8

 

Drei Stunden später wussten sie auch nicht viel mehr, außer dass nichts, was sie taten, um die Vampire vom Gehen abzuhalten, zu funktionieren schien, abgesehen davon, sie zu betäuben und in robuste Zellen zu stecken. Diejenigen zu verfolgen, die doch weggingen, half auch nichts. Claire und Hannah landeten schließlich im Glass House, was der beste Versammlungsort zu sein schien - es lag zentral, war nicht weit von allem entfernt und im Notfall war man auch schnell beim Rathaus.

Richard Morrell kam zusammen mit einer Handvoll Leuten dorthin und schlug sein Lager in der Küche auf. Claire überlegte gerade, wie sie alle satt kriegen sollte, als es wieder an der Tür klopfte.

Es war Gramma Day. Die alte Dame stützte sich stolz und mit durchgedrücktem Rücken auf ihren Stock und starrte Claire aus vom Alter verblassten Augen an. »Ich werde nicht bei meiner Tochter bleiben«, sagte sie. »Ich will damit nichts zu tun haben.«

Claire trat rasch beiseite, um sie hereinzulassen, und die alte Dame schlurfte über die Schwelle. Claire schloss hinter ihr die Tür und fragte: »Wie sind Sie hierher gekommen?«

»Zu Fuß«, sagte Gramma. »Ich bin noch ganz gut zu Fuß. Niemand hat mich belästigt.« Das würde niemand wagen, dachte Claire. »Mr Richard! Sind Sie irgendwo hier drin, Junge?«

»Ma'am?« Richard Morrell kam aus der Küche, er sah mit einem Mal viel jünger aus, als Claire ihn jemals gesehen hatte. Gramma Day hatte diese Wirkung auf andere Menschen. »Was machen Sie denn hier?«

»Meine närrische Tochter hat nicht mehr alle Tassen im Schrank«, sagte Gramma. »Damit will ich nichts zu tun haben. Gehen Sie mir aus dem Weg, Junge. Ich bereite etwas zum Mittagessen vor.« Und dann klapperte sie mit ihrem Stock in Richtung Küche, wo sie über deren Zustand zeterte und jammerte, während Claire hin und her gerissen zwischen Kichern und absolutem Horror danebenstand. Sie wurde zu einem Paar helfender Hände degradiert und herumkommandiert, aber das Resultat war ein Teller voller Sandwichs und ein großer Krug Eistee. Schon bald saßen alle um den Küchentisch herum, außer Gramma, die in ein anderes Zimmer geflüchtet war, um sich auszuruhen. Zögernd hatte sich Claire auf Richards Nicken hin einen Stuhl genommen. Die Detectives Joe Hess und Travis Lowe waren auch da und schlangen Essen und Getränk dankbar hinunter. Claire war erschöpft, aber die beiden sahen noch eine ganze Ecke schlimmer aus. Der große, dünne Joe Hess hatte seinen linken Arm in der Schlinge - dem Verband nach zu urteilen, war er gebrochen -, und sowohl er als auch sein rundlicherer, schwererer Partner hatten Schnitte und blaue Flecken, die darauf hinwiesen, dass sie in den einen oder anderen Kampf verwickelt gewesen waren.

»Also«, sagte Hess, »weiß jemand, wohin die Vampire gehen, wenn sie abhauen?«

»Bisher nicht«, sagte Richard. »Wann immer wir sie verfolgten, konnten wir nur eine Weile mit ihnen mithalten, dann haben sie uns abgehängt.«

»Verletzen sie sich nicht in der Sonne?«, fragte Claire. »Ich meine...«

»Sie fangen an zu qualmen - und ich meine damit keine Marlboros -  und dann werden sie knusprig.«, sagte Travis Lowe, während er auf einem Mundvoll Truthahn und Schweizer Käse herumkaute. »Die älteren können ganz gut damit umgehen, jedenfalls stürmen sie nicht mehr einfach so hinaus. Sie setzen Hüte auf oder verwenden Mäntel und Decken. Ich habe einen gesehen, der in einen Sponge-Bob-Läufer eingewickelt war, den er irgendeinem Kind aus dem Kinderzimmer geklaut hatte. Kaum zu glauben. Es sind die jüngeren Vamps, die in Schwierigkeiten stecken. Manche von ihnen schaffen es nicht bis in den Schatten, wenn sie nicht aufpassen.«

Claire dachte an Michael und ihr Magen zog sich zusammen. Bevor sie die Frage auch nur formulieren konnte, sah Richard ihr Gesicht und schüttelte den Kopf. »Michael ist okay«, sagte er. »Dafür habe ich persönlich gesorgt. Er hat eine hübsche, sichere Gefängniszelle, zusammen mit einem anderen Vampir, den wir einfangen konnten, bevor es zu spät war. Er ist nicht so stark wie einige der anderen. Mit seinen bloßen Händen kann er keine Stahlstreben verbiegen. Jedenfalls bis jetzt noch nicht.«

»Irgendwelche Nachrichten von...«, Claire brachte die Frage nicht zu Ende und Richard ließ sie auch nicht ausreden.

»Keine Spur von Eve«, sagte er. »Keine Nachricht von ihr. Ich habe versucht, ihr Handy per GPS aufzustöbern, aber dazu müssten wir das Handynetz aktivieren, und das ist im Moment zu gefährlich. Ich habe die Jungs auf der Straße darum gebeten, die Augen nach ihr offen zu halten, aber wir haben eine Menge Sachen am Laufen, Claire.«

»Ich weiß. Aber...« Sie konnte es nicht genau in Worte fassen. Sie wusste, dass Eve irgendwo, irgendwie in Schwierigkeiten steckte, und sie mussten sie finden.

»Nun«, sagte Joe Hess und stand auf, um auf den stark vergrößerten Stadtplan von Morganville zu schauen, der an der Wand hing. »Ist das noch korrekt?« Die Karte war mit bunten Punkten bedeckt: blau für Orte, die von Leuten gehalten wurden, die Amelie ergeben waren, rot für solche, die Bishop die Treue hielten, schwarz für Häuser, die verbrannt oder auf andere Weise außer Gefecht waren und zu denen drei Gründerinnenhäuser, das Krankenhaus und die Blutbank zählten.

»Ziemlich korrekt«, sagte Richard. »Wir wissen nicht, ob Bishops Vampire ihre Standorte verlassen, aber wir wissen, dass sie sich verschanzen, genau wie Amelies Leute. Wir können nur die Standorte bestätigen, an denen Amelies Leute sein sollten, und die sind von so gut wie jedem Ort verschwunden, den wir blau markiert haben.«

»Wo wurden sie zuletzt gesehen?«

Richard schaute in seine Notizen und begann, gelbe Punkte auf der Karte hinzuzufügen. Claire erkannte das Muster beinahe sofort. »Es sind die Portale«, sagte sie. »Myrnin hat irgendwie die Portale wieder zum Funktionieren gebracht. Sie benutzen also die Portale.«

Hess und Lowe machten ahnungslose Gesichter, aber Richard nickte. »Ja, ich habe davon gehört. Klingt logisch. Aber wo gehen sie hin

Sie zuckte hilflos mit den Achseln. »Könnte überall sein. Ich kenne nicht alle Orte, zu denen die Portale führen; vielleicht wissen es Myrnin und Amelie, aber sonst weiß es wahrscheinlich keiner.« Aber sie fühlte sich ganz unangemessen ermutigt durch den Gedanken, dass die Vampire nicht draußen im Tageslicht herumwanderten und sich selbst entzündeten. Sie wollte nicht, dass das mit ihnen passierte... sie wollte nicht einmal, dass es mit Oliver passierte.

Na ja, wenn es um Oliver ging, vielleicht manchmal. Aber nicht heute.

Die drei Männer schauten sie einen Augenblick lang an, dann studierten sie wieder die Karte, sprachen über Umkreise und Strategien für Patrouillen - lauter Dinge, von denen Claire dachte, dass sie eigentlich nichts mit ihr zu tun hatten. Sie aß ihr Sandwich zu Ende und ging hinüber ins Wohnzimmer, wo die runzlige Gramma Day mit hochgelegten Füßen in einem dick gepolsterten Ohrensessel saß und sich mit Hannah unterhielt. »Hey, Kleines«, sagte Gramma Day. »Setz dich zu uns.«

Claire nahm Platz und schaute sich im Zimmer um. Die meisten Vampire waren weg; entweder waren sie aus Sicherheitsgründen in Zellen gesperrt worden oder man hatte sie nicht aufhalten können. Claire konnte anscheinend nicht aufhören, nervös die Hände gegeneinanderzureiben. Shane. Shane sollte eigentlich hier sein. Richard Morrell hatte gesagt, dass sie für das Blutmobil einen Fahrerwechsel vereinbart hatten, und das bedeutete, dass Shane bald für seine Ruhephase hierher kommen müsste.

Sie brauchte ihn jetzt.

Gramma Day schaute sie versonnen und ein wenig mitleidig aus ihren blassen Augen an. »Machst du dir Sorgen?«, fragte sie und lächelte. »Ich nehme an, du hast deine Gründe.«

»Ja?« Claire war überrascht. Die meisten Erwachsenen taten immer so, als würde alles gut werden.

»Aber natürlich, Süße. Morganville wird schon seit Langem von den Vampiren regiert, und das war nicht unbedingt immer ein sanftmütiges Völkchen. Ohne jeden Grund wurden Leute verletzt oder getötet. Das verursacht Unmut.« Gramma nickte zum Bücherregal hin. »Hol mir das rote Buch da drüben, das, das mit N anfängt.«

Es war eine Enzyklopädie. Claire holte das Buch und legte es ihr in den Schoß. Gramma schlug es mit ihren wettergegerbten, sehnigen Fingern auf und blätterte darin, dann gab sie es ihr zurück. Die Überschrift lautete New York Draft Riots, die Einberufungskrawalle von 1863.

Das Bild zeigte Chaos - aufgebrachte Menschenmassen, brennende Gebäude. Und Schlimmeres. Viel, viel Schlimmeres.

»Die Leute sind vergesslich«, sagte Gramma. »Sie vergessen, was passieren kann, wenn sich Ärger anstaut. Diese New Yorker Menschen waren aufgebracht, weil die Männer eingezogen werden sollten, um im Bürgerkrieg zu kämpfen. Was glaubst du wohl, an wem sie es ausgelassen haben? Vor allem an den Schwarzen. Menschen, die sich nicht wehren konnten. Sie haben sogar ein Waisenhaus niedergebrannt und sie hätten jedes einzelne dieser Kinder verbrannt, wenn sie es erwischt hätten.« Sie schüttelte den Kopf und schnalzte angewidert mit der Zunge. »Das Gleiche geschah 1921 in Tulsa, die sogenannten Krawalle von Greenwood. Die Leute sagten, die Schwarzen würden ihnen die Geschäfte und Jobs wegnehmen. In Frankreich gab es eine Revolution, bei der sie all diese arroganten Adligen aufgriffen und ihnen den Kopf abschlugen. Vielleicht war es ihre eigene Schuld, vielleicht aber auch nicht. Es ist überall dasselbe: Man wird böse, schiebt es auf irgendeine Gruppe und die muss dann dafür bezahlen, ob sie schuldig ist oder nicht. Das passiert ständig.«

Claire überlief ein Schauer. »Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, denk doch mal an Frankreich, Mädchen. Die Vampire haben uns lange Zeit unterdrückt, ebenso wie es diese französischen Adligen getan haben, zumindest sehen das die Leute hier so. Und jetzt denk mal an all diese Leute da draußen mit ihrem generationenlangen Groll und daran, dass gerade niemand wirklich das Sagen hat. Glaubst du nicht auch, dass das schlecht für uns ausgehen wird?«

Claire kam aus dem Schaudern gar nicht mehr raus. Ihr fiel Shanes Vater wieder ein, das fanatische Leuchten in seinen Augen. Er gehörte zu denjenigen, die einen Krawall anzetteln könnten. Einer von denen, die die Leute aus ihren Häusern zerren und sie als Kollaborateure und Verräter am nächsten Laternenpfahl aufknüpfen würden.

Hannah tätschelte das Gewehr in ihrem Schoß. Sie hatte die Paintball-Waffe beiseitegelegt - ehrlich gesagt nutzte sie jetzt, da die Vampire nicht mehr mitmischten, nicht mehr viel. »Hier kommen sie nicht rein, Gramma. In Morganville wird es nicht zu einem weiteren Greenwood kommen.«

»Ich mache mir nicht so viele Sorgen um dich und mich«, sagte Gramma. »Aber ich mache mir Sorgen um die Morrells. Früher oder später werden sie kommen, um sie zu holen. Diese Familie ist das Vorzeigekind der alten Garde.«

Claire fragte sich, ob Richard das wusste. Sie dachte auch an Monica. Nicht, dass sie sie gemocht hätte - Himmel noch mal, ganz und gar nicht -, aber trotzdem.

Sie bedankte sich bei Gramma Day und ging zurück in die Küche, wo sich die Polizisten noch immer unterhielten. »Gramma Day glaubt, dass es Ärger geben wird«, sagte sie. »Nicht mit den Vampiren, sondern mit den normalen Menschen wie denen im Park. Vielleicht auch mit Lisa Day. Und sie ist der Meinung, dass Sie auf Ihre Familie aufpassen sollten, Richard.«

Richard nickte. »Schon erledigt«, sagte er. »Meine Eltern sind im Rathaus. Monica ist auch auf dem Weg dorthin.« Er hielt inne und dachte darüber nach. »Du hast recht. Ich sollte dafür sorgen, dass sie auch heil dort ankommt, bevor sie ebenfalls in die Statistik eingeht.« Sein Gesicht war plötzlich angespannt und sein Blick passte nicht zu seiner saloppen Wortwahl. Er war besorgt.

Angesichts dessen, was Claire gerade von Gramma Day gehört hatte, hatte er wahrscheinlich allen Grund dazu, fand Claire. Joe Hess und Travis Lowe warfen sich gegenseitig einen Blick zu und sie glaubte, dass sie das Gleiche dachten wie sie. Sie verdient es, redete Claire sich ein. Was immer Monica Morrell zustößt, sie hat es nicht anders verdient.

Nur dass immer wieder Bilder aus Gramma Days Buch in ihr aufstiegen und sie verfolgten.

Die Haustür fiel krachend zu und sie hörte Hannahs Stimme -  sie klang nicht alarmiert, sondern hieß jemanden willkommen. Sie wirbelte herum und ging zur Küchentür... und stieß direkt mit Shane zusammen, der sie packte und seine Arme um sie schlang.

»Hier bist du«, sagte er und umarmte sie so fest, dass sie fühlte, wie ihre Rippen krachten. »Mann, du machst es mir wirklich nicht einfach, Claire. Den ganzen verdammten Tag war ich völlig durchgedreht. Zuerst kommt mir zu Ohren, dass du mitten in Vamptown unterwegs bist; dann rennst du zusammen mit Eve rum und spielst den Lockvogel...«

»Das mit dem Lockvogel sagt genau der Richtige«, sagte Claire und trat zurück, um ihn anzuschauen. »Alles okay bei dir?«

»Kein einziger Kratzer«, sagte er und grinste. »Paradox, denn normalerweise bin doch ich derjenige mit den Kampfnarben, oder? Das Schlimmste, was passiert ist, war, dass ich rechts ranfahren musste, um eine Gruppe Vampire hinauszulassen, die sonst die Wände des Blutmobils aufgerissen hätten. Du wärst stolz auf mich gewesen - ich hab sie sogar an einem schattigen Plätzchen rausgelassen.« Sein Lächeln erlosch, aber nicht die Wärme in seinen Augen. »Du siehst müde aus.«

»Ach, findest du?« Sie ertappte sich selbst beim Gähnen. »Sorry.«

»Wir sollten ein wenig ausruhen, solange wir können.« Er schaute sich um. »Wo ist Eve?«

Niemand hatte es ihm gesagt. Claire machte den Mund auf und merkte, dass sich ihre Kehle eng um die Worte schloss. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie ist weg, wollte sie sagen. Sie wird vermisst. Niemand weiß, wo sie ist.

Aber wenn sie das jetzt laut aussprach, wenn sie es zu Shane sagte, dann würde es so real werden.

»Hey«, sagte er und strich ihr über das Haar. »Hey, was ist passiert? Wo ist sie?«

»Sie war im Common Grounds«, würgte sie schließlich hervor. »Sie...«

Seine Hände rührten sich nicht und er bekam große Augen.

»Sie wird vermisst«, sagte Claire endlich und eine Welle tiefer Traurigkeit überschwemmte sie. »Sie ist irgendwo da draußen. Das ist alles, was ich weiß.«

»Ihr Auto steht draußen.«

»Wir sind damit hergefahren.« Claire nickte in Hannahs Richtung, die hinter Shane in die Küche gekommen war und schweigend zuhörte. Er würdigte ihre Anwesenheit lediglich mit einem Blick.

»Okay«, sagte Shane. »Michael ist in Sicherheit, du bist in Sicherheit, ich bin in Sicherheit. Jetzt gehen wir Eve suchen.«

Richard Morrell machte sich bemerkbar. »Das ist keine gute Idee.«

Shane wirbelte zu ihm herum, sein Gesichtsausdruck war so hart, dass er damit einem Vampir hätte Angst einflößen können. »Willst du etwa versuchen, mich aufzuhalten, Dick

Richard starrte ihn einen Moment lang an, dann wandte er sich wieder der Karte zu. »Du möchtest gehen, dann geh. Wir haben zu tun. Da draußen ist eine ganze Stadt voller Menschen, für die wir da sind und die beschützt werden müssen. Eve ist ein einziges Mädchen.«

»Ja, und sie ist unser Mädchen«, sagte Shane. Er nahm Claire an der Hand. »Gehen wir.«

Hannah lehnte an der Wand. »Was dagegen, wenn ich mitfahre?«

»Da Sie eine Waffe haben - warum nicht?«

***

Draußen war es seltsam. Ruhig, aber trotzdem lag Spannung in der Luft. Noch immer waren Menschen draußen, die in Grüppchen auf der Straße herumstanden und sich unterhielten. Die Läden waren größtenteils verrammelt, aber Claire bemerkte mit Unbehagen, dass die Kneipen geöffnet waren, ebenso das Waffengeschäft von Morganville.

Nicht gut.

Die Tore der Universität waren geöffnet und Leute, die den Campus verlassen wollten, erhielten eine Art Pass - Claire nahm an, dass man noch immer an dieser Katastrophenalarm-Geschichte festhielt.

»Oh, Mann«, murmelte Shane, als sie in eine der Straßen einbogen, die ins Zentrum der Stadt und zum Founder's Square -  Vamptown - führten. Dort waren noch mehr Leute, mehr Gruppen. »Das gefällt mir nicht. Das dort oben ist Sal Manetti. Er gehörte früher zu Dads Saufkumpanen.«

»Den Cops gefällt es auch nicht«, sagte Hannah und deutete auf die Polizeiautos vor ihnen. Sie blockierten das Ende der Straße, und als Claire die Augen zusammenkniff, konnte sie sehen, dass sie aus ihren Autos ausgestiegen waren und sich, zu allem bereit, in einer Reihe aufgestellt hatten. »Das kann jederzeit eskalieren. Hier draußen braucht nur einer ein Streichholz anzuzünden und schon brennt es überall.«

Claire fiel ein, dass Shane gesagt hatte, sein Vater käme in die Stadt, und sie wusste, dass auch er daran dachte. Er schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns überlegen, wo Eve sein könnte. Hat jemand eine Idee?«

»Vielleicht hat sie irgendwelche Hinweise hinterlassen«, sagte Claire. »Im Common Grounds. Vielleicht sollten wir dort anfangen.«

Das Common Grounds lag verlassen da, die Stahlgitter waren heruntergezogen. Die Tür war abgeschlossen. Sie fuhren in die Gasse dahinter. Hier war nichts außer Mülltonnen und...

»Was zum Teufel ist das?«, fragte Shane. Er stieg auf die Bremse und brachte den Wagen zum Stehen. Dann sprang er aus dem Auto und hob etwas Kleines vom Boden auf. Er stieg wieder ein und zeigte es Claire.

Es war ein kleines weißes Bonbon in Form eines Totenkopfs. Claire blinzelte und schaute dann die Gasse hinunter. »Sie hat uns eine Spur aus Pfefferminzbonbons gelegt?«

»Sieht jedenfalls so aus. Wir werden wohl zu Fuß gehen müssen, um ihr zu folgen.«

Hannah schien die Idee nicht besonders zu gefallen, aber Shane ließ sich da nicht reinreden. Sie parkten Eves Wagen in der Gasse hinter dem Common Grounds, schlossen ihn ab und begaben sich auf die Jagd nach Totenkopf-Bonbons.

»Hier drüben!«, schrie Hannah am Ende der Gasse. »Sieht aus, als hätte sie immer dort welche fallen lassen, wo sie abgebogen ist. Pfiffig. Sie ist hier entlang.«

Danach kamen sie schneller voran. Die Totenkopf-Bonbons waren deutlich sichtbar, leicht zu entdecken. Claire bemerkte, dass sie überwiegend im Schatten lagen, klar, wenn Eve mit Myrnin oder den anderen Vampiren unterwegs war. Warum ist sie nicht geblieben? Vielleicht blieb ihr keine andere Wahl.

Die Bonbonspur hörte nach einigen Häuserblocks auf. Sie hatte sie in eine Gegend geführt, in der Claire eigentlich noch nie zuvor gewesen war - überwiegend leer stehende alte Gebäude, die unter den unbarmherzigen Einflüssen der Jahre und der Sonne zerfielen. Die Gegend sah verlassen aus und fühlte sich auch so an.

»Wohin jetzt?«, frage Claire und schaute sich um. Sie konnte nichts Auffälliges erkennen, aber dann entdeckte sie etwas Glänzendes, das hinter eine umgekippte rostige Mülltonne geklemmt war. Sie griff danach und zog ein schwarzes Lederhalsband mit silbrigen Stacheln hervor.

Es war das Halsband, das Eve getragen hatte. Wortlos zeigte sie es Shane, der sich langsam im Kreis drehte und sich die nichtssagenden Gebäude anschaute. »Komm schon, Eve«,sagte er. »Gib uns etwas. Irgendwas.« Er erstarrte. »Hört ihr das?«

Hannah legte den Kopf schief. Sie stand am Ende der Gasse und hielt das Gewehr auf eine Art und Weise im Arm, die lässig und gleichzeitig schrecklich kompetent aussah. »Was?«

»Hört ihr es nicht?«

Claire hörte es. Ein Telefon klingelte, vielmehr ein Handy mit einem Ultraschallklingelton - sie hatte gehört, dass ältere Menschen diese Frequenzen nicht hören konnten, und in der Schule hatte es Kids gegeben, die diese Klingeltöne dauernd benutzten, um während des Unterrichts heimlich Anrufe zu bekommen oder SMS zu verschicken. Das Signal war schwach, aber definitiv vorhanden. »Ich dachte, die Netze funktionieren nicht«, sagte sie und zog ihr eigenes Handy heraus.

Nein. Das Netz war da. Sie fragte sich, ob Richard das veranlasst hatte oder ob sie die Kontrolle über die Handymasten verloren hatten. Beides war möglich.

Sie fanden das Handy, bevor das Klingeln erstarb. Es war Eves Handy - ein rotes Gerät mit silbernen Totenköpfen als Anhänger - und es war im Schatten eines schiefen, kaputten Türrahmens weggeworfen worden. »Wer hat angerufen?«, fragte Claire und Shane scrollte durch das Menü.

»Richard«, sagte er. »Ich nehme an, er hat am Ende doch noch nach ihr gesucht.«

Claires Handy summte - nur einmal. Eine SMS. Sie öffnete und las sie.

Sie war von Eve und schon vor Stunden abgeschickt worden. Der Nachrichtenrückstau wurde offensichtlich jetzt gerade aufgeholt.

In der SMS stand: 911@GERMANS. Claire zeigte es Shane. »Was ist das?«

»Neun, eins, eins. Notruf. German's...« Er blickte zu Hannah hinüber, die sich von der Wand abstieß und auf sie zukam.

»German's Reifenwerk«, sagte sie. »Verdammt, das gefällt mir nicht; das ist mindestens so groß wie ein paar Fußballfelder.«

»Wir sollten Richard benachrichtigen«, sagte Claire. Sie wählte, aber das Netz war überlastet und dann verschwanden die Balken wieder.

»So lange warte ich nicht«, sagte Shane. »Holen wir den Wagen.«