hatte sich an diese Stadt angepasst; ebenso natürlich der Bürgermeister. Monica mochte vielleicht nicht stabil sein, aber sie gehörte definitiv zum Morganviller Urgestein.

Ihre Mom vielleicht weniger.

»Ich frage mich, wo ihre Eltern sind«, sagte Claire vor sich hin.

»Außerhalb der Stadt«, sagte Eve. »Das habe ich zumindest gehört. Ich wette, sie werden einfach hingerissen sein, wenn sie zurückkommen und feststellen, dass jemand Das Hausbau-Kommando geschickt hat.« Sie probierte den Türknauf des ersten Zimmers auf der linken Seite. Abgeschlossen. Shane probierte die Tür auf der rechten Seite, öffnete sie und streckte den Kopf hinein. Er zog ihn mit hochgezogenen Augenbrauen wieder heraus.

»Öfter mal was Neues«, sagte er. Claire versuchte hineinzuschauen. Er hielt ihr mit seiner großen Hand die Augen zu. »Glaub mir, du bist noch nicht alt genug. Ich bin auch noch nicht alt genug.« Vorsichtig schloss er die Tür wieder. »Weiter.«

Claire öffnete die nächste Tür und einen Augenblick lang war ihr nicht klar, was sie da sah. Als es ihr klar wurde, brachte sie keinen Ton heraus. Sie trat zurück, berührte Shane wortlos an der Schulter und deutete mit dem Finger darauf.

In dem Zimmer waren drei Typen und auf dem Bett lag ein Mädchen. Sie war bewusstlos. Die Typen zogen ihr gerade die Strumpfhose aus.

»Shit«, sagte Shane und schob Claire nach hinten. »Eve, ruf die Cops an. Jetzt. Zeit, diesen Mist zu beenden, bevor noch jemand richtig verletzt wird.«

Eve zog ihr Handy heraus und wählte, Shane ging ins Zimmer und machte die Tür zu. Kurze Zeit später kam er mit dem bewusstlosen Mädchen in den Armen heraus. »Kennt sie jemand?«

Claire schüttelte den Kopf. »Was ist mit diesen Typen?«

»Jetzt bereuen sie es«, sagte Shane. »Eve? Kennst du sie?«

»Ähm... vielleicht. Ich glaube, ich habe sie in der Cafeteria gesehen – könnte mich jetzt aber nicht auf einen Namen festlegen oder so. Aber sie ist definitiv Studentin, keine von hier. Kein Armband.«

»Ja, das habe ich mir gedacht.« Shane verlagerte das Mädchen in seinen Armen in einen bequemeren Winkel. Sie war klein, brünett und hübsch und schmiegte sich mit einem schläfrigen Seufzer in seine Arme. »Verdammt. Ich kann sie nicht einfach hierlassen.«

»Was ist mit Michael? Wir müssen ihn finden!«

»Ja, ich weiß. Hör mal, ich trage sie. Schaut in den anderen Zimmern nach.«

Claire hatte Schwierigkeiten mit ihrer Atmung. Vor nicht allzu langer Zeit wäre beinahe sie dieses Mädchen gewesen. Außer dass sie ein bisschen geistesgegenwärtiger reagiert hatte, ein bisschen besser in der Lage gewesen war, auf sich aufzupassen...

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst und öffnete die nächste Tür. Sie schnappte nach Luft und bedeckte ihren Mund mit beiden Händen – ein Vampir beugte sich dort über ein Mädchen, das schlaff am Boden lag.

Er blickte auf und sie sah das harte Glänzen von Vampirzähnen, bevor sein Gesicht in den Fokus rückte und schockierend vertraut wurde.

Michael.

Den Hals des Mädchens zierten zwei grobe Löcher und ihre offenen, trockenen Augen waren grau geworden. Ihre Haut hatte die Farbe von altem, nassem Papier und war eher bläulich als weiß.

»Oh«, flüsterte Claire und taumelte rückwärts aus dem Zimmer hinaus. »Oh nein, nein, nein...«

Michael kam blitzschnell auf die Füße. »Claire, warte! Ich habe nicht...«

Inzwischen stand Eve in der Tür. Und Shane. Eve warf einen Blick auf das tote Mädchen, danach auf Michael, dann drehte sie sich um und rannte davon. Shane stand einfach da und starrte ihn an, dann sagte er ruhig: »Claire. Geh zu Eve. Auf der Stelle! Bleibt zusammen, ihr zwei. Ich finde euch dann schon.«

Michael machte einen Schritt auf ihn zu. »Shane, ich weiß, dass du nach einem Grund suchst, mich zu hassen, aber du weißt genau, dass ich niemals...«

Shane wich rasch zurück, um den Abstand zwischen ihnen zu halten. Seine Augen waren sehr dunkel geworden, sein Gesicht war gerötet und spiegelte Zorn wider. »Claire«, sagte er. »Geh verdammt noch mal weg von ihm. Aber plötzlich!«

»Shit!« Michael war außer sich, aber er schien auch Angst zu haben und wirkte verletzt. »Du kennst mich, Shane. Du weißt, dass ich das nicht tun würde. Denk nach!«

»Wenn du mir oder den Mädchen zu nahe kommst, dann bring ich dich um«, sagte Shane ausdruckslos, dann drehte er sich um und brüllte Claire in voller Lautstärke an. »Hau jetzt ab!«

Sie ging rückwärts aus dem Zimmer und rannte Eve nach. Ihre schweren Plateauschuhe waren hinderlich und ihr cooles Outfit fühlte sich nur noch wie eine billige Verkleidung an. Sie war nicht cool. Sie war nicht sexy. Es war völlig idiotisch, überhaupt hier zu sein, und jetzt hatte Michael auch noch... Gott, das konnte er nicht getan haben, oder? Aber seine Wangen waren so gerötet, als hätte er Blut getrunken...

Eve rannte eine Hintertreppe hinunter. Claire fiel die Bewegung ihres langen schwarzen Kleides auf der Spirale der Wendeltreppe ins Auge. Sie folgte ihr, so schnell sie sich mit ihren tückischen Schuhen traute. Je näher sie dem Erdgeschoss kam, desto ohrenbetäubender wurde die Lautstärke der Party.

Als sie unten an der Treppe angelangt war, war von Eve weit und breit nichts zu sehen. Sie sah ein Meer aus sich bewegenden, schwankenden Körpern, eine betrunkene Tanzorgie (und in den Ecken vielleicht nur eine Orgie), aber sie sah niemanden in Abendgarderobe.

»Eve!«, brüllte sie, aber nicht einmal sie selbst konnte es hören. Sie drehte sich um und schaute die Treppe hinauf, aber Shane konnte sie auch nirgends sehen.

Sie war allein.

Als sie ihren Hals verrenkte, sah sie schwarzen Samt in einer Tür verschwinden, und sie stürzte sich in die Menge, um dorthin zu gelangen. Falls sie im Vorbeigehen von Betrunkenen angegrabscht wurde, bemerkte sie es kaum. Sie wollte unbedingt hier heraus und sie konnte nicht zulassen, dass Eve irgendetwas zustieß.

Eine Hand glitt unter ihren Rock. Instinktiv wandte sie sich um und schlug dem Typen voll Zorn heftig ins Gesicht, ohne ihn auch nur anzusehen. Er hob kapitulierend die Hände und sie drehte sich um und tauchte wieder in die Masse ein.

Das nächste Zimmer war beinahe leer, aus irgendwelchen Gründen, die Claire nicht verstand, bis sie sah (und roch), dass sich ein Typ in der Ecke übergab. Sie ging noch schneller. War das überhaupt Eve, der sie da folgte? Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Es sah so aus, aber sie erhaschte immer nur einen kurzen Blick aus denkbar ungünstigen Blickwinkeln. Claire musste sich schneller bewegen.

Irgendwie landete sie schließlich in der riesigen glänzenden Küche. Ein Trupp kräftiger Jungs trug Kisten mit Schnapsflaschen herein. Claire schob sich an zwei Verbindungsjungs vorbei, die sich gerade einen Highfive gaben. »Flüssiger Slip-Entferner ist angekommen!«, schrie einer von ihnen und im anderen Zimmer wurde gejohlt.

Claire schaffte es nach draußen und sog die kühle, klare Nachtluft ein. Sie zitterte, schwitzte und fühlte sich – innerlich und äußerlich – unendlich schmutzig. Das sollte Spaß machen? Ja, vielleicht wenn sie trinken würde und ihr alles egal wäre, dachte sie, dann würde es vielleicht Spaß machen, aber immerhin waren sie hier in Morganville. Bei einem solchen Spaß konnte es passieren, dass man bewusstlos auf einem Bett endet, zusammen mit Fremden... oder in einer Schublade des Leichenschauhauses.

Eve lehnte im Schein der Sicherheitsbeleuchtung an einem Baum und rang nach Atem. Sie sah so glamourös aus wie ein verlorenes Hollywood-Starlet aus den Zeiten des Schwarz-Weiß-Films, abgesehen vielleicht von ihrem knalligen Lippenstift.

»Oh Gott«, stöhnte Eve, und als Claire sich näherte, bemerkte sie, dass sie weinte. »Oh Gott, er hat es getan. Er hat es tatsächlich getan...«

»Das wissen wir nicht«, hörte Claire sich sagen. »Vielleicht hat er sie nur gefunden und hat versucht, ihr zu helfen.«

Eve funkelte sie an. »Er ist ein Vampir! Dort liegt ein totes Mädchen mit Löchern im Hals! Ich bin doch nicht blöd!«

»Ich kann nicht glauben, dass er das tun würde«, sagte Claire. »Komm schon, Eve, glaubst du das? Wirklich? Du kennst ihn. Ist er ein Mörder? Vor allem, wenn er es gar nicht nötig hat?«

Eve schüttelte den Kopf, aber das war nicht wirklich eine Antwort. Sie schüttelte die Frage einfach ab.

Shane kam aus der Küchentür, in den Armen hielt er noch immer das dunkelhaarige Mädchen. »Gehen wir.«

»Wir sind mit Michaels Auto da«, sagte Eve betäubt. »Er hat die Schlüssel. Ich könnte...«

»Nein. Keiner geht jetzt da hoch und ihr zwei haltet euch verdammt noch mal von Michael fern, bis wir wissen, was los ist.« Shane dachte einen Moment lang nach, dann holte er Luft. »Wir gehen zu Fuß.«

»Zu Fuß!«, platzen Claire und Eve gleichzeitig heraus. Eve setzte noch ein »Bist du jetzt nicht mehr ganz dicht?« darauf.

»Claire steht unter Schutz und ich bin in der Stimmung, den ersten Vamp, der mich schief anschaut, windelweich zu prügeln. Außerdem ist es im Moment sicherer, als wenn wir drei« – er schaute auf das namenlose Mädchen in seinen Armen – »als wenn wir vier jetzt zu Michael ins Auto steigen. Ich möchte weglaufen können, falls es nötig wird. Und genug Platz zum Kämpfen haben.«

»Shane …«

»Wir laufen«, unterbrach er sie. »Zuerst zur Uni, dort können wir die hier bei den Campus-Cops abliefern.«

Claire räusperte sich. »Können wir nicht hier auf die Polizei warten?«

»Glaub mir, das geht nicht«, sagte Eve. »Die sind gar nicht freundlich zu Leuten ohne Armband und dazu gehören auch Shane und ich. Und wenn sie dann noch ein ausgesaugtes totes Mädchen finden, dann ist hier die Hölle los. Das Risiko können wir nicht eingehen. Wir müssen hier weg. Sofort.«

Claire hoffte immer noch, dass Michael auftauchen würde, aber er kam nicht. Sie fragte sich, warum. Sie fragte sich auch, wo er gewesen war, als sie das Haus nach ihm absuchten.

Shane steuerte auf die Straße zu, das mit Drogen vollgepumpte Mädchen kicherte in seinen Armen und murmelte vor sich hin. Er hatte ein Opfer gerettet, aber ein anderes verloren. Und diesen zweiten Teil nahm er sehr persönlich.

Claire schaute Eve an, legte den Arm um sie und rannte mit ihr hinter Shane her.

***

Schweigend gingen sie zum Campus. Niemand begegnete ihnen. Die wenigen Autos, die vorbeifuhren, hielten nicht an, und obwohl sie hörten, wie Polizeisirenen auf der Party zusammenliefen, fuhr keines der Polizeiautos in ihre Richtung.

Die Nacht war gerade kühl genug, um angenehm zu sein, die Luft war trocken und frisch. Keine Wolken. Es wäre schön und romantisch gewesen, wenn an diesem Abend nicht alles so mies gelaufen wäre. Eve hatte aufgehört zu weinen, aber das war fast noch schlimmer. Zuvor war sie so glücklich gewesen und nun versank sie in so tiefem Trübsinn, dass sie schon fast nicht mehr richtig gothic wirkte.

Claire taten die Füße weh. Sie war froh, als sie um die Ecke bogen und der große, hell erleuchtete Campus hinter dem schmiedeeisernen Zaun in Sicht kam. Sie würden bis zu einer der vier Pforten gehen müssen, um hineinzukommen. Sie hatte noch nie zuvor darüber nachgedacht, aber der Campus wirkte unnatürlich, wie ein Wildlife-Park.

Oder ein Zoo.

Shane wurde müde und legte das Mädchen auf die erste Bank, an der sie vorbeikamen, sobald sie innerhalb des Zaunes waren, während Eve einen Wagen der Campus-Cops anhielt, der gerade vorbeifuhr. Die Cops stellten ein paar Fragen, aber es gab keine Probleme, die Campus-Cops waren auch nicht besonders clever. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, dann wurde das Mädchen zur Entgiftung und Untersuchung in ein Krankenhaus gebracht und die drei schauten sich im Schein der Lichter des Streifenwagens an, der zurückstieß und davonfuhr.

»Okay«, sagte Shane. »Wir sollten uns auf den Weg machen.«

Eve zog ihr Handy heraus.

»Was soll das werden?«, fragte er.

»Ich rufe ein Taxi.«

Er prustete. »In Morganville? Bei Nacht? Klar. Eddie holt nicht mal tagsüber Leute irgendwo ab. Auf keinen Fall wird er nachts seinen Arsch für uns riskieren. Wahrscheinlich hat er sowieso sein Telefon nicht aufgelegt. Er hasst Studentenpartys.«

»Wie wäre es mit Detective Hess?«, bot Claire an. »Ich bin sicher, er würde uns fahren.«

»Ruf ihn an.«.

Claire versuchte es. Es klingelte, aber niemand hob ab. Dasselbe bei Travis Lowe. Ihre Hoffnung schwand. Sie sah Shane an und zuckte hilflos mit den Schultern. Eve stand auf, fröstelte und schlang die Arme um sich. Shane zog seine schwarze Jacke aus und drapierte sie um ihre Schultern.

»Dann gehen wir wohl zu Fuß«, sagte er und nahm Claires Hand, danach auch Eves. »Werdet nicht langsamer und bleibt auf keinen Fall stehen. Wenn ich euch sage, dass ihr weglaufen sollt, dann lauft weg. Verstanden?«

Er gab ihnen keine Gelegenheit zu widersprechen. Sie gingen den Weg zum Ausgang des Universitätsgeländes entlang. Draußen gab es nur wenige Straßenlaternen, und die standen weit auseinander. Claire hatte das Gefühl, dass sich aus dem Dunkeln Blicke auf sie richteten. Ob sie sich das einbildete oder nicht, wusste sie nicht, aber sie zitterte vor Angst am ganzen Körper. Komm schon, Claire, reiß dich zusammen. Wir sind zu dritt und Shane kann genug Schläge für uns alle austeilen.

Sie überquerten die Straße, liefen an ein paar Häuserblocks vorbei und gingen dann die Straße weiter bergab. Das war der direkteste Weg nach Hause und der am besten beleuchtete, aber sie mussten direkt am Common Grounds vorbei. Irgendwie fühlte sich Claire noch unwohler bei dem Gedanken, dass Oliver sehen könnte, wie sie sich in ihrer nicht mehr ganz so eleganten Herrlichkeit vorbeischleppten. Ihr Abend war auch so hart genug gewesen.

Trotzdem war es ein aufbauender Gedanke, dass Monica mit ziemlicher Sicherheit einen noch schlimmeren Abend hatte als sie. Immerhin musste sie den Cops erklären, warum mehr Drogen im Haus waren als in einer großen Apotheke, ganz zu schweigen von den Sauforgien Minderjähriger und dem toten Mädchen im Schlafzimmer.

Im Vergleich dazu war es eigentlich gar nichts, bei Nacht in einer Vampirstadt zu Fuß nach Hause gehen zu müssen.

Zumindest bis Eve »Jemand folgt uns« flüsterte.

Claire wäre fast ins Straucheln geraten, aber als sich Shanes Hand fester um ihre schloss, ging sie weiter. »Wer?«, fragte er. Eve drehte sich nicht um.

»Ich weiß nicht, ich konnte nur einen kurzen Blick erhaschen. Jemand in dunklen Klamotten.«

Da außer Amelie niemand Kleider in blassen Winterfarben zu mögen schien, schränkte das die Möglichkeiten nicht gerade ein.

Claire ging schneller, stolperte über einen Riss im Gehweg und wäre wohl hingefallen, wenn da nicht Shanes stützende Hand gewesen wäre. Aber sie wurden alle langsamer dadurch und sie konnten es sich nicht leisten, dass das noch einmal passierte.

»Mist«, keuchte Shane. Sie waren noch immer mindestens einen Häuserblock von der nächsten brennenden Straßenlaterne entfernt und Claire konnte jetzt langsame, sichere Schritte hinter ihnen hören. Vor ihnen ergoss sich aus einem einzigen Ladenfenster warmes gelbes Licht auf die Straße. Common Grounds. Neutraler Boden, zumindest theoretisch. »Okay. Wir schaffen es nicht bis nach Hause. Wir gehen ins Common Grounds und...«

»Nie im Leben, ich gehe da nicht rein!«, brach es aus Eve heraus. »Ich kann nicht!«

»Doch, du kannst. Du musst. Neutraler Boden. Niemand wird dir dort etwas tun. Wenn es sein muss, können wir mit Oliver eine Art Deal machen, vorübergehender Schutz oder so was. Versprich mir...«

Shane hatte keine Zeit mehr, noch etwas zu sagen, denn plötzlich brach die Hölle über sie herein. Die Schritte hinter ihnen beschleunigten sich auf einmal zu einem Rennen, Shane wirbelte herum und schob die beiden Mädchen hinter seinen Rücken und es kam zu einer blitzschnellen Bewegung, die Claire nicht wirklich sehen konnte. Etwas traf Shane am Kopf. Ziemlich heftig. Er taumelte und ging in die Knie.

Claire schrie und griff nach ihm, aber Eve packte sie und schleifte sie gewaltsam zu den Lichtern des Common Grounds.

»Steh auf!«

Claire entwand sich Eves Griff und wirbelte herum. Sie sah, dass der Idiot von der Party den Schrei ausgestoßen hatte, der, der sie begrabscht und dem Shane dann die Fresse poliert hatte. Er war ihnen gefolgt und hatte jetzt einen Baseballschläger dabei. Er hatte Shane mit dem Baseballschläger eins übergezogen und holte jetzt erneut aus.

»Nein!«, schrie Claire und wollte zu ihnen zurückstürzen, aber Eve packte sie fest und schleuderte sie wieder herum in Richtung Café.

»Geh rein!«, brüllte sie.

»Lass los...«

Sie hörten auf, miteinander zu kämpfen, als sich ein weiterer Schatten aus der Gasse vor ihnen herauslöste und ihnen den Weg versperrte.

Etwas Langes, Schmales schimmerte im Licht der Sterne. Ein Messer.

Es war Eves Bruder Jason, der noch genauso schmierig, verhungert und fiebrig aussah wie auf der Party.

»Hey, Schwesterchen«, sagte er und das Messer drehte und drehte und drehte sich. »Ich wusste, du würdest hier vorbeikommen. Als ich hörte, dass du die Party ohne deinen blutsaugenden Bodyguard verlassen hattest, wusste ich, dass die Zeit reif ist.«

»Jason« – Eve ließ Claire los und trat zwischen die beiden – »das ist nicht ihr Problem. Lass sie gehen.«

Claire war hin- und hergerissen – sollte sie Jason im Auge behalten, der ihr mächtig Angst einjagte, oder sollte sie darauf achten, was hinter ihr passierte, denn Shane kämpfte jetzt, kämpfte um sein Leben. Und er war bereits verletzt. Sie riskierte einen Blick nach hinten und sah, wie Shane seinem Angreifer den Baseballschläger aus der Hand riss und dem Typen auf die Schulter schlug, als wollte er einen Homerun machen. Der Typ wurde gegen die Backsteinmauer geschleudert. Er ging brüllend zu Boden, aber Shane war eindeutig auch nicht mehr in Form – er geriet aus dem Gleichgewicht, torkelte und fiel auf Hände und Knie. Der Schläger rollte weg.

»Oh Gott«, flüsterte Claire. Blut strömte über sein Gesicht und hinterließ eine nasse Spur auf dem Pflaster. »Shane!«

Shane schüttelte den Kopf. Er blickte auf, sah sie an und blinzelte.

Dann sah er Eve und hinter ihr Jason mit dem Messer.

Shane tastete nach dem Baseballschläger, fand ihn und rappelte sich auf. Er taumelte nach vorne, packte Claire und zog sie hinter sich und dann zerrte er auch Eve von Jason weg. Er stellte sich breitbeinig hin und machte sich bereit zuzuschlagen.

Er sah blass, mitgenommen und halb tot aus, aber Claire wusste, dass er keinen Rückzieher machen würde.

»Lass sie in Ruhe«, sagte er. Das war kein Schrei, keine Drohung, sondern eine tiefe, ruhige Stimme, die alles unter Kontrolle hatte. »Verschwinde, Jason.«

Jasons Lächeln erlosch. Er steckte das Messer in seine Tasche und hob die Hände. »Klar. Sorry, Mann. Mach mir jetzt keinen auf Jackie Chan.« Er senkte die Hände wieder und schob sie in die Manteltaschen, was lässig aussah, aber in seinen Augen lag ein gieriges Glitzern und seine dünnen Lippen umspielte ein grausames Zucken. »Ich habe gehört, du hast ein Geschenk in eurem Keller gefunden. Etwas Mädchenförmiges.«

Eve stöhnte, und als sie schwankte, streckte Claire den Arm aus, um ihr Halt zu geben. »Jason«, flüsterte Eve und sah schrecklich dabei aus, so als müsste sie sich gleich übergeben. »Oh Gott, warum?«

Shane machte mit erhobenem Baseballschläger einen Schritt nach vorne, bereit zuzuschlagen, und Jason wich zurück. »Es hat einfach Spaß gemacht, es dort zu tun«, sagte er. »Aber es ging mir dabei ja nicht um die Mädchen. Ich musste ihnen zeigen, dass ich bereit bin.«

»Bereit?«, wiederholte Eve. »Oh Gott, Jase, darum geht es also? Du bist einfach nur ein lächerlicher Möchtegern-Vampir, der nicht lang fackelt?« Eve klang so durchgedreht, dass sich Claires Magen verknotete. »Du versuchst, sie zu beeindrucken? Indem du Leute umbringst?«

»Klar.« Jason zuckte mit den Schultern. Er sah dünn und schmächtig und in dieser schwarzen Lederjacke beinahe verloren aus. »Wie sonst kann man hier in der Gegend Aufmerksamkeit erregen? Und ich werde eine Menge Aufmerksamkeit erregen. Und mit dir fange ich an, Claire.«

Shane brüllte – es waren nicht einmal Worte, sondern ein Schrei bodenloser Wut – und schlug nach ihm. Schneller als Claire erwartet hätte, sprang Jason zurück und der Baseballschläger verfehlte ihn. Dann stürzte er nach vorne. Shane war aus dem Gleichgewicht und nicht ganz sicher auf den Beinen, aber das würde nichts ausmachen; sollte Jason verrückt genug sein, sich auf einen Nahkampf mit Shane einzulassen, wäre alles vorbei.

Oder?

Jason schlug Shane tief in den Magen und Shane gab einen überraschten Laut von sich und wich einen Schritt vor ihm zurück.

Shane trat den Rückzug an...

Und dann sah Claire das Messer in Jasons Hand, es glitzerte silbrig und rot und einen Moment lang begriff sie es nicht. Sie begriff überhaupt nichts.

Erst als Shane die Hand öffnete, der Baseballschläger mit einem klappernden Geräusch auf dem Pflaster aufschlug und Shane zusammenbrach und auf die Knie fiel, wurde ihr klar, dass Jason auf ihn eingestochen hatte.

Shane schien es auch nicht zu begreifen. Er keuchte und versuchte, etwas zu sagen, aber er brachte kein Wort heraus. Seine Augen waren groß und wirkten verwirrt. Er versuchte aufzustehen, aber er schaffte es nicht.

Jason zeigte mit dem Messer auf ihn und beschrieb dann damit einen großen Bogen in ihre Richtung. Dann wandte er sich um und ging davon. Das Messer steckte er zurück in seine Tasche. Leute kamen aus dem Common Grounds, allen voran Oliver. Er drehte schnell den Kopf und beobachtete, wie Jason sich entfernte, dann konzentrierte er sich auf sie.

Claire ließ sich neben Shane auf die Knie sinken. Er schaute ihr verzweifelt in die Augen, dann fiel er langsam zur Seite.

Seine Hände pressten sich auf seinen Magen und da war so viel Blut...

Eve hatte sich nicht gerührt. Sie stand einfach nur da, in ihrem wunderbaren schwarzen Kleid, und starrte ihrem Bruder nach.

Oliver packte und schüttelte sie. Ihr schwarzes Haar flog wild herum, und als er sie losließ, ließ sich Eve resigniert gegen die Backsteinmauer des Gebäudes sinken. Oliver schüttelte ungeduldig den Kopf und wandte sich Claire und Shane zu.

Claire blickte stumm vor Elend auf und sah, dass Oliver zu ihr herunterstarrte.

Nur eine Sekunde lang dachte sie, sie hätte etwas an ihm bemerkt. Vielleicht einen winzigen Hauch von Mitleid.

»Jemand ruft einen Krankenwagen«, sagte er. »Du solltest Druck auf die Wunde ausüben. Er verliert eine Menge Blut. Jammerschade.« Er meinte damit das Blut. Nicht Shane.

»Helfen Sie mir«, sagte Claire. Oliver schüttelte den Kopf. »Helfen Sie mir!«

»Du wirst noch merken, dass Vampire nicht besonders gut mit Verletzten umgehen können«, sagte er. »Ich tue dir einen Gefallen, indem ich mich fernhalte. Und versuch nicht, mich herumzukommandieren, Kleine. Das goldene Armband da bedeutet für mich fast nichts, außer dass es hinterher keine Zeugen geben sollte.«

Shane hustete, es klang nass und hart. Blut tropfte ihm aus dem Mund. Er sah so blass aus wie Michael. Vampirblass.

Claire wiegte ihn in ihren Armen. Oliver sah Eve an, runzelte die Stirn und ging weg. Die Leute kamen näher, raunten, stellten Fragen, aber für Claire ergab das alles keinen Sinn. Sie drückte auf die nassen, blutigen Fetzen von Shanes Shirt, fühlte, wie er sich anspannte und sich herauswinden wollte, was sie nicht zuließ. Druck auf die Wunde. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie von Weitem Sirenen hörte.

Shane atmete noch, als sie ihn in den Krankenwagen verfrachteten, aber er rührte sich nicht und sagte nichts.

Claire ging zu Eve, zog sie auf die Füße und legte ihr den Arm um die Schulter. »Komm«, sagte sie. »Wir sollten mit Shane mitfahren.«

Oliver starrte auf die nassen dunklen Blutspuren auf dem Beton, und als Claire Eve half, hinten in den Krankenwagen zu klettern, schaute er einen seiner Café-Angestellten an und machte eine Kopfbewegung zu der Schweinerei hin.

»Putz das weg«, sagte er. »Nimm Bleichmittel. Ich möchte nicht, dass man es die ganze Nacht riechen kann.«