10

 

Am nächsten Morgen war von den Vampiren weit und breit nichts zu sehen. Claire überprüfte das Netzwerk der Portale, aber soweit sie erkennen konnte, funktionierte es nicht. Da sie nichts Konkretes zu tun hatte, half sie im Haus - putzen, aufräumen, Besorgungen machen. Richard Morrell kam vorbei, um nach ihnen zu schauen. Er sah ein wenig besser aus, weil er geschlafen hatte, aber zu sagen, dass er gut aussah, wäre übertrieben gewesen.

Als Eve herunterkam, sah sie fast genauso schlimm aus. Sie hatte sich nicht mit ihrem Goth-Make-up aufgehalten und ihr schwarzes Haar hing strähnig und ungekämmt herunter. Sie schenkte Richard aus der ständig bereiten Kanne Kaffee ein, reichte ihm die Tasse und sagte: »Wie geht es Michael?«

Richard pustete auf die heiße Oberfläche der Tasse, ohne Eve anzuschauen. »Er ist im Rathaus. Wir haben alle Vampire, die wir noch hatten, zur Sicherheit ins Gefängnis gebracht.«

Eves Miene sackte vor Sorge in sich zusammen. Shane legte ihr die Hand auf die Schulter und sie sog die dampfende Luft ein, um ihre Fassung wiederzugewinnen..

»Gut«, sagte sie. »Das wird wahrscheinlich das Beste sein, du hast recht.« Sie nahm einen Schluck aus ihrer ramponierten Kaffeetasse. »Wie ist es da draußen?« Mit da draußen meinte sie außerhalb der Lot Street, wo es immer noch gespenstisch still war.

»Nicht so gut«, sagte Richard. Seine Stimme klang rau und düster, als wäre vor lauter Brüllen nicht mehr viel davon übrig geblieben. »Etwa die Hälfte der Läden hat dichtgemacht, einige von ihnen sind niedergebrannt oder geplündert worden. Wir haben nicht genügend Polizei und Freiwillige, um überall zu sein. Einige der Ladenbesitzer haben sich bewaffnet und bewachen jetzt ihre Geschäfte - das gefällt mir nicht, aber bis sich alle wieder beruhigt haben und wieder nüchtern sind, ist das wohl das Beste. Nicht alle machen Probleme, aber ein Großteil der Stadt war lange Zeit frustriert und verärgert. Habt ihr gehört, dass sie das Barfly geplündert haben?«

»Ja, haben wir gehört«, sagte Shane.

»Na ja, das war nur der Anfang. In Dolores Thompsons Laden wurde eingebrochen und dann gingen sie zu den Lagerhäusern und fanden das unter Zollverschluss gehaltene Spirituosenlager. Wer dies alles bewältigen wollte, indem er betrunken und niederträchtig wurde, erlebte einen echten Festtag.«

»Wir haben den Mob gesehen«, sagte Eve und warf Claire einen Blick zu. »Ähm, was deine Schwester angeht...«

»Ja, danke, dass ihr euch um sie gekümmert habt. Ich traue meiner idiotischen Schwester zu, dass sie selbst bei einem Krawall in ihrem roten Cabrio herumfährt. Sie hatte verdammtes Glück, dass sie sie nicht umgebracht haben.«

Das hätten sie bestimmt, da war sich Claire sicher. »Ich nehme an, Sie nehmen sie mit...?«

Richard schenkte ihr ein dünnes Lächeln. »Sie gehört wohl nicht gerade zu den geschätzten Gästen?«

Eigentlich war Monica recht ruhig gewesen. Claire hatte sie zusammengerollt auf dem Sofa, in eine Decke gewickelt, tief und fest schlafend aufgefunden. Sie hatte bleich und erschöpft angesehen, mit ihren blauen Flecken und sehr viel jünger, als Claire sie je gesehen hatte. »Schon okay.« Sie zuckte die Achseln.

»Aber ich wette, sie wäre lieber bei ihrer Familie.«

»Ihre Familie ist in der Innenstadt in Schutzhaft. Mein Dad wäre fast von einer Meute fieser Kerle verschleppt worden, die irgendwas von Steuern oder so brüllten. Meine Mom...« Richard schüttelte den Kopf, als wollte er die Bilder aus seinem Kopf vertreiben. »Wie auch immer. Ich glaube nicht, dass sie dort besonders glücklich wäre, es sei denn, sie steht auf vier Wände und eine verschlossene Tür. Und ihr kennt ja Monica: Wenn sie nicht glücklich ist...«

»Ist niemand glücklich«, beendete Shane den Satz für ihn. »Na ja, ich möchte sie nicht bei uns im Haus haben. Sorry, Mann, aber wir haben unsere Pflicht erfüllt und alles. Darüber hinaus müsste sie schon eine Freundin sein, um hier weiterhin zu pennen. Und du weißt, dass sie das nicht ist. Und niemals sein wird.«

»Dann nehme ich sie euch ab.« Richard stellte die Tasse ab und stand auf. »Danke für den Kaffee. Scheint so, als wäre er das Einzige, was mich gerade am Laufen hält.«

»Richard...« Eve stand ebenfalls auf. »Im Ernst, wie sieht es da draußen aus? Was wird geschehen?«

»Wenn wir Glück haben, werden die Besoffenen wieder nüchtern oder kippen aus den Latschen und die, die herumgerannt sind, um Leute zu bestrafen, werden sich endlich die Füße wund gelaufen und Muskelschmerzen bekommen haben und nach Hause gehen, um zu schlafen.«

»Nicht, dass wir bisher besonders viel Glück damit gehabt hätten«, sagte Shane.

»Nein«, stimmte Richard zu. »Das hatten wir nicht. Aber ich muss sagen, dass wir nicht alles geschlossen halten können. Die Leute müssen zur Arbeit, die Schulen müssen wieder geöffnet werden und dafür brauchen wir hier wieder so etwas wie ein normales Leben. Deshalb arbeiten wir jetzt erst mal daran. Strom und Wasser gibt es wieder, die Telefonleitungen funktionieren. Fernsehen und Radio sind auf Sendung. Ich hoffe, das beruhigt die Leute. Überall in der Stadt gibt es Polizeistreifen, deren Gebiete sich überlappen, deshalb können wir in weniger als zwei Minuten überall sein. Ach ja, da ist noch etwas: Uns hat die Nachricht erreicht, dass schlechtes Wetter vorhergesagt ist. Eine echt dicke Schlechtwetterfront kommt heute Nacht auf uns zu. Darüber bin ich nicht allzu glücklich, aber vielleicht hält es die Verrückten für eine Weile von den Straßen fern. Selbst Randalierer mögen keinen Regen.«

»Wie sieht es mit der Uni aus?«, fragte Claire. »Ist sie offen?«

»Sie ist offen und es wird Unterricht gegeben, ob du es glaubst oder nicht. Wir haben einige der Unruhen als Rollenspiele im Rahmen der Katastrophenübung ausgegeben und gesagt, dass die Plünderungen und Brände Teil der Übung wären. Manche haben uns geglaubt.«

»Aber... es gibt nichts Neues von den Vampiren?«

Richard schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Nein. Nicht direkt.«

»Wie, nicht direkt?«

»Vor Tagesanbruch haben wir ein paar Leichen gefunden«, sagte er. »Alles Vampire. Alle wurden mit Silber umgebracht oder enthauptet. Einige von ihnen... ich kannte einige. Die Sache ist, ich glaube nicht, dass sie von Bishop getötet wurden. Wie es aussieht, hat sie der Mob erwischt.«

Claire hielt den Atem an. Eve schlug die Hand vor den Mund.

»Wer...?«

»Bernard Temple, Sally Christien, Tien Ma und Charles Effords.«

Eve ließ ihre Hand sinken: »Charles Effords? Also, Mirandas Charles? Ihr Schutzherr?«

»Ja. Dem Zustand der Leichen nach zu urteilen, würde ich annehmen, dass er das vorrangige Ziel war. Niemand mag Pädophile.«

»Niemand außer Miranda«, sagte Eve. »Sie wird jetzt wirklich Angst haben.«

»Ja, apropos...«, Richard zögerte, dann rückte er damit heraus: »Miranda ist weg.«

»Weg?«

»Verschwunden. Wir haben nach ihr gesucht. Ihre Eltern haben sie gestern am frühen Abend als vermisst gemeldet. Ich hoffe, sie war nicht bei Charles, als ihn der Mob erwischt hat. Ruft mich an, wenn ihr sie seht, okay?«

Eves Lippen formten ihre Zustimmung, sie brachte aber keinen Ton heraus.

Richard schaute auf die Uhr. »Ich muss los«, sagte er. »Für euch gilt das Übliche: Schließt die Türen ab, überprüft den Ausweis von jedem, der hier unerwartet auftaucht. Wenn ihr etwas von einem Vampir oder über die Vampire hört, ruft mich sofort an. Benutzt die verschlüsselten Funkgeräte, nicht die Telefonleitungen. Und seid vorsichtig.«

Eve schluckte schwer und nickte. »Kann ich Michael sehen?«

Er zögerte, als hätte er daran noch gar nicht gedacht, dann zuckte er mit den Achseln. »Gehen wir.«

»Wir kommen alle mit«, sagte Shane.

***

Es war eine unbequeme Fahrt zum Rathaus, wo sich das Gefängnis befand. Der Streifenwagen war zwar groß, aber nicht groß genug für Richard, Monica, Eve, Shane und Claire. Monica hatte sich auf den Vordersitz gesetzt und war dicht an ihren Bruder herangerückt; Claire hatte sich mit ihren Freunden auf den Rücksitz gezwängt.

Sie sprachen nicht, nicht einmal, als sie an den ausgebrannten Rümpfen von Häusern und Geschäften vorbeikamen. Brände gab es heute keine und Claire konnte auch keinen Mob entdecken. Alles schien ruhig zu sein.

Richard steuerte vor dem Rathaus an einer Polizeiabsperrung vorbei und parkte in dem unterirdischen Parkhaus. »Ich bringe Monica zu meinen Eltern«, sagte er. »Ihr geht hinunter zu den Zellen. Ich komme in einer Minute nach.«

Sie brauchten weit mehr als eine Minute, um Zugang zu Michael zu erhalten; die Vampire - alle fünf die die Menschen noch immer in Gewahrsam hatten - waren in einer speziellen Abteilung in verstärkten Zellen ohne Tageslicht untergebracht. Claire versetzte es einen unangenehmen Stich, weil er sie an die Vampire in den Zellen erinnerte, in denen auch Myrnin für gewöhnlich zu seinem eigenen Schutz eingesperrt war. Hatte irgendjemand sie gefüttert? Hatte es überhaupt jemand versucht?

Drei der Vampire kannte sie nicht, aber die nächsten beiden schon. »Sam!«, platzte sie heraus und eilte zu den Gitterstäben. Michael Großvater lag auf einer Pritsche, seine bleiche Hand über die Augen gelegt; aber als sie seinen Namen rief, setzte er sich auf. Claire konnte die Ähnlichkeit zwischen Michael und Sam klar erkennen - derselbe einfache Knochenbau, nur dass Michaels Haare golden schimmerten, während Sams rot waren.

»Holt mich hier raus«, sagte Sam und stürzte zur Tür. Er rüttelte mit unerwarteter Heftigkeit an seinem Käfig. Claire wich mit offenem Mund zurück. »Mach die Tür auf und lass mich raus, Claire! Sofort!«

»Hör nicht auf ihn«, sagte Michael. Er lehnte an den Gitterstäben seiner eigenen Zelle und sah erschöpft aus. »Hey, Leute. Habt ihr mir einen Dietrich in einem Törtchen mitgebracht oder so etwas?«

»Ich hatte das Törtchen schon, aber dann habe ich es gegessen. Schwere Zeiten, Mann.« Shane streckte die Hand aus. Michael fasste durch die Gitterstäbe und schüttelte sie feierlich, dann warf sich Eve gegen das Metall und versuchte, ihn zu umarmen. Es war ein linkischer Versuch, aber Claire merkte, wie sich bei Michael Erleichterung ausbreitete, gleichgültig wie sonderbar das mit den Gitterstäben zwischen ihnen wirkte. Er küsste Eve und Claire musste wegschauen, weil es ein so intimer Moment zu sein schien.

Sam rasselte wieder am Käfig. »Claire, mach die Tür auf! Ich muss zu Amelie!«

Der Polizist, der sie hinunter zu den Zellen begleitet hatte, stieß sich von der Wand ab und sagte: »Beruhigen Sie sich, Mr Glass. Sie gehen nirgendwohin, das wissen Sie genau.« Er wandte seine Aufmerksamkeit Claire und Shane zu. »So war er von Anfang an. Wir mussten ihm schon zweimal Beruhigungsmittel verabreichen, weil er sich beim Versuch auszubrechen verletzt hat. Er ist schlimmer als alle anderen. Sie scheinen sich beruhigt zu haben. Er nicht.«

Nein, Sam hatte sich ganz sicher nicht beruhigt. Als Claire ihn anschaute, spannte er seine Muskeln an und versuchte, das Schloss aufzustemmen, ließ dann keuchend und frustriert davon ab und ging zurück zu seiner Pritsche. »Ich muss hier raus«, murmelte er. »Bitte, ich muss weg. Sie braucht mich. Amelie...«

Claire schaute Michael an, der nicht halb so verzweifelt wie Sam wirkte. »Ähm... entschuldige, dass ich frage, aber... fühlst du dich auch so? Wie Sam?«

»Nein«, sagte Michael. Er hatte die Augen noch immer geschlossen. »Eine Zeit lang spürte ich diesen... Ruf, aber vor etwa drei Stunden hat es aufgehört.«

»Warum ist dann Sam...«

»Es ist nicht der Ruf«, sagte Michael. »Es liegt an Sam. Es bringt ihn um zu wissen, dass sie irgendwo da draußen in Schwierigkeiten steckt und er ihr nicht helfen kann.«

Sam legte den Kopf in die Hände, ein Häufchen Elend. Claire wechselte einen Blick mit Shane. »Sam«, sagte sie. »Was passiert? Weißt du es?«

»Menschen sterben, das passiert«, sagte er. »Amelie steckt in Schwierigkeiten. Ich muss zu ihr gehen. Ich kann nicht einfach hier herumsitzen!«

Er warf sich wieder gegen die Gitterstäbe und trat so heftig dagegen, dass das Metall schepperte wie eine Glocke.

»Nun, Sie müssen aber da drinbleiben«, sagte der Polizist, der eigentlich ganz sympathisch war. »So wie Sie sich aufführen, würden Sie geradewegs hinaus in die Sonne rennen, und das würde jetzt weder ihr noch Ihnen helfen, oder?«

»Ich hätte schon Stunden vor Sonnenaufgang weg sein können«, fuhr Sam ihn an. »Stunden.“

»Und jetzt müssen Sie warten, bis es dunkel wird.«

Seine Bemerkung brachte dem Polizisten ein unverhohlen böses Fauchen ein und Sams Augen leuchteten hellrot auf. Alle blieben in Deckung, und als Sam dieses Mal ruhiger wurde, schien es endgültig zu sein. Er zog sich auf seine Pritsche zurück und drehte ihnen den Rücken zu.

»Mann«, hauchte Shane leise. »Er ist wohl ein klitzekleines bisschen emotional, was?«

Nach allem, was der Polizist ihnen - und Richard, als er schließlich zu ihnen stieß - erzählte, waren die gefangenen Vampire anfangs alle gleich aggressiv gewesen. Nun war nur noch Sam aggressiv und wie Michael sagte, war es nicht Amelies Ruf, der ihn antrieb... Es war die Angst um Amelie.

Es war Liebe.

»Bitte treten Sie zurück«, sagte der Polizist zu Eve. Sie schaute ihn über die Schulter hinweg an, danach Michael. Er küsste sie und ließ sie los.

Sie machte tatsächlich einen Schritt rückwärts, aber nur einen kleinen. »Also... bist du okay? Wirklich?«

»Klar. Das ist nicht gerade das Ritz, aber so schlimm ist es auch nicht. Sie behalten uns nicht hier, um uns etwas anzutun, das weiß ich.« Michael streckte den Zeigefinger aus und berührte ihre Lippen. »Ich komme bald wieder zurück.«

»Ja, das wäre besser für dich«, sagte Eve. Spielerisch biss sie ihm in den Finger. »Ich könnte schließlich einfach mit jemand anderem ausgehen, weißt du?«

»Und ich könnte dein Zimmer an jemand anderes vermieten.«

»Und ich könnte deine Spielkonsole auf Ebay versteigern.«

»Hey«, protestierte Shane. »Jetzt wird es aber wirklich fies.«

»Verstehst du jetzt, was ich meine? Du musst nach Hause kommen, sonst bricht das totale Chaos aus. Wir leben wie Katze und Hund.« Eve senkte die Stimme, aber nicht ganz bis zu einem Flüstern. »Und ich vermisse dich. Ich vermisse es, dich um mich zu haben. Ich vermisse dich die ganze Zeit.«

»Ich vermisse dich auch«, murmelte Michael, dann blinzelte er und schaute Claire und Shane an. »Ich meine, ich vermisse euch alle.«

»Klar tust du das«, stimmte Shane zu. »Aber auf andere Weise, hoffe ich.«

»Halt die Klappe, Alter. Zwing mich nicht, zu dir hinauszukommen.«

Shane wandte sich an den Polizisten. »Sehen Sie? Es geht ihm gut.«

»Ich habe mir mehr Sorgen um euch gemacht«, gab Michael zu. »Alles klar zu Hause?«

»Ich muss eine Bluse verbrennen, die Monica sich ausgeliehen hat«, sagte Claire. »Ansonsten geht es uns gut.«

Sie versuchten noch ein bisschen weiterzuplaudern, aber irgendwie schien ihre Unterhaltung angesichts Sams stillen, steifen Rückens eher verzweifelt als witzig. Er litt und Claire wusste nicht, wie sich das lindern ließe - außer mit einer Runde Joggen in der Mittagssonne. Sie wusste nicht, wo Amelie war, und da die Portale geschlossen waren, wüsste sie auch gar nicht, wo sie mit Suchen anfangen sollte.

Amelie hatte aus allen, die sich Bishop nicht vor ihr geschnappt hatte, eine Armee zusammengestellt, aber was sie damit vorhatte, musste sich jeder selbst ausmalen. Claire hatte keine Ahnung.

Also umarmte sie zum Schluss Michael und sagte zu Sam, dass alles in Ordnung kommen würde; dann gingen sie.

»Wenn sie den ganzen Tag ruhig bleiben, lasse ich sie heute Abend laufen«, sagte Richard. »Aber ich mache mir Sorgen, wenn sie allein herumlaufen. Was Charles und den anderen zugestoßen ist, könnte wieder passieren. Früher war Captain Durchblick unsere größte Bedrohung, aber heute wissen wir nicht, wer da draußen ist und was er im Schilde führt. Und wir können uns im Moment nicht darauf verlassen, dass die Vampire in der Lage sind, auf sich selbst aufzupassen.«

»Meine Dad würde jetzt sagen, dass es Zeit wird, dass sich das Blatt wendet«, sagte Shane.

Richard starrte ihn lange an. »Würdest du das auch sagen?«

Shane schaute zu Michael und Sam zurück. »Nein«, sagte er. »Nicht mehr.«

***

Der Tag ging ruhig weiter. Claire holte ihre Bücher heraus und verbrachte einige Zeit mit dem Versuch zu studieren, aber ihre Gedanken hörten nicht auf zu kreisen. Alle paar Minuten checkte sie ihre E-Mails und ihr Handy in der Hoffnung auf irgendeine Nachricht von Amelie. Sie können uns nicht einfach so verlassen. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.

Außer immer weiterzugehen. Wie Shane gesagt hatte - es würde keinen Stillstand geben. Die Erde drehte sich weiter.

Am Nachmittag fuhr Eve Claire zum Haus ihrer Eltern, wo sie Kuchen aßen, Eistee tranken und sich den hektisch aufmunternden Redefluss ihrer Mutter anhörten. Ihr Dad sah fahl und unpässlich aus und wie immer machte sich Claire Sorgen um sein Herz. Aber er schien in Ordnung, als er sagte, dass er sie liebe und sich Sorgen mache und wolle, dass sie wieder bei ihnen einzog.

Gerade als sie gedacht hatte, das Thema wäre erledigt...

Claire wechselte einen raschen Blick mit Eve. »Vielleicht sollten wir darüber reden, wenn wieder alles normal ist?« Als wäre in Morganville jemals irgendetwas normal. »Nächste Woche?«

Dad nickte. »Na schön, aber ich werde meine Meinung nicht ändern, Claire. Du bist hier zu Hause besser aufgehoben.« Mit welchem Zauber Mr Bishop ihn auch immer belegt hatte, er wirkte weiterhin großartig; ihr Vater war noch immer unbeirrbar in seinem Wunsch, dass sie das Glass House verlassen sollte. Und vielleicht war es ja gar kein Zauber; vielleicht war es ganz normaler elterlicher Instinkt.

Claire stopfte sich den Mund mit Kuchen voll und tat so, als hätte sie es nicht gehört; stattdessen fragte sie ihre Mutter nach den neuen Vorhängen. Dabei vergingen weitere zwanzig Minuten und danach schaffte es Eve, eine Ausrede zu finden, weshalb sie nach Hause musste; endlich saßen sie im Auto.

»Wow«, sagte Eve und ließ den Motor an. »Also. Machst es? Zu ihnen ziehen?«

Claire zuckte hilflos die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich weiß ja nicht mal, ob wir den Tag überstehen! Es ist irgendwie schwierig, Pläne zu schmieden.« Sie wollte eigentlich nichts sagen, ehrlich, sie wollte es nicht, aber die Worte brodelten und arbeiteten schon den ganzen Tag in ihr, und als Eve anfuhr, sagte Claire: »Shane hat gesagt, dass er mich liebt.«

Eve bremste scharf, so heftig, dass ihre Sicherheitsgurte blockierten. »Shane hat was? Was hat er gesagt?«

»Shane hat gesagt, dass er mich liebt.«

»Okay, erster Eindruck - fantastisch, gut, ich hoffte, dass es das war, was du gesagt hattest.« Eve holte tief Luft, ließ die Bremse los und steuerte hinaus auf die verlassene Straße. »Zweiter Eindruck, na ja, ich hoffe, dass ihr beiden... ähm... wie soll ich sagen? Aufeinander aufpasst?«

»Du meinst, keinen Sex habt? Das werden wir nicht.« Claire sagte das ein wenig scharf. »Ich meine, er hat es versprochen und er wird dieses Versprechen nicht brechen, nicht einmal dann, wenn ich sage, dass es okay ist.«

»Oh. Oh.« Eve starrte sie mit großen Augen an - in Bezug auf die Verkehrssicherheit viel zu lang. »Das soll wohl ein Scherz sein! Warte, nein. Er sagte, dass er dich liebt, und dann sagte er...«

»Nein«, sagte Claire. »Er sagte Nein.«

»Oh.« Lustig, wie viele Bedeutungen dieses Wort annehmen konnte. Dieses Mal war es voller Sympathie. »Weißt du, dadurch wird er...«

»Großartig? Hammermäßig supertoll? Ja, ich weiß. Ich...«

Claire warf die Hände nach oben. »Ich will ihn einfach, okay?«

»In ein paar Monaten wird er auch noch da sein, Claire. Mit siebzehn ist man kein Kind mehr, zumindest nicht in Texas.«

»Du hast wohl schon darüber nachgedacht.«

»Ich nicht«, sagte Eve und schaute sie zaghaft an.

»Shane? Du meinst... du meinst, ihr habt darüber gesprochen? Du und Shane?«

»Er brauchte ein wenig weibliche Führung. Ich meine, er nimmt das wirklich ernst - sehr viel ernster, als ich erwartet hätte. Er möchte alles richtig machen. Cool, nicht wahr? Ich finde das cool. Bei den meisten Typen ist es nur - was auch immer.«

Claire presst so fest den Kiefer zusammen, dass die Zähne knirschten. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er mit dir darüber geredet hat!«

»Na ja, du redest doch auch mit mir darüber.«

»Er ist ein Kerl!«

»Ob du es glaubst oder nicht, gelegentlich reden Typen auch. Und zwar mehr als nur gib mir das Bier oder wo sind die Pornos.« Eve bog um die Ecke und sie fuhren langsam an ein paar Häuserblocks, ein paar Leuten, die draußen herumliefen, und an einer Grundschule mit dem Schild VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN vorbei. »Du hast mich zwar nicht um Ratschläge gebeten, aber ich gebe dir trotzdem einen: Überstürze es nicht. Vielleicht denkst du, dass du startklar bist, aber lass dir ein bisschen Zeit. Es ist ja nicht so, dass du ein Mindesthaltbarkeitsdatum hättest, das abläuft oder so.«

Trotz ihrer Verärgerung musste Claire lachen. »So fühlt es sich aber gerade an.«

»Du Dummkopf, das sind die Hormone!«

»Wie alt warst du eigentlich, als...«

»Zu jung. Ich spreche aus Erfahrung, du junger Hüpfer.« Eves Gesicht nahm einen Augenblick lang einen abwesenden Ausdruck an. »Ich wünschte, ich hätte auf Michael gewartet.«

Aus irgendwelchen Gründen war das schockierend und Claire blinzelte. Sie erinnerte sich da an ein paar Dinge und fühlte sich zutiefst unbehaglich. »Ähm... hat Brandon...?« Brandon war der Schutzpatron von Eves Familie gewesen, ein ganz fieser Typ von einem Vampir. Sie konnte sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als das erste Mal mit Brandon zu erleben.

»Nein. Nicht dass er nicht gewollt hätte, aber nein, es war nicht Brandon.«

»Wer dann?«

»Sorry, das ist tabu.«

Claire blinzelte. Es gab nicht viel, das für Eve tabu war. »Echt?«

»Echt.« Eve fuhr an die Seite. »Fazit? Wenn Shane sagt, dass er dich liebt, dann liebt er dich, Punkt. Er würde es nicht sagen, wenn er es nicht ganz und gar so meinen würde. Er ist nicht der Typ, der dir erzählt, was du gerne hören möchtest. Und da hast du ganz, ganz großes Glück. Daran solltest du immer denken.«

Claire versuchte es, wirklich, aber immer wieder erinnerte sie sich an diesen Augenblick, diesen gleißenden, glühenden Moment, als er sie angeschaut und diese Worte gesagt und sie dieses faszinierende Leuchten in seinen Augen wahrgenommen hatte. Sie wollte es noch einmal sehen, immer wieder. Stattdessen musste sie mit ansehen, wie er wegging.

Es fühlte sich romantisch an. Aber es war auch frustrierend, und zwar in einem Maße, wie sie es noch nie empfunden hatte -  soweit sie sich erinnerte zumindest. Und jetzt kam plötzlich noch etwas Neues hinzu: Zweifel. Vielleicht lag es an mir. Vielleicht hätte ich etwas tun sollen, das ich nicht getan habe. Irgendein Signal geben, das ich ihm nicht gegeben habe.

Eve interpretierte ihren Gesichtsausdruck genau richtig. »Alles wird gut«, sagte sie und lachte ein wenig. »Sei nachsichtig mit dem Jungen. Er ist der zweite richtige Gentleman, den ich je kennengelernt habe. Das heißt nicht, dass er dich nicht aufs Bett werfen und loslegen will. Das heißt nur, dass er es im Moment nicht tun wird. Und du musst zugeben, dass das irgendwie heiß ist.«

Wenn man es so betrachtete, war es das wirklich.

***

Als die Abenddämmerung einsetzte, rief Richard an, um mitzuteilen, dass er Michael gehen ließ. Zum zweiten Mal setzten sich die drei ins Auto und rasten zum Rathaus. Die meisten Absperrungen waren abgebaut. Laut Radio und Fernsehen war es ein sehr ruhiger Tag gewesen, ohne Meldungen von Ausschreitungen. Ladenbesitzer - zumindest die menschlichen - planten am Morgen wieder aufzumachen. An den Schulen würde Unterricht stattfinden.

Das Leben ging weiter und man erwartete, dass sich Bürgermeister Morrell mit einer Rede oder etwas Ähnlichem an die Öffentlichkeit wendete. Nicht, dass sich das irgendjemand anhören würde.

»Lassen sie auch Sam raus?«, fragte Eve, als sie in der Tiefgarage parkten.

»Anscheinend. Richard glaubt nicht, dass er noch irgendjemanden einfach so festhalten kann. Eine Art städtische Verordnung, was bedeutet, dass Recht und Ordnung wieder in Mode gekommen sind. Dazu kommt, dass er echt Angst hat, Sam könnte sich etwas antun, wenn es so weitergeht. Außerdem denkt er vielleicht, er kann Amelie finden, wenn er Sam verfolgt.« Eve beobachtete die finstere Tiefgarage - ein paar Wagen mit getönten Scheiben standen dort, aber eigentlich war das immer so. Die übrigen Autos sahen aus, als hätten sie menschliche Besitzer. »Seht ihr irgendwas?«

»Was zum Beispiel? Ein großes Schild, auf dem Das ist eine Falle steht?« Shane öffnete die Tür und stieg aus, wobei er Claires Hand nahm und ihr heraushalf. Selbst als sie bereits neben ihm stand, ließ er sie nicht los. »Nicht, dass ich es einigen unserer feinen Mitbürger nicht zutrauen würde. Aber nein, ich sehe nichts.«

Michael wurde gerade aus seiner Zelle entlassen, als sie ankamen, Hände wurden geschüttelt und man umarmte sich. Die anderen Vampire hatten niemanden, der ihnen half, und sahen ein wenig verwirrt aus, weil sie nicht wussten, was sie jetzt tun sollten.

Sam jedoch nicht.

»Sam, warte!« Michael packte seinen Großvater am Arm, als er an ihm vorbei wollte, und hielt ihn auf. Als sie so nebeneinanderstanden, war Claire wieder überrascht, wie sehr sie sich ähnlich sahen. Und sie würden sich ewig ähneln, nahm sie an, in Anbetracht der Tatsache, dass keiner von ihnen altern würde. »Du kannst dich nicht einfach allein davonmachen. Du weißt doch nicht einmal, wo sie steckt. Wenn du auf deinem weißen Ross durch die Stadt reitest, bringen sie dich mit tödlicher Gewissheit um.«

»Wenn ich nichts unternehme, wird sie umgebracht. Das ertrage ich nicht, Michael. Nichts von alldem bedeutet mir etwas, wenn sie stirbt.« Sam schüttelte Michaels Hand ab. »Ich bitte dich nicht darum mitzukommen. Ich bitte dich nur darum, mir nicht in die Quere zu kommen.«

»Großvater...«

»Eben. Tu, was man dir sagt.« Sam konnte sich in Vampirgeschwindigkeit bewegen, wenn er wollte; fast noch bevor seine Worte Claires Ohren erreichten, war er schon verschwunden - ein verschwommener Streifen, der zum Ausgang flitzte.

»So viel zu dem Thema, man könnte herausfinden, wo sie ist, indem man ihm folgt«, sagte Shane, »Es sei denn, unter der Motorhaube deines Autos schlummert Lichtgeschwindigkeit, Eve.«

Michael schaute Sam mit seltsamem Gesichtausdruck nach -  eine Mischung aus Wut, Bedauern und Sorge. Dann umarmte er Eve noch fester und küsste sie auf den Kopf.

»Nun, ich finde, meine Familie ist auch nicht verkorkster als andere«, sagte er.

Eve nickte. »Fassen wir zusammen. Mein Dad war ein prügelnder Mistkerl...«

»Meiner auch.« Shane hob die Hand.

»Danke. Mein Bruder ist ein psychotischer Verräter...«

Shane sagte: »Ganz zu schweigen von meinem Dad.«

»Ein Punkt für dich. Um es kurz zu machen, Michael, im Vergleich dazu ist deine Familie einfach umwerfend. Vielleicht sind sie Blutsauger. Aber ansonsten einfach umwerfend.«

Michael seufzte. »Im Moment fühlt es sich nicht gerade so an.«

»Das wird schon.« Eve wurde plötzlich sehr ernst. »Aber Shane und ich können sich nicht auf so was freuen, wie du weißt. Ihr seid jetzt unsere einzige wirkliche Familie.«

»Ich weiß«, sagte Michael. »Lasst uns nach Hause gehen.«