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Also«, sagte Eve, als sie Claire im Auto zur Uni brachte. »Was war da los mit Monica? Ich meine, du solltest dich vor ihr in Acht nehmen. Noch mehr als bisher.«

»Sie klang so, als würde sie es irgendwie wirklich so meinen. Es hat sie sicher viel Überwindung gekostet, so zu Kreuze zu kriechen.«

Eve warf ihr einen Blick zu. Einen dieser Blicke, die doppelt wirkungsvoll waren, wenn sie von einem Mädchen mit Reispuder-Make-up, makellosem Eyeliner und dunkelroten Lippen kamen. »In Monicas Welt bedeutet befreundet sein, dass man tut, was immer Monica möchte. Irgendwie kann ich mir dich nicht als eine ihrer hirntoten Background-Sängerinnen vorstellen.«

»Nein! Es ist nicht...ich habe doch nicht gesagt, dass ich ihre Freundin sein will, aber...du hast gefragt.« Claire verschränkte die Arme und lehnte sich in den Schalensitz von Eves uraltem Caddy zurück, wobei sie Eve einen sturen Blick zuwarf. »Sie ist nicht meine Freundin, okay? Du bist meine Freundin.«

»Wenn also Monica anfängt, die angesagtesten Leute an deinen Tisch zu bringen, stehst du dann auf und gehst weg? Ganz bestimmt nicht. Dafür bist du zu nett. Bevor du es überhaupt merkst, machst du bei ihnen mit und dann fängst du an, Mitleid mit ihnen zu haben. Du wirst mir erzählen, dass Monica eigentlich gar nicht so schlimm ist und dass sie nur missverstanden wird. Und auf einmal flechtet ihr euch gegenseitig Zöpfe und kichert gemeinsam über Boygroups.«

Claire gab einen würgenden Laut von sich. »Das würde ich nicht tun.«

»Ich bitte dich. Du magst doch jeden. Du magst sogar mich. Du magst Shane und sehen wir den Tatsachen ins Auge: Shane ist irgendwie ein Idiot, zumindest im Moment.« Eves Augen wurden schmal, als sie darüber nachdachte. »Und was Shane angeht – wenn er nicht damit aufhört, dann schwöre ich, dass ich ihm eine knalle. Na ja, ich knalle ihm eine und dann renne ich um mein Leben.«

Claire spielte das in Gedanken durch und hätte fast gelacht. Eves bester Schlag würde Shane allenfalls überraschen, dachte sie, aber sie konnte sich seinen verletzten und verwirrten Gesichtsausdruck bildlich vorstellen. Was zum Teufel habe ich denn getan?

»Ich gehöre nicht zu denen«, erklärte sie. »Monica ist nicht meine Freundin und ich hänge nicht mit ihr herum, basta.«

»Schwörst du es?«

Claire hob die Hand. »Ich schwör’s.«

»Hm.« Eve klang nicht gerade überzeugt. »Wie auch immer.«

»Hör mal, wenn wir Freundinnen sind, wie wäre es, wenn du mir einen Mochaccino spendierst?«

»Schnorrer.«

»Du bist schließlich diejenige, die einen Job hat.«

***

Es war mitten am Nachmittag und es regnete, was irgendwie eine Seltenheit war – ein kalter, frühherbstlicher Regen, der in glitzernden Strömen fiel. Claire hatte wie etwa neunzig Prozent der anderen Studenten nicht an einen Schirm gedacht, deshalb platschte sie trübselig über den Campus zum Chemielabor, vorbei an leeren Bänken und vom Regen aufgeweichten Schwarzen Brettern. Sie mochte die Chemielaborstunden. Sie hasste Regen. Sie hasste es, nass bis auf die Haut zu werden, aber ehrlich gesagt, war das Risiko diesbezüglich gering, wenn man in diesem Teil von Texas wohnte. In ihrem Rucksack war kein Platz für so etwas Albernes wie einen Regenmantel. Sie machte sich Sorgen, dass ihre Bücher nass werden könnten, aber der Rucksack sollte eigentlich wasserdicht sein...

»Du siehst aus, als wäre dir kalt«, sagte eine Stimme hinter ihr, dann wurde der Regen unterbrochen und sie hörte das hohle Trommeln von Regentropfen, die auf die dünne Membran eines Schirmes trafen. Claire sah auf, blinzelte Wasser aus ihren Augen und sah, dass sie sich unter einem Golfschirm befand, unter dem sie vier- oder fünfmal Platz gehabt hätte, inklusive dem Typen, der ihn trug. Und der war riesig. Außerdem war er süß, auf diese grobknochige Footballspieler-Art. Shane würde neben ihm schmächtig aussehen. Aber er hatte eine gute Figur und seine Größe (Claire schätzte ihn auf fast zwei Meter) schien gut zu seinem Gewicht zu passen. Er hatte schokoladenbraune Haut und wunderbare braune Augen und er schien... irgendwie nett zu sein.

»Ich bin Jerome«, sagte er. »Hi.«

»Hi«, erwiderte sie, noch immer erstaunt darüber, dass jemand, der offenbar jemand war, anhalten würde, um einen Schirm über ihren Kopf zu halten. »Danke. Ähm, ich heiße Claire. Hi.«

Sie jonglierte ihren tropfnassen Rucksack in die andere Hand und hielt ihm die rechte hin. Er schüttelte sie. Seine Hand war ungefähr dreimal so groß wie ihre, groß genug, um fast einen ganzen Fußball zu umfassen (darauf würde sie wetten).

Er trug ein T-Shirt der Athletik-Fakultät der TPU. Sein Hauptfach war nicht gerade schwer zu erraten.

»Wo musst du hin, Claire?«

»Chemielabor«, sagte sie und deutete auf das Gebäude, das noch etwa eine Fußballfeldlänge entfernt auf der anderen Seite des Platzes lag. Er nickte und schlug genau diese Richtung ein. »Hör mal, das ist nett von dir, aber du brauchst nicht...«

»Kein Problem.« Er lächelte sie an. Er hatte Grübchen. »Ich habe gehört, das Naturwissenschaftsgebäude ist zu dieser Jahreszeit sehr schön. Außerdem tue ich es für eine Freundin.«

»Aber ich bin nicht...«

Jerome nickte einer Gruppe Mädchen zu, die zusammengedrängt unter dem Vordach des Sprach- und Literaturgebäudes standen. Hübsche Mädchen. Mittendrin stand Monica Morrell und sie warf Jerome kokett eine Kusshand zu.

»Oh«, sagte Claire. »Die Freundin.« Ihre Achtung für Jerome sank um einige Dutzend Punkte, erreichte den Boden und begann, sich in Richtung China zu graben. »Hör mal, ich weiß das zu schätzen, aber ich bin nicht aus Zucker. Ich werde mich schon nicht auflösen.«

Sie änderte die Richtung und ging schneller. Jerome machte zwei große Schritte und hielt ihr kommentarlos den Schirm wieder über den Kopf. Sie funkelte ihn an.

Er hob eine Augenbraue. »Ich kann dieses Spielchen den ganzen Tag spielen.«

»Toll«, sagte sie. »Aber ich brauche keine Gefälligkeiten von Monica.«

»Süße, das ist ein Schirm und kein Lamborghini«, betonte er. Sehr vernünftig. »Ich leihe ihn dir nicht einmal aus. Das ist wirklich kein großer Gefallen.«

Sie hielt den Mund, senkte den Kopf und ging schneller. Am Fuß der Treppe zum Naturwissenschaftsgebäude hielt Jerome an, sie sprang die Stufen hinauf und huschte unter das Betonvordach, wo sich die anderen Studenten bereits drängten, die Schutz vor dem Regen suchten. Sie blickte noch einmal nach unten. Jerome lächelte und winkte und ihr Blick fiel auf sein Armband aus Kupfer oder Bronze.

Er stand unter Schutz. Vermutlich ein Einheimischer aus Morganville.

»Ich bin nicht ihre Freundin. Ich kann nichts dafür«, jammerte sie, als sie sich gegen Eve verteidigte, die noch nicht mal anwesend war.

Und dann nieste sie, schniefte und bewegte ihren nassen Hintern Richtung Klassenzimmer.

***

Der Regen hielt den ganzen Tag und die ganze Nacht an, aber der nächste Tag begann hell und klar mit einer blassen silbrigen Sonne, die nicht so grell war, wie Claire erwartet hatte. Ganz schön eigentlich. Sie hatte bereits geduscht, als Eve ins Badezimmer gestolpert kam und mehr nach einer wandelnden Leiche aussah als die meisten Vampire. Eve murmelte etwas und ignorierte Claire, als sie die Dusche wieder anstellte. Claire machte sich am Waschbecken fertig und eilte nach unten. Sie traf Michael an, der kalten Kaffeesatz aus der Maschine kippte.

Total komisch, dass er als Vampir viel eher ein Morgenmensch war als früher. Vielleicht genoss er es einfach, überhaupt wieder einen Morgen zu haben, anstatt in der Morgendämmerung zu einem flüchtigen Geist zu werden.

»Eve ist schon auf. Du machst den Kaffee besser so stark, dass der Löffel darin stecken bleibt.«

Michael warf ihr ein kleines Lächeln zu, das trotzdem fast tödlich genug war, das Herz eines Mädchens zum Stillstand zu bringen. Zum Glück wusste er, wie weit er es mit seinem Charme gerade noch treiben durfte.

»So schlimm?«

Sie dachte einen Augenblick darüber nach, als sie eine Schüssel und eine Packung Reis-Crispies holte und die Milch hinter den Bierflaschen – Schmuggelware von Shane – im Kühlschrank fand. »Hast du diesen Film gesehen, in dem Zombies die Gehirne von Menschen essen?«

»Die Nacht der lebenden Toten?«

»Die Zombies würden abhauen, wenn sie Eve sehen würden.«

Michael schaufelte noch mehr Kaffee in den frischen Filter. Er hatte ein hübsches blaues T-Shirt an und nicht allzu verratzte Jeans, außerdem trug er Schuhe. Turnschuhe zwar, aber immerhin Schuhe. Claire starrte auf seine Füße. »Du gehst weg?«, fragte sie.

»Ich habe einen Job«, sagte Michael. »Ich arbeite von zehn bis Ladenschluss bei JT’s Music auf der Third Street. Überwiegend werde ich wohl Gitarren vorführen und verkaufen, aber JT hat gesagt, dass er mich auch Privatstunden geben lässt, wenn ich will.«

Das war so... normal. Echt normal. Und er klang richtig glücklich. Claire biss sich auf die Lippen und versuchte, die Explosion von Fragen in ihrem Kopf zu koordinieren. »Äh – und was ist mit der Sonne?«, fragte sie. Denn die schien dabei das erste Hindernis zu sein.

»Sie stellen mir ein Auto zur Verfügung«, sagte Michael. »Es steht in der Garage. Totaler UV-Schutz. Außerdem gibt es eine Tiefgarage bei JT’s. Wie fast überall.«

»Wer hat dir ein Auto zur Verfügung gestellt?« Er schenkte ihr einen Du-bist-gar-nicht-so-blöd-Blick. »Die Stadt? Amelie?«

Er antwortete nicht direkt, als er den Filterbehälter zumachte und die Kaffeemaschine einschaltete. Sie begann zu zischen und in der Kanne tröpfelte es.

»Sie haben gesagt, dass das Standard ist«, sagte er. »Für neue Vampire.«

»Nicht dass es in den letzten fünfzig Jahren welche gegeben hätte, oder?«

Er zuckte die Achseln. Es war offensichtlich, dass ihm ihre Fragen unangenehm waren, aber Claire konnte es sich nicht verkneifen. »Hast du je herausgefunden, warum es so lange keine gab?«

»Ich glaube, es ist im Moment keine gute Idee, allzu neugierig zu sein.«

Das verstand sie – und sie verstand ebenso, dass das auch für sie selbst galt –, aber sie konnte irgendwie nicht aufhören, Fragen zu stellen. »Michael – haben sie dir auch den Job verschafft?«

»Nein. Ich kenne JT. Ich habe den Job ganz allein gefunden. Sie haben mir angeboten...« Er hielt inne, weil er offensichtlich fand, dass er schon genug gesagt hatte.

Claire erriet den Rest des Satzes. »Sie haben dir einen Job in der Vampirgemeinde angeboten. Nicht wahr? Oder...«Oh, mein Gott. »Oder haben sie dir angeboten, ein Schutzherr zu werden?«

»Nicht sofort«, sagte er und starrte noch immer die Kaffeemaschine an. »Dazu muss man sich hocharbeiten, wie sie sagen.«

Michael. Wie er Leute besitzt. Ihre Gehälter abschöpft, wie irgendein Mafiaboss. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie elend sie sich bei dem Gedanken fühlte, dass er je darüber nachdenken könnte, es zu tun.

Sein Blick zuckte plötzlich zu ihr, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Ich habe es nicht getan. Ich habe den Job bei JT’s gefunden, Claire«, sagte Michael und kam plötzlich auf sie zu. Sie wich zurück und er holte tief Luft und streckte seine Hände aus zu einer klaren Entschuldigung. »Sorry. Ich vergesse manchmal – es ist schwierig, okay, zu lernen, wie man sich unter Menschen bewegt, wenn man sich so viel schneller bewegen kann. Aber ich würde dir nie wehtun, Claire. Niemals.«

»Shane glaubt...«

Licht verfing sich in Michaels Augen und flackerte gespenstisch und Furcht einflößend auf, dann blinzelte er und es verschwand. Es kostete ihn offenbar wirklich Mühe, seine Stimme ruhig zu halten. »Shane irrt sich«, sagte er. »Ich verändere mich nicht, Claire. Ich bin immer noch dein Freund. Ich werde auf dich aufpassen. Auf euch alle. Auch auf Shane.«

Sie antwortete ihm nicht. Um ehrlich zu sein, sosehr sie ihn auch mochte – und das grenzte schon fast an Liebe –, irgendetwas hatte er heute an sich, das anders war als sonst. Etwas Kompliziertes, Aufgewühltes und Seltsames.

War er... hungrig? Er starrte sie an. Nein, er starrte auf die dünne Haut an ihrem Hals, oder? Claire legte ihre Hand auf die Stelle, unwillkürlich aber unaufhaltsam. Michaels bleiche Wangen färbten sich ganz leicht rosa und er wandte sich ab.

»Ich würde es nicht tun«, sagte er in einem ganz anderen Tonfall als bisher. Für sie klang er fast ängstlich. »Das würde ich nicht, Claire. Du musst mir glauben. Aber – es ist schwer. Es ist so schwer.«

Sie glaubte es ihm, vor allem, weil sie all den Schmerz und die Trauer in seiner Stimme hörte. Sie holte Luft, trat vor und umarmte ihn. Er war groß; ihr Scheitel berührte gerade mal sein Kinn. Seine Arme fühlten sich stark und tröstlich an und sie sagte sich, dass er sich nicht warm anfühlte, weil es in der Küche so kalt war. Das stimmte nicht wirklich, aber es half.

»Ich würde dich nicht verletzen«, murmelte er. »Aber ich muss zugeben, ich würde es gern. Ich habe mein ganzes Leben lang Vampire gehasst und jetzt – sieh mich an.«

»Du musstest es tun«, sagte Claire. »Du hattest keine andere Wahl.«

Sie fühlte, wie sein Seufzer sie beide durchlief. »Stimmt nicht«, sagte er. »Shane hat recht – ich hatte sehr wohl eine Wahl. Aber ich habe diese Entscheidung getroffen und muss jetzt damit leben.«

Er ließ sie los, als sie zurücktrat. Keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte, deshalb beschäftigte sich Claire damit, Küchenschränke zu öffnen und die vier nicht zusammenpassenden Tassen herauszuholen, die sie morgens benutzten. Die von Michael war aus einfachem, klobigem Steingut, sie hatte Übergröße und sah irgendwie aus wie eine gedopte Suppentasse. Eves war klein und schwarz und ein gähnender Comic-Vampir war darauf abgebildet. Auf Shanes Tasse war ein Smiley mit einem blutigen Einschussloch mitten auf der Stirn. Claire hatte sich eine mit Goofy und Micky ausgesucht.

»Was macht die Uni?«, fragte Michael. Neutrale Themen. Er wollte nicht reden, sondern lieber alles für sich behalten. Das überraschte sie nicht besonders. Michael war immer distanzierter als gut für ihn war, soweit sie das sagen konnte.

»Zu einfach«, seufzte sie und schenkte Kaffee ein.

Sie hatten sich hingesetzt und nippten an ihren Tassen, als die Küchentür aufging und Shane hereinkam. Er trug Pyjamahosen und ein verratztes, altes, verwaschenes T-Shirt. Er mied Michael, nahm seine Tasse von der Theke und füllte sie bis zum Rand. Ohne ein Wort ging er wieder hinaus.

Michael sah ihm mit starrer, harter Miene nach.

Claire hatte das Bedürfnis, sich zu entschuldigen. »Er ist nur...«

»Ich weiß«, sagte Michael. »Glaub mir, ich weiß genau, wie Shane tickt. Das soll nicht heißen, dass mir das gerade gefällt.«

***

Ich muss wirklich aufhören, hier die Botschafterin des guten Willens zu spielen, dachte Claire, aber sie wusste, dass sie das auch weiterhin tun würde. Irgendjemand musste es schließlich tun. Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatte, ging sie deshalb zu Shane, um mit ihm zu reden.

Shanes Tür war nicht abgeschlossen und stand einen Spalt offen. Claire drückte dagegen und trat ein, dann blieb sie abrupt stehen. All die Worte, die sie sich sorgfältig zurechtgelegt hatte, waren plötzlich mit einem Schlag aus ihrem Kopf verschwunden, weil Shane gerade dabei war, sich anzuziehen.

Dieser Anblick führte zu einem Kurzschluss in ihren Denkprozessen und legte ihr Urteilsvermögen lahm. Seine Jeans hatte er bereits angezogen und er stand mit dem Rücken zu ihr. Noch kein T-Shirt. Sie war hingerissen von den Muskeln auf seinem Rücken, der wunderbar glatten Haut, davon, wie sein verstrubbeltes Haar auf seine Schultern fiel und unbedingt zurückgestrichen werden wollte...

Das Geräusch seines Reißverschlusses brachte sie wieder zurück auf den Boden. Sie trat hastig zurück hinaus auf den Flur und zog die Tür fast ganz zu, dann klopfte sie.

»Was?« Nicht gerade eine freundliche Reaktion.

»Ich bin’s«, sagte sie. »Darf ich reinkommen?«

Sie hörte irgendetwas zwischen einem Grunzen und einem Seufzer und öffnete die Tür. Er zog sich gerade ein dunkelgraues, hautenges T-Shirt über den Kopf. Es stand ihm sehr gut. Nicht so gut wie T-Shirt-Losigkeit, aber sie bemühte sich, nicht daran zu denken. Das hatte sie ganz flattrig gemacht.

»Ist das T-Shirt neu?«, fragte sie und versuchte verzweifelt, die Bilder loszuwerden, die immer wieder vor ihren Augen auftauchten. Das brachte ihr ein weiteres Grunzen ein. »Es sieht gut aus.«

Shane warf ihr einen ironischen Blick zu. »Quatschen wir jetzt über Klamotten? Warte, ich hole mein Mode-für-Dummies-Buch.«

»Ich – schon gut. Wegen Michael...«

»Stopp.« Shane trat vor und küsste sie auf die Stirn. »Ich weiß, dass du nicht willst, dass ich ihn in Stücke reiße, aber ich kann nicht anders. Gib mir ein bisschen Zeit, okay? Ich muss über einiges nachdenken.«

Claire ließ ihren Kopf nach hinten sinken und dieses Mal fand er ihre Lippen. Es sollte wohl ein schneller und harmloser kleiner Kuss werden, aber irgendwie wurde es doch eine etwas längere Sache. Seine Lippen waren weich wie Seide und er presste seinen Körper fest an sie. Seine starken Hände glitten um ihre Taille und zogen sie noch näher heran. Sie hörte ein tiefes Geräusch in seiner Kehle, einen wilden Laut, der sie ganz schwach und matt werden ließ.

Er beendete den Kuss und lehnte sich schwer atmend an sie. »Dir auch einen guten Morgen. Mann, ich kann dir einfach nicht böse sein, wenn du das mit mir machst.«

»Wenn ich was mit dir mache?«, fragte sie unschuldig. Sie fühlte sich nicht unschuldig. Sie fühlte sich auch nicht wie sechzehn-fast-siebzehn, überhaupt nicht. Shane sorgte immer dafür, dass sie sich älter fühlte. Viel älter. Zu allem bereit. Zum Glück war Shane so vernünftig.

»Wenn du nicht zu Hause bleiben und den Unterricht schwänzen willst, haben wir nicht wirklich Zeit, darüber zu sprechen«, sagte er und wackelte mit den Augenbrauen. »Also. Schwänzen und rummachen?«

Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Nein.«

»Autsch«, sagte er so, dass klar war, dass er überhaupt nichts gespürt hatte. »Du bist ein merkwürdiges Mädchen. Fährst du mit Eve?«

»Wenn sie die Phase des knurrenden Kannibalen hinter sich gelassen hat, ja. Sie braucht wahrscheinlich noch zwei Tassen Kaffee.«

»Bist du sicher, dass du keinen Bodyguard willst?« Er meinte es ernst. Shane hatte keinen Job – sie war sich gar nicht sicher, ob er je einen bekommen würde, nach dem, was sein Vater kürzlich in Morganville vorgehabt hatte. Vielleicht war es besser, wenn er eine Zeit lang den Ball flach hielt. Mit je weniger Vampiren – und Vampirsympathisanten – er im Moment in Kontakt kam, desto besser. Er wurde noch immer als nicht angeklagter Mitverschwörer des Rachefeldzugs seines Dads betrachtet, und auch wenn der Bürgermeister offiziell seine Begnadigung unterschrieben hatte, hatte das niemandem besonders gefallen.

Unfälle konnten passieren.

»Ich brauche keinen Bodyguard«, sagte Claire. »Niemand dort draußen ist hinter mir her. Sogar Monica ist inzwischen darauf bedacht, sich mit mir anzufreunden.«

Sie erntete einen zu scharfen Blick, der nicht mit den geröteten, kussfreudigen Lippen im Einklang stand. »Ach ja? Wie kommt das?«

Sie zuckte die Achseln und mied seinen Blick. »Ich weiß nicht.«

Er klappte mit einem Finger ihr Kinn nach oben. »Soso, sind wir schon in dem Abschnitt unserer Beziehung angelangt, in dem wir uns gegenseitig anlügen? Normalerweise kommt das erst nach der aufregenden, heißen, sexy Flitterwochenperiode.«

Sie streckte ihm die Zunge heraus und er beugte sich vor und leckte sie zu ihrem blanken Entsetzen ab. »Iiiiih!«

»Dann streck sie eben nicht heraus«, lächelte Shane. »Wenn du in meinem Zimmer herumhängst und mich in Versuchung führst, dann wirst du bestraft. Pro Minute wird ein Kleidungsstück ausgezogen.«

»Perversling.«

Er deutete auf sich selbst. »Männlich und achtzehn. Worauf willst du hinaus?«

»Du bist so...«

»Sag mal, hast du eigentlich so einen Faltenminirock und Kniestrümpfe? Das gibt mir wirklich den Kick...«

Sie quiekte und wich seinen gierigen Händen aus, dann schaute sie auf die Uhr. »Oh, Mist – jetzt muss ich aber wirklich gehen. Tut mir leid. Hör mal, du wirst – du bist okay, oder?«

Das Lächeln verschwand und hinterließ nur noch eine Spur in seinen dunklen, geheimnisvollen Augen. »Ja«, sagte Shane. »Alles okay. Pass auf dich auf, Claire.«

»Du auch.« Claire machte sich auf den Weg zur Tür, aber sie hörte Schritte hinter sich und wandte sich um; er schob sie mit dem Rücken an die Wand, tippte mit dem Finger an ihr Kinn, sodass sie zu ihm hochsah, und küsste sie dann, dass es sich anfühlte, als würde sich ihr Kopf mit Licht füllen und als würden sich ihre Knie in Gummi verwandeln.

Als sie wieder zu Atem kam und er sich zurückzog und nur etwa einen Zentimeter Platz zwischen ihren und seinen Lippen ließ, keuchte sie: »War das ein Abschiedskuss?«

»Das war ein Komm-bald-nach-Hause-Kuss«, sagte er und stieß sich von der Wand ab. »Ernsthaft, Claire. Pass auf dich auf. Ich mache mir Sorgen.«

»Ich weiß«, sagte sie und lächelte. Ihre Knie waren noch immer weich und das pulsierende Licht in ihrem Kopf schien einfach nicht nachzulassen. »Der bisher beste Kuss übrigens.«

Er zog die Augenbrauen nach oben. »Du vergibst Punkte dafür?«

»Hey, du hast gerade selbst die Messlatte höher gelegt. Ich bewerte nicht auf einer Kurve.«

Sie verließ ihn nur widerwillig, um ihren Rucksack zu schnappen und nachzuschauen, ob Eve in der Stimmung war, sie zur Schule zu fahren.