Lloyd schritt ruhelos die Breite der Brücke ab. Vor den Fenstern tobte der Sturm mit entfesselter Gewalt, aber er sah gar nicht mehr hin. Noch nie im Leben hatte ihm etwas solche Angst gemacht. Was sich da draußen abspielte, hatte kaum noch etwas mit der gängigen Vorstellung von Meer und Wasser zu tun, es erinnerte eher an eine von Erdbeben erschütterte Gebirgslandschaft. Es war ihm ein Rätsel, wie die Rolvaag diesen Gewalten trotzen konnte – und das galt nicht nur für ihr Schiff, sondern für jedes andere. Doch die Rolvaag stampfte und schlingerte unbeirrbar weiter gen Süden. Es war schwierig und kraftraubend, auf der Brücke auf und ab zu gehen, aber er brauchte diese physische Anstrengung, sie lenkte ihn ab. Seit einer geschlagenen Stunde, seit Glinn die Brücke ohne irgendeine Erklärung verlassen hatte, tigerte er schon so hin und her. Es machte ihn krank, dass das Glück sie urplötzlich verlassen und die Stimmung sich so jäh verändert hatte. Dazu kam das unerträgliche Wechselbad der Gefühle während der letzten zwölf Stunden: erst der vermeintliche Triumph, dann der Eklat mit Glinn und schließlich nur noch das lähmende Gefühl, so etwas wie ein Kaninchen vor der Schlange zu sein. Er ließ den Blick über die anwesenden Offiziere schweifen. Am liebsten hätte er jeden Einzelnen an den Schultern gepackt, um eine Antwort aus ihm herauszuschütteln. Aber sie hatten ihm ja schon alles gesagt, was sie wussten: dass ihnen noch zwei Stunden blieben, bis sie in Reichweite der Waffen der Ramirez gelangten. Er hatte das Gefühl, sich vor Wut innerlich zu verkrampfen. Alles war Glinns Schuld. Seine Arroganz hatte ihnen das eingebrockt. Der Mann gefiel sich darin, stundenlang Optionen gegeneinander abzuwägen, und hielt sich dabei natürlich für unfehlbar. »Denk lange genug nach, dann wird dir schon was Abartiges einfallen«, hatte einmal jemand gesagt. Wenn Glinn ihm nicht strikt verboten hätte, rechtzeitig da und dort eine alte Dankesschuld einzufordern, wären sie gar nicht erst in diese missliche Lage geraten. Nun bekamen sie die Quittung. Sie saßen in der Falle. Die Tür der Brücke wurde geöffnet, Glinn trat ein und nickte freundlich nach allen Seiten. Diese Nonchalance gab Lloyd den Rest. »Himmeldonnerwetter noch mal, Glinn, wo, zum Teufel, haben Sie denn so lange gesteckt?« Glinn wandte sich zu ihm um. »Ich habe Vallenars Akte studiert. Ich weiß jetzt, was ihn umtreibt.« »Mein Gott, wen interessiert schon, was ihn umtreibt? Er treibt uns vor sich her, genau auf die Antarktis zu.« »Timmer war Vallenars Sohn.« Lloyd stutzte. »Timmer? Der Mann, der bei der Explosion im Tunnel getötet wurde? Das ist absurd. Er soll doch, wie ich gehört habe, blondes Haar und blaue Augen gehabt haben.« »Vallenar hat ihn mit seiner deutschen Geliebten gezeugt.« »Ist das wieder so eine Ihrer Vermutungen oder haben Sie diesmal Beweise?« »Über einen Sohn steht nichts in der Akte, aber es ist die einzig mögliche Erklärung. Deshalb lag ihm so viel an ihm. Und deshalb ist er auch anfangs davor zurückgeschreckt, uns unter Beschuss zu nehmen. Ich hatte ihm erzählt, Timmer säße in unserer Arrestzelle. Aber als wir dann abgelegt hatten, wusste er, dass Timmer tot sein musste. Ich nehme an, er glaubt, dass wir ihn ermordet haben. Deshalb hat er uns bis in internationale Gewässer verfolgt. Und deshalb wird er, so lange er lebt, nie Ruhe geben. Oder, wenn Sie so wollen: solange wir leben.« Die Wut war verflogen, Lloyd fühlte sich erschöpft. Ausgelaugt und niedergeschlagen. Sich jetzt noch aufzuregen war sinnlos. Und so klang seine Stimme recht beherrscht, als er fragte: »Und was nützen uns diese psychologischen Erkenntnisse, wenn Sie uns das freundlicherweise verraten wollen?« Statt zu antworten, erkundigte sich Glinn bei Captain Britton: »Wie weit sind wir noch von der Eisgrenze entfernt?« »Sie beginnt siebenundsiebzig Seemeilen südlich unserer Position.« »Können Sie auf dem Radar das Eis bereits erkennen?« Britton wandte sich stumm an Howell. Der Erste Offizier sagte: »Etwas Treibeis, zehn Seemeilen voraus. Und einige kleine Eisberge. Weiter südlich, hart an der Grenze des Eisgürtels, zeigt das Langstreckenradar eine große Eisinsel an. Das heißt, sie scheint auseinander gebrochen zu sein. Dem Radarbild nach handelt es sich um zwei Eisinseln mit einer schmalen Fahrrinne dazwischen.« »Kurs?« »Eins-neun-eins.« Glinn sagte: »Dann schlage ich vor, dass wir darauf zu halten. Drehen Sie sehr langsam bei, dann dauert es eine Zeitlang, bis Vallenar die Kursänderung bemerkt. Dadurch gewinnen wir vielleicht ein, zwei Meilen.« Howell sah Captain Britton fragend an. Sie wandte sich zu Glinn um. »Ein so großes Schiff wie dieses über die Eisgrenze hinaus zu steuern, und das auch noch bei diesem Wetter, ist Selbstmord.« »Es gibt gute Gründe dafür«, erwiderte Glinn. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns zu erklären, welche das genau sind?«, fragte Lloyd scharf. »Oder wollen Sie uns weiter im Dunkeln lassen? Vielleicht wären wir gemeinsam zu besseren Entscheidungen gekommen.« Glinn sah ihn lange an, dann huschte sein Blick zu Britton und Howell hinüber. »Das muss ich zugeben«, meinte er, »uns bleiben jetzt noch zwei Möglichkeiten: abdrehen und versuchen, den Zerstörer abzuhängen, oder unseren Kurs beibehalten, die Eisgrenze überschreiten und darauf hoffen, dass der Zerstörer uns verliert. Die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns liegt bei der ersten Option bei fast hundert Prozent, bei der zweiten Option ist sie etwas geringer. Zudem hat die zweite Option den Vorteil, dass wir den Zerstörer zwingen, uns in schwere See zu folgen.« Lloyd runzelte die Stirn. »Was ist das eigentlich – diese Eisgrenze?« »Der Breitengrad, an dem das eistragende Wasser rings um die Antarktis auf das wärmere des Atlantiks und Pazifiks trifft. Die Wissenschaft spricht von der antarktischen Annäherung. Eine Region, die für ihre undurchdringlichen Nebelbänke und gefährliche Eisinseln berüchtigt ist.« »Und Sie schlagen vor, die Rolvaag in so eine Region zu steuern? Das hört sich in der Tat nach Selbstmord an.« »Was wir jetzt brauchen, ist eine Verschleierungstaktik, die uns einen so großen Vorsprung verschafft, dass wir versuchen können, dem Zerstörer im Schutz der Dunkelheit, des Eises und des Nebels auf neuem Kurs zu entkommen.« »Wir könnten dabei aber auch absaufen, oder?« »Die Wahrscheinlichkeit, einen Eisberg zu rammen, ist geringer als die, von dem Zerstörer versenkt zu werden.« »Und wenn es keinen Nebel gibt?«, wandte Howell ein. »Dann haben wir ein Problem.« Langes Schweigen lastete über der Brücke, bis Britton in entschlossenem Ton sagte: »Mr. Howell, setzen Sie als neuen Kurs eins-neun-null. Und achten Sie drauf, den Bug sehr langsam herumzubringen.« Howell schien für den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, dann gab er die Weisung an den Rudergänger weiter. Aber sein Blick ruhte starr auf Glinn.

 

Rolvaag

14.00 Uhr

McFarlane rutschte seufzend auf dem unbequemen Plastikstuhl nach hinten und rieb sich die Augen. Rachel saß neben ihm, knackte Erdnüsse und ließ die Schalen auf den Metallboden der Überwachungsplattform fallen. Der Zentraltank war eine riesige, in Dunkel gehüllte Höhle; das einzige Licht kam von den Monitoren über ihnen. »Wird dir das nicht langsam zu langweilig, dauernd diese blöden Erdnüsse auszupellen?«, fragte er. Rachel schien einen Moment darüber nachzudenken, dann sagte sie lapidar: »Nö, eigentlich nicht.« Sie verfielen wieder in Schweigen. McFarlane merkte, dass die nagenden Kopfschmerzen und das flaue Gefühl in der Magengegend immer schlimmer wurden. Er schloss die Augen. Und genau in diesem Moment wurde das Schlingern und Rollen noch stärker. Er hörte das leise Klicken von Metall und ein konstantes Sickergeräusch. Ansonsten war es in dem großen hohlen Tankraum, der unter ihnen gähnte, geradezu unheimlich still. Er zwang sich, die Augen zu öffnen. »Lass es noch mal durchlaufen«, bat er Rachel. Sie seufzte. »Liebe Güte, wir haben es uns doch schon fünfmal angesehen.« Aber dann drückte sie doch mit einem ärgerlichen Knurren die Wiedergabetaste.Nur eine der drei Überwachungskameras im Tankraum hatte die Explosion überlebt. Rachel ließ das Band im Schnelllauf abspulen und schaltete dann eine Minute vor der Detonation auf die normale Wiedergabegeschwindigkeit um. Nichts Neues. Garza hatte Recht, niemand hatte den Meteoriten angefasst, keiner der Männer war auch nur in seine Nähe gekommen. McFarlane lehnte sich leise fluchend zurück und suchte die Umgebung der Beobachtungsplattform ab, als könne er dort eine Erklärung finden – die Stahlwände, den Laufsteg ... Schließlich richtete er den Blick nach unten, auf den Meteoriten. Die Explosion hatte die Laufstege rund um die Halterung, die meisten Lichter im Tankraum und die Kommunikationsverbindungen zur Brücke zerstört, der Laufsteg unter den Ladeklappen und die Beobachtungsplattform waren unbeschädigt geblieben. Das Stahlnetz, mit dem der Meteorit in seiner Halterung gesichert war, sah von hier oben im Großen und Ganzen intakt aus, obwohl davon auszugehen war, dass die eine oder andere Verknüpfung defekt sein musste. Auf den Wänden des Tanks waren deutlich die Spritzer zu erkennen, die von geschmolzenem Metall stammten, und da und dort waren an den Eichenholzverstrebungen Beschädigungen auszumachen. Nur der Meteorit selbst schaute aus wie immer. Welches Geheimnis verbirgt er uns?, fragte sich McFarlane. Was haben wir bisher übersehen? »Gehen wir noch mal durch, was wir wissen«, sagte er. »Alles scheint sich genauso abgespielt zu haben wie bei der Explosion, bei der Timmer umgekommen ist.« »Abgesehen davon, dass sie vermutlich noch stärker war«, meinte Rachel. »Eine gewaltige elektrische Entladung. Wir können von Glück sagen, dass nicht die gesamte Elektronik des Schiffs ausgefallen ist. Ich nehme an, der viele Stahl rund um den Meteoriten hat die meiste Energie absorbiert.« »Und anschließend hat er jede Menge Funkwellen ausgestrahlt«, ergänzte McFarlane, »genau wie bei Timmer.« Rachel schaltete ihr Handfunkgerät ein, verzog das Gesicht, als sie das starke statische Rauschen hörte, und schaltete das Gerät wieder aus. »Was er offensichtlich immer noch tut«, stellte sie fest. Wieder saßen sie schweigend da. »Ich frage mich, ob sich überhaupt etwas ereignet haben muss, um diese Explosion auszulösen«, überlegte Rachel halblaut, während sie das Band zurücklaufen ließ. »Vielleicht war es ja Zufall.« McFarlane sagte nichts. Einen Zufall schloss er aus, irgendetwas musste der Auslöser gewesen sein. Und Garzas düsterer Prophezeiung, der Nervosität der Mannschaft und allen kursierenden Gerüchten zum Trotz: Der rote Felsbrocken dort unten war kein denkendes, bösartiges Wesen, das ihnen vorsätzlich Schaden zufügen wollte. Er fragte sich, ob Masangkay und Timmer ihn womöglich gar nicht angefasst hatten. Die Explosionen konnten ja auch eine andere Ursache gehabt haben. Aber halt – er hatte das nicht bis zu Ende durchgedacht. Der Schlüssel zur Auflösung des Rätsels war die Sache mit Palmer Lloyd. Der hatte die Wange auf den Meteoriten gelegt und war trotzdem mit dem Leben davongekommen, während es Masangkay und Timmer erwischt hatte. Warum? Was war der Unterschied zwischen einem Hautkontakt mit der Wange und dem mit der Hand? Er rutschte auf seinem Stuhl ein Stück nach vorn. »Sehen wir’s uns noch mal an.« Rachel drückte wortlos die Starttaste. Die unzerstört gebliebene Kamera war hoch über dem Meteoriten aufgehängt, knapp unterhalb der Beobachtungsplattform. Sie sahen Garza seitlich der Halterung stehen, das zusammengerollte Schweißdiagramm in der Hand. Die Männer des Schweißtrupps, in regelmäßigen Abständen rund um den Meteoriten verteilt, arbeiteten kniend an verschiedenen Schweißnähten, der grelle weiße Flammenstrahl ihrer Geräte zeichnete sich auf dem Bildschirm als roter Fleck ab. Am rechten unteren Rand des Videos lief die Zeitanzeige mit. »Dreh mal die Lautstärke höher«, bat er Rachel. Verdammt, wenn bloß diese schrecklichen Kopfschmerzen nicht wären! Und dieser grässliche Aufruhr im Magen! Typisch Seekrankheit. Plötzlich tönte Garzas Stimme: »Wie läuft’s bei euch?« Und kurz darauf die Antwort: »Fast fertig.« Danach folgte Stille. Hier und da ein trockenes Popp, wenn ein Schweißbrenner abgestellt wurde. Und ein Hintergrundgeräusch: tropfendes Wasser. Dann knackte und ächzte es im Rumpf, das Schiff bäumte sich steil auf. Schließlich noch einmal Garzas Stimme: »Festhalten, Leute!« Und das war’s, danach kamen nur noch Rauschen und Schnee auf dem Bildschirm. McFarlane beugte sich vor. »Zehn Sekunden zurück.« Das Band lief zurück. »Die Explosion hat sich exakt in dem Augenblick ereignet, als der Schiffsrumpf auf dem Scheitelpunkt dieser riesigen Welle war«, sagte Rachel. McFarlane nickte. »Ja, aber Garza hat Recht: Der Meteorit ist über eine so weite Strecke transportiert und immer wieder hochgehoben und abgesenkt worden, ohne dass je etwas passiert ist.« Dann fiel ihm ein: »Könnte es sein, dass sich einer der Männer hinter dem Meteoriten aufgehalten hat? An einer Stelle, an der er von der Kamera nicht erfasst wurde?« »Daran habe ich auch schon gedacht. Aber der Schweißtrupp bestand aus Garza und sechs Männern. In der letzten Einstellung sind alle zu sehen – vollzählig, es fehlt keiner.« McFarlane stützte das Kinn in die Hand. Etwas machte ihn bei dem Video unruhig, er kam nur nicht dahinter, was es war. Aber vielleicht war er auch nur zu müde, und alles war Einbildung. Rachel reckte sich und schnippte sich ein paar Erdnussschalen von den Knien. »Tja«, sagte sie, »da sitzen wir hier herum und versuchen schlauer zu sein als Garza. Aber wenn nun alles in bester Ordnung ist?« McFarlane sah sie verdutzt an. »Ich meine«, fuhr Rachel fort, »wenn tatsächlich niemand den Meteoriten berührt hat? Wenn er mit etwas ganz anderem in Berührung gekommen ist?« »Mit etwas anderem?«, wiederholte McFarlane. »Aber ich habe auf dem Video nichts gesehen. Da war sonst nichts, der Tankraum war völlig ...« Er brach abrupt ab. Plötzlich wurde ihm klar, was ihn bei dem Video irritiert hatte: das ständige Hintergrundgeräusch von sickerndem Wasser. »Noch mal die letzten sechzig Sekunden bitte«, sagte er, »schnell.« Er starrte auf das Videobild und versuchte herauszufinden, woher das Geräusch kam. Da war es: ganz schwach. Es musste von oben kommen, von der Wand des Tankraums. Wie leises Tropfen. Wenn der Tanker heftig zu schlingern anfing, was passierte dann mit Sickerwasser? Es wurde durch die jähe Bewegung von der Außenwand weg katapultiert und ... »Wasser«, sagte er laut. Rachel sah ihn stirnrunzelnd an. »An der Stahlwand des Tankraums ist ständig Wasser nach unten gesickert. Wahrscheinlich durch ein winziges Leck in den Ladeklappen. Guck mal, da drüben kannst du’s selber sehen.« Er deutete auf eine schmale feuchte Spur an der Wand. »Die Explosion wurde ausgelöst, als das Wasser in Kontakt mit dem Meteoriten gekommen ist.« »Das ist ausgeschlossen. Er hat Millionen Jahre in der Erde gelegen, und die war wer weiß wie oft triefnass, durchtränkt von Regen oder Schnee. Er verhält sich ausgesprochen reaktionsträge. Wieso soll er dann in bestimmten Fällen mit Wasser reagiert haben?« »Ich weiß es nicht. Aber schau’s dir selber an.« McFarlane ließ das Band zurücklaufen, um Rachel zu demonstrieren, dass die Explosion genau in dem Augenblick stattgefunden hatte, als durch die Schlingerbewegung des Schiffes Wassertropfen von der Wand auf den Meteoriten geschleudert worden waren. Rachel schüttelte den Kopf. »Was soll bei diesen Wassertropfen anders sein als bei all dem Wasser, mit dem der Bursche vorher in Berührung gekommen ist?« Und in dem Moment wurde es McFarlane klar, es war wie eine Eingebung. »Salz«, sagte er. »Das Wasser, das in den Tankraum sickert, ist Salzwasser.« Rachel schnappte verdutzt nach Luft. »Das ist es! Und das erklärt auch, warum Masangkay und Timmer durch den Hautkontakt mit ihren Händen die Explosion ausgelöst haben. Ihre Hände waren verschwitzt, und Schweiß ist salzhaltig. Als Lloyd die Wange auf den Meteoriten gelegt hat, war es bitterkalt, er hatte also mit Sicherheit keine verschwitzte Wange. Der Meteorit muss mit Natriumchlorid reagieren. Aber wieso? Es geht doch nur um eine Kochsalzlösung?« McFarlane sah sie an, dann richtete er den Blick an ihr vorbei auf das dünne Rinnsal Seewasser, das an der Stahlwand herunterrann, den Schlingerbewegungen des Tankers folgte und sich mal ein Stück nach links, mal ein paar Millimeter nach rechts verschob. Im Rhythmus der Schlingerbewegungen des Schiffes ... »Darüber können wir uns später den Kopfzerbrechen«, sagte er, griff nach seinem Funkgerät und schaltete es ein. Aber das Einzige, was er hörte, war das bekannte Rauschen. »Herrgott noch mal!«, schimpfte er, schaltete das Gerät aus und schob es sich wieder in den Gürtel. »Komm, Rachel, wir müssen hier raus! Schnell, sonst werden wir beim nächsten Wellenberg lebendig gebraten.« Er stand auf, fasste sie am Arm und wollte sie mit sich ziehen. »Wir können hier nicht weg«, protestierte sie. »Wenn es wieder zu einer Explosion kommt, sprengt sie vielleicht das Sicherungsnetz. Und wenn der Meteorit sich aus der Halterung löst, bedeutet das für uns alle den sicheren Tod.« »Gerade deshalb müssen wir dafür sorgen, dass er gegen Meerwasser geschützt wird.« Einen Augenblick lang standen sie da und starrten sich an. Dann fuhren sie, wie vom selben Gedanken getrieben, herum und rannten den Laufsteg hinunter, auf den Tunnel zu, der aus dem Tankraum führte.

 

AImirante Ramirez

14.45 Uhr

Vallenar stand auf der Brücke und blickte, sein altes Fernglas in der Hand, nach Süden auf die schwere See. Seine Offiziere hatten Mühe, sich bei dem wilden Schlingern und Rollen des Schiffes auf den Beinen zu halten. Ihre Gesichter erinnerten an unbewegte steinerne Masken. Sie hatten Angst. Jetzt zahlte sich seine harte Hand aus, mit der er ihnen Disziplin eingebläut hatte. Santander war die Probe aufs Exempel gewesen, wer überlebt hatte, stand auf seiner Seite. Diese Männer würden ihm durch dick und dünn folgen, nötigenfalls sogar in die Hölle. Und das, dachte er nach einem Blick auf die Karte, war genau der Ort, dem sie immer näher kamen. Das Schneetreiben und die Graupelschauer hatten aufgehört, der Himmel klarte auf, die Sicht war ausgezeichnet. Der Wind hatte allerdings noch an Stärke zugenommen, die Wellenberge türmten sich höher und höher. Wenn das Schiff in ein Wellental fiel, wurde es von völliger Dunkelheit eingehüllt. Links und rechts ragten schwarze Wasserwände auf, manchmal bis zu zwanzig Meter, man konnte meinen, das Schiff sei auf den Grund eines dunklen Canons geschleudert worden. Er hatte noch nie eine so entfesselte See erlebt, und die zunehmend klarere Sicht – so gut sie in seine Pläne passte – machte alles noch unheimlicher. Normalerweise hätte er mit dem Bug die Wellen gepflügt, um den Sturm abzuwettern, aber das ging in diesem Fall nicht. Er musste den Kurs beibehalten und die tobende See nahezu breitseits nehmen, sonst würde ihm der viel schwerere amerikanische Tanker entkommen. Vallenar kannte sein Schiff, er wusste, was es aushielt und was nicht. Er hatte ein Gespür dafür, wann Wind und Wellen zu stark wurden. Davon konnte, zumindest im Augenblick, noch keine Rede sein. Dennoch bedurfte es ständiger Wachsamkeit und großer seemännischer Erfahrung, um ein Schiff bei diesem Sturm vor dem Kentern zu bewahren. Aber deshalb hatte er ja das Kommando auf der Brücke persönlich übernommen. In der Ferne sah er einen schäumenden Wellenberg, höher als alle anderen, auf sie zukommen. In aller Ruhe, ohne auch nur die geringste Hast erkennen zu lassen, wies er den Rudergänger an: »Ruder leicht links, Steuerbordmaschine ein Drittel, Backbordmaschine zwei Drittel voraus. Geben Sie mir laufend den Kurs an.« »Schiff driftet leicht ab«, meldete Aller. »Kurs eins-sieben-fünf, jetzt eins-sieben-null ...« »Eins-sechs-fünf halten.« Die Welle schickte sich an, das Schiff zu umklammern. Der Bug hob sich, stieg steil in die Höhe und neigte sich seitwärts. Als die Schräglage stärker wurde – der Inklinationskompass zeigte fast dreißig Grad an –, musste auch Vallenar nach Halt suchen, bis der Zerstörer den Kamm der Welle erklommen hatte. Sekundenlang bot sich ihm ein fantastischer Blick – quer über den Ozean, bis zum Horizont. Er hielt sich das Fernglas vor die Augen, um das Meer abzusuchen, ehe das Schiff in das nächste Wellental stürzte. Ein atemberaubendes Panorama aus steil aufragenden Gipfeln und unergründlich tiefen Tälern – eine chaotische Wasserlandschaft, so weit das Auge reichte. Sekundenlang bedrückte ihn die entnervende Erkenntnis der eigenen Endlichkeit, aber als das Schiff in den nächsten Abgrund fiel, ließ die Beklemmung nach. Er wartete, immer noch den Feldstecher vor den Augen, auf den nahenden Brecher. Und plötzlich stockte ihm der Atem: Da waren sie – nur eine dunkle Silhouette vor dem hellen Horizont, größer und näher, als er geglaubt hatte. Er konnte den Blick nicht abwenden. Der Tanker versank in der wilden See, tauchte aber gleich darauf wieder auf. Wie ein Fabelwesen, das über die Schaumkronen eines Wasserbergs ritt.

»Steuerbordmaschine ein Drittel zurück, Ruder hart rechts, Kurs eins-acht-null halten.« Wieder hob sich die Ramirez, das Deck kippte zur Steuerbordseite. »Treibstoffvorrat?« »Dreißig Prozent.« Er wandte sich an seinen Ingeniero de guardia, den wachhabenden Schiffsingenieur: »Ballast aufnehmen.« Die leeren Tankkammern mit Meerwasser aufzufüllen würde sie einen halben Knoten Fahrt kosten, ihnen aber die Stabilität geben, die sie in wenigen Minuten dringend brauchten. »Ballast in die Tankkammern«, bestätigte der Schiffsingenieur, sichtlich erleichtert. »Barometer?«, fragte Vallenar den Quartiermeister. »Knapp über minus drei, weiter fallend.« Er rief den Gefechtsoffizier auf die Brücke. »Wir haben Blickkontakt mit dem amerikanischen Schiff«, sagte er und drückte ihm das Fernglas in die Hand. Der Offizier stellte die Sehschärfe nach und bestätigte einen Augenblick später: »Ja, Sir, ich sehe es.« »Hält Kurs eins-neun-null«, sagte Vallenar und wies den Decksoffizier an: »Berechnen Sie unseren Kurs, wenn wir den Tanker abfangen und auf kurze Distanz unter Beschuss nehmen wollen.« Die Befehle wurden weitergeleitet, die Rückmeldungen kamen

– alles routiniert und militärisch knapp und präzise, wie Vallenar mit Befriedigung feststellte. Er wandte sich wieder an den Gefechtsoffizier. »Meldung, sobald sie in Reichweite unserer Geschütze sind. Feuer erst auf meinen Befehl eröffnen.« Der Zerstörer bäumte sich auf, als er die nächste haushohe Welle nahm, dann kippte er mit dem Bug in das nächste tiefe Wellental – das schlürfende Geräusch hörte sich an, als wolle die entfesselte See das Schiff verschlingen. Das Deck krängte nach Steuerbord, der Bug gierte unkontrolliert querab. »Das Schiff läuft aus dem Kurs, Sir!« »Mit dem Ruder unterstützen. Kurs halten!« Gerade als das Schiff sich etwas stabilisiert hatte, sah Vallenar von Westen einen tigre auf sie zukommen. »Ruder nachgeben! Nachgeben!« Die Ramirez erklomm taumelnd den Kamm der Riesenwelle. Als sie brach, ergoss sich ein Schwall Wasser mit solcher Gewalt über das Oberdeck, dass sogar die Brücke geflutet wurde. »Ruder hart rechts!« Das Schiff scherte seitlich aus. »Ruder greift nicht mehr, Sir!«, schrie der Rudergänger. Das Ruder drehte sich locker in seinen Händen, der starke Seegang musste es aus dem Wasser gehoben haben. »Backbordmaschine zwei Drittel zurück, Steuerbordmaschine volle Kraft voraus!« Der Decksoffizier versuchte, den Befehl über den Maschinentelegrafen weiterzuleiten. »Ruder und Maschinen reagieren nicht, Sir!« Das Schiff gierte weiter querab. Vallenar überkam ein Anflug von Angst – nicht um sich und sein Leben, sondern weil er seine Mission noch nicht erfüllt hatte. Aber dann spürte er, wie sich das Heck des Schiffes senkte und Schrauben und Ruder wieder ins Wasser eintauchten. Er atmete tief durch, dann beugte er sich, als wäre nichts geschehen, über den Trichter der Sprechanlage und fragte die Radarwache: »Irgendwelche Luftkontakte?« Dass andere Schiffe dem Tanker zu Hilfe eilten, konnte er ausschließen, bei einem Flugzeug war er sich nicht so sicher. »Kein Luftkontakt im Umkreis von dreihundert Kilometern«, meldete die Radarwache. »Aber südlich voraus Eis.« »Was für Eis?« »Zwei große Eisinseln, etwas Treibeis und mehrere kleine Eisberge, Sir.« Sie laufen direkt ins Eis, dachte Vallenar mit grimmiger Genugtuung. Niemand steuerte einen Tanker bei diesem Wetter freiwillig auf die Eisgrenze zu, es sei denn, er sah keine andere Möglichkeit mehr. Aber es war eben der einzige Fluchtweg, den er ihnen gelassen hatte. Sie taten genau das, was er erwartet hatte. Vielleicht hofften sie, sie könnten sich zwischen den Eisbergen verstecken, um später im Schutz der Dunkelheit zu entkommen. Aber daraus wurde nichts. Im Gegenteil, der schwere Seegang würde südlich der Eisgrenze abebben, und das war sein Vorteil, denn im Eis konnte der Zerstörer seine höhere Wendigkeit ausspielen. Dort unten wollte er ihnen den Todesstoß versetzen. Es sei denn, das Eis kam ihm zuvor. »Tanker kommt in die Reichweite unserer Waffen«, meldete der Gefechtsoffizier. Vallenar ließ den Blick über den vom Sturm gepeitschten Ozean schweifen. Er konnte das amerikanische Schiff jetzt schon mit bloßem Auge als dunklen Fleck in der Wasserwüste ausmachen. Es war ungefähr acht Seemeilen entfernt, gab aber sogar auf diese Distanz ein schönes, lohnendes Ziel ab. »Reicht die Sicht für gezieltes Feuer?«, fragte er. »Noch nicht, Sir. Visuelle Zielerfassung ist bei dieser See und auf die Entfernung extrem schwierig.« »Dann warten wir, bis wir näher heran sind.« Die Minuten rannen dahin, doch kamen sie dem Tanker stetig näher. Der Himmel verdunkelte sich bereits, nicht mehr lange, und die Sonne ging unter. Der Sturm fegte noch immer mit acht Knoten. Vallenar spürte die innere Anspannung der Männer auf der Brücke: die unterschwellige alte Angst. Er dagegen blieb kühl bis ins Herz. Von Zeit zu Zeit gab er mit ruhiger, fester Stimme Anweisungen an den Rudergänger oder den Maschinenraum. Die behelfsmäßigen Reparaturen am Ruder und an den Schrauben hielten hervorragend. Seine Männer hatten gute Arbeit geleistet. Ein Jammer, dass so viele dabei umgekommen waren. Die Nacht senkte sich über den Ozean, die Rolvaag fuhr mit gelöschten Lichtern. Er konnte nicht länger warten. »Señor Casseo, einschließen auf das Ziel. Leuchtspurgranaten – Abstandszünder.« »Aye, Sir«, bestätigte der Gefechtsoffizier, »Leuchtspur laden, Abstandszünder.«

Vallenar richtete den Blick auf die vorderen Geschütztürme. Er wartete ungeduldig. Und endlich sah er, wie sie sich drehten, wie die Geschützrohre sich etwa fünfundvierzig Grad hoben und schließlich – zeitlich leicht versetzt – zwei Granaten abfeuerten. Flammen züngelten um die Rohre, die Brücke wurde von der Wucht des Rückstoßes erschüttert. Vallenar hob das Glas und verfolgte, wie die Leuchtspur in einem leichten Bogen in den Himmel stieg. Zwei Fehlschüsse, zu kurz, weit hinter das Heck des Ice Ship. Der Zerstörer tauchte in ein Wellental ein, dann hob er sich wieder. Als er den höchsten Punkt erreicht hatte, feuerten die beiden Buggeschütze erneut. Diesmal lag das Feuer besser, wenngleich noch immer zu kurz. Ein paar Minuten ging das so weiter, dann meldete der Gefechtsoffizier: »Comandante, wir haben uns eingegabelt. Ich glaube, wir können das Ziel jetzt unter Feuer nehmen.« »Sehr gut. Wirkungsfeuer. Aber ich möchte den Tanker nur manövrierunfähig schießen, er soll Fahrt verlieren, ohne zu sinken, Señor Casseo. Den Gnadenstoß geben wir ihm, wenn wir dichter heran sind.« Stille, offensichtlich hatte es dem Gefechtsoffizier die Sprache verschlagen. Schließlich sagte er mit kehliger Stimme: »Ja, Sir.« Als sie auf dem Kamm der nächsten Welle waren, brachen wieder zwei Schüsse. Vallenar hörte die Granaten heulen und sah, wie die beiden todbringenden orangefarbenen Bogen sich ihren Weg gen Süden bahnten.

 

Rolvaag,

15.30 Uhr

McFarlane lehnte sich an die Stahlrückwand der Beobachtungsplattform und ließ sich, obwohl es nur ein, zwei Schritte bis zum Plastikstuhl gewesen wären, einfach auf den Boden rutschen. Er war fix und fertig. Seine Beine fühlten sich bleiern schwer an, und in seinen Oberarmen zwickten mehr Muskeln, als er je dort vermutet hätte. Er merkte, dass Rachel sich neben ihn fallen ließ, war aber so zerschlagen, dass er nicht einmal den Kopf hob. Ohne Funkverbindung zur Brücke und ohne Zeit, Hilfe zu holen, waren sie gezwungen gewesen, sich selbst eine Lösung einfallen zu lassen. Und im Tunnel, hinter den verriegelten Türen der Metallspinde, hatten sie schnell gefunden, was sie brauchten: Dutzende sauber gestapelter, wasserdichter Planen. Und dann hatten sie eine halbe Stunde lang geschuftet wie die Berserker, immer die Angst im Nacken, dass es eine neue Explosion geben könne. McFarlane hakte sein Funkgerät los. Als er merkte, dass die Verbindung immer noch tot war, steckte er es achselzuckend wieder weg. Dann erfuhr Glinn eben erst später, was hier los war. Die Vorstellung, dass Britton, Glinn und die anderen die ganze Zeit über auf der Brücke ihrer Arbeit nachgegangen waren, ohne auch nur zu ahnen, was sich ein paar Decks unter ihnen zusammenbraute, kam ihm regelrecht absurd vor. Er fragte sich, wie es oben wohl aussehen mochte. Der Sturm war offensichtlich stärker geworden. Er spürte inzwischen, flach auf dem Boden liegend, jede Schlingerbewegung des Schiffes in den Knochen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Sickerwasser wieder von der Stahlwand des Tanks weggedrückt wurde und sich abermals ein Sprühregen feiner Tropfen über den Meteoriten ergießen würde. Rachel lag stumm neben ihm. Er sah, wie sie in die Brusttasche ihres Shirts griff, eine schmale Schmuckschatulle herauszog, sie aufklappte und die beiden CD-ROMs, die darin lagen, mit einem fast verklärten Blick betrachtete. Dann klappte sie die Schatulle wieder zu und steckte sie weg. »Die hatte ich in dem Tohuwabohu fast vergessen«, erklärte sie ihm. »Aber zum Glück sind sie heil geblieben.« »Was ist das denn?«, fragte er. »Auf die habe ich, bevor wir die Insel verlassen haben, sämtliche Daten von unseren Meteoritentests überspielt. Ich will sie mir später noch mal in Ruhe ansehen. Das heißt, falls wir das Abenteuer lebend überstehen.« McFarlane sagte nichts. »Er muss eine interne Energiequelle haben«, grübelte sie laut vor sich hin, »sonst könnte er nicht derart starke Stromstöße abgeben. Wenn er lediglich ein Kondensator wäre, wäre seine Energie im Laufe von Jahrmillionen längst verpufft. Da dem nicht so ist, muss er sie ständig neu erzeugen – in seinem Inneren.« Sie klopfte sich mit der flachen Hand auf die Hemdtasche. »Die Antwort steckt irgendwo in diesen Daten.« »Mich interessiert mehr, aus welcher Umgebung er kommt«, sagte McFarlane. »Ich meine, dass das Ding ausgerechnet auf Salzwasser so stark reagiert, ist doch merkwürdig, oder?« Er seufzte. »Ach, lass uns den verdammten Felsbrocken für eine Weile vergessen.« Sie sah ihn an. »Das ist ja gerade das Problem. Vielleicht ist es gar kein Felsbrocken.« »Komm mir nicht wieder mit deiner Raumschiff-Theorie.« »Nein. Ich vermute, es ist etwas viel Naheliegenderes als ein Raumschiff.« McFarlane wollte schon antworten, als das Schiff heftig zu rollen begann. Wie ihm schien, hob sich der Bug des Tankers viel steiler als zuvor. »O Mann«, murmelte er, »da oben ist ganz schön was los.« Rachel nickte. »Und zwar inzwischen ununterbrochen.« Sie saßen stumm da und lauschten dem Heulen des Sturms und dem Ächzen und Knarren, das durch den Schiffsrumpf lief. Als die Rolvaag von der nächsten hohen Welle hochgerissen wurde, drückte die Schwerkraft das Sickerwasser von der Wand des Tankraums weg; es ging wie Sprühregen nieder. McFarlane stemmte sich hastig auf und starrte gespannt auf die Planen, die sie über den Meteoriten gezogen hatten. Da die Stahlwände das Toben des Sturms ein wenig dämpften, konnte er es sogar plätschern hören, als die Tropfen auf den Plastikplanen aufschlugen. Er hielt den Atem an. Aber es passierte nichts – das Meerwasser lief auf dem glatten Material ab und versickerte in der Stahl- und Holzkonstruktion der Halterung. Rachel atmete erleichtert durch. »Scheint zu funktionieren. Herzlichen Glückwunsch.« »Glückwunsch? War doch deine Idee.« »Ja, aber du hast das mit dem Salz entdeckt.« »Nur weil du keine Ruhe gegeben hast. Außerdem, allein wäre ich sowieso ...«Er stockte und sah sie verdutzt an. »Sind wir eigentlich total übergeschnappt, dass wir nichts Besseres zu tun haben, als uns gegenseitig Komplimente zu machen?« Unwillkürlich musste er grinsen. Ein Stein war ihm vom Herzen gefallen. Sie wussten jetzt, was zu den Explosionen geführt hatte. Und es war ihnen gelungen, Abhilfe zu schaffen. Er sah Rachel an. Ihr dunkles Haar schimmerte verführerisch. Er verstand gar nicht mehr, wie er es all die Jahre ohne sie ausgehalten hatte. Wie er ohne ihre Geistesblitze, ihre Denkanstöße und ihren Widerspruch zurechtgekommen war. Er konnte sich nicht vorstellen, je wieder allein irgendeiner Arbeit nachzugehen. Wer hätte denn dann seine angefangenen Sätze zu Ende geführt? Sie rutschte ein Stück nach oben und lehnte sich an die Stahlwand des Schiffsrumpfes. Offenbar hatte sie seinen zärtlichen Blick noch gar nicht bemerkt, so angestrengt horchte sie nach draußen. »Hörst du nichts? Ich könnte schwören, dass das eben eine Detonation war.« Aber McFarlane hatte Besseres im Sinn. Er kauerte sich neben sie und zog sie in seine Arme. Es war eine Geste stiller Zuneigung, ganz anders als die impulsive Leidenschaft, mit der sie sich in ihrer Kabine geliebt hatten. Als sie den Kopf an seine Schulter schmiegte, flüsterte er ihr zu: »Weißt du was? Du bist die netteste, gescheiteste und hübscheste Assistentin, die ich je gehabt habe.« »Soso. Ich wette, das erzählst du allen.« Er streichelte ihr zärtlich die Wange. Als er ihr den Finger unters Kinn legte, ihren Kopf anhob und sie küsste, hörte er unten auf den Plastikplanen ein Plätschern. Diesmal lauter, es musste eine verdammt hohe Welle gewesen sein. »Heißt das, dass ich von heute an deinen Verlobungsring tragen soll?«, murmelte sie. »Nein, aber du darfst dir von Zeit zu Zeit mein Gesteinshämmerchen ausleihen.« Ihre Lippen trafen sich zu einem leidenschaftlichen Kuss. Sie beide nahmen kaum wahr, dass die Rolvaag schlingerte, in ein Wellental geschleudert wurde und sich steil wieder aufrichtete. Bis McFarlane sich plötzlich aus der Umarmung löste und zurücklehnte. In die ungestüme Melodie des Sturms und das Ächzen und Knacken aus dem Tankraum mischte sich ein anderes, sehr eigenartiges Geräusch. Es hörte sich wie ein helles Singen an, schrill und laut wie ein Schuss. Und dann wieder. Rachel und er sahen sich an. Die Geräusche hörten auf, doch sie hallten ihnen noch in den Ohren wider. Erschrocken hielten sie den Atem an und lauschten. Und da war es wieder – es kam eindeutig von unten, von der Halterung des Meteoriten. Bei jeder Welle, die das Schiff traf, und jeder Schlingerbewegung wurde es beängstigend lauter. Und dann konnte es keine Zweifel mehr gaben: zwanzig Meter unter ihnen, wo der Meteorit in seinem Bett aus Stahl und Holz ruhte, bahnte sich eine Katastrophe an. Holz splitterte, Nieten wurden abgesprengt, Schweißnähte brachen ...

 

Rolvaag

15.30 Uhr

Britton sah die erste Granate scheinbar gemächlich in einem leichten Bogen über das aufgewühlte Meer trudeln und in einem grellen Lichtblitz weit hinter dem Heck des Tankers verglühen. Kaum eine Sekunde später folgte die zweite – ebenfalls zu kurz. Lloyd stürzte ans Fenster. »Großer Gott, ist das denn zu fassen? Dieser verdammte Idiot feuert auf uns!« »Leuchtspur«, sagte Glinn. »Sie schießen sich ein.« Lloyds Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Mr. Howell, Ruder hart backbord«, wies Britton den Ersten Offizier an, als die nächsten beiden Granaten hochgingen. Das Feuer lag weiter zu kurz, aber es kam näher. Alle starrten durch die nach achtern gelegenen Scheiben. Der Zerstörer feuerte Salve um Salve ab, wobei die Leuchtspurmarkierung jedes Mal ein Stück näher rückte. Und schließlich detonierte eine Granate direkt über ihnen – der Nachthimmel schien einen Sternenregen über sie auszuschütten. »Sie haben sich eingegabelt«, murmelte Glinn. »Von jetzt an werden sie scharfe Munition verwenden und sich langsam an uns heran tasten.« Lloyd sah ihn unwirsch an. »Was wollen Sie hier eigentlich darstellen? Einen Sportreporter? Wir brauchen einen Plan, keine Kommentare. Es darf nicht wahr sein. Dreihundert Millionen Dollar – und dafür brocken Sie uns diese Scheißsituation ein!« Britton sagte energisch: »Ruhe auf der Brücke! Mr. Howell, Ruder hart steuerbord. Maschinen auf Minimalleistung.« Sie erlebte, was sie in Krisensituationen immer erlebt hatte: Eine unheimliche Ruhe überkam sie, ihr Verstand arbeitete mit der Präzision eines Uhrwerks. Sie schielte verstohlen zu Lloyd hinüber, der, die fleischigen Finger ineinander verhakt, mit versteinerter Miene nach Süden starrte. Die Erfahrung, dass man mit Geld doch nicht alles kaufen kann, nicht einmal das eigene Leben, schien ihm schwer zuzusetzen. Dann suchte ihr Blick Glinn. Sie wartete ungeduldig auf seine Lagebeurteilung. Sie war ihr wichtiger als je zuvor – gerade weil er eingestanden hatte, dass seine letzte Lagebeurteilung eine grobe Fehleinschätzung gewesen war. Das machte ihn in ihren Augen so menschlich. Hinter den breiten Schultern der beiden Männer erstreckte sich die sturmgepeitschte See. Bei Beginn der Dunkelheit hatten sie die Lichter gelöscht, um der Ramirez leichter entwischen zu können. Aber dann war am südlichen Himmel der Mond aufgegangen, groß und fast voll, und hatte all ihre Hoffnungen zunichte gemacht. Es kam ihr vor, als grinse er hämisch auf sie nieder. Im Mondlicht schien das aufgewühlte Meer geheimnisvoll aus seinen tiefsten Tiefen heraus zu leuchten – ein gespenstisches Bild. Unablässig rollten schwere Brecher auf sie zu, überspülten das Deck mit Wasser, rissen das Schiff in tiefe, nachtschwarze Schluchten und schleuderten es auf haushohe, weiß gischtende Wellenberge. Und das würde wohl noch lange so weitergehen, denn gewöhnlich folgte dem panteonero eine zermürbende Zeit gefährlicher Winde. Eine Detonation ließ die Fensterscheiben der Brücke jäh erzittern. Alle schreckten hoch, die Druckwelle kam völlig unerwartet, weil der Sturm den Explosionsknall verschluckt hatte. Und dann ging es Schlag auf Schlag. Britton sah, wie querab zu ihrem Schiff in kurzen Abständen eine Wasserfontäne nach der anderen aufstieg. Es war eindeutig, dass die Einschläge mit jeder Granate dichter an der Rolvaag lagen. Das riesige Schiff kämpfte schlingernd gegen die mörderischen Wellenberge an. Dreh endlich nach steuerbord ab, du Miststück, beschwor sie den Tanker lautlos.

Und genau in diesem Augenblick passierte es: Die Rolvaag bockte, am Bug stieg eine hässliche gelbe Wolke auf, heiße Metallstücke flogen in die Luft und zogen einen glühenden Schweif hinter sich her. Fast unmittelbar danach mussten sie den nächsten Treffer hinnehmen, die Detonation hallte wie ein Donnerschlag über das Schiff. Einer der Ladepfosten wurde aus seiner Verankerung gerissen und steil nach oben katapultiert. Als er trudelnd wieder aufschlug, schnellte ein Kabel wie eine überdimensionale Peitschenschnur über das Oberdeck. Aber das Schlimmste war wohl überstanden, das Feuer wanderte, wie an den Wasserfontänen zu erkennen war, weiter nach Süden, um schließlich ganz zu verstummen. Alle auf der Brücke starrten ins Leere, die plötzliche Stille wirkte lähmender als der vorangegangene Angriff. Britton erwachte als Erste aus der Erstarrung. Sie suchte mit dem Fernglas das Vordeck ab. Wie es aussah, hatte mindestens eine Granate das Oberdeck durchschlagen. Als die Rolvaag den nächsten Wellenkamm erklomm, konnte sie im Mondlicht deutlich erkennen, dass das Meerwasser nicht seitlich, sondern durch das Einschlagsloch in den Bauch des Schiffes lief. »Mr. Howell, geben Sie Alarm«, wies sie den Ersten Offizier an. »Stellen Sie einen Trupp zur Schadensfeststellung zusammen. Die Männer sollen Schaumlöscher mitnehmen. Und lassen Sie eine Rettungsleine spannen, vom Vorschiff bis zum Heck.« »Aye-aye, Ma’am.« Fast automatisch wandte sie sich zu Glinn um und sah ihn fragend an. »Maschinen stoppen«, murmelte er. »Befehlen Sie Kurs vor dem Wind. Und schalten Sie die ECM ab. Er soll glauben, dass er uns lahm gelegt hat, dann feuert er vielleicht vorübergehend nicht mehr auf uns. Nach fünf Minuten nehmen wir wieder volle Fahrt auf. Das zwingt ihn, sich erneut einzuschießen. Wir müssen es bis zu den Eisinseln schaffen.« Er nickte ihr zu, ging zu seinem Operator und beriet sich flüsternd mit ihm. Britton wandte sich an den Ersten Offizier. »Mr. Howell, beide Maschinen stopp. Ruder dreißig Grad backbord.« Die enorme Schubkraft hielt das Schiff eine Weile auf dem alten Kurs, dann kam der Bug langsam herum. Britton schielte zu Lloyd hinüber. Sein Gesicht war aschfahl geworden, das Feuer der Ramirez hatte ihn offensichtlich bis ins Mark erschüttert. Wahrscheinlich hatte er geglaubt, seine letzte Stunde habe geschlagen. Und sich vielleicht schon ausgemalt, wie es wohl wäre, in der dreitausend Meter tiefen, eisigen See zu versinken.Sein Gesicht spiegelte dieselben Ängste wider, die sie von anderen bei ähnlichen Stürmen kannte. Wahrlich kein schöner Anblick. Sie schaute auf den Radarschirm. Die meiste Zeit über verwischte der starke Seegang das Bild, nur wenn die Rolvaag sich steil aufbäumte, wurde es klar. Sie waren noch fünfundzwanzig Seemeilen von den beiden Eisinseln entfernt. Der hohe Wellengang kostete den Zerstörer gut einen Knoten Fahrt, dennoch kam er stetig näher. Es grenzte an ein Wunder, dass das schlanke, relativ kleine Schiff sich überhaupt in dieser rauen See behaupten konnte. Plötzlich wurde die Tür der Brücke aufgestoßen, McFarlane kam hereingestürzt, dicht gefolgt von Amira. »Der Meteorit«, stammelte er mit verzerrtem Gesicht. »Was ist mit dem Meteoriten?«, fragte Lloyd scharf. »Er ... er reißt sich los.«

 

Rolvaag

15.55 Uhr

Glinn hörte gebannt zu, als McFarlane seine Geschichte herunterhaspelte. Ein ungewohntes, nicht gerade angenehmes Schaudern lief ihm über den Rücken. Aber er wäre seinen eigenen Prinzipien untreu geworden, wenn er am Schluss nicht ruhig und ohne Hektik zum Telefon gegriffen hätte. »Krankenstation? Geben Sie mir Garza.« Kurz darauf meldete sich eine schwache Stimme: »Ja?« »Hier ist Glinn. Der Meteorit reißt sich aus seiner Halterung los. Schicken Sie Stonecipher und den Reservetrupp runter. Sie übernehmen die Leitung.« »Ja, Sir.« »Da ist noch etwas«, warf McFarlane ein. Er atmete immer noch schwer. Glinn sah ihn fragend an. »Der Meteorit reagiert mit Salz. Salz war es, nicht Hautkontakte, was die Explosion ausgelöst hat, bei der Garzas Männer ums Leben kamen. Rachel und ich haben Abdeckplanen über das Netz gezogen. Egal, was die Männer dort unten tun, aber sie sollen um Himmels willen darauf achten, dass der Meteorit nicht mit Salzwasser in Berührung kommt. Er strahlt übrigens immer noch Störwellen aus. Der Funkkontakt wird also ziemlich schlecht sein, mindestens noch eine Stunde lang.« Glinn gab die Information an Garza weiter. Als er fertig war, hörte er ein heiseres Flüstern, und dann hatte er auf einmal Brambells ärgerliche, näselnde Stimme in der Leitung. »Was soll der Unsinn? Ich verbiete dem Mann, die Krankenstation zu verlassen. Er hat ein Schädeltrauma, eine Gehirnerschütterung, eine Zerrung des rechten Handgelenks und ...« »Sparen Sie sich den Rest, Doktor. Ich brauche Garzas Schadensanalyse, um jeden Preis. Das Überleben des Schiffes hängt davon ab.« Glinn legte auf und fragte Britton: »Können wir bei dem Wellengang etwas tun, um die Schräglage des Schiffes zu reduzieren?« Britton schüttelte den Kopf. »Bei der schweren See würde jede Verlagerung des Ballasts nur zu einer gefährlichen Instabilität führen.« Sooft das Schiff in ein Wellental stürzte, begrub die entfesselte See das Hauptdeck unter sich. Zwei Container hatten sich bereits losgerissen und waren über Bord gespült worden, und dabei würde es sicher nicht bleiben. »Was ich noch fragen wollte: Was waren das vorhin für Detonationen?«, kam es Mc-Farlane in den Sinn. »Das chilenische Schiff hat uns unter Feuer genommen«, antwortete Glinn und fragte im Gegenzug: »Haben Sie eine Ahnung, warum der Meteorit mit Salz reagiert?« »Es scheint sich nicht um eine chemische Reaktion zu handeln«, erwiderte McFarlane. »Er hat auch dieses Mal bei der Explosion nicht mal einen Kratzer abgekriegt.« Glinn sah Amira fragend an. »Die Explosion war zu stark für eine chemische oder katalytische Reaktion«, bestätigte sie. »Was kann es dann sein? Eine nukleare Reaktion?« »Das ist theoretisch zwar möglich, aber höchst unwahrscheinlich. Ich denke eher, dass wir das Problem aus einer falschen Perspektive betrachten.« Glinn kannte das bei Amira. Sie neigte dazu, Diskussionen unvermittelt in eine andere Richtung zu lenken. Wobei entweder etwas Geniales oder etwas total Idiotisches herauskam. Das war einer der Gründe, warum er sie für die EES verpflichtet hatte. Da es sich meistens lohnte, ihre Ideen und Anregungen aufzugreifen, hakte er nach: »Wieso das?« »Es ist nur so eine Ahnung. Wir versuchen, das Problem aus unserem Blickwinkel zu verstehen, indem wir von einem Meteoriten ausgehen. Dabei wäre es enorm wichtig, uns in diese Materie hineinzudenken. Salz hat eine große Bedeutung für den Meteoriten. Es ist entweder gefährlich für ihn ... oder lebensnotwendig.«

Howells Stimme ließ alle aufhorchen. »Captain, die Ramirez hat das Feuer wieder aufgenommen. Sie schießen sich ein.« Der Erste Offizier beugte sich tief über das Doppler-Radar. Einen Augenblick lang herrschte gespannte Stille, dann sah Howell grinsend auf. »Eben hat sich ein Schneesturm zwischen uns und die Ramirez geschoben. Die Kerle sind blind wie die Maulwürfe, sie können uns nicht mehr sehen.« »Nach Steuerbord abdrehen«, ordnete Britton an. »Kurs konstant eins-neun-null.« Glinn ging zu der elektronischen Karte hinüber und musterte die blinkenden grünen Punkte. Das Schachspiel neigte sich dem Ende zu, auf dem Brett waren nur noch vier Figuren übrig geblieben: zwei Schiffe, der Sturm und das Eis. Von diesen vier Faktoren hing ihr Schicksal ab. Er versuchte, sich die Stellung und das Tempo, in dem sich die beiden Schiffspunkte verschoben, so einzuprägen, dass er das Bild mit geschlossenen Augen vor sich sehen konnte. Dank dieser Vereinfachung wurde ihm klar, dass die tödlichste Bedrohung im Fehlen brauchbarer Alternativen lag. Wie ein Schachmeister spielte er die Züge zu Ende, die ihnen noch blieben. Alle bis auf einen führten ins sichere Verderben. Und die Wahrscheinlichkeit, dass die verbleibende Option von Erfolg war, kam ihm erschreckend gering vor. Um das Spiel erfolgreich zu beenden, musste alles perfekt klappen. Und ein Quantum Glück gehörte auch dazu. Er hasste es, sich auf das Glück verlassen zu müssen. Eine Strategie, die auf das Glück vertraute, endete oft in einem Desaster. Trotzdem, das verhasste Glück war jetzt das, was er am meisten brauchte. Er schlug die Augen auf und heftete den Blick sofort wieder auf die Karte. Der blinkende grüne Punkt, der die Position der Rolvaag markierte, war noch dreißig Minuten von der Eisgrenze und wenige Minuten mehr von den beiden gigantischen Eisinseln entfernt. Das Funkgerät piepste, er schaltete es ein. »Hier ist Garza«, meldete sich eine schwache, vom gewohnten Rauschen überlagerte Stimme. »Im Tankraum.

Hier unten brechen bei jeder Schlingerbewegung ein paar Schweißstellen.« »Ursache?« »Die letzte Entladung des Meteoriten hat einige entscheidende Verknüpfungen im Sicherungsnetz beschädigt und andere zumindest geschwächt. Rochefort hat die Belastbarkeit der Halterung für eine Krängung von maximal fünfunddreißig Grad ausgelegt, wir sind also noch zehn Grad unter dem Limit...« Einige Sekunden lang nur lautes Rauschen. »... Berechnungen ist der Meteorit allerdings um hundertfünfzig Prozent schwerer, als Rochefort angenommen hatte. Möglicherweise ist die Konstruktion zu schwach ausgelegt.« »Um wie viel zu schwach?« »Schwer zu sagen, ohne ...« Wieder brach die Verbindung für kurze Zeit ab. »... ist Stonecipher der Meinung, sie könnten vielleicht noch eine Zeit lang halten. Andererseits, wenn es Defekte an den Knotenpunkten gibt, gibt der Rest vielleicht sehr schnell nach.« »Mir gefallen die schwammigen Formulierungen ›könnten‹ und ›möglicherweise‹ nicht.« »Präziser kann ich’s aber nicht sagen.« »Wie schnell ist ›sehr schnell‹?« »Uns bleiben fünf, vielleicht auch zehn Minuten. Möglicherweise etwas mehr.« »Und dann?« »Dann rutscht der Meteorit seitlich weg. Und wenn die Neigung zu stark wird, zerschlägt er womöglich die Außenhülle des Tankers.« »Lassen Sie die entscheidenden Stellen im Sicherungsnetz verstärken.« In Garzas Schweigen mischte sich statisches Knacken und Rauschen. Glinn ahnte, woran Garza dachte und was er von seiner Anweisung hielt. »Ja, Sir«, sagte der Chefingenieur schließlich. »Und lassen Sie ja kein Salzwasser an ihn ran.« Keine Antwort, das Rauschen wurde stärker. Und die Rolvaag stampfte weiter nach Süden, auf die Eisgrenze zu.

 

Rolvaag

17.00 Uhr

An der Rückseite der Brücke, zwischen Funk- und Kartenraum, gab es eine kleine Nische, die sich wegen des hohen Fensters als Ausguck anbot. Dort hatte Glinn Posten bezogen, mit dem Fernglas vor den Augen. Der Schneesturm, eine wabernde graue Wolke, zog nach Norden ab. Sechzig Minuten lang hatte er ihnen Sichtschutz geboten, zwanzig weniger, als sie gebraucht hätten. Nun leuchtete der Mond die raue See wieder taghell aus. Ihr Plan war nicht aufgegangen. Und tatsächlich tauchte die Ramirez wie auf ein Stichwort hin aus dem Schneegestöber auf. Sie hatte alle Lichter gesetzt und war gefährlich nahe herangekommen, höchstens vier Seemeilen trennten sie noch von dem Tanker. Ihr Bug, zum Spielball der tobenden See geworden, stieg steil hoch, um im nächsten Moment jäh abzufallen. Keine Frage, dass Vallenar sie genauso klar ausmachte wie sie den Zerstörer. Und er verlor keine Zeit: die beiden vorderen Geschütze wurden auf die Rolvaag ausgerichtet. Sekunden später feuerte die Ramirez Phosphorgranaten ab, die in der Luft detonierten und das Meer rings um den Tanker in grellweißes Licht tauchten. Der Comandante ging methodisch vor, ohne Hast, er wusste, dass sie in der Falle saßen. Glinn warf rasch einen Blick auf seine goldene Taschenuhr. Bei einer Distanz von vier Meilen mussten sie sich nicht erst an das Ziel herantasten, sie konnten drauflosfeuern. Und die Rolvaag brauchte noch zwanzig Minuten bis zu den Eisinseln – und viel Glück. »Wir überfahren die Eisgrenze, Ma’am«, meldete Howell. Glinn setzte das Glas ab und richtete den Blick aufs Meer. Selbst im Mondschein konnte er sehen, dass sich die Farbe des Wassers verändert hatte: Aus dem tiefen Grün war klares, bläulich schimmerndes Schwarz geworden. Er ging nach vorn, zum Kommandostand, und suchte den südlichen Horizont mit dem Fernglas ab. Die ersten Eisschollen trieben auf sie zu. Und als die Rolvaag auf einen Wellenberg gehoben wurde, konnte er einen erregenden Augenblick lang einen Blick auf die beiden Eisinseln werfen: zwei flache, türkisfarbene Platten, die östliche an die dreißig Kilometer lang, die westliche acht. Sie lagen ruhig im Wasser, Inseln der Stille in der trügerischen See, zu groß, als dass das Meer ihnen seinen wilden Tanz hätte aufzwingen können. Zwischen ihnen befand sich eine schmale, schätzungsweise dreihundert Meter breite Fahrrinne. »Weit und breit kein Nebel«, stellte Britton fest, als sie, den Feldstecher in der Hand, neben ihn trat. Glinn sah sie nicht an, er starrte unverwandt nach Süden. Nie zuvor hatte er sich so hundeelend, so hilflos und ohnmächtig gefühlt. Brittons kaum verhohlener Vorwurf traf ihn bis ins Mark. Das Eis war für sie nicht zu der Zuflucht geworden, die er sich – und ihr – versprochen hatte. Im Gegenteil, der Himmel schien gen Süden hin eher noch aufzuklaren. Der helle Mond stand wie ein riesiger Scheinwerfer über dem von Silberglanz bestäubten Meer. Und die Phosphorgranaten verwandelten die Nacht vollends zum Tage. Sie waren Vallenar ausgeliefert, es gab keine Möglichkeit, sich irgendwo zu verstecken. Und das war Glinn unerträglich – die schmerzlichste Lehre, die das Leben ihm zu erteilen vermochte. Er musste sein ganzes Pflichtgefühl und seine Selbstdisziplin aufbieten, um das Fernglas zu heben und noch einmal die beiden Eisinseln abzusuchen. Vallenar hatte eine Feuerpause eingelegt. Nachdem er wusste, dass sie ihm nicht entkommen würden, ließ er sich Zeit. Noch einmal ging Glinn im Geiste all die Alternativen durch, die er zuvor schon erwogen und wieder verworfen hatte. Fast verzweifelt versuchte er, irgendeine andere Lösung zu finden. Aber es gab keine.

Und dann zerriss plötzlich ein schrecklicher Heulton die Stille, eine Granate flog knapp an den Aufbauten des Tankers vorbei und schlug ins Meer, ein gigantischer Geysir stieg auf, ein gewaltiger Sprühregen ergoss sich über das Deck. Einen Atemzug später folgte die nächste Granate, dann die dritte ... und jede kam dem Ziel ein Stück näher. Plötzlich fiel Glinn etwas ein – zumindest der Hauch einer Chance. »Captain«, sagte er leise zu Britton, »nehmen Sie die Passage zwischen den beiden Inseln, halten Sie sich so dicht wie möglich an die größere. Damit wir uns richtig verstehen: so dicht wie möglich. Dann steuern Sie das Schiff ins Lee der Insel und warten ab.« Britton setzte nicht einmal das Fernglas ab. »Auf diese Weise sind wir, sobald er um die Insel herumkommt, wehrlos wie auf dem Präsentierteller. Nein, Eli, das ist kein brauchbarer Plan.« »Es ist Ihre einzige Chance«, drängte er sie, »vertrauen Sie mir.« Eine riesige Wasserfontäne stieg an der Backbordseite auf. Und fast unmittelbar danach die nächste. Sie konnten nichts tun, es gab keinen Fluchtweg und keine Möglichkeit für ein Ausweichmanöver. Glinn machte sich auf das Schlimmste gefasst. Und dann, nach einem unheilschwangeren Augenblick trügerischer Stille, ließ eine fürchterliche Detonation die Luft erbeben. Die Druckwelle schleuderte ihn zu Boden. Scheiben wurden eingedrückt, Scherben flogen durch die Luft, durch die geborstenen Fenster der Brücke fegte der Wind. Als Glinn auf dem Boden lag, glaubte er halb im Unterbewusstsein noch eine zweite Detonation zu hören, dann umfing ihn Nacht.

 

Rolvaag

17.10 Uhr

Das Feuer brach ab. Britton lag auf dem Boden, mitten in den Scherben, und lauschte instinktiv zuallererst auf das Geräusch der Maschinen. Sie arbeiteten, doch das Vibrieren hörte sich anders an. Irgendwie verdächtig. Und genau in dem Moment, als sie mit noch zittrigen Knien auf die Beine kam, leuchteten die roten Notlampen auf. Das Schiff schlingerte beängstigend in der rauen See, und nun kamen, weil die zerbrochenen Fenster den Naturgewalten keinen Einhalt mehr gebieten konnten, auch noch das Heulen des Windes, der salzige Spühregen und die deutlich unter null Grad abgesunkene Temperatur dazu. Sie schnipste sich ein paar Glassplitter aus dem Haar und stakte unsicher zum Kommandostand. »Mr. Howell, Lagebericht«, brachte sie mit belegter Stimme heraus. Der Erste Offizier, der auch gerade wieder auf die Beine gekommen war, hämmerte hektisch auf den Tasten der Anzeigentafeln herum. »Backbordmaschine verliert Kraft.« »Ruder zehn Grad backbord.« »Zehn Grad backbord, Ma’am«, wiederholte Howell. »Es sieht aus, als hätten wir zwei Treffer abbekommen, beide auf dem C-Deck. Der eine beim Tankraum sechs, der andere nicht weit vom Maschinenraum.« »Schicken Sie einen Trupp zur Schadensermittlung los. Ich will wissen, wie schlimm die Schäden sind und ob es Tote oder Verletzte gibt. Ich brauche die Rückmeldung schnell. Mr. Warner, starten Sie die Bilgenpumpen.« »Bilgenpumpen starten, Ma’am.« Ein kalter Windstoß fegte durch die Brücke, Gischt sprühte herein. Wegen der rapide sinkenden Temperatur drohte die Feuchtigkeit auf dem Boden und den Anzeigen des Kommandostands zu gefrieren. Aber Britton hatte fürs Erste andere Sorgen. Lloyd kam auf die Brücke, noch damit beschäftigt, die Wetterjacke von den letzten Glasscherben zu befreien. Die scheußliche Schnittwunde auf seiner Stirn blutete heftig. »Mr. Lloyd«, sagte Britton, »gehen Sie sofort zur Krankenstation und ...« »Machen Sie sich nicht lächerlich«, unterbrach er sie unwirsch und wischte sich das Blut mit dem Handrücken weg. »Ich bin hergekommen, um zu helfen.« Der Schock der Detonationen hatte offenbar seine alte Energie geweckt. »Gut«, sagte Britton, »dann holen Sie uns Ölzeug aus den Spinden.« Sie deutete nach hinten. Ein Funkgerät piepste, Howell meldete sich. »Feuer im Maschinenraum, Ma’am, ein Volltreffer. Die Meldung über Verluste in der Mannschaft steht noch aus.« »Können wir das Feuer mit Handfeuerlöschern unter Kontrolle bekommen?« »Negativ. Es breitet sich zu schnell aus.« »Dann aktivieren Sie das CO²-System. Und ich möchte, dass die äußere Bordwand mit Wassernebel besprüht wird.« Sie schielte zu Glinn hinüber, der gerade etwas mit seinem Operator besprach. Als der Mann aufstand und die Brücke verließ, sagte sie: »Mr. Glinn, ich brauche eine Lagemeldung aus dem zentralen Tankraum.« Glinn wandte sich an Howell. »Rufen Sie Garza.« Ein paar Sekunden später krächzte es aus dem Wandlautsprecher: »Was ist los, verdammt noch mal?« »Wir haben zwei Treffer abbekommen. Wie sieht’s bei Ihnen aus?« »Hier sind noch mehr Schweißnähte und Verknüpfungen im Sicherungsnetz gerissen. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, aber der Meteorit ...« »Nicht aufgeben, Manuel. Sie kriegen das schon hin.« Lloyd kam mit einem Arm voll Ölzeug zurück und verteilte die Überjacken an die Brückenwache. Britton zog sich ihre über, dann konzentrierte sie sich wieder auf die knapp zwei Seemeilen vor ihnen liegenden Eisinseln. Sie schimmerten blau und sahen im Mondschein wie verwunschene Märcheneilande aus. Aber die Idylle war trügerisch, Wellengang und Gischt nagten und fraßen unaufhörlich an der Basis der sechzig, siebzig Meter hoch aufragenden Steilwände. »Entfernung des Zerstörers, Mr. Howell?« »Nur noch drei Seemeilen, schließt weiter auf. Und eröffnet wieder das Feuer, Ma’am.« Die Granate schlug links neben dem Bug ein, die aufsteigende Wasserfontäne wurde vom panteonero fast augenblicklich in die Horizontale gedrückt. Der Zerstörer war jetzt so dicht da, dass Britton den Abschussknall der Geschütze hören konnte. Und dann wurde das Schiff plötzlich durchgeschüttelt – wieder hatte eine Granate getroffen. »Abpraller auf dem Hauptdeck«, meldete Howell. »Das Feuer im Maschinenraum ist eingedämmt. Aber beide Maschinen sind schwer beschädigt, wir verlieren schnell an Fahrt.« Britton starrte auf die Anzeige, deren Digitalziffern ihr die Geschwindigkeit anzeigten: vierzehn Knoten, dann dreizehn ... das Schiff rollte schwerer und plumper. Sie spürte, dass der Sturm die Rolvaag immer fester in seinen Würgegriff nahm. Zehn Knoten... Jeder Brecher schob das Schiff ein Stück zur Seite und drückte es tiefer in die See. Sie hätte nicht gedacht, dass ein so großes Schiff derart zum Spielball des Meeres werden konnte. Ihr Blick haftete wie gebannt auf den Anzeigen. Die Warnlichter der Maschinen leuchteten. Aber sie konnten ihr nichts sagen, was sie nicht ohnehin schon wusste. Sie hörte es ja: das angestrengte, stotternde, manchmal für Sekunden aussetzende Stampfen aus dem Maschinenraum. Alle auf der Brücke starrten stumm und blass zu ihr herüber. Jede neue schwere Welle drosselte ihre Fahrt um einen Knoten, wenn nicht gar um zwei. Und die Ramirez schloss immer schneller zu ihnen auf. Lloyd war der Erste, der aussprach, was alle dachten. Er wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung das Blut weg, das ihm in die Augenbrauen lief, und sagte leise: »Das war’s dann ja wohl, nehme ich an.« Britton nickte. Lloyd drehte sich zu McFarlane um. »Wissen Sie, Sam, am liebsten wäre ich jetzt unten im Tankraum. Es muss wohl das Bedürfnis sein, meinem Meteoriten Lebewohl zu sagen. Verrückte Idee, nicht wahr?« »Nein«, sagte McFarlane, »das finde ich überhaupt nicht verrückt.« Aus den Augenwinkeln sah Britton, dass Glinn sich zu ihnen umgewandt hatte. Aber er sagte nichts.

 

Almirante Ramirez

17.15 Uhr

Feuer einstellen«, befahl Vallenar dem Gefechtsoffizier, hob das Fernglas und suchte den angeschossenen Tanker ab. Dicke schwarze Rauchwolken stiegen am Heck auf und trieben über das vom Mond beschienene Meer. Das amerikanische Schiff hatte mindestens zwei bestätigte Treffer einstecken müssen, darunter allem Anschein nach einen in den Maschinenraum. Auch der Mast mit den Funk- und Radaranlagen war offenbar schwer beschädigt worden – eine brillante Leistung bei dieser schweren See. Die Rolvaag war manövrierunfähig – genau das hatte er gewollt. Und sie verlor, wie Vallenar deutlich erkennen konnte, erheblich an Fahrt. Das Schiff hielt weiter auf die Eisinseln zu, eine verzweifelte Anstrengung, vorübergehend Schutz vor seinen Geschützen zu suchen. Die Frau, die dort drüben das Kommando hatte, bewies Mut. Sie wollte das Schiff nicht aufgeben, bevor sie nicht alle Möglichkeitenzum Überleben ausgelotet hatte. Er konnte sie verstehen. Sich hinter einer Eisinsel zu verstecken, anstatt zu kapitulieren, war ein ehrenvolles, wenn auch nutzloses Unterfangen. Denn eine Kapitulation kam natürlich nicht in Frage. Es gab nur noch den Tod. Er warf einen Blick auf die Uhr. Zwanzig Minuten gab er ihnen, dann würde er den Zerstörer in die Fahrrinne zwischen den beiden Eisinseln steuern und zur Rolvaag aufschließen. Das ruhige Fahrwasser im Lee der Insel verschaffte ihm die Plattform, die er für ein gezieltes Feuer brauchte. Er malte sich im Geiste den letzten Akt aus. Es gab keine Möglichkeit, etwas falsch zu machen. Und auch keinen Trick, durch den die Rolvaag ihr Geschick im letzten Augenblick hätte abwenden können. Er würde das Szenario mit Phosphorgranaten ausleuchten und dann ohne Hast vorgehen.

Exekutionen bedürfen immer besonderer Sorgfalt. Aber er würde keine Spielchen mit ihnen treiben, die Dinge nicht unnötig in die Länge ziehen. Er war kein Sadist, und dieser weibliche Kapitän hatte einen ehrenvollen Tod verdient. Am besten war ein Treffer in den Rumpf des Tankers, entschied er, an der Wasserlinie, möglichst weit hinten, damit er mit dem Heck voraus sank. Es war sehr wichtig, Rettungsaktionen in letzterMinute zu verhindern. Es durfte keine Überlebenden geben, die etwas über die Umstände des Untergangs aussagen konnten. Er würde das erste Rettungsboot, das sie zu Wasser ließen, mit den Vier-Zentimeter-Geschützen unter Beschuss nehmen. Das hielt die Gegenseite von ähnlichen Versuchen ab, sie würden lieber an Bord auf ihr Ende warten. Kurz bevor ein Schiff unterging, drängten sich erfahrungsgemäß alle auf dem Vordeck zusammen, wo er sie dann am besten sehen konnte. Es kam ihm vor allem darauf an, diesen aalglatten, verlogenen cabron sterben zu sehen. Der Mann war an allem schuld. Wenn jemand die Exekution seines Sohnes angeordnet hatte, dann er. Der Tanker machte nur noch fünf Knoten Fahrt. Er hielt sich in der Fahrrinne dicht an der größeren der beiden Eisinseln. Ungewöhnlich dicht, womöglich war ja das Ruder beschädigt. Die Inseln ragten so hoch und steil auf, dass es aussah, als führe er in einen azurblau schimmernden Hangar ein. Tatsächlich aber drehte er, wie Vallenar gerade noch mitbekam, nach backbord. Ein Kurs, der ihn ins Lee der größeren Insel und damit vorübergehend aus der Reichweite seiner Geschütze führte. Ein Manöver, das ihm letztendlich jedoch nichts nützen würde. Er setzte das Fernglas ab. »Sonar?« »Klar bis auf den Grund, Sir.« Na also. Es gab kein tückisches Unterwassereis, die Insel fiel unter Wasser genauso gerade und steil ab, wie sie oberhalb der Kiellinie aufragte. Der Moment, den letzten Akt einzuläuten, war gekommen.

»Vorsichtig durch die Fahrrinne steuern. Ihrem Kurs folgen.«

Er wandte sich an seinen Gefechtsoffizier. »Feuerbereitschaft herstellen, Feuervorbehalt.« »Aye, Sir.«

Vallenar griff wieder zum Fernglas und suchte abermals die Fahrrinne ab.

 

Rolvaag

17.20 Uhr

Die Rolvaag glitt zwischen den Eisinseln dahin, mitten in eine in Zwielicht getauchte, stille Welt hinein. Der Wind ließ deutlich nach, was sich wegen der zerbrochenen Scheiben auch auf der Brücke angenehm bemerkbar machte. Britton kam die plötzliche Stille ein wenig unheimlich vor, während rings um die Eisinseln unverändert der Sturm tobte. Sie starrte zu den Klippen hinauf, die zu beiden Seiten des Schiffes aufragten

– so glatt, als wären sie mit der Axt behauen. Knapp unter der Wasserlinie hatte die Gischt auf der dem Wind zugewandten Seite eine fantastische Höhlenlandschaft ins Eis genagt. Das reine, satte Blau wirkte fast unwirklich. Merkwürdig, dachte sie, wie die Nähe des Todes den Sinn für das Schöne schärft. Das Schiff war nach der Kursänderung um neunzig Grad noch langsamer geworden. Es glitt jetzt parallel zum Eis mit einem Knoten Fahrt dahin und wurde immer langsamer. Wenn die Maschinen ganz stoppten, würde es ihnen kaum gelingen, sie je wieder zu starten. Glinn kam vom Seitendeck wieder auf die Brücke zurück. Britton schielte verstohlen zu ihm hinüber und versuchte, seine Miene zu deuten, doch die verriet – wie immer – gar nichts. Es lag ihr auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er wirklich glaube, dass ein Schiff von über dreihundert Meter Länge sich längere Zeit vor einem Zerstörer verstecken könne, aber sie verkniff sich die Frage. Er hatte sein Bestes gegeben, mehr konnte er nicht tun. In wenigen Minuten würde die Ramirez die Eisinsel umrunden, und das war’s dann. Sie versuchte, nicht an ihre Tochter zu denken. Dass sie allein zurückbleiben würde, machte ihr das Herz schwer. Die Stille im Lee der Insel schien ansteckend zu sein, selbst auf der Brücke hörte man keine Kommandos und keine Vollzugsmeldungen mehr. Der Wind war verstummt und die Brandung rings um die Insel nicht mehr als ein sanfter, stetiger Wellenschlag. Gerade mal eine Viertel Seemeile trennte sie von den steilen Eisklippen. Hier und da sahen sie zerklüftet aus, der Regen und die Eisschmelze hatten tiefe Runen hineingegraben. Im Mondlicht machte sie an den senkrecht abfallenden Wänden kleine Rinnsale aus, wie gezähmte Wasserfälle. Das unablässige Knacken und Sirren kündigte an, dass bald wieder ein Stück Eis abbrechen würde – ähnlich dem kleinen Eisberg, der da langsam westwärts trieb. Sie wünschte sich, dabei zu sein, wenn er mehr und mehr schmolz, um irgendwann im Meer zu versinken. Sie wünschte sich, Gott weiß wo zu sein, nur nicht hier. Glinn kam zu ihr. »Es ist noch nicht aller Tage Abend, Sally«, sagte er so leise, dass nur sie es hören konnte, und sah ihr dabei fest in die Augen. »Doch«, erwiderte sie ebenso leise, »der Zerstörer hat uns lahm geschossen, wir machen kaum noch Fahrt.« »Sie werden Ihre Tochter Wiedersehen.« »Bitte, sprechen Sie nicht davon.« Sie musste sich eine Träne aus den Augenwinkeln wischen. Sie spürte verblüfft, dass Glinn nach ihrer Hand fasste. »Wenn wir das überstanden haben ...« Er zögerte – was ihm gar nicht ähnlich sah –, dann nahm er einen neuen Anlauf. »Ich würde Sie sehr gern wiedersehen, Sally. Darf ich das? Ich könnte ein wenig Anleitung gebrauchen, wie man Poesie besser verstehst. Hätten Sie Lust, meine Lehrmeisterin zu sein?« »Bitte, Eli, es ist leichter für uns, wenn wir nicht reden.« Sie drückte sanft seine Hand. Und in diesem Augenblick sah sie, wie sich der Bug der Ramirez um die Eisinsel schob. Sie schlich sich im Kielwasser der Rolvaag dicht an der blauen Steilklippe der Eisinsel wie ein Hai an seine wehrlose Beute heran – weniger als zwei Meilen entfernt, die Geschütztürme mit kühler Berechnung auf sie gerichtet. Britton starrte aus den nach achtern gelegenen Fenstern auf die Bewaffnung. Die Zeit schien den Atem anzuhalten, selbst ihr eigener Herzschlag wurde langsamer. Jeden Augenblick konnten die Kanonenrohre tödliches Feuer ausspucken. Sie ließ den Blick reihum gleiten. Lloyd, McFarlane, Howell, die anderen Offiziere der Brückenwache – sie alle warteten genau wie sie auf den Tod in dunkler, eiskalter See. Man hörte den dumpfen Abschussknall einer Serie von Phosphorgranaten, die zum Himmel aufstiegen, in unregelmäßiger Linie detonierten und gleißend helles Licht über ihnen ausgossen. Sie schirmte die Augen mit der Hand ab, als in der gnadenlosen Helligkeit plötzlich alles ringsum seine Farbe veränderte – die Oberfläche des Meeres, das Deck des Tankers, die Eisklippen. Erst als die Leuchtkraft verblasste, konnte sie sich wieder auf den Zerstörer konzentrieren. Die Geschütze der Ramirez senkten sich, bis nur noch das todbringende runde Mündungsloch zu sehen war. Das chilenische Schiff hatte den halben Weg durch die Fahrrinne zurückgelegt und verlangsamte seine Fahrt. Das war also das Ende. Auf diese Distanz musste jeder Schuss ins Schwarze treffen. Ein lauter Knall wie von einer Explosion, das Echo irrte zwischen den beiden Eisinseln hin und her. Britton war unwillkürlich zurückgezuckt, nun spürte sie, wie sich Glinns Hand auf die ihre legte. Sie murmelte ein stummes Gebet für ihre Tochter und die Bitte um einen gnädigen, raschen Tod. Aber da waren keine grellen Flammen, die aus den Geschützrohren der Ramirez züngelten. Britton suchte irritiert die Umgebung ab, um zu sehen, woher der Knall kam. Mit lautem Getöse hatten sich direkt über dem Zerstörer große Eisbrocken und Splitter von den Klippen gelöst. Sie wurden mit solcher Wucht nach oben geschleudert, dass sie höher aufstiegen als die vier gen Westen driftenden Rauchwolken, die von den Phosphorgranaten übrig geblieben waren. Das Echo des Lärms verebbte – einen Atemzug lang herrschte Stille, dann schien sich die Steilwand der Eisinsel seitlich zu verschieben. Das Antlitz der Klippen über der Ramirez verzerrte sich, eine Spalte brach auf und riss einen Teil der Felsen mit sich. Britton sah, wie ein gigantisches, gut dreißig Meter hohes Stück Eis von der Insel brach und sich langsam nach unten neigte, bevor es – wie in Zeitlupe – in die Tiefe stürzte. Dabei zerbarst es in unzählige Teile: ein bizarres und zugleich majestätisches Eisballett. Als die Bruchstücke in die See eintauchten, stieg durch das Gewicht der Eismassen eine gewaltige Wassersäule auf. Eine Kakophonie schrecklichen, immer lauter anschwellenden Lärms gellte Britton in den Ohren, begleitet von einem faszinierenden Farbspiel, als sich in das anfängliche Schwarz der Wassersäule plötzlich Grün und Weiß mischten. Und die Same stieg höher und höher, brach kurz in sich zusammen, um im nächsten Augenblick abermals in die Luft zu schießen. Aus dem Meer tauchte, von der eigenen Wucht nach oben getrieben, ein riesiger Eisbrocken auf, anscheinend der Kern der abgebrochenen Klippe. Er trieb eine gewaltige Welle vor sich her, genau auf die Breitseite der Ramirez zu. Britton hörte die Dieselmotoren röhrend aufheulen, als der Zerstörer ein Ausweichmanöver versuchte. Aber es war zu spät, die Welle stürzte schon über ihm nieder. Die Ramirez gierte, wurde steil nach oben geschleudert und krängte so stark, dass das Rostrot der Bugplatten sichtbar wurde. Sekundenlang schien das Schiff wie an einem unsichtbaren Kran in der Luft zu hängen, bis es, als die riesige Welle gischtend darüber hinwegrollte, zur Steuerbordseite kippte und beide Masten sich fast horizontal auf das Meer zu neigten. Britton schlug das Herz bis zum Hals. Immer noch sah es aus, als könne der Zerstörer sich nicht entscheiden, ob er sich aufrichten oder kentern wollte. Plötzlich schien ein Ruck durch ihn zu gehen – und dann bäumte die Ramirez sich auf. Britton stockte der Atem. Es hat nichts gebracht, dachte sie. O Gott, es hat nicht geklappt. Die Aufwärtsbewegung verlangsamte sich, als brauche der Zerstörer eine Atempause, dann senkte sich der Kiel ins Wasser. Aber auf einmal lag ein merkwürdiges Geräusch in der Luft, wie lautes Fauchen. Es kam aus den Aufbauten der Ramirez, und Sekundenbruchteile später schossen aus dem Rumpf dünne, scharfe Wasserstrahlen in alle Richtungen. Die Ramirez kippte um, der schmale Kiel rollte schwerfällig gen Himmel. Wieder ein Fauchen, noch lauter als zuvor, ein Gemisch aus Wasser, Schaum und blubbernden Luftblasen entwich dem Rumpf. Und dann, ohne dass ein größerer Strudel zu sehen war, verschwand die Ramirez im Meer. Das ganze Spektakel hatte nicht mal neunzig Sekunden gedauert. Britton sah die riesige Welle auf die Rolvaag zu rasen, doch noch auf halbem Wege zerfloss sie in die Breite und schwächte sich ab. »Ja, weiter so«, murmelte Glinn. Die Welle hob den Tanker hoch und drückte ihn hart zur Seite, bis sie sich schließlich verlief. Britton zog ihre Hand unter der von Glinn weg und hielt sich das Fernglas vor die Augen. Sie konnte kaum glauben, dass es den Zerstörer nicht mehr gab. Nichts war von ihm übrig geblieben – weder Mensch noch Rettungsboot oder Schwimmweste, nicht einmal eine nach oben geschwemmte leere Flasche. Die Almirante Ramirez war spurlos verschwunden. Sie merkte, dass Glinn zur Eisinsel hinüberstarrte, und folgte seinem Blick. Am Rand des Eisplateaus waren vier kleine dunkle Punkte auszumachen: Männer in Taucheranzügen, wie sie durch das Fernglas erkennen konnte. Sie hielten Fackeln in der Hand und reckten mit geballten Fäusten triumphierend die Arme in die Luft. Einer nach dem anderen warf seine Fackel ins Meer, wo sie mit leisem Zischen erlosch. Glinn griff zu seinem Funkgerät. »Operation erfolgreich beendet. Fertig machen zur Aufnahme des Bootes«, sagte er leise.

 

Rolvaag

17.40 Uhr

m ersten Augenblick brachte Palmer Lloyd kein Wort her

aus. Er war sich seines bevorstehenden Todes so sicher gewesen, dass es ihm wie ein Wunder vorkam, jetzt hier auf der Brücke zu stehen, zu leben und zu atmen. Schließlich fragte er Glinn: »Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?« »Die Chance, dass wir es schaffen, war zu gering. Ich habe selbst nicht an einen Erfolg geglaubt.« Seine Lippen verzogen sich kurz zu einem ironischen Lächeln. »Ohne eine gute Portion Glück wäre nichts daraus geworden.« Im Überschwang seiner Gefühle ging Lloyd auf ihn zu und schloss ihn in seine starken Arme. »Gott im Himmel, ich fühle mich wie ein Galeerensträfling nach der Begnadigung. Gibt es eigentlich irgendetwas, das Sie nicht schaffen, Eli?« Tränen standen ihm in den Augen. Er schämte sich ihrer nicht. »Wir haben es noch nicht geschafft.« Über so viel Bescheidenheit konnte Lloyd nur lächeln. Britton fragte Howell: »Nehmen wir Wasser auf?« »Nicht so viel, dass die Bilgenpumpen überfordert wären, Captain. Solange das Notaggregat arbeitet.« »Und wie lang ist das?« »Wenn wir alles bis auf die absolut notwendigen Systeme abschalten, länger als vierundzwanzig Stunden.« »Ausgezeichnet!«, dröhnte Lloyd. »Dann sind wir doch glimpflich davongekommen. Wir reparieren die Maschinen und machen uns auf den Heimweg.« Das Lächeln, mit dem er zuerst Glinn und dann Britton anstrahlte, verkümmerte schlagartig, als er ihre abweisenden Mienen sah. »Gibt’s ein Problem?« »Wir sind manövrierunfähig, Mr. Lloyd«, erwiderte Britton. »Die Strömung treibt uns in den Sturm.«

»Damit sind wir ja bisher auch fertig geworden. Noch schlimmer kann es doch nicht kommen, oder?« Niemand beantwortete die Frage. Britton wandte sich an Howell: »Wie sieht es mit den Funkverbindungen aus?« »Totalausfall der Fern- und Satellitenverbindungen.« »Setzen Sie ein SOS ab. Rufen Sie South Georgia auf Notkanal sechzehn.« Lloyd lief es plötzlich kalt über den Rücken. »Was höre ich da von einem SOS?« Wieder keine Antwort. Britton fragte Howell: »Wie sind die Maschinenschäden zu beurteilen?« Howell warf einen Blick auf die Anzeigen am Kommandostand, dann sagte er: »Beide Turbinen irreparabel beschädigt.« »Treffen Sie alle nötigen Vorbereitungen zum Ausbooten.« Lloyd traute seinen Ohren nicht. »Verdammt noch mal, wovon reden Sie da? Geht der Kahn etwa unter?« Brittons grüne Augen fixierten ihn kalt. »Das Ding, das da unten liegt, ist mein Meteorit. Ich denke gar nicht daran, das Ice Ship aufzugeben.« »Niemand gibt das Schiff auf, Mr. Lloyd«, erklärte Britton kühl. »Bei diesem Sturm Rettungsboote auszusetzen, wäre wahrscheinlich ohnehin Selbstmord. Wir treffen lediglich Vorkehrungen für den Fall, dass ein weiteres Verbleiben auf der Rolvaag unmöglich wird.« »Mein Gott, übertreiben Sie nicht gleich so! Wir können den Sturm umfahren und uns zu den Falklands schleppen lassen. Unsere Lage ist also gar nicht so ernst.« »Wir haben weder Steuerung noch Antrieb. Falls wir in den Sturm geraten, haben wir es mit acht Knoten Windgeschwindigkeit, dreißig Meter hohen Wellen und einer Strömung zu tun, die uns mit acht Knoten genau auf die Bransfield-Straße zu treibt. Und die liegt in der Antarktis, Mr. Lloyd. Unsere Lage ist ernst.« Lloyd starrte sie fassungslos an. Irgendetwas musste ja wohl dran sein an Brittons düsteren Orakeln. Er spürte selbst, wie das Schiff im zunehmenden Wellengang schlingerte. Und der eiskalte Wind pfiff auch wieder durch die Brücke. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu«, sagte er gefährlich leise, »ich mische mich nicht ein, wenn’s darum geht, was Sie Ihrer Meinung nach tun müssen oder wie Sie es anstellen wollen, solange ich dabei nicht meinen Meteoriten verliere. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Britton zuckte mit keiner Wimper. Je drohender Lloyd sie ansah, desto finsterer starrte sie zurück. »Mr. Lloyd, im Moment interessiert mich Ihr Meteorit absolut nicht. Mich interessieren nur mein Schiff und meine Mannschaft. Habe ich mich ebenfalls klar ausgedrückt?« Lloyd drehte sich Hilfe suchend zu Glinn um, aber der hatte sich wieder hinter seiner maskenhaft starren, ausdruckslosen Miene verschanzt. »Wann könnte ein Hochseeschlepper hier sein?«, hakte er hartnäckig nach. »Unsere Elektronik ist fast vollständig ausgefallen, aber wirversuchen zurzeit, South Georgia zu rufen. Im Übrigen hängt alles davon ab, wie der Sturm sich weiterentwickelt.« Lloyd wirbelte ungeduldig herum und fragte Glinn: »Wie sieht es im Augenblick im Tankraum aus?« »Garza ist dabei, das Sicherungsnetz durch frische Schweißnähte zu verstärken.« »Und wie lange werden die halten?« Glinn gab ihm keine Antwort. Das war auch nicht nötig, Lloyd spürte es selbst: Das Schlingern war schlimmer geworden, lang gezogene Wellen warfen das Schiff hin und her. Die Rolvaag schien bei jeder Rollbewegung vor Schmerz aufzuschreien – ein Laut, der an ein tiefes, kehliges Stöhnen erinnerte. Zum Teil mochte das Geräusch von der Vibration kommen. Aber Lloyd ahnte, dass der Schrei etwas mit dem Würgegriff zu tun hatte, mit dem die Geisterhand des Meteoriten das Schiff umklammerte.

 

Rolvaag

17.45 Uhr

Howell steckte den Kopf aus dem Funkraum. »Wir haben South Georgia dran, Ma’am.« »Sehr gut. Bitte auf die Brücke durchstellen.« Ein kurzes Knacken, dann meldete eine Stimme mit typisch heimatlichem Akzent, schwach allerdings und von Rauschen überlagert: »South Georgia ruft Tanker Rolvaag, bitte melden.« Britton griff nach dem Mikro und öffnete den Kanal. »South Georgia, dies ist ein Notruf. Wir treiben schwer beschädigt ohne Antrieb mit neun Knoten südsüdostwärts.« »Verstanden, Rolvaag. Geben Sie uns Ihre Position.« »Position: 61°15’12" Süd, 60°5’33" West.« »Verstanden. Was haben Sie geladen? Öl?« Glinn warf Britton einen warnenden Blick zu, sie schaltete das Mikro aus. »Von jetzt an sagen wir die Wahrheit«, erklärte Glinn. »Unsere Version der Wahrheit.« Sie schaltete das Mikro wieder ein. »South Georgia, unser Tanker wurde zu einem Erztransporter umgerüstet. Wir fahren unter Volllast mit ... mit einem Meteoriten. Auf den Kap-Hoorn-Inseln ausgegraben.« Eine längere Pause. »Rolvaag, ich konnte Sie nicht verstehen. Haben Sie Meteorit gesagt?« »Richtig. Wir haben einen Fünfundzwanzigtausend-Tonnen-Meteoriten geladen.« »Meteorit von fünfundzwanzigtausend Tonnen Gewicht«, bestätigte der Mann am Funkgerät in South Georgia emotionslos. »Rolvaag, geben Sie bitte Ihren Zielhafen an.« »Port Elizabeth, New Jersey.« Sie wartete auf die Frage: Was-zum-Teufel-wollen-Sie-denn-dort-unten? Wieder eine längere Pause. Britton hatte ein flaues Gefühl im Magen. Jeder, der sich halbwegs mit der christlichen Seefahrt und den örtlichen Gegebenheiten auskannte, musste gemerkt haben, dass an der Geschichte etwas faul war. Ihre Position lag zweihundert Seemeilen abseits der Bransfield-Straße, sie steckten in einem verdammt starken Sturm, und doch war dies ihr erster Notruf. »Rolvaag, kennen Sie den aktuellen Seewetterbericht?« »Ja, kennen wir.« Aber sie hatte keinen Zweifel, dass der Funker ihn dennoch durchgeben würde. »Der Wind wird bis Mitternacht auf hundert Knoten auffrischen. Wir erwarten Wellengang von bis zu vierzig Metern. Für die gesamte Drake-Straße wurde Sturmwarnung Stärke fünfzehn gegeben.« »Wir haben bereits Stärke dreizehn«, sagte Britton. »Verstanden. Können Sie nähere Angaben über die Art der Beschädigung machen?« Glinn sah sie gespannt an. Er drückte ihr und sich insgeheim die Daumen. »South Georgia, wir sind ohne Vorwarnung in internationalen Gewässern von einem chilenischen Kriegsschiff angegriffen worden. Wir haben Treffer im Maschinenraum, auf dem Vor- sowie auf dem Hauptdeck erhalten und dadurch Antrieb und Steuerung verloren. Wir treiben manövrierunfähig im Sturm.« »Großer Gott. Liegen Sie weiter unter Beschuss?« »Der Zerstörer hat einen Eisberg gerammt und ist vor dreißig Minuten gesunken.« »Das ist wirklich sehr ungewöhnlich. Warum ... äh ...« Solche Fragen gehörten bei einem Notruf eigentlich nicht in ein Funkgespräch. Andererseits, es war eben wahrlich kein alltäglicher Notruf. »Wir haben keine Ahnung, warum. Offenbar hat der chilenische Kapitän aus eigenem Antrieb gehandelt, ohne Weisung seiner Vorgesetzten.« »Konnten Sie das Kriegsschiff identifizieren?«

»Die Almirante Ramirez. Unter dem Kommando von Emiliano Vallenar.« »Besteht unmittelbare Gefahr für Ihr Schiff?« »Ja. Unsere Ladung kann jeden Augenblick verrutschen. In dem Fall wird das Schiff kentern.« »Rolvaag, bitte warten Sie einen Moment.« Diesmal dauerte die Funkpause sechzig Sekunden. »Rolvaag, wir haben verstanden, dass Sie sich in einer prekären Lage befinden. Wir haben zwar hier und auf den Falklands SAR-Kapazitäten, aber wir können keine Search-and-Rescue-Aktion starten, solange der Sturm nicht mindestens auf Stärke zehn abflaut. Haben Sie Satellitenkommunikation?« »Nein. Unsere Elektronik ist weitgehend zerstört.« »Wir werden Ihre Regierung über Ihre Lage unterrichten. Können wir sonst noch etwas für Sie tun?« »Schicken Sie uns vor allem so schnell wie möglich Schlepphilfe, sonst laufen wir auf die Bransfield-Riffs auf.« Irgendein statisches Störgeräusch, dann war die Stimme des Funkers wieder da. »Viel Glück, Rolvaag. Und möge Gott mit Ihnen sein.« »Danke, South Georgia.«

 

Rolvaag

18.40 Uhr

Als die Rolvaag aus dem Windschatten der Eisinseln geriet, trieb sie der Wind erbarmungslos ins Auge des Sturms. Innerhalb von Sekunden waren alle auf der Brücke von gefrierender Gischt durchnässt. Britton wusste, dass das Schiff ohne Antrieb dem Sturm auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert war: ein entsetzliches Gefühl von Hilflosigkeit. Der Sturm nahm von Minute zu Minute zu, bis er schließlich eine Stärke erreichte, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Der Mond war von geballten Wolken verdeckt, schon wenige Meter vor der Brücke war nichts mehr zu sehen. Und der Sturm dachte offensichtlich nicht daran, draußen Halt zu machen, sondern drang mit einem Gischtschwall nach dem anderen und dünnen, messerscharfen Eissplittern bis zu ihnen vor. Am schlimmsten fand Britton das unaufhörliche, entnervende Heulen, das aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. Die Temperatur auf der Brücke war auf sechzehn Grad unter Null gesunken, sie spürte, dass sich in ihrem Haar Eis kristallisierte. Sie ließ sich zwar weiter regelmäßig Meldungen über den Zustand des Schiffes, die Position und den Kurs geben, konnte aber ohne Steuerung wenig damit anfangen. Das Gefühl, zu ohnmächtigem Abwarten verurteilt zu sein, war ihr fast unerträglich. Nach den Rollbewegungen des Schiffes zu schließen, mussten die Wellen inzwischen über dreißig Meter hoch sein; sie trafen die Rolvaag mit der Wucht eines Güterzugs. Es gab nichts Gnadenloseres auf diesem Globus als die »Heulenden Sechziger«. Das Einzige, was die Rolvaag bis jetzt gerettet hatte, war ihre Größe. Auf dem Kamm jeder Welle fingen die Aufbauten mit leisem Wimmern an zu vibrieren, als ahnten sie, dass die Gewalt der See das Schiff zu verschlingen

drohte. Wenn der Tanker sich schräg legte, konnten sie den Neigungswinkel an den Anzeigen am Kommandostand ablesen: zehn, zwanzig, manchmal sogar fünfundzwanzig Grad. Der schlimmste Augenblick war, wenn Britton darauf wartete, dass sich das Schiff wieder aufrichtete. Bisher gelang ihm das jedes Mal: anfangs zögernd, auf dem letzten Drittel sehr schnell, und am Schluss kippte es kurz zur anderen Seite weg – ein Prozess, der sich in einer grausamen Sequenz ständig wiederholte. Und es gab nichts, was sie tun konnte, sie war als Kapitän genauso hilflos wie alle anderen auch. Angestrengt starrte sie auf das von Scheinwerfern ausgeleuchtete Hauptdeck. Die meisten Container und mehrere Davits waren vom Sturm aus der Verankerung gerissen und über Bord gespült worden; die automatischen Ladeklappen hatten dem Sturm und der Gischt bisher getrotzt. Durch das Einschlagsloch beim Ladepfosten drang weiter Wasser in den Rumpf ein, aber noch wurden die Bilgenpumpen damit fertig. Die Rolvaag war ein solide gebautes, hochseetüchtiges Schiff, sie hätte sich auch in noch schwererer See behaupten können, wäre da nicht dieser tonnenschwere Gesteinsklumpen in ihrem Bauch gewesen. Gegen sieben Uhr hatte der Sturm Stärke fünfzehn erreicht, mit Böen bis zu einhundert Knoten. Wenn das Schiff jetzt auf einen Wellenkamm gehoben wurde, war die Sogwirkung des Windes so stark, dass sich alle irgendwo festklammern mussten, um nicht durch die leeren Fenster in die Nacht hinausgezerrt zu werden. Britton wusste, dass kein Sturm auf Dauer mit solcher Gewalt toben konnte, sie hoffte inbrünstig, dass er bald in sich zusammenbrechen würde. Es musste einfach so sein. Sooft das Schiff auf den Kamm eines Wellenbergs taumelte, konnte sie – etwa acht Seemeilen vor sich – ein paar Sekunden eine Gruppe kleiner Eisberge ausmachen. Dazwischen lag eine Eisinsel, zwar kleiner als die beiden, durch deren Fahrrinne sie sich ihren Weg gebahnt hatten, aber etliche Kilometer maß sie der Länge nach bestimmt. Einerseits würde der Wellengang abnehmen, je tiefer sie ins Eis vorstießen, andererseits bekamen sie es dann natürlich mit den Gefahren der Eisregion zu tun. Vorerst zeigte das Sonar allerdings klares Meer an. Sie befanden sich etwa hundertfünfzig Seemeilen nordwestlich der südlichen Shetland-Inseln. Hinter den kahlen Felsen, die wie riesige Raubtierzähne aus der arktischen See aufragten und von gefährlichen Riffs und reißenden Strömungen umgeben waren, lag die Bransfield-Straße, und dahinter begann das ewige Eis. Je mehr sie sich der Küste näherten, desto tückischer wurden die Strömungen. Hundertfünfzig Seemeilen ... wenn es South Georgia gelang, ihnen rechtzeitig Hilfe zu schicken, bis sechs Uhr morgens ... Nun, im Grunde hing alles davon ab, wie sich der verdammte Meteorit im Zentraltank verhielt. Britton spielte mit dem Gedanken, Glinn zu fragen, wie Garzas Männer da unten vorankämen, doch dann gestand sie sich ein, dass sie es lieber gar nicht wissen wollte. Glinn behielt sein Wissen für sich, genau wie sie. Was ihm wohl in diesen endlos langen Minuten durch den Kopf gehen mochte? An den Rollbewegungen konnte sie erkennen, dass zumindest momentan keine unmittelbare Gefahr für das Schiff bestand. Für die Landratten musste dieser Höllenritt dagegen der blanke Horror sein. Wieder rollte das Schiff beängstigend. Nur glaubte sie diesmal zu spüren, dass eine Art Ziehen durch das Schiff ging, als sei auf dem Scheitelpunkt der Welle etwas im Rumpf der Rolvaag bis zum Zerreißen überdehnt worden. Genau in diesem Moment presste sich Glinn das Funkgerät ans Ohr und lauschte angestrengt. Er bemerkte ihren fragenden Blick. »Es ist Garza«, rief er ihr zu, »aber ich kann ihn bei dem Sturm nicht verstehen.« Britton machte Howell ein Zeichen. »Stellen Sie ihn durch. Maximale Lautstärke.« Urplötzlich dröhnte Garzas Stimme über die Brücke. »Eli? Eli!« Der Lautsprecher ließ seine unverhohlene Panik wie schiere Verzweiflung klingen. Im Hintergrund hörte Britton ein schrilles metallisches Geräusch. »Ja, ich bin dran.« »Hier bricht ein Vernetzungspunkt nach dem anderen weg.« »Macht weiter! Haltet durch!« Britton wunderte sich, wie ruhig und beherrscht Glinns Stimme klang. Das Schiff krängte, die Schräglage kam Britton schlimmer vor als je zuvor. »Eli, das Geflecht löst sich schneller auf, als wir mit dem Schweißen ...« Die Rolvaag holte so stark über, dass Garzas Stimme im Geschrill des Metalls unterging. »Manuel«, redete Glinn beruhigend auf ihn ein, »Rochefort wusste schon, was er tat, als er dieses Netz entworfen hat. Es ist viel stärker, als Sie meinen. Nehmen Sie sich eine Schwachstelle nach der anderen vor.« Der Veitstanz des Schiffes ging weiter. »Eli, der Meteorit... er verschiebt sich! Wir schaffen es einfach nicht, ihn ...« Das Funkgerät wurde stumm. Das Schiff verharrte den Bruchteil einer Sekunde in völliger Ruhe, ein Zittern lief durch den Rumpf, dann richtete es sich wieder auf. Den kleinen Ruck, der durch die Rolvaag ging, hatte wahrscheinlich nur Britton bemerkt. Es war wie ein kurzes Verharren, wie ein instinktives Zögern im Augenblick höchster Bedrohung. Glinn starrte wie gebannt auf den Lautsprecher. Ein hässliches Knacken, dann war Garza wieder dran. »Eli? Sind Sie da? Ich glaube, der Meteorit hatte sich seitlich verschoben, aber jetzt liegt er wieder fest in seiner Halterung.« Die Andeutung eines Lächelns huschte um Glinns Lippen. »Sehen Sie, Manuel, alles halb so schlimm. Geraten Sie nicht gleich in Panik. Konzentrieren Sie sich nur auf die wichtigsten Verknüpfungspunkte, vergessen Sie die anderen einfach. Sichern Sie die Schwachstellen. Und denken Sie dran: das Netz ist auf doppelte Sicherheit ausgelegt.« »Ja, Sir.« Das Schiff schlingerte abermals stark – eine unsäglich langsame, von schrillem Wimmern begleitete Bewegung. Und auch diesmal spürte Britton dieses kurze Verharren auf dem Scheitelpunkt der Welle. Aber sie spürte auch, dass sich die Rollbewegungen und die Geräusche des Schiffs verändert hatten: auf eine Weise, die ihr Angst machte. Sie schielte zu Glinn hinüber, dann zu Lloyd. Sie sah ihnen an, dass sie beide nichts gemerkt hatten. Sie aber war mit ihrem Schiff vertraut, jede Veränderung fiel ihr sofort auf. Wenn der Meteorit sich verlagerte, und sei es nur um wenige Millimeter, spielte das ganze Schiff verrückt. Diesmal hatte es zum Beispiel auf dem Kamm der Welle zu einer Drehbewegung, einer Art Pirouette angesetzt. Oder bildete sie sich das nur ein, weil die Nerven ihr einen Streich spielten? Sie starrte nach vorn und verfolgte im Licht der Schiffsscheinwerfer, wie die Rolvaag eine gewaltige Welle erklomm, sich heftig wand, als wolle sie seine schwere Last abschütteln, und dann jäh in das Wellental stürzte, wo eine schwarze Flutwelle das Deck überspülte, bis das Wasser durch die Speigatts wieder abgeflossen war. Und als die Rolvaag sich langsam hochstemmte, fing der unheimliche Felsbrocken im Zentraltank sofort wieder mit seinem Geächze und Gestöhne an. Einmal hatte sie bei einem schweren Sturm vor den Grand Banks gesehen, wie ein Schiff regelrecht auseinander gebrochen war. Der Rumpf barst mit einem scheußlichen schrillen Geräusch, das strudelnde Schwarzwasser drang sofort in den Bauch des Schiffes ein. Damals war niemand mit dem Leben davongekommen, der Sog des Strudels hatte alle mit in die Tiefe gerissen. Ein Bild, das sie noch heute bis in ihre Träume verfolgte. Sie schielte verstohlen zu Howell hinüber. Er hatte das kurze Verharren, bevor das Schiff sich wieder aufrichtete, wohl ebenfalls bemerkt. Sie sah es ihm an, als er sich zu ihr umwandte und sie schreckensbleich, mit aufgerissenen Augen anstarrte. Sie hatte nie so viel Angst in seinem Blick gelesen. »Captain ...«, begann er mit brüchiger Stimme. Britton winkte rasch ab. Sie wusste, was ihm auf der Zunge lag. Aber es auszusprechen war ihre Pflicht. Sie suchte Glinns Blick. Der Chef der EES machte einen befremdlich zuversichtlichen, beinahe heiteren Eindruck. Nun, es mochte ja vieles geben, wovon er etwas verstand, der sechste Sinn für den Zustand eines Schiffes gehörte aber anscheinend nicht dazu. Woher hätte er auch wissen sollen, dass die Rolvaag auseinander zu brechen drohte? Ihr Blick schweifte über die Gesichter auf der Brücke. Lloyd, McFarlane, Amira, Glinn – alle starrten stumm vor sich hin. Howell, Banks und die anderen Offiziere der Brückenwache hatten sich dagegen zu ihr umgewandt. Sie warteten darauf, dass sie etwas unternahm, um ihr Leben zu retten. Als sie wieder in ein tiefes Wellental stürzten und das Heulen des Windes abrupt aussetzte, nutzte sie die Gelegenheit: »Mr. Lloyd ...« »Ja?« Er kam zu ihr herüber. Vermutlich dachte er, sie brauche seine Hilfe. Britton ahnte, dass das, was sie vorhatte, nicht leicht werden würde. Sie fasste innerlich Mut und nahm einen neuen Anlauf. »Mr. Lloyd, wir müssen den Meteoriten loswerden.«

 

Rolvaag

19.00 Uhr

Die Worte gellten McFarlane in den Ohren wider. Sein Magen hatte sich wie bei einer Kolik verkrampft. Niemals! Niemals!, war der einzige Gedanke, den er fassen konnte. Nun ließ er die bedrückenden letzten Minuten in Gedanken Revue passieren und versuchte, sie innerlich zu verarbeiten. »Auf gar keinen Fall!«, hörte er Lloyd sagen. Ernst und so ruhig, dass die Worte fast im Tosen des Meeres untergingen. »Ich bin als Kapitän für dieses Schiff verantwortlich«, erwiderte Britton ebenso ruhig. »Das Leben meiner Besatzung hängt davon ab. Mr. Glinn, hiermit ordne ich an, dass Sie die Fallklappe betätigen. Das ist ein Befehl.« Nach einem kurzen, kaum merklichen Zögern ging Glinn zu der schwarzen Stahlkonsole der EES hinüber. »Nein!«, schrie Lloyd, fasste Glinns Arm und hielt ihn wie in einem Schraubstock umklammert. »Wenn Sie diesen Computer anfassen, bringe ich Sie mit bloßen Händen um!« Glinn schüttelte den Griff mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung ab. Lloyd, einen Augenblick lang aus dem Gleichgewicht gebracht, geriet ins Stolpern, fing sich wieder, stand keuchend da und stierte Glinn finster an. Abermals schlingerte das Schiff so stark, dass alle nach Halt suchen mussten. Wie erstarrt lauschten sie dem metallisch schrillen Wimmern nach, das wieder vom Bug bis zum Heck durch das Schiff drang. »Hören Sie das, Mr. Lloyd?«, rief Britton. Sie musste schreien, um das unheimliche Geräusch zu übertönen. »Dieser gottverdammte Gesteinsbrocken dort unten wird mein Schiff auf den Grund des Meeres befördern!« »Glinn, lassen Sie die Finger von dem Keyboard!«, dröhnte Lloyds drohende Stimme. Howell fahr herum. »Haben Sie nicht gehört, was der Captain befohlen hat?«

»Nein«, konterte Lloyd. »Nur Glinn kennt den Code, und er wird den Computer nicht anrühren. Er darf es nicht. Nicht ohne meine Zustimmung. Eli, haben Sie das verstanden? Ich befehle Ihnen hiermit, die Fallklappe nicht zu betätigen!« Er zwängte sich an Glinn vorbei, hastete zur Konsole und versperrte jedem, der sich ihm nähern wollte, den Weg. Howells Stimme überschlug sich fast. »Offizierswache! Ergreifen Sie den Mann und schaffen Sie ihn raus!« Aber Britton hob beschwichtigend die Hand. »Mr. Lloyd, geben Sie den Weg frei. Und Sie, Mr. Glinn, handeln bitte nach meiner Anweisung.« Das Schiff bäumte sich immer steiler auf. Jedes Mal, wenn es eine Welle erklomm, pflanzte sich das unheimliche Knacken durch den ganzen Schiffsrumpf fort, steigerte sich zu einem schrill kreischenden, an berstendes Metall erinnernden Geräusch, bis es dann, sobald die Rolvaag sich wieder absenkte, jäh verstummte. Lloyd hielt mit beiden Armen den EES-Computer umklammert, sein Blick irrte wie gehetzt hin und her und blieb schließlich an McFarlane hängen. »Sam!« McFarlane hatte den emotionsgeladenen Konflikt stumm, beinahe wie in Trance verfolgt. Er fühlte sich zwischen seinen eigenen zwiespältigen Gefühlen hin- und hergerissen. Auf der einen Seite fürchtete er um sein Leben, auf der anderen war er um nichts auf der Welt bereit, den Meteoriten und mit ihm die zahllosen Geheimnisse, die er in sich barg, herzugeben. »Sam!« Lloyds Stimme klang fast flehentlich. »Sie sind hier der Mann, der das aus wissenschaftlicher Sicht beurteilen kann. Erzählen Sie den anderen von den Tests, die Sie gemacht haben. Von dem neu entdeckten Element. Von ... von ...« Er verlor den Faden. »Erklären Sie ihnen, dass sie den Meteoriten auf keinen Fall abwerfen dürfen!« McFarlane spürte, wie seine Kehle sich zuschnürte. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass es ein unverzeihlicher Fehler gewesen war, den Meteoriten an Bord dieses Schiffes zu bringen und mit ihm in See zu stechen. Wenn die Rolvaag jetzt sank, würde der Stein mit ihr abgrundtief im unergründlichen Schlamm des Meeresbodens versinken und nie wieder gefunden werden – ein unermesslicher, unersetzlicher Verlust für die Wissenschaft. Er räusperte sich. »Lloyd hat Recht. Es handelt sich möglicherweise um die bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung, die je gemacht wurde. Sie dürfen ihn nicht abwerfen.« Britton fuhr herum. »Wir haben keine andere Wahl. Der Meteorit wird so oder so im Meer versinken, egal, was wir tun. Die Frage ist nur, ob wir mit ihm untergehen wollen.«

 

Rolvaag

19.10 Uhr

McFarlane betrachtete die Gesichter ringsum: Lloyd – zwischen Verzweiflung und Hoffnung hin- und hergerissen. Glinn – verschlossen und unergründlich. Britton – angespannt und konzentriert. Ein Haufen dem Untergang Geweihter, mit rot gefrorenen Gesichtern und blutenden kleinen Schnittwunden von den Eissplittern, die durch die leeren Fensterstöcke eindrangen. Schließlich fiel Lloyd in seiner Verzweiflung etwas ein: »Wir könnten doch stattdessen das Ice Ship aufgeben. Lassen wir’s in Gottes Namen ohne uns weitertreiben. Vielleicht übersteht es den Sturm. Jedenfalls müssen wir dann den Meteoriten nicht abwerfen.« »Bei dieser See Rettungsboote aussetzen? Das grenzt an Selbstmord«, widersprach Britton. »Mein Gott, da draußen sind Temperaturen weit unter null Grad!« »Aber wir dürfen ihn einfach nicht abwerfen!«, rief Lloyd aus. »Das wäre ein Verbrechen an der Wissenschaft. Wieso verlieren plötzlich alle die Nerven? Wir haben schon ganz andere Situationen gemeistert. Glinn, sagen Sie ihnen, dass sie überreagieren.« Aber Glinn sagte nichts. Britton blieb hart. »Ich kenne mein Schiff.« Lloyd schien unschlüssig, ob er es mit Drohungen oder mit Betteln versuchen sollte. Im roten Schimmer, den die Notbeleuchtung auf sein bleiches Gesicht warf, sah er wie eine Geistererscheinung aus. Plötzlich fuhr er herum und redete beschwörend auf McFarlane ein: »Sam, es muss doch etwas geben, irgendeinen Ausweg! Erklären Sie ihnen den unschätzbaren Wert, den der Meteorit für die Wissenschaft hat! Den unwiederbringlichen Verlust, den es für die Menschheit bedeuten würde, wenn wir ...«

McFarlane sah ihn apathisch an. Er war seekrank, Übelkeit und der Gedanke an das eiskalte Wasser setzten ihm zu. Aber in seinem Gehirn hämmerte es unablässig: Nein, wir dürfen ihn nicht verlieren! Dann fiel ihm Nestor ein. Auf einmal begriff er, was es hieß, sterben zu müssen. Und von dem Augenblick an hatte er nur noch entsetzliche Angst – Todesangst. Sein Verstand war wie gelähmt, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. »Sam! Zum Teufel, machen Sie endlich den Mund auf, erklären Sie’s ihnen!« McFarlane wollte etwas sagen, aber der Wind war stärker geworden und wehte ihm die Worte von den Lippen. »Was? Was haben Sie gesagt?«, schrie Lloyd. »Seid alle mal ruhig, Sam will etwas sagen.« »Geben Sie den Meteoriten auf«, brachte McFarlane schließlich heraus. Lloyd starrte ihn fassungslos an. Er suchte vergeblich nach Worten. »Sie haben den Captain gehört«, sagte McFarlane. »Er wird so oder so auf dem Meeresboden enden. Der Kampf ist verloren.« Das Gefühl der Hilflosigkeit drohte ihn zu überwältigen. Er spürte etwas Warmes, Feuchtes in den Augenwinkeln und brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es Tränen waren. So viel unsägliche Mühe – und alles umsonst ... Lloyd kehrte McFarlane abrupt den Rücken zu und wandte sich an Glinn. »Eli! Sie haben mich nie im Stich gelassen. Wühlen Sie in Ihrer Trickkiste – bitte! Lassen Sie nicht zu, dass der Meteorit abgeworfen wird!« Sein Tonfall war pathetisch geworden, flehentlich und beschwörend. Er war bereit, alles aufs Spiel zu setzen, notfalls sogar seine Würde. Glinn sah ihn nur stumm an. Wieder ein Wellenkamm, das Schiff krängte. McFarlane folgte Brittons Blick auf den Neigungsmesser. Es gab nichts mehr zu sagen, der Wind hätte ohnehin jedes Wort verweht. Und dann war da wieder dieses unheimliche, gespenstische Geräusch. Die Rolvaag neigte sich um dreißig Grad zur Seite und verharrte reglos in dieser Position. Alle klammerten sich irgendwo fest. Und plötzlich war es die Angst, die McFarlane half, den Verlust des Meteoriten zu verschmerzen und wieder klar zu denken. Er wünschte sich nur noch, dass sie dieses Monstrum loswurden. »Komm hoch«, hörte er Britton murmeln, »mach schon, komm wieder hoch!« Aber das Schiff verharrte störrisch in seiner Schräglage. Die Brücke hing so schief, dass vor den Fenstern nichts als schwarzes Wasser zu sehen war. McFarlane hatte das Gefühl, dass ihm jeden Augenblick die Beine weggezogen würden. Und dann – ganz plötzlich und von einem Schaudern geschüttelt – richtete das Schiff sich wieder auf. Angst, Wut und Frustration spiegelten sich in Lloyds Miene wider. Er ließ den EES-Computer los, an dem er sich festgeklammert hatte, sah sich ratlos um und zuckte resignierend die Schultern. »Also gut«, sagte er schließlich mit erstickter Stimme, »werfen wir ihn ab.« »Sie haben gehört, was er sagt«, wandte sich Britton an Glinn. »Machen Sie schon. Schnell – sofort!« Langsam, wie in Trance, setzte sich Glinn an die Konsole. Seine Finger schwebten über den Tasten des Keyboards. Dann drehte er sich zu McFarlane um. »Etwas möchte ich noch wissen, Sam. Wenn der Meteorit mit Salzlösung reagiert, was wird dann passieren, wenn er genau unter Kiel in den Ozean eintaucht?« Die Frage war McFarlane die ganze Zeit über durch den Kopf gegangen. Er dachte fieberhaft nach. »Meerwasser ist ein guter Leiter«, sagte er. »Es wird die Wirkung der elektrischen Entladung abschwächen.« »Sind Sie sicher, dass es nicht wie eine Sprengladung wirkt und das Schiff in die Luft fliegt?« McFarlane zögerte. »Nein.« Glinn nickte. »Verstehe.«

Alle warteten darauf, seine Finger nun über das Keyboard fliegen zu sehen. Doch Glinn saß, über die Konsole gebeugt, reglos da. Das Schiff stürzte in ein tiefes Wellental, sie waren jäh von Stille umhüllt. Endlich sah Glinn auf. Seine Finger schwebten weiter über der Tastatur. »Es ist unnötig«, sagte er ruhig. »Und unberechenbar gefährlich.« Seine schlanken Hände lösten sich vom Keyboard. Er stand auf und drehte sich um. »Das Schiff wird den Sturm überstehen. Rocheforts Arbeit hat sich stets als verlässlich erwiesen. Ich sehe keine Notwendigkeit, die Fallklappe zu betätigen. So wie die Dinge zurzeit liegen, muss ich Mr. Lloyd zustimmen.« Der Schock verschlug allen die Sprache. »Wenn der Meteorit in Kontakt mit Meerwasser kommt, könnte die Explosion das Schiff versenken«, fügte Glinn hinzu. »Ich habe Ihnen doch gerade erklärt, dass das Meerwasser die Wirkung der Entladung dämpft«, widersprach McFarlane. Glinn schürzte die Lippen. »Das vermuten Sie. Aber wir können nicht das Risiko eingehen, dass die Türen der Abwurfklappe beschädigt werden. Wenn sie sich nicht mehr schließen lassen, wird der gesamte Tankraum geflutet.« Britton sagte: »Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass die Rolvaag sinkt, wenn wir den Meteoriten nicht abwerfen. Eli, begreifen Sie denn nicht? Von diesen Wellenkämmen stehen wir kein Dutzend mehr durch.« Wie aufs Stichwort bäumte die Rolvaag sich steil auf und schleuderte auf den nächsten Wellenkamm. »Sally«, sagte Glinn in einem Ton, in dem normalerweise ängstliche Kinder beruhigt werden, »von Ihnen hätte ich am allerwenigsten erwartet, dass Sie in Panik geraten. Wir werden die See auswettern, glauben Sie mir.« Britton sog scharf die Luft ein. »Eli, ich kenne mein Schiff, es ist aus und vorbei, Himmel noch mal. Ist Ihnen das denn nicht selber klar?« »Absolut nicht«, erwiderte Glinn. »Das Schlimmste ist ausgestanden, vertrauen Sie mir.«

Glauben Sie mir, vertrauen Sie mir – das klang bei dem Seegang wie Hohn und Spott. Und in diesem Moment hörten sie Garzas Stimme aus dem Lautsprecher, viel schwächer als vorher, von Rauschen überlagert. »Eli! Das Netz löst sich auf! Haben Sie gehört? Es löst sich auf!« Glinn beugte sich über das Mikro. »Halten Sie durch, Mann! Ich bin gleich bei Ihnen.« Britton griff nach dem zweiten Mikro. »Mr. Garza? Hier spricht der Kapitän. Kennen Sie sich mit der Fallklappe aus?« »Ich habe sie gebaut.« »Dann lösen Sie sie aus.« Glinn stand seelenruhig da. McFarlane fragte sich, wieso er seine Meinung plötzlich geändert hatte. Ob er am Ende tatsächlich Recht hatte? Konnte das Schiff den Sturm überstehen – mit dem Meteoriten an Bord? Doch dann las er die nackte Angst in den Gesichtern der Offiziere, merkte, wie das Schiff wieder auf einen Wellenkamm katapultiert wurde, spürte, wie es sich ächzend um die eigene Achse zu drehen begann ... Und all das wollte so gar nicht zu der Zuversicht passen, die Glinn ausstrahlte. »Die Fallklappe kann nur über den EES-Computer auf der Brücke betätigt werden«, sagte Garza. »Eli hat die Codes.« »Können Sie sie nicht manuell auslösen?«, fragte Britton. »Nein. Eli? Um Himmels willen, beeilen Sie sich! Es kann nicht mehr lange dauern, bis der Koloss sich losreißt und den Schiffsrumpf durchschlägt!« »Mr. Garza«, sagte Britton scharf, »weisen Sie Ihre Männer an, sofort zum Sammelpunkt für das Ausbooten zu kommen.« Glinn griff nach seinem Mikro. »Garza, ich widerrufe die Anordnung. Wir kriegen das Problem da unten in den Griff. Machen Sie sich wieder an die Arbeit.« »Nein, Sir, auf keinen Fall. Wir hauen ab!« Und damit verstummte der Lautsprecher. Glinn war aschfahl geworden. Das Schiff stürzte in ein Wellental, wieder wurde es gespenstisch still. Britton ging zu ihm und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Eli, ich weiß, dass Sie Manns genug sind, einen Irrtum einzugestehen. Sie haben die innere Größe dazu. Und in diesem Augenblick sind Sie der Einzige, der uns und das Schiff noch retten kann. Ich beschwöre Sie: Lösen Sie die Fallklappe aus, bitte!« Sie fasste mit der anderen Hand nach der von Glinn. Einen Augenblick lang wirkte er unschlüssig. Plötzlich kam Puppup auf die Brücke gehuscht, in seinen alten Klamotten, nass bis auf die Haut. In seinen Augen lag ein seltsam erwartungsvoller, fast schon verklärter Glanz. McFarlane lief es kalt über den Rücken. Glinn drückte Brittons Hand und sagte lächelnd: »Was für ein Unsinn, Sally – das sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Begreifen Sie denn nicht, dass das Netz halten wird? Wir haben es für solche Situationen ausgelegt. Es besteht absolut kein Grund, die Fallklappe zu betätigen. Im Gegenteil, unter den gegebenen Umständen wäre das sogar gefährlich.« Er sah die Offiziere der Brückenwache der Reihe nach an. »Ich mache niemandem von Ihnen einen Vorwurf. Ich kann verstehen, dass Sie Angst haben, das ist eine ganz natürliche Reaktion. Aber Sie sollten sich vor Augen halten, dass ich bisher für alle Probleme eine Lösung gefunden habe. Ich versichere Ihnen: Das Netz wird halten, wir werden dem Sturm trotzen. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben, nur weil der eine oder andere die Nerven verliert.« McFarlane spürte, dass auf einmal wieder Hoffnung in ihm keimte. Wenn Glinn nun wirklich Recht hatte? Er hatte bis jetzt jede Situation gemeistert, so verzwickt und aussichtslos sie auch erschienen war. Und als er zu Lloyd hinüberschielte, sah er, dass auch der sich nichts sehnlicher wünschte, als auf Glinn zu vertrauen. Das Schiff bäumte sich auf. Keiner sagte ein Wort, alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich irgendwo festzuklammern. Und wieder machten ihnen dieselben Geräusche Angst, die sie nun schon Gott weiß wie oft gehört hatten: das schrille Kreischen reißender Metallverbindungen, das Ächzen und Stöhnen, wenn der Rumpf des Schiffes sich dehnte und streckte ... Nur, dieses Mal waren die Geräusche so laut, dass sie selbst den heulenden Sturm übertönten. Und da wurde es McFarlane endgültig und unwiderruflich klar, dass Glinn dieses Mal Unrecht hatte. Auf dem Kamm der Welle wurde das Schiff durchgeschüttelt wie bei einem Erdbeben, die Notbeleuchtung fing zu flackern an. Und dann – nach einem nicht enden wollenden Augenblick, in dem McFarlane zu spüren glaubte, wie ihm das Blut in den Adern gefror – stürzte die Rolvaag vom Kamm der Welle in einen Abgrund lautloser Stille. »Glinn, Sie verdammter Narr, diesmal haben Sie Unrecht!«, schrie Lloyd, sichtlich von den Ängsten gezeichnet, die er während der letzten Sekunden ausgestanden hatte. »Na los, legen Sie endlich den Hebel um – machen Sie schon!« Die Art, wie Glinn ihn anlächelte, erinnerte ein wenig an hämisches Grinsen. »Tut mir Leid, Mr. Lloyd. Ich bin nun mal der Einzige, der die Codes kennt, und ich habe mir vorgenommen, Ihren Meteoriten auch diesmal zu retten – wenn es sein muss, sogar gegen Ihren Willen.« Lloyd stürzte sich mit einem Schrei auf Glinn. Aber der EES-Chef wich ihm geschmeidig aus und warf ihn mit einem blitzschnellen Handkantenschlag zu Boden. »Mr. Howell«, rief Britton, »alle Männer zu den Sammelpunkten, wir geben das Schiff auf.« Glinn sah sie ungläubig an, seine Pupillen verengten sich, aber er sagte nichts. Howell starrte Glinn finster an. »Ihretwegen müssen wir jetzt bei diesem Sturm in die Rettungsboote steigen, Sie Vollidiot. Damit haben Sie das Todesurteil über uns gesprochen.« »Ich glaube eher, ich bin der Einzige auf dieser Brücke, der hier einen kühlen Kopf behält«, erwiderte Glinn ungerührt. Lloyd stemmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hoch, versuchte, wieder auf die Beine zu kommen und würdigte Glinn, als er es schließlich geschafft hatte, keines Blickes mehr.

Glinn drehte sich um und verließ wortlos die Brücke. »Mr. Howell«, wandte sich Britton an den Ersten Offizier, »setzen Sie auf 406 MHz ein SOS ab. Und sorgen Sie dafür, dass alle Männer die Boote besteigen.« An der Tür der Brücke blieb sie noch einmal stehen. »Falls ich in fünf Minuten nicht wieder da bin, gehen Sie davon aus, dass Sie die Pflichten des Kapitäns übernehmen müssen.«

 

Rolvaag

19.35 Uhr

Eli Glinn stand auf dem eisernen Laufsteg Nummer drei hoch über dem Zentraltank. Er hörte hinter sich ein knirschendes Geräusch: Puppup verriegelte das Schott, das den Tunnel vom Laufsteg trennte. Irgendwie fühlte er sich dem Yaghan gegenüber zu Dankbarkeit verpflichtet. Puppup war ihm als Einziger treu ergeben, während alle anderen, selbst Sally, ihn bitter enttäuscht hatten. Er war nach der Hysterie auf der Brücke innerlich aufgewühlt. Sie hätten mehr Vertrauen zu ihm haben müssen, schließlich hatten sich die Dinge durch seine Entscheidung jedes Mal zum Guten gewendet. Draußen gellte ein Alarmhorn, das Echo hallte im Bauch des Schiffes wider. Ein unangenehmes, beinahe unheimliches Geräusch. In den kommenden Stunden würde die raue See viele Männer verschlingen. Was völlig unnötig war, denn die stolze Rolvaag würde überleben, dessen war er sich sicher. Und nicht nur sie, auch die Fracht, die sie geladen hatte. Und alle, die an Bord ausharrten. Im Morgengrauen, wenn der Sturm nur noch eine böse Erinnerung war, würden sie irgendwo auf die Schlepper treffen, die South Georgia ihnen schickte, und ein paar Tage später würde die Rolvaag mit dem Meteoriten nach New York zurückkehren. Jammerschade, dass dann so viele von ihnen nicht mehr dabei waren. Sally Britton ging ihm nicht aus dem Sinn. Eine beeindruckende, eine wundervolle Frau. Dass sie am Schluss kein Vertrauen mehr zu ihm gehabt hatte, stimmte ihn traurig. Er würde nie wieder so eine Frau finden, das wusste er. Aber alles, was er jetzt noch für sie tun konnte, war, ihr Schiff zu retten. So etwas wie eine persönliche Beziehung war nach dem heutigen Tag undenkbar geworden. Er lehnte sich an die Längswand des Tankraums. Merkwürdig, wie lange es dauerte, bis sein Atem wieder ruhig ging. Als die Rolvaag seitlich wegkippte, klammerte er sich schnell an der Reling des Laufstegs fest. Zugegeben, diesmal war der Neigungswinkel enorm groß, aber er lag immer noch unter den kritischen fünfunddreißig Grad. Tief unten – wo der Meteorit in seiner Halterung ruhte – hörte er ein metallisches Klirren und Sirren, das ihn irgendwie an zorniges Aufbegehren erinnerte. Schließlich richtete das Schiff sich ächzend wieder gerade. Eine Tragödie, dass sie ihm nach allem, was er für sie getan hatte, nach all den Erfolgen, deren geistiger Vater er gewesen war, auf einmal nicht mehr vertrauten – gerade jetzt, in der entscheidenden Schlussphase der Expedition. Alle stellten sich gegen ihn. Alle, bis auf Puppup. Er sah den alten Mann dankbar an. »Woll’n wir da runter, Chef?« Glinn nickte. »Ich brauche Ihre Hilfe.« »Na klar, darum bin ich ja da.« Sie gingen bis ans Ende des Laufstegs. Dort unten lag er, der Meteorit, von Plastikplanen verhüllt und durch das von Rochefort entworfene Netz gesichert. Die Notbeleuchtung warf dämmeriges Licht auf ihn. Der Tankraum sah aus wie immer: trocken und ohne erkennbare Risse in den Außenwänden. Es war eben ein zuverlässiges, in jeder Beziehung besonderes Schiff. Die Idee, den Rumpf durch drei Lagen Stahl zu verstärken, machte sich bezahlt. Und der Meteorit sah selbst unter der Abdeckung noch majestätisch schön aus. Fest und unverrückbar ruhte er in seiner Halterung, Glinn hatte es ja gewusst. Sein Blick suchte die Längs- und Querstreben ab. Es gab etliche Schadstellen, das musste er zugeben: verbogene Spanten, fehlende Metallstücke, Bruchstellen, die von zu starker Belastung herrührten. Rings um die Halterung lag all das herum, was Zeugnis von den unvorstellbaren Kräften gab, die auf Rocheforts Konstruktion eingewirkt hatten: abgesprengte Endverbindungen, gerissene Kettenglieder, zersplittertes Holz. Kein Wunder, dass die Halterung bei jedem Schlingern in allen Fugen ächzte. Aber das Sicherungsnetz sah – zumindest an den Schnittpunkten – intakt aus. Der Fahrstuhl hatte dagegen seinen Geist aufgegeben. Auch gut, dann nahmen sie eben die Treppe. Der Bug hob sich steil nach oben, das Schiff legte sich auf die Seite. Glinn blieb kurz stehen, hielt sich fest, dann stieg er weiter die Stufen hinunter. Es dauerte länger, als er gedacht hatte. Als sie fast unten waren, krängte das Schiff wieder, und zwar in solchem Ausmaß, dass die Treppe nicht mehr nach unten, sondern waagerecht ins Leere zu führen schien. Glinn krampfte sich am Handlauf fest und wartete, bis die Schieflage aufhörte. Jetzt konnte er ihn schon sehen: unter den Planen lugte das glutrote Gestein des Meteoriten hervor. Das beharrliche Ächzen und Stöhnen der Halterung hörte sich schrecklich an, wie eine infernalische Symphonie, aber es hatte nichts zu bedeuten. Als das Schiff sich erneut schräg legte, zog Glinn rasch die goldene Taschenuhr heraus, ließ sie mit ausgestrecktem Arm an der Kette nach unten durchhängen und schätzte den Neigungswinkel ab. Fünfundzwanzig Grad, weit unter dem kritischen Limit. Plötzlich hörte er ein leise grollendes Geräusch und glaubte zu sehen, dass ein Zittern durch den Meteoriten lief. Als der Bug der Rolvaag steil nach oben schoss, folgte der Meteorit der Bewegung. Glinn war sich nicht sicher, ob das Schiff die Bewegung des Meteoriten auslöste oder umgekehrt. Er hatte den Eindruck, dass der rote Koloss sich leicht seitlich verschob, als wolle er seine Halterung durchbrechen – und richtig, da hörte er es auch schon splittern. Rasch ein Blick auf die Uhr: siebenundzwanzig Grad, achtundzwanzig ... Ein Beben lief durch den Schiffsrumpf, dann kam der Tanker in die Senkrechte. Glinn atmete auf. Achtundzwanzig Grad, noch weit unter der Toleranzgrenze. Der Meteorit schob sich von selbst in seiner Wiege zurecht, die kurze Bewegung pflanzte sich als Beben durch den ganzen Tankraum fort. Das schrille metallische Quietschen endete abrupt, und auch der heulende Sturm legte eine Atempause ein, als das Schiff jäh in ein Wellental tauchte. Glinn wusste genau, was er zu tun hatte: die Ankerketten der Halterung straff über den Meteoriten ziehen. Die Vorrichtung war so konstruiert, dass das von einer Person allein erledigt werden konnte, die Knochenarbeit übernahm der eigens für solche Fälle eingebaute Hilfsmotor. Seltsam, dass Garza sich nicht längst darum gekümmert hatte. Er schaltete den Hilfsmotor ein. Grünes Licht, alles funktionierte einwandfrei. Was er natürlich erwartet hatte. Er schob den Hebel in den Vorwärtsgang: Na also, die mächtigen gummiummantelten Ketten, die sich während der ständigen Bewegungen des Meteoriten gelockert hatten, strafften sich prompt. Warum war Garza das nur nicht eingefallen? Der Grund lag auf der Hand: Er war in Panik geraten und hatte die Nerven verloren. Das sah ihm eigentlich überhaupt nicht ähnlich. Aber innerhalb der letzten Stunde hatten ihn so viele enttäuscht, von denen er das nie für möglich gehalten hätte. Umgekehrt konnte ihm das bestimmt keiner nachsagen. Die Ketten lagen straff über den Plastikplanen. »Nehmen Sie den Kasten mit«, wies er Puppup an und deutete auf den Werkzeugkasten, der auf dem Boden stand. Anscheinend hatte Garza es sehr eilig gehabt.Das Schiff bäumte sich auf, die Ketten waren bis zum Äußersten gespannt. Plötzlich ein scharfes ratschendes Geräusch – die Ketten, die er gerade erst nachgezogen hatte, lockerten sich wieder. Er blinzelte angestrengt ins Halbdunkel. Und da sah er, dass er Garza Unrecht getan hatte. Garza hatte es versucht. Der stählerne Sperrkopf der Ratsche war abgesprengt worden, folglich war der Gang des Hilfsmotors bei der ersten stärkeren Belastung herausgesprungen. So wie es aussah, konnte er den Hilfsmotor also vergessen.

Als das Schiff sich anschickte, den nächsten Wellenkamm zu erklimmen, hörte er von oben eine Stimme, die nach ihm rief. Er tauchte unter dem Sicherungsnetz hervor und starrte zum Laufsteg hinauf. Sally Britton. Sie setzte ihre Schritte auf dem schmalen Laufsteg mit einer natürlichen Würde, die ihn schon bei ihrer ersten Begegnung überaus beeindruckt hatte. Es gab eine Art Anmut, die man nicht erlernen konnte. Sie musste einem angeboren und in Jahren und Jahrzehnten in Fleisch und Blut übergegangen sein. Er merkte, dass sein Herz schneller schlug. Sally hatte es sich anders überlegt, sie wollte doch auf dem Schiff ausharren. »Eli!«, rief sie ihm zu, »das Schiff wird jeden Augenblick auseinander brechen!« Eine Welle jäher Enttäuschung durchflutete ihn. Sie hatte ihre Meinung nicht geändert. In dem Fall hielt ihr unerwarteter Besuch ihn nur von der Arbeit ab. Er wandte sich wieder der Halterung des Meteoriten zu. Und plötzlich war es ihm klar: Er musste den Bolzen anziehen, der genau über der Mitte der oberen Rundung saß. Sobald der wieder festen Halt gab, konnte der Meteorit sich nicht mehr verschieben, egal, wie stark das Schiff schlingerte. Dazu musste er freilich die Plastikplane ein Stück aufschneiden, etwa zehn, zwölf Zentimeter, aber das war ja schnell getan. Er benutzte die nächste Kette als Trittleiter und kletterte nach oben. »Eli – bitte! Für uns liegt ein Rettungsboot bereit. Lassen Sie den Koloss, wie er ist, und kommen Sie mit!« Glinn kletterte weiter, Puppup folgte ihm mit dem Werkzeugkasten. Er hatte jetzt keine Zeit für nutzlose Diskussionen, er musste sich auf seine Arbeit konzentrieren. Als er bei der oberen Rundung des Meteoriten angekommen war, sah er zu seiner Überraschung, dass die Plastikplane bereits aufgeschnitten war. Genau an der richtigen Stelle, er konnte den Kettenbolzen sehen. Und der Bolzen saß tatsächlich locker, genau wie er vermutet hatte. Während das Schiff sich langsam aus einem Wellental nach oben hob, setzte er den Schraubenschlüssel auf den Mutterbolzen, hielt ihn mit einem zweiten Schraubenschlüssel fest und wollte anfangen die Schraubverbindung festzuziehen. Es bewegte sich nichts. Der Bolzen saß wie festgebacken auf dem Schraubgewinde. Er hatte nicht bedacht – weil er es sich schlichtweg nicht vorstellen konnte –, was für ein ungeheurer Druck auf der Schraubverbindung lastete. »Halten Sie den Schraubenschlüssel fest«, sagte er zu Puppup. Der alte Mann streckte den schmächtigen Arm aus. Das Schiff geriet in eine bedrohliche Schräglage. »Kommen Sie mit mir zur Brücke, Eli!«, rief Britton. »Vielleicht ist es noch nicht zu spät, die Fallklappe auszulösen. Das könnte uns beiden das Leben retten.« Während er versuchte, den Bolzen zu lockern, sah Glinn einen Augenblick lang zu ihr hoch. Er hörte kein flehentliches Bitten aus ihren Worten heraus, betteln war nicht Sallys Art. Sie appellierte an seine Vernunft. Und genau das konnte er nicht ertragen. »Sally, die Einzigen, die sterben werden, sind diese Idioten in den Rettungsbooten. Wenn Sie auf mich hören und auf dem Schiff bleiben, werden wir beide überleben.« Kniend, weit nach vorn gebeugt, versuchte er weiter, den Bolzen zu lockern. Irgendjemand hatte es schon vor ihm probiert, das sah er deutlich an den frischen Schleifspuren. Als die Rolvaag von der nächsten Welle hochgerissen wurde, musste er beide Füße fest in die Kettenglieder stemmen, um Halt zu haben. Als das Schlimmste vorbei war, versuchte er wieder mit aller Kraft, die Schraubverbindung zu lockern. Vergeblich. Und wieder kippte das Schiff seitlich weg. Britton musste jetzt laut schreien, um das Ächzen des Schiffsrumpfes zu übertönen. »Eli, dieses Dinner mit Ihnen ... ich hätte mich so darauf gefreut. Ich verstehe nicht sonderlich viel von Poesie, aber das Wenige, was ich darüber weiß, hätte ich gern mit Ihnen geteilt. Sie ahnen ja gar nicht, wie gern.« Ein Beben lief durch den Meteoriten, Glinn musste sich mit beiden Händen festkrallen, als sich der rote Koloss – dem Neigungswinkel des Schiffs folgend – seitlich verschob. »Und ich glaube ... ich glaube, es wäre der Anfang einer wunderschönen Liebe geworden, Eli.« Glinn starrte zu ihr hinauf. Er sah an ihren Lippen, dass sie ihm noch mehr zu sagen versuchte, aber die schrillen Schreie, mit denen das Schiff gegen die unaufhörliche Tortur protestierte, übertönten alles. Er konnte den Blick nicht abwenden. Ihr goldblondes Haar hatte sich aufgelöst und fiel ihr wirr auf die Schultern. Er hätte geschworen, dass er sogar im trüben Licht der Notbeleuchtung den seidigen Glanz sehen konnte. Während er nach oben starrte, bekam er im Unterbewusstsein mit, dass das Schiff diesmal nicht in seine Trimmlage zurückkehrte, es krängte weiter. Sein Blick huschte wie gehetzt zu dem Bolzen, dann zu Puppup. Der Yaghan stand breit grinsend hinter ihm, aus seinem dünnen Bärtchen tröpfelte Wasser. Glinn haderte im Stillen mit sich, dass er sich auf Brittons beschwörendes Zureden eingelassen hatte, anstatt sich auf das einzig wichtige Problem zu konzentrieren. Das Schiff gierte sehr weit über, das Knirschen und Ächzen im Rumpf war ohrenbetäubend. Er wollte noch einmal seine Taschenuhr zu Hilfe nehmen, um die Schräglage abzuschätzen, doch die Uhr pendelte auf einmal unkontrolliert hin und her. Als er nach der Kette griff, rutschte ihm die Uhr aus den Fingern, fiel nach unten und zerschellte auf dem Meteoriten. Er sah nur noch ein paar Glassplitter und winzige Goldteilchen auf der roten Oberfläche glitzern, der Rest war irgendwo in der Halterung verschwunden. Von einem Moment zum anderen schien die Gierung noch stärker zu werden. Oder bildete er sich das nur ein? Im Grunde konnte all das, was sich hier abspielte, gar nicht wahr sein. Die Konstruktion war auf doppelte Sicherheit ausgelegt, sie hatten die Berechnungen mehrmals überprüft und alle nur denkbaren potenziellen Störfaktoren einkalkuliert. Und plötzlich spürte er, wie sich unter ihm der Meteorit bewegte. Auf der belasteten Seite waren die Ketten zum Zerreißen gespannt, die Plastikplanen rutschten weg, das Sicherungsnetz löste sich vor seinen Augen auf. Auf einmal sah er den Meteoriten nackt und bloß in der Halterung liegen. Das Dämmerlicht der Notbeleuchtung gaukelte ihm die Horrorvision einer großen roten Wunde vor. Und das Schiff neigte sich immer weiter zur Seite. Glinn versuchte, eilends nach unten zu klettern, aber er kam nicht schnell genug weg, sein Fuß hatte sich in einem der Kettenglieder verhakt. Und plötzlich schienen Himmel und Hölle einzustürzen, ein ohrenbetäubendes Getöse brach los. Die Halterung aus Stahl und Eichenholz barst, Splitter flogen in einem Funkenregen durch den Tankraum. Der Meteorit rollte unaufhaltsam weiter – wie ein riesiges Raubtier, das eben noch lautlos gelauert hat und nun zum Sprung ansetzt. Er rollte und rollte und riss ihn mit ins Dunkel. Pechschwarze Nacht hüllte ihn ein, er spürte, wie ihn ein Schwall eisiger Luft traf...

Leises Gläserklingen, gedämpftes Stimmengewirr. Im L’Ambroise – dem Treffpunkt der Pariser Kunstszene und Finanzwelt – herrschte Hochbetrieb. Es war ein Abend wie Samt und Seide, draußen, vor der dezenten Fassade des Restaurants, warf ein rauchiger Herbstmond wundersamen Glanz auf das Marais-Viertel. Glinn lächelte Sally Britton zu, die ihm an dem mit feinem Damast gedeckten Tisch gegenübersaß. »Den solltest du unbedingt probieren«, sagte er, als der Weinkellner eine Flasche Veuve Cliquot mit dezentem Zischen öffnete und ihr einschenkte. Er hob sein Glas und trank ihr zu. Sie erwiderte sein Lächeln und zitierte versonnen:

»... bis sich barmherzig Über alles Unvermögen der Mantel des Vergessens senkt. Der Sensenmann allein hat den verlor’nen Schrei vernommen, Für ihn war’s Erntezeit, ihm war der Schrei willkommen.«

Über alles ... alles Unvermögen? Während Glinn noch rätselte, ob das wohl ein Vorwurf sein sollte, gellte ihm ein irres Gelächter in den Ohren – Puppups Lachen, aber er konnte den Yaghan nirgendwo sehen. Und dann zerfloss die Szene plötzlich im Schein eines strahlend hellen, wunderschönen Lichts.

 

Drake-Straße

19.55 Uhr

McFarlane klammerte sich mit einer Hand an der Halteleine des Rettungsboots fest, mit dem freien Arm hielt er Rachel umfasst. Der Albtraum der letzten zwanzig Minuten hatte sich unvergesslich in seine Erinnerung eingegraben. Britton war nach dem Verlassen der Brücke nie wiedergesehen worden. Howell hatte das Kommando übernommen und sie angewiesen, sich zu den Sammelpunkten zu begeben. Auf das qualvolle Warten auf das Einbooten folgten die bangen Sekunden, bis das Boot endlich auf dem tosenden Meer aufsetzte. Das alles war nach Vallenars wahnwitziger Jagd auf sie, nach dem schrecklich Sturm und dem verzweifelten und dann doch vergeblichen Versuch, den Meteoriten zu retten, einfach zu viel gewesen. Nun kam McFarlane zum ersten Mal dazu, sich in dem Boot umzusehen. Es war wie ein übergroßes Torpedo geformt, mit einer schmalen Einstiegsluke und kleinen Bullaugen an der Seite. Howell stand draußen am Steuer, im nicht überdachten Bug. Im Inneren des Bootes hockten, eng aneinander gedrängt, etwa zwanzig Personen, darunter Lloyd. Einigen hatte das Schicksal besonders übel mitgespielt: Sie waren für andere Rettungsboote eingeteilt worden, aber bei denen waren die Haltetaue der Davits gerissen, so dass sie im Eiswasser treiben mussten, bis Howells Männer sie herausfischen konnten. Die Hand, mit der McFarlane sich festhielt, krampfte sich um die Halteleine, als ihr Boot unversehens in ein abgrundtiefes Wellental stürzte, hart aufschlug und jäh wieder hochgeschleudert wurde. Ihre gerade mal achtzehn Meter lange Nussschale konnte die Wellen nicht pflügen, wie es die Rolvaag vermocht hatte, sie schaukelte und hüpfte wie ein Stück Treibholz auf und ab. Alle waren erschöpft und durchnässt und fühlten sich in der düsteren Vorahnung bestärkt, dass ihr Schicksal besiegelt sei. Brambell zwängte sich durch die Reihen. Gott sei Dank, dass sie ihn bei sich hatten. Er bemühte sich nach Kräften um die aus dem Wasser Geretteten, die leblos auf dem Boden des Bootes lagen. Rings um sie schwammen Abfälle und Unrat im Meer. Sie waren alle seekrank und am Ende ihrer Kräfte – ein paar, die es besonders schlimm erwischt hatte, würgten und erbrachen sich schon. Howell drehte sich – das Funkgerät vor dem Mund – zu ihnen um. Was er zu sagen hatte, war für die Insassen der beiden anderen Boote wie auch für sie bestimmt: »An alle Boote – herhören! Unsere einzige Chance ist, Kurs auf die Eisinsel südöstlich von uns zu nehmen und in ihrem Lee zu warten, bis der Sturm abflaut. Halten Sie bei zehn Knoten Kurs eins-zwo-null und bleiben Sie unbedingt in Sichtkontakt. Schalten Sie die automatische Blinkfeueranlage ein. Und halten Sie den Notrufkanal drei bei.« McFarlane starrte durch eines der flachen, länglichen Bullaugen. Er konnte kaum glauben, dass sie einen bestimmten Kurs steuerten, ihm kam es eher so vor, als trieben sie orientierungslos in der schäumenden See. Doch dann konnte er ganz schwach die Lichter der beiden anderen Rettungsboote erkennen – sie waren tatsächlich nicht allein. Sooft das Boot auf einer gigantischen Welle taumelte, sah er einen Moment lang die Rolvaag und ihre blinkenden Notlichter, eine halbe Seemeile hinter ihnen. Sie wurde wie im Zeitlupentempo vor und zurück geworfen. Er starrte auf das sterbende Ice Ship. Es ist kein Boot mehr zu Wasser gelassen worden, ging ihm durch den Kopf, unseres war das letzte. Es kam ihm so unglaubwürdig, so irreal vor, dass ein Schiff von der Größe der Rolvaag hilflos schlingernd im tödlichen Würgegriff des Sturms dahintrieb. Wieder rollte eine riesige Welle auf den Tanker zu, aber diesmal ließ die Rolvaag sich nicht von ihr anheben; sie blieb, wo sie war, als wolle sie sich lieber vom Gewicht des Meteoriten in die Tiefe ziehen lassen, als weiter den wilden Tanz mitzuvollführen. Und so schlug die Welle über ihr zusammen, um das Schiff dann langsam mit unglaublicher Wucht in eine bedrohliche Schräglage zu drängen. McFarlane suchte verstohlen Blickkontakt mit Lloyd. Aber der sah nicht auf, er hatte das bleiche, abgespannte Gesicht abgewandt, als sei ihm alles gleichgültig geworden, sogar der Todeskampf der Rolvaag. Eine Welle brach über ihr Boot herein und drückte es tief ins Wasser. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis es endlich wieder nach oben kam. McFarlanes Kopf ruckte herum, er konnte, obwohl der Anblick ihn schmerzte, die Augen einfach nicht von dem Tanker wenden. Das riesige Schiff lag reglos auf der Seite und schien immer tiefer zu sinken. Die Welle hatte sich längst verlaufen, also musste es das Gewicht des Meteoriten sein, das es so unaufhaltsam nach unten zog. Schließlich bäumte sich das Heck der Rolvaag auf, die beiden Schrauben ragten nutzlos aus dem Meer. Dann schien plötzlich ein schriller Schrei – vielleicht der Lockruf einer Nereide? – den heulenden Sturm zu übertönen, und im nächsten Augenblick brach das Schiff auseinander. Noch einmal reckten sich der Bug und das Heck aus der schäumenden See, dann erstrahlte das Meer an der Stelle, wo die Rolvaag versunken war, in hellem, tiefblauem Licht, ein gespenstischer Schein, der vom Abgrund des Meeres zu kommen schien und sich rasch ausbreitete. Eine graue Qualmwolke brach durch die Wasserfläche und formte sich zu einem riesigen Pilz. In diesem Moment stürzte das Rettungsboot in ein tiefes Wellental, McFarlane verlor das Ice Ship aus den Augen. Und als das Boot auf den nächsten Wellenkamm geschleudert wurde, war die Rolvaag verschwunden. Sein Magen rebellierte, er lehnte sich zitternd an die Bootswand. Noch einmal Blickkontakt mit Lloyd zu suchen, wagte er nicht. Britton, Glinn und die meisten seiner Mitarbeiter hatte sich, wie auch Lloyds Angestellte und viele Männer der Besatzung, das Meer geholt. Und mit ihnen den Meteoriten, der jetzt auf den dreitausend Meter tiefen Grund der rauen See sank. Er schloss die Augen und legte den Arm fester um die zitternde Rachel. Ihm ging es nicht viel besser, er hatte noch nie so gefroren, sich so elend gefühlt und solche Angst ausgestanden. Rachel murmelte ihm etwas Unverständliches zu. Er beugte sich zu ihr. »Was ist? Was hast du gesagt?« Sie drückte ihm etwas in die Hand. »Nimm das«, sagte sie mit schwacher Stimme. Es war die CD-ROM mit den Daten über den Meteoriten. »Warum?«, fragte er. »Ich möchte, dass du sie aufbewahrst. Pass gut darauf auf. Sie enthält alle Antworten, nach denen wir gesucht haben. Versprich mir, dass du weiter danach suchen wirst, Sam.« Er schob die Diskette in seine Jackentasche. Das war alles, was ihnen geblieben war: ein paar hundert Megabytes an Daten. Der Meteorit selbst war für immer verloren. »Versprich’s mir«, sagte Rachel noch einmal. Ihre Stimme war nur noch ein halb ersticktes Lallen. »Ich verspreche es.« Als er die Arme um sie legte, spürte er ihre warmen Tränen an seinen Wangen. Nicht nur der Meteorit war verloren, auch so viele, die mitgeholfen hatten, ihn zu bergen. »Wir werden die Antworten gemeinsam finden«, versuchte er ihr Mut zu machen. Ein Welle brach über ihnen zusammen, eiskaltes Wasser drang in das Boot ein und kippte es scharf zur Seite. Sie wurden zu Boden geschleudert. McFarlane hörte Howell irgendwelche Kommandos rufen, als wieder eine Welle über sie hereinstürzte und das Boot beinahe zum Kentern gebracht hätte. »Mein Arm!«, jammerte jemand, »ich habe mir den Arm gebrochen!« McFarlane zog Rachel auf die gepolsterte Sitzbank und half ihr, die Halteleine zu packen. Die See war jetzt wie entfesselt, der Sturm heulte nicht mehr, er brüllte. Immer wieder wurde das Rettungsboot unter Wasser gedrückt. »Wie weit noch?«, schrie eine verzweifelte Stimme. »Etwa zwei Meilen«, schrie Howell zurück, der alle Mühe hatte, das Boot auf Kurs zu halten. Das Wasser lief in Sturzbächen an den Innenseiten der Bullaugen herunter. McFarlane hatte sich, als der Sturm sie wie Pingpongbälle in dem kleinen Boot herumgeschleudert hatte, die Ellbogen, die Knie und die Schultern wund geschlagen. Er spürte vor Kälte seine Zehen nicht mehr. Die Realität vermischte sich mit halb verschütteten Erinnerungen ... zum Beispiel an einen Nachmittag, an dem er, die Füße im Wasser, stundenlang an einem See in Michigan im Sand gesessen hatte. Aber damals hatte er die Kälte gar nicht bemerkt. Durch den Gummiboden drang immer mehr Wasser herein. Die Brecher, die ohne Unterlass auf das Boot einschlugen, rissen es an den Nähten auf. McFarlane starrte durch das kleine Guckloch des Bullauges. Etwa hundert Meter entfernt konnte er die Lichter der beiden anderen Boote erkennen. Gerade schlug eine gewaltige Welle über einem zusammen. Sie wirbelte das Boot herum und begrub es unter sich. Das Heck wurde hochgeschleudert, die Schrauben protestierten schrill, als sie aus dem Wasser geschoben wurden. Aber die Männer am Ruder schafften es dann doch irgendwie, die beiden Boote vor dem Kentern zu bewahren. Und plötzlich war eines der Boote verschwunden. Eben noch hatte er seine blinzelnden Lichter gesehen, und dann, von einem Augenblick zum anderen, waren sie vom Meer verschlungen. »Sichtkontakt mit Boot drei verloren, Sir«, rief der Mann am Bug Howell zu. McFarlane ließ den Kopf auf die Brust sinken. Wer hatte in dem Boot gesessen? Garza? Stonecipher? Seine Gedanken überschlugen sich. Sie lagen immer tiefer im Wasser. Sie gingen unter, das war ihm klar. Ein Teil seines Ichs hoffte nur noch, dass es schnell gehen würde, damit die Qual endlich ein Ende hatte. Doch dann riss er den Kopf hoch. Das Meer schien auf einmal ruhiger zu werden. Sie waren immer noch ein Spielball der See, wurden hin und hergeschleudert, aber die Wucht der schwarzen Wellenberge ließ etwas nach, der Wind legte sich. »Wir sind im Lee der Eisinsel«, rief Howell ihnen zu. Das Haar hing ihm nass und wirr in die Stirn, die Uniform, die er unter dem Ölzeug trug, hatte sich mit Wasser voll gesogen, eine dünne, halb vom Meerwasser verwischte Blutspur lief ihm von der Stirn übers Gesicht. »Alle herhören! Unsere Boote laufen voll, sie werden sich nicht mehr lange über Wasser halten können. Wir müssen sofort die Eisinsel ansteuern und versuchen, beim Verlassen der Boote so viel Proviant wie möglich mitzunehmen. Haben das alle verstanden?« Kaum einer sah auf, die meisten waren so apathisch, dass ihnen alles egal schien. Der Bootsscheinwerfer erfasste die Eisinsel. »Dort drüben ist ein Eissims, dort setzen wir die Boote auf. Lewis – hier neben mir – wird jetzt Proviant an Sie verteilen und Ihnen, sobald wir da sind, beim Ausbooten helfen, immer zwei auf einmal. Sollte jemand ins Wasser fallen, muss er um Gottes willen zusehen, so schnell wie möglich wieder rauszukommen. Bei den Temperaturen ist man nach fünf Minuten tot. Also – los geht’s, halten Sie sich bereit.« McFarlane zog Rachel schützend an sich, dann drehte er sich zu Lloyd um. Diesmal sah Lloyd ihn an, der hohle Blick seiner eingefallenen Augen verriet, wie sehr er litt. »Was habe ich getan?«, flüsterte er heiser. »O mein Gott, was habe ich nur getan?«

 

Drake-Straße

27. Juli, 11.00 Uhr

Der Morgen dämmerte über der Eisinsel heran. McFarlane, der während der Nacht immer wieder in barmherzigen Schlummer gesunken war, kam langsam zu sich. Als er sich aufrichtete, splitterten Eisstückchen von seiner Jacke ab. Er sahsich um, die meisten Überlebenden hatten sich dicht aneinander gedrängt, um sich zu wärmen. Einige schliefen auf dem Rücken, ihre Gesichter waren mit Eis überzogen, ihre weit aufgerissenen Augen starrten blind ins Leere. Andere hockten mit angezogenen Knien da, halb aufrecht und völlig reglos. Sie müssen tot sein, dachte McFarlane schläfrig. Etwa hundert waren sie in den drei Rettungsbooten gewesen, aber jetzt konnten es kaum mehr als zwei Dutzend Personen sein. Rachel lag mit geschlossenen Augen vor ihm. Es kostete ihn unsägliche Mühe, sich auf die Knie zu hieven. Er lauschte der gespenstischen Stille nach, die sie umgab. Nur von Zeit zu Zeit war unter ihnen ein lauter Knall zu vernehmen, wie von einem Gewehrschuss – dann hatte die Brandung wieder ein Stück vom Rand der Eisinsel abgenagt. Doch der Wind war verstummt. Vor ihm erstreckte sich eine türkisfarbene Tafellandschaft aus Eis, an den vom Meer umschlossenen Rändern von Furchen und Schluchten durchzogen. Die rote Linie, die sich im Osten wie ein Streifen Blut am fernen Horizont entlangzog, goss ihr Licht über die wogende See aus. Dort, unerreichbar weit weg, war das Meer mit blauen und grünen Eisbergen gesprenkelt, zu Hunderten glitzerten sie wie Juwelen im zaghaften Licht des neuen Morgens: eine Landschaft aus Wasser und Eis, deren märchenhafte Schönheit bis ans Ende der Welt zu reichen schien. McFarlane fühlte sich entsetzlich zerschlagen. Seltsam nur, dass er die Kälte nicht mehr spürte. Er gab sich alle Mühe, hellwach zu werden. Allmählich kehrten die Erinnerungen zurück – die Landung, die nächtliche Klettertour durch eine Eisschlucht auf die Insel, die ungeschickten Versuche, ein Feuer zu entfachen, und das langsame Abgleiten in Lethargie. Natürlich, es hatte auch eine Zeit davor gegeben, aber an die wollte er jetzt lieber nicht denken. Die Welt – seine Welt – hatte auf einmal Grenzen bekommen, sie endete dort, wo das Eis aufhörte und das Meer begann. Hier, hoch oben auf der Eisinsel, gab es die beständigen Bewegungen nicht mehr, nichts rollte und schlingerte, er hatte endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Nach dem Schwarz der Nacht und dem Grau des Sturms waren die Pastellfarben eine Wohltat für das Auge: das blaue Eis, das pinkfarbene Meer, der pfirsichrote Himmel. Wohin er auch blickte, überall umgab ihn bizarre, von überirdisch hellem Licht durchdrungene Schönheit. Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine verweigerten ihm den Dienst. Er schaffte es nur, sich ein Stück auf die Knie zu stemmen. Danach war er so erschöpft, dass er alle Willenskraft aufbieten musste, um sich nicht wieder aufs Eis sinken zu lassen. Halb im Unterbewusstsein wurde ihm klar, dass das Schwächegefühl nicht nur von der Erschöpfung kam, es war auch ein Indiz für Unterkühlung. Er musste aufstehen, er musste sich bewegen. Und er musste die anderen aufwecken. Er fasste Rachel an den Schultern und schüttelte sie. Ihre Lider öffneten sich einen Spalt. Ihre Lippen waren blau gefroren, an ihrem schwarzen Haar haftete Eis. »Rachel«, krächzte er, »Rachel, bitte steh auf.« Ihre Lippen bewegten sich, als wolle sie etwas sagen, doch es blieb bei einem stimmlosen Hauch. »Rachel?« Er beugte sich zu ihr hinunter. Und nun konnte er aus ihrem Gestammel ein paar Worte heraushören. »Der ... der Meteorit...«

»Der liegt auf dem Meeresboden«, sagte er. »Denk nicht mehr an ihn, es ist vorbei.« Sie schüttelte kraftlos den Kopf. »Nein«, murmelte sie, »nicht, was du denkst.« Dann schloss sie die Augen. Er fasste sie an den Schultern und schüttelte sie erneut. »... bin so müde«, hörte er sie murmeln. »Rachel, schlaf nicht wieder ein. Was wolltest du eben sagen?« Sie war unruhig, irgendeine Zwangsvorstellung schien sie beunruhigen. Er ahnte, wie wichtig es war, sie jetzt zum Reden zu bringen und wach zu halten. Er schüttelte sie abermals. »Der Meteorit, Rachel – was ist mit ihm?« Sie schlug die Augen einen Spalt auf, ihr Blick tastete sich nach unten. McFarlane folgte ihm, aber da gab es nichts zu sehen. Sie machte eine fahrige Geste. »Da ...« Und wieder huschten ihre Augen nach unten. Er fasste ihre Hand, zog ihr die triefnassen, halb gefrorenen Handschuhe aus und erschrak. Es fehlte nicht viel, und ihr wären die Hände erfroren, die Fingerspitzen waren schon ganz weiß. Er fing an, ihre Finger zu massieren. Ihre linke Hand öffnete sich, es lag eine Erdnuss darin. »Bist du hungrig?«, fragte er. Sie schloss nur erschöpft die Augen. Er versuchte, sie hochzuheben, schaffte es aber nicht. Dann schmiegte er sich fest an sie, sie fühlte sich entsetzlich kalt an. Verzweifelt sah er sich nach Hilfe um und entdeckte Lloyd, der nicht weit von ihnen auf dem Eis kauerte. »Lloyd!«, krächzte er heiser. »Ja?«, antwortete eine schwache Stimme. McFarlane war vor Anstrengung außer Atem. »Wir ... wir müssen uns bewegen!« »Lasst mich in Ruhe«, murmelte Lloyd schläfrig. McFarlane wandte sich wieder zu Rachel um, merkte aber, dass er kaum seinen Arm bewegen, geschweige denn ihr auf die Beine helfen konnte. Er versuchte noch einmal, sie wach zu rütteln, doch sie reagierte nicht. Er kam sich wie ein Versager vor. Sein Blick glitt über die zusammengekriimmten reglosen Gestalten ringsum. Da war Brambell, der Schiffsarzt, mit einem Buch unter dem Arm. Und Garza, auf dessen Kopfverband Eiskristalle glitzerten. Und Howell – und etwa zwei, drei Dutzend andere. Und keiner von ihnen rührte sich. Auf einmal fühlte er sich für sie verantwortlich. Er musste irgendetwas tun, um sie vor dem Erfrieren zu bewahren. Er wollte schreien, zu ihnen gehen, sie schütteln, ja, notfalls sogar mit Tritten und Schlägen zum Aufstehen zwingen. Nur, wie sollte er auf die Beine kommen? Es sind zu viele, dachte er resignierend, ich kann sie nicht alle wärmen. Er wusste ja nicht einmal, wie er seine eigene Kälte aus den Knochen kriegen sollte. Eine Welle von Müdigkeit überschwemmte ihn. Er spürte, wie sich Gleichgültigkeit in ihm breit machte. Wir werden alle sterben, ging es ihm durch den Kopf, aber was soll’s? Er versuchte sich auf Rachel zu konzentrieren, damit die Müdigkeit ihn nicht überwältigte. Ihre Augen standen halb offen, waren nach oben verdreht, er konnte nur noch das Weiß sehen. Ihr Gesicht wirkte seltsam grau. Eine Schneeflocke fiel auf ihre Lippen. Es dauerte unsäglich lange, bis sie geschmolzen war. Bald würde er den Weg gehen, den sie gegangen war. Aber der Gedanke machte ihm keine Angst. Er wehrte sich nicht mehr gegen das Gefühl der Schläfrigkeit, das ihn übermannte. Es war, wie in Mutters Armen einzunicken. Und während der barmherzige Tröster Schlaf ihn immer tiefer in seine Arme zog, hörte er im Geiste wieder Rachels Stimme: Nicht, was du denkst. Nicht, was du denkst... Eine andere Stimme mischte sich ein – lauter, metallischer. »South Georgia Bravo ... Haben Sichtkontakt zu ... Gehen tiefer zur Luftrettung ...« Ein helles Licht tauchte über ihm auf. Er hörte ein rhythmisch knatterndes Geräusch. Stimmen, ein Lautsprecher. Er wehrte sich mit aller Kraft gegen die Störung. Nein, nicht – lasst mich in Ruhe. Lasst mich schlafen. Und dann gab es nur noch den Schmerz.

 

Insel South Georgia

30. Juli, 12.20 Uhr

Palmer Lloyd lag in einem Holzbett in der Krankenbaracke der britischen Forschungsstation. Er starrte auf die Platten an der Decke – auf die verwirrende Maserung, deren Kurven und Bögen sein Blick während der letzten drei Tage unzählige Male nachgespürt hatte. Der Geruch des kalt gewordenen Lunchs auf dem Nachttisch stieg ihm in die Nase. Draußen vor dem winzigen Fenster mit Sicht auf blaue Schneefelder, blaue Berge und blaue Gletscher hörte er den Wind wispern. Drei Tage waren nun seit ihrer Rettung vergangen. So viele waren nicht mehr bei ihnen – mit der Rolvaag untergegangen, auf den Rettungsbooten gestorben, auf der Eisinsel erfroren. »Doch einer aus ihrer Crew konnte überleben, mit Fünfundsiebzig haben sie ihn der See übergeben ...« Das alte Matrosenlied aus der Schatzinsel rotierte in seinem Kopf – seit Tagen ging es ihm nicht mehr aus dem Sinn, seit er in diesem Bett aus der Bewusstlosigkeit erwacht war. Er hatte überlebt. Morgen würde ihn ein Hubschrauber auf die Falklands bringen, und von dort würde er nach New York zurückkehren. Flüchtig ging es ihm durch den Sinn, wie wohl die Medien auf ihr Abenteuer reagieren würden. Aber im Grunde war ihm das egal. So vieles, was früher für ihn eine Rolle gespielt hatte, war jetzt völlig unwichtig geworden. Seine Träume waren ausgeträumt – der Traum von seinem Museum, der Traum von geschäftlichem Erfolg, der Traum, sich um die Wissenschaft verdient zu machen. Es waren Träume von gestern, er hatte sie mit dem Meteoriten auf dem Grund des antarktischen Meeres begraben. Er sehnte nur noch den Tag herbei, an dem er sich auf seine Farm zurückziehen konnte, in die Abgeschiedenheit im Norden des Bundesstaates New York. Er würde sich einen steifen Martini mixen, im Schaukelstuhl auf der Veranda sitzen und zusehen, wie das Wild von den Äpfeln in seinem Obstgarten naschte. Eine Krankenschwester kam herein, räumte das alte Tablett weg und stellte ihm ein neues hin. Er schüttelte den Kopf, aber sie sagte bestimmt: »Guter Mann, das gehört zu meinen Pflichten.« In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. McFarlane trat ein. Seine linke Hand und ein Teil seines Gesichts waren bandagiert, er trug eine dunkle Sonnenbrille und schien alle Mühe zu haben, sich auf den Beinen zu halten. Er sah schrecklich elend aus. Er setzte sich auf den knarrenden Klappstuhl, so ziemlich das einzige Möbelstück, für das in dem kleinen Zimmer noch Platz blieb. Lloyd war überrascht, McFarlane zu sehen. Er hatte ihn während der letzten drei Tage nicht zu Gesicht bekommen und angenommen, der junge Wissenschaftler wolle nichts mehr von ihm wissen. Es gab ohnehin kaum noch jemanden, der etwas mit ihm zu tun haben wollte. Nur Howell hatte sich einmal kurz blicken lassen, allerdings nur, weil er auf einigen Papieren Lloyds Unterschrift brauchte. Sie hassten ihn. Sie ließen ihn alle links liegen. Lloyd hatte gedacht, McFarlane wolle abwarten, bis die Schwester das Zimmer verließ, aber er saß auch noch, nachdem die Tür hinter ihr zugefallen war, lange stumm da – sehr lange sogar. Und dann nahm er endlich die dunkle Sonnenbrille ab und beugte sich vor. Sein Anblick erschreckte Lloyd. Es kam ihm beinahe so vor, als würden McFarlanes Augen im Fieberwahn glühen. Sie waren rot und geschwollen, mit tiefen Ringen umgeben. Überhaupt machte der Mann einen ungepflegten Eindruck: ungewaschen, unrasiert und ungekämmt. Amiras Tod und der Verlust des Meteoriten hatten ihn wohl hart getroffen. »Hören Sie«, sagte er, »Ich muss Ihnen was erzählen.« Lloyd wartete. McFarlane beugte sich noch weiter zu ihm hinüber und brachte den Mund nahe an Lloyds Ohr heran. »Die Rolvaag ist 61°32’14" Süd, 59°30’10" West gesunken.« »Bitte, Sam, reden wir nicht davon. Nicht jetzt.« »Doch, jetzt!«, erwiderte McFarlane unerwartet heftig. Er griff in die Tasche und nahm eine Diskette heraus. »Auf dieser Diskette ...« Lloyd wandte den Kopf ab und starrte auf die Furnierplatten der Zimmerdecke. »Sam, es ist vorüber. Der Meteorit ist untergegangen. Geben Sie’s auf.« »Auf dieser Diskette befinden sich die letzten Daten über ihn, die wir gesammelt haben. Ich habe Rachel etwas versprochen. Und jetzt habe ich die Daten genau studiert.« Lloyd fühlte sich müde, unsagbar müde. Er wandte den Kopf noch weiter ab und richtete den Blick auf die Gletscher an den Berghängen und auf die vereisten, von Wolken verhangenen Gipfel. Er hasste den Anblick von Eis. Er wollte kein Eis mehr sehen – nie wieder, in seinem ganzen Leben nicht. »Gestern«, fuhr McFarlane unerbittlich fort, »hat mir einer der Wissenschaftler von der Forschungsstation erzählt, dass sie einige Erdstöße registriert haben. Seebeben, ungewöhnlich dicht unter der Wasserfläche. Dutzende von Seebeben, alle unter drei auf der Richterskala.« Lloyd sagte nichts. Es war alles so irrelevant geworden. Aber gut, sollte McFarlane ruhig weiterreden. »Das Epizentrum aller Beben liegt bei 61°32’14" Süd, 59°30’10" West.« Lloyds Augen fingen unruhig zu huschen an. Er wandte langsam den Kopf und sah McFarlane an. »Ich habe diese Daten ausgewertet«, fuhr McFarlane fort. »Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den Beben und der Form und vor allem der Struktur des Meteoriten. Die ist nämlich sehr ungewöhnlich.« Lloyd sagte immer noch nichts, aber er wandte sich auch nicht mehr ab. »Die Struktur besteht aus mehreren Schichten. Und die Form ist nahezu symmetrisch. Das ist unnatürlich.« Lloyd richtete sich auf. »Unnatürlich?« Eine innere Alarmglocke schlug an. McFarlane hatte einen psychischen Schock erlitten, er brauchte Hilfe.

»Ich habe von Schichten gesprochen. Es gibt eine äußere, eine dickere innere Schicht sowie einen winzigen runden Einschluss genau im Zentrum des Meteoriten. Das ist kein Zufall. Denken Sie darüber nach. Wo sonst finden Sie derartige Strukturen? Die Wissenschaft ist in diesem Punkt zu einer einhelligen Meinung gelangt. Es muss sich um eine Struktur aus dem Universum handeln.« »Sam, Sie sind erschöpft. Es ist wohl das Beste, wenn ich eine Schwester rufe. Sie wird Ihnen ...« »Rachel hat es herausgefunden«, unterbrach ihn McFarlane aufgeregt, »unmittelbar vor ihrem Tod. Das Beweisstück lag in ihrer Hand. Erinnern Sie sich, wie sie gesagt hat, wir dürften das Problem nicht aus unserer Perspektive, sondern müssten es aus der Perspektive des Meteoriten betrachten? Und am Schluss hat sie die Antwort gewusst: Der Meteorit reagiert mit Salzwasser. Er hat die ganze Zeit über nach Salzwasser gegiert

– seit Jahrmillionen.« Lloyd schielte auf den Notrufknopf neben dem Bett. Der Mann war in einer noch schlimmeren Verfassung, als er anfangs geglaubt hatte. McFarlanes Augen glühten unnatürlich. »Verstehen Sie, Lloyd? Es ist überhaupt kein Meteorit!« Lloyd spürte die sonderbare, von gespenstischer Stille durchdrungene Spannung, die in der Luft lag. Der Knopf war zum Greifen nahe, er musste nur zusehen, dass er ihn unauffällig drücken konnte, um Mc-Farlane nicht noch mehr aufzuregen. Er hatte ja jetzt schon ein puterrotes Gesicht, er schwitzte, sein Atem ging flach und hastig. Der Mann war völlig ausgelaugt, am Ende seiner Kräfte. Lloyd verspürte ein bedrückendes Schuldgefühl. Den Fluch,der auf den Überlebenden lastet. »Haben Sie mir zugehört, Lloyd? Ich habe gesagt, es ist kein Meteorit.« »Was ist es dann, Sam?«, brachte Lloyd mühsam beherrscht heraus und schob verstohlen die Hand zum Notruf. »Alle diese Erbeben in geringer Tiefe, genau an der Stelle, wo das Schiff gesunken ist...« »Was ist mit denen?«, fragte Lloyd in sanftem Ton. Er drückte den Knopf – einmal, zweimal, dreimal. Die Schwester musste jeden Augenblick hereinkommen. McFarlane brauchte dringend Hilfe. »Raten Sie mal, was das Ding tut, das wir da einfach in den Meeresboden gepflanzt haben?« »Was tut es denn?« Lloyd gab sich alle Mühe, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Gott sei Dank hörte er draußen auf dem Flur bereits die Schritte der Schwester. »Es wächst und keimt und treibt aus.«

 

Anmerkung der Autoren

Zum Teil stützt sich dieser Roman auf den Verlauf einer realen wissenschaftlichen Expedition. Im Jahr 1906 entdeckte Admiral Robert E. Peary in Nordgrönland den größten Meteoriten der Welt, den er den Ahnighito nannte. Er kam ihm auf die Spur, weil die Eskimos in dieser Gegend kalt geschmiedete eiserne Speerspitzen benutzten, die, wie Pearys Analyse ergab, meteoritischen Ursprungs waren. Schließlich gelang es ihm, den Ahnighito zu bergen und unter immensen Schwierigkeiten auf sein Schiff zu verfrachten, wo die gewaltige Masse Eisen zunächst einmal sämtliche Kompasse zerstörte. Dennoch schaffte er es, den Meteoriten nach New York zu bringen, in das American Museum of Natural History nämlich, wo er bis heute ausgestellt wird. Diese Geschichte erzählt Peary in seinem Buch »Northward over the Great Ice«. Darin schreibt er: »Nie ist mir die schreckliche Urgewalt der Schwerkraft so klar geworden wie bei der Bergung dieses eisernen Kolosses.« Der Ahnighito ist so schwer, dass er auf sechs massiven Eisenpfeilern ruht, die – durch den Boden des Meteoritensaals und das Fundament des Gebäudes hindurch – in den natürlichen Fels unter dem Museum getrieben wurden. Es erübrigt sich zu sagen, dass Lloyd Industries, die EES, die handelnden Personen und die in diesem Roman erwähnten Schiffe reine Produkte der Fantasie sind. Die meisten Schauplätze der Handlung gibt es dagegen tatsächlich. Wobei für Leser, die im Atlas blättern, angemerkt werden soll, dass die echte Isla Desolación etwa fünfhundert Kilometer nordwestlich der in diesem Buch beschriebenen, nach Größe und Beschaffenheit frei erfundenen Isla Desolación liegt.