Comandante Emiliano Vallenar stand auf dem Vordeck des Zerstörers und holte den riesigen Tanker mit dem Fernglas näher zu sich heran. Langsam ließ er seinen Blick vom Bug übers Hauptdeck und weiter bis zu den mächtigen Aufbauten wandern. Die Rolvaag zu beobachten war wie immer sehr aufschlussreich. Er hatte das Schiff so oft und so lange studiert, dass er allmählich jeden Davit, jeden Ölfleck und jedes Rostloch kannte. Aber es gab so einiges, das ihn misstrauisch machte. Was hatten zum Beispiel die versteckt angebrachten Stabantennen auf einem angeblich für Erztransporte bestimmten Schiff zu suchen? Für ihn sahen sie eher nach einem elektronischen Überwachungssystem aus. Und die hohe Antenne auf der Mastspitze hatte – so wackelig sie auch wirkte – verdächtigeÄhnlichkeit mit einem modernen Radargerät. Er setzte das Glas ab, griff in die Tasche seiner Wetterjacke und zog den Brief heraus, den er von dem Geologen aus Valparaiso erhalten hatte.
Hochverehrter Señor! Bei dem Stein, den Sie mir freundlicherweise zur Begutachtung geschickt haben, handelt es sich um ein etwas ungewöhnliches Stück Siliziumdioxid, auch als gekritzter Quarz bekannt, mit mikroskopischen Einschlüssen von Feldspat, Hornblende und Glimmer. Dennoch bedaure ich, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die Materialprobe weder unter kommerziellen Aspekten noch für Sammler irgendeinen Wert besitzt. Um Ihre spezielle Frage zu beantworten: Sie enthält keine Spurenelemente von Gold, Silber, anderen wertvollen Erzen, Mineralien oder sonstigen chemischen Verbindungen. Desgleichen kann Silizigen. Desgleichen kann Siliziumdioxid auch nicht als Indiz für Öl- oder Gasvorkommen, Ablagerungen von Ölschiefer oder anderen kommerziell nutzbaren Kohlenwasserstoffprodukten betrachtet werden. Es betrübt mich, wie gesagt, sehr, dass ich Ihnen nur diese – vermutlich enttäuschende – Auskunft geben kann, zumal sie Sie wohl kaum ermutigen dürfte, von den ererbten Schürfrechten Ihres Großonkels Gebrauch zu machen.
Vallenar fuhr mit dem Finger über das Siegel, mit dem der Briefkopf geschmückt war, dann ballte er den Schrieb verächtlich zusammen und steckte ihn in die Tasche. Diese Analyse war nicht mal das Briefpapier wert. Er richtete das Fernglas abermals auf den Tanker. Schiffe dieser Tonnageklasse sollten hier nicht ankern. Es gab im Bereich der Kap-Horn-Inseln – abgesehen von einem Riff im Franklin-Kanal, das allerdings nur er kannte – lediglich einen sicheren Platz, Surgidero Otter, und der lag hinter der Isla Wollaston, also weit abseits. Hier hätte nur ein völlig ahnungsloser Kapitän Anker geworfen. Aber dieses Schiff lag eben doch hier vor Anker, und zwar seit etlichen Tagen. Was Vallenar zunächst sehr erstaunt hatte, weil es an ein Wunder zu grenzen schien. Bis er den kleinen Strudel am Heck des Tankers bemerkt hatte. Denn das konnte nur bedeuten, dass sich die Schiffsschraube drehte. Und das wiederum ließ den Schluss zu, dass ein Hilfsaggregat lief. Und zwar ständig. Sie benutzten also die eigene Schubkraft, um das Schiff der jeweiligen Strömung im Kanal anzupassen. Außer beim Gezeitenwechsel, da manövrierten sie die Rolvaag einfach um dreihundertsechzig Grad herum. Also mussten sie mit einem computergesteuerten, satellitengestützten System ausgerüstet sein, das sie in die Lage versetzte, alle störenden Einflüsse auszugleichen und die Position des Schiffes stabil zu halten. Vallenar hatte über diese hochmoderne DPS-Technologie gelesen, gesehen hatte er sie noch nie. Kein Schiff der chilenischen Marine war damit ausgerüstet. Die Installation war irrsinnig teuer, der Ölverbrauch enorm. Trotzdem, die da drüben hatten so ein System. Ausgerechnet auf ihrem allem Anschein nach schrottreifen Tanker. Er atmete tief durch, richtete das Fernglas auf die Insel und suchte die Schuppen mit den riesigen Arbeitsmaschinen ab, die landeinwärts führende Straße, den Abbaubereich – eine große Wunde im Erdreich, die sich den leicht ansteigenden Hang hinaufzog – und die daneben gelegenen Auffangbecken für das Sicker- und Pumpwasser. Die offensichtlich auch nur Bluff waren. Denn es gab keine hydraulische Absaugvorrichtung, keine Waschrinnen und keine Abflusskanäle. Er war in einem Goldgräbercamp im Norden aufgewachsen und wusste, wie es dort aussah. Eine innere Stimme sagte ihm, dass die Amerikaner nicht nach Gold schürften. Und selbst einem blutigen Laien wäre auf den ersten Blick klar gewesen, dass sie auch nicht nach Eisenerz gruben. Das Ganze sah mehr nach Diamantenabbau aus. Aber wenn die Amerikaner Diamanten gesucht hätten, wozu wären sie dann mit einem so riesigen Schiff hierher gekommen? Die ganze Operation roch von Anfang bis Ende nach einem groß angelegten Täuschungsmanöver. Vielleicht hatten die Aktivitäten ja etwas mit den alten Legenden der Yaghan zu tun. Er erinnerte sich vage, dass Juan Puppup, dieser borracho, eines Abends in einer Bar so eine Legende erzählt hatte – etwas von einem zornigen Gott und dessen Sohn, der seinen Bruder gemeuchelt hatte. Er hoffte nur, dass er diesen Puppup eines Tages in die Finger kriegte. Dann würde er den Burschen so lange löchern, bis er alles aus dem Mestizen herausgequetscht hatte, was er wusste. Schritte näherten sich, der Oficial de guardia baute sich vor ihm auf und salutierte. »Comandante, Maschinenraum meldet, alle Maschinen einsatzbereit.« »Sehr gut, danke. Legen Sie Kurs neun-null-neun an. Und schicken Sie bitte Señor Timmer zu mir.« Der Offizier von der Brückenwache salutierte abermals und verließ das Vordeck.
Vallenar sah ihm stirnrunzelnd nach. Sie hatten neue Order erhalten. Was, wie üblich, lediglich darauf hinauslief, dass sie völlig sinnlos in irgendwelchen einsamen Gewässern patrouillieren sollten. Er vergrub die gesunde Hand in der Jackentasche und kramte den gerade mal pflaumengroßen Stein heraus, den ihm der Geologe mit seinem Antwortschreiben zurückgeschickt hatte. Vallenar war zutiefst davon überzeugt, dass dieser Stein der Schlüssel zu dem rätselhaften Treiben der Amerikaner war. Die Ausrüstung und die Gesteinsproben des toten Goldgräbers mussten ihnen etwas verraten haben. Ein so wichtiges, so verlockendes Geheimnis, dass sie keine Kosten gescheut hatten, mit einem Haufen hochmoderner Geräte und Maschinen auf diese gottverlassene Insel zu kommen. Er musste dahinter kommen, was die Amerikaner wussten. Wenn der vertrottelte Geologe von der Universität in Valparaiso ihm dabei nicht helfen konnte, würde er sich eben anderswo umhören. In Australien sollte es sehr tüchtige Geologen geben. Gleich morgen würde er ihnen den Stein zuschicken, per Express. Die kamen bestimmt hinter sein Geheimnis. Und sobald er dann wusste, was die Amerikaner hier wollten, konnte er geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen. »Sir?« Timmers Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Vallenar sah auf und musterte seinen Oficial de Comunicaciones: blaue Augen, sonnengebleichtes Haar, makellose Uniform, untadelige Haltung. Timmer stellte in Vallenars auf absoluten Gehorsam gedrillten Mannschaft noch eine Ausnahmeerscheinung dar. Seine Mutter war 1945 aus Deutschland nach Chile gekommen, eine wunderschöne, kultivierte, Sinnlichkeit ausstrahlende Frau. Bei ihr hatte Timmer Disziplin gelernt. Und dass man nötigenfalls auch mal hart zupacken musste. »Stehen Sie bequem«, sagte Vallenar. Timmer schob den linken Fuß ein wenig vor.
Vallenar verschränkte die Hände auf dem Rücken und warf einen Blick auf den wolkenlosen, blauen Himmel. »Wir nehmen Kurs nach Osten. Aber morgen werden wir wieder hier sein. Es ist schlechtes Wetter gemeldet. Und dann habe ich eine Spezialaufgabe für Sie. Die mit gewissen Risiken verbunden ist.« »Es wird mir eine Ehre sein, sie zu erfüllen, Sir«, schnarrte Timmer. Comandante Vallenar lächelte. In seiner Stimme lag ein Anflug von Stolz, als er sagte: »Das wusste ich.«
Rolvaag
14.50 Uhr
McFarlane blieb unschlüssig an der Tür zur Krankenstation stehen. Er hatte eine instinktive Abneigung gegen Arztpraxen und Krankenhäuser, weil sie ihn irgendwie an die Vergänglichkeit des Lebens erinnerten. Das Wartezimmer auf der Rolvaag wirkte besonders abschreckend, statt eines Regals mit zerlesenen Zeitschriften und billigen Drucken an den Wänden gab es nur ein großes farbiges Poster, auf dem diverse Stadien verbreiteter Hautkrankheiten dargestellt waren. Es muss ja nicht unbedingt heute sein, dachte er, die Sache hat Zeit. Doch dann gab er sich einen Ruck, ging den Flur hinunter zum Behandlungszimmer und klopfte an. Captain Britton war bei Brambell, zwischen ihnen lag eine Namensliste. Brambell sah auf, klappte den Aktendeckel zu und fragte: »Ach, Dr. Mc-Farlane – was kann ich für Sie tun?« McFarlane hätte am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht, doch dazu war es jetzt zu spät. »Es geht um Masangkays persönliche Habseligkeiten. Die Dinge, die bei der Leiche gefunden wurden. Wenn Sie Ihre Untersuchungen abgeschlossen haben ... ich meine, könnten Sie sie dann freigeben?« Der Schiffsarzt sah ihn groß an. Mc-Farlane las in seinem Blick kein menschliches Mitgefühl, sondern nur streng berufliches Interesse. »Warum? Es waren keine Wertsachen dabei.« McFarlane lehnte am Türrahmen und wartete. Er verspürte absolut keine Lust, irgendwelche Erklärungen abzugeben. Brambell seufzte. »Nun ja, sobald ich alles fotografiert habe, sehe ich keinen Grund, die Sachen hier zu behalten. Woran sind Sie denn speziell interessiert?« »Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie fertig sind«, erwiderte McFarlane, nickte Britton zu, drehte sich um und ging. Als er auf dem Flur war, kurz vor dem Ausgang der Krankenstation, hörte er hinter sich Schritte. »Dr. McFarlane?« Es war Captain Britton. »Nehmen Sie mich mit nach oben? Ich muss zurück auf die Brücke. Wir erwarten die aktuellen Wetterdaten.« Sie gingen den dunklen Flur hinunter, der nur durch das Sonnenlicht, das durch die Bullaugen fiel, etwas erhellt wurde. »Ich wollte Ihnen noch mein Beileid ausdrücken. Wie ich gehört habe, war Dr. Masangkay Ihr Freund.« Ihre Stimme hörte sich warm und herzlich an. »Danke«, sagte McFarlane. Und wunderte sich, wie in ihren Augen selbst auf dem spärlich beleuchteten Flur noch so viel Glanz liegen konnte. Wieder überkam ihn das Gefühl, dass eine Art Seelenverwandtschaft zwischen ihnen bestand. »Sagen Sie doch Sam zu mir«, bat er. »Okay – Sam.« Als sie die Stufen zum Hauptdeck hinaufstiegen, fragte Britton: »Drehen Sie eine Runde übers Deck mit mir?« McFarlane sah sie überrascht an. Sie war weitergegangen, und während er zu ihr aufschloss, gestand er sich ein, dass sie ihn mit ihrer stolzen, beherrschten Haltung und ihrer Art auszuschreiten irgendwie an seine Exfrau Malou erinnerte. Über dem Heck des Schiffs lag blassgoldenes Licht – ein schöner Kontrast zum tiefblauen Wasser des Kanals. Nachdem sie ein paar Schritte stumm nebeneinander hergegangen waren, blieb Britton stehen und lehnte sich über die Reling. »Sam, ich stecke in einem Dilemma. Ehrlich gesagt, es gefällt mir gar nicht, was ich über den Meteoriten höre. Ich fürchte, dass er eine Gefahr für das Schiff darstellen könnte. Seeleute haben ein Gespür für so was. Und was ich dort drüben sehe ...« – sie deutete auf die niedrige, schlanke Silhouette des Zerstörers – »... gefällt mir erst recht nicht. Andererseits, so wie ich Glinn bisher erlebt habe, habe ich allen Grund, darauf zu vertrauen, dass er die Sache erfolgreich zu Ende bringen wird.« Sie drehte sich halb zu McFarlane um. »Verstehen Sie den Zwiespalt, in dem ich mich befinde? Ich kann nicht gleichzeitig Eli Glinn und meinem eigenen Instinkt vertrauen. Und wenn ich etwas unternehmen will, dann muss es jetzt sein. Ich lasse nichts in meinem Schiff verstauen, solange ich nicht genau weiß, dass es keine Gefahr darstellt.« Sie spielt tatsächlich mit dem Gedanken abzuspringen, dachte McFarlane verblüfft. »Lloyd wird nicht besonders glücklich sein, wenn Sie ihm Steine in den Weg legen.« »Die Entscheidungen auf der Rolvaag treffe ich, nicht Lloyd. Sehen Sie, als Captain kann ich über solche Besorgnisse nicht mit meinen Offizieren oder gar mit der Mannschaft sprechen. Und erst recht nicht mit den Mitarbeitern der EES. Darum wende ich mich an Sie. Sie sind der Experte, wenn es um Meteoriten geht. Ich muss wissen, ob Sie glauben, dass von diesem Meteoriten eine Gefahr für mein Schiff ausgeht. Ich brauche Ihre Meinung, nicht die von Mr. Lloyd.« McFarlane sah ihr lange in die Augen, dann wandte er sich ab und blickte aufs Meer. »Ich kann Ihre Frage nicht beantworten«, sagte er. »Natürlich ist der Meteorit gefährlich, das haben wir ja schon leidvoll erfahren. Aber ob er eine spezielle Gefahr für das Schiff darstellt? Ich weiß es nicht. Nur, ich fürchte, es ist zu spät, die Sache abzubrechen, selbst wenn Sie es wollten.« »In der Bibliothek haben Sie sich anders angehört. Sie hatten auch Bedenken, genau wie ich.« »Ich habe sogar große Bedenken. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Dieser Meteorit ist ein tiefes Mysterium für uns. Wie alles im Universum. Aber das, was sich in ihm verbirgt, ist so wichtig, dass ich glaube, wir haben überhaupt keine andere Wahl, als weiterzumachen. Wenn Magellan alle Risiken nüchtern abgewogen hätte, wäre er nicht zu seiner Reise um die Welt aufgebrochen. Und Kolumbus hätte Amerika nie entdeckt.« Britton sah ihn eine Weile stumm an, dann fragte sie: »Meinen Sie, dass man die Bedeutung dieses Meteoriten mit Magellan oder Kolumbus vergleichen kann?« »Ja«, sagte er mit fester Stimme, »auf jeden Fall.« »Glinn hat Ihnen in der Bibliothek eine Frage gestellt, die Sie nicht beantwortet haben.« »Weil ich sie nicht beantworten konnte.« »Warum nicht?« Wieder sah er ihr lange in die grünen Augen. »Weil mir trotz Rochefort und aller ungelöster Rätsel klar wurde, dass ich den Meteoriten haben will. Ich will ihn mehr, als ich je etwas haben wollte.« Britton starrte eine Weile aufs Meer. Dann löste sie sich von der Reling. »Ich danke Ihnen, Sam«, sagte sie, wandte sich um und schritt rasch Richtung Brücke.
Isla Desolación
20. Juli, 14.05 Uhr
McFarlane und Rachel standen in der kalten Nachmittagssonne am Rand der planierten Mulde, unter der der Meteorit lag. Der östliche Himmel war klar und hell, in der frostigen Luft zeichneten sich die Konturen der Landschaft so scharf ab, dass die Augen schmerzten. Im Westen verhieß der Himmel dagegen nichts Gutes. Der düstere, tief hängende Wolkenschleier, der sich bis zum Horizont erstreckte, zog genau auf sie zu, ein scheußlicher Wind trieb ihnen stiebenden Schnee vor die Füße. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis der Sturm, der bisher nur ein Echoimpuls auf dem Bildschirm gewesen war, über sie herfiel. Garza kam zu ihnen herüber, er deutete grinsend auf den Himmel. »Hätte nie gedacht, dass ich so viel Gefallen am Anblick einer so fürchterlichen Sturmfront haben könnte.« »Was haben Sie jetzt vor?«, fragte McFarlane. Garza sagte augenzwinkernd: »Ausschalen und abdecken, von hier bis zur Küste.« »Ausschalen und abdecken?« »Wir graben einen Kanal, decken ihn ab und tarnen ihn mit Erde und Schnee. Eine einfache Technik, die schon den alten Babyloniern bekannt war, nur dass die noch keinen hydraulischen Schaufelbagger und Stahlplatten für die Abdeckung zur Hand hatten. Sobald wir den Meteoriten ein Stück weit bewegt haben, füllen wir hinter ihm den Kanal mit Erde auf und graben gleichzeitig vorn weiter.« McFarlane konnte wieder nur staunen, was Garza und seine Männer in den zwei Tagen, seit der Meteorit Rochefort und Evans in den Tod gerissen hatte, fertig gebracht hatten. Die Tunnel waren aufgeräumt und neu armiert worden, doppelt so viele Hebeblöcke wie vorher hatten den Meteoriten problemlos auf den bereitstehenden Lastenschlitten gehoben – alles innerhalb von zwei Tagen. Der schwierigste Schritt stand ihnen allerdings noch bevor: Sie mussten den Meteoriten samt der Halterung, in der er ruhte, auf den riesigen, eilends von der Rolvaag herüber gebrachten Tieflader hieven. Garza hörte gar nicht mehr auf zu grinsen, er war aufgekratzt und voller Optimismus. »Gleich können Sie beobachten, wie das schwerste Objekt bewegt wird, das Menschen je transportiert haben.« McFarlane beschlich der Verdacht, dass sich hinter Garzas großspurigem Gerede vielleicht auch Nervosität verbarg. Er nickte. »Nur zu.« »Gut, wir werden unseren Burschen jetzt auf den Tieflader betten. Dazu müssen wir für kurze Zeit die Tarnung entfernen. Verstehen Sie jetzt, warum mir der Sturm wie gerufen kommt? Da werden unsere chilenischen Freunde sich schwer tun, uns in die Karten zu schauen.« Er trat einen Schritt zurück und sprach etwas ins Funkgerät. Stonecipher, der weiter hinten stand, gab dem Kranführer ein Zeichen. McFarlane verfolgte aufmerksam, wie der Kran die schweren Stahlplatten von dem frisch ausgehobenen Graben hob und ein Stück daneben – sauber übereinander gestapelt – ablegte. Der Wind hatte aufgefrischt; er trieb Schnee vor sich her und fauchte heulend um die Hütten. Die letzte Stahlplatte vollführte einen wilden Tanz in der Luft, der Kranführer hatte alle Mühe, sie so zu führen, dass sie vom Sturm nicht gegen den Kranarm geschleudert wurde. »Mehr nach links – noch mehr«, rief Stonecipher ihm über Funk zu. »Jetzt tiefer, noch tiefer – ablegen.« Ein paar bange Sekunden lang hielten alle den Atem an, dann war es geschafft, die Stahlplatte ruhte auf dem Stapel. McFarlane starrte in den offenen Graben. Zum ersten Mal sah er den Meteoriten in voller Größe. Er lag wie ein blutrotes, asymmetrisches Ei in seinem aus Holz gezimmerten, mit Stahlstreben verstärkten Nest – ein Anblick, bei dem er ein nie gekanntes Glücksgefühl verspürte.
Wie aus weiter Ferne hörte er Rachel zu Garza sagen: »Hab ich’s nicht gesagt? Der Junge hat’s einfach drauf!« »Es einfach draufhaben« war einer ihrer Lieblingssprüche. Wenn jemand etwas von seiner Arbeit verstand – sei’s ein Techniker, ein Bauarbeiter oder ein Wissenschaftler –, hatte er es bei Rachel »einfach drauf«. Mit einiger Mühe riss sich McFarlane vom Anblick des Meteoriten los, schielte zu Rachel hinüber und war froh, endlich wieder die hübschen Lachfältchen um ihre Augen zu entdecken, die er während der letzten Tage so schmerzlich vermisst hatte. Er zwinkerte ihr zu. »Ist er nicht wunderschön?« Dann konzentrierte er sich wieder auf das, was sich in dem offenen Graben tat. Der mit schweren Flugzeugreifen bestückte Sechsunddreißigachser, der den Meteoriten transportieren sollte, war ein wahres Ungetüm: etwa dreißig Meter lang, mit einer wabenförmigen, keramikbeschichteten Auflagefläche aus Stahl. Am vorderen Ende ragte das massive Gestänge einer großen Winde auf. Irgendwo im noch abgedeckten Teil des Grabens musste sich Glinn aufhalten; McFarlane hörte, wie er, gegen den immer heftigeren Wind ankämpfend, einigen Arbeitern etwas zurief. Als er McFarlane und Amira entdeckte, kam er zu ihnen herauf. »Haben die letzten Tests etwas Neues ergeben?«, fragte er, ohne die Arbeitskolonne aus den Augen zu lassen. McFarlane nickte. »Auf mehreren Gebieten.« Mehr sagte er nicht. Ein im Grunde sinnloses Hinhalten, aber irgendwie verschaffte es ihm Genugtuung, Glinn nachfragen zu lassen. Glinn legte den Kopf schief, als habe er McFarlanes Spielchen durchschaut. »Dürfte ich bitte ein wenig mehr darüber erfahren?« »Sicher. Wir kennen jetzt den Schmelzpunkt. Das heißt, eigentlich sollte ich wohl eher von Verdampfungspunkt sprechen, denn der Meteorit geht nahtlos vom festen Zustand in einen gasförmigen über.«
Glinn zog fragend die Augenbrauen hoch. »Eins Komma zwei Millionen Grad Kelvin.« Glinn schnaufte verblüfft. »Du liebe Güte.« »Wir sind auch bei der kristallinen Struktur ein Stück weitergekommen. Es handelt sich um ein sehr kompliziertes, asymmetrisch gebrochenes Muster aus ineinander geschachtelten gleichschenkligen Dreiecken. Das Muster wiederholt sich auf verschiedenen Ebenen, von der makroskopischen bis hin zu einzelnen Atomen. Ein Bruchgefüge wie aus dem Lehrbuch. Was übrigens auch die extreme Härte erklärt. Sie scheint elementar begründet zu sein, nicht durch eine Legierung.« »Gibt es neue Erkenntnisse, wo das Material im Periodensystem einzuordnen wäre?« »Sehr weit oben. Oberhalb von einhundertsiebenundsiebzig. Möglicherweise ein Element außerhalb der Lichtstrahlenwirkung. Die einzelnen Atome scheinen gigantisch zu sein, jedes mit Hunderten von Protonen und Neutronen.« »Sonst noch was Neues?« McFarlane atmete tief die frostige Luft ein. »Ja. Etwas sehr Interessantes. Amira und ich haben uns mit der zeitlichen Bestimmung von Hanuxas Klauen beschäftigt. Die vulkanischen Auswürfe und die erstarrte Lava datieren aus nahezu exakt derselben Zeit, zu der der Meteorit aufgeschlagen ist.« »Und was schließen Sie daraus?« »Wir sind bisher davon ausgegangen, dass der Meteorit in unmittelbarer Nähe eines Vulkans aufgeschlagen ist. Jetzt hat es den Anschein, als sei dieser Vulkan erst durch den Aufschlag entstanden.« In Glinns Blick lag ein leichtes Flackern. »Er war so schwer und dicht und kam mit einer derartigen Geschwindigkeit, dass er tief in die Erdkruste eingedrungen ist. Und dabei hat er eine Vulkaneruption ausgelöst. Das ist der Grund, warum die Isla Desolación als einzige der Kap-Hoorn-Inseln vulkanisch ist. Nestor hat in seinem Tagebuch einen sonderbaren Coesit in dieser Region erwähnt. Und bei einer erneuten Röntgenbeugung habe ich festgestellt, dass er Recht hatte, er zeigt tatsächlich merkwürdige Abweichungen. Der Aufschlag war so heftig, dass bei dem Gestein in der Umgebung, soweit es nicht verdampft ist, eine Phasenverschiebung stattgefunden hat. Das Material wurde in eine Form von Coesit verwandelt, die meines Wissens bisher nirgendwo beobachtet wurde.« Er zeigte mit einer weit ausholenden Handbewegung auf Hanuxas Klauen. »Die Wucht der Eruption, die Magmaturbulenzen und der explosionsartige Austritt von Gasen haben den Meteoriten wieder hochgedrückt, schätzungsweise in eine Position mehrere hundert Meter unter der Erdoberfläche. Soweit wir aus den uns bekannten Fakten schlussfolgern können, haben die Erosion und die Hebung der südlichen Kordilleren im Laufe von Jahrmillionen bewirkt, dass der Meteorit allmählich immer weiter zur Erdoberfläche hinaufgeschoben wurde, bis er schließlich aus dem Tal zu Tage getreten ist.« Nachdenkliches Schweigen, dann gab Glinn sich einen Ruck und bedeutete Garza und Stonecipher, die Arbeit im offenen Graben fortzusetzen. Garza rief seinen Männern etwas zu. Eine Arbeitskolonne legte ein Netz aus dicken Kevlargurten über den Meteoriten und seine Halterung, eine andere verband den Lastenschlitten und die Winde des Tiefladers durch ein weiteres Gurtgeflecht. Danach zogen sich die Arbeiter ein paar Meter zurück. Zunächst war nur ein metallisches Knirschen zu hören, das rasch in knarrendes Rumpeln überging, dann spürte McFarlane, wie der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren begann. Von zwei starken Dieselgeneratoren angetrieben, begann die Winde sich langsam zu drehen, bis die Gurte straff um den Meteoriten lagen. Die Vorarbeit war getan, die Verladung konnte beginnen. Die Sturmfront befand sich jetzt genau über ihnen, die geballten Wolken verdunkelten den Himmel so, dass das leuchtende Rot des Meteoriten kaum noch auszumachen war. Es sah aus, als wäre plötzlich sein inneres Feuer erloschen. Rachel schielte besorgt auf die Wand aus Schnee, die der Sturm auf sie zutrieb. »O Gott, jetzt geht’s los.« »Alles fertig zur Verladung«, rief Garza. Glinn mummte sich fester in seinen Parka. »Beim ersten Anzeichen von Blitzschlag brechen wir sofort ab, klar? Also, jetzt mit der Verladung beginnen.« Plötzlich wurde es merklich dunkler, ein unheimliches Brausen lag in der Luft, der Schnee trieb hart wie Schrotkugeln horizontal durch die Luft. Von einem Moment zum anderen sah Mc-Farlane nur noch schemenhaft, was sich im Tunnel tat. Die Generatoren übertönten das Heulen des Sturms, der Boden bebte, McFarlane spürte, wie seine Bauchdecke sich verkrampfte und ein unerträglicher Druck auf seinen Ohren lastete. »Herrschaft noch mal«, schimpfte Rachel, »ein historischer Augenblick, und ich kriege nichts davon mit!« Die Kevlargurte waren zum Zerreißen gespannt, sie fingen unter der Belastung wie Drahtseile zu singen an. Aus dem Halbdunkel hörten sie gespenstisches Knacken und rätselhafte schwirrende Geräusche. Aber wie laut die Generatoren auch aufheulten, der Meteor rührte sich nicht. Die Spannung erreichte ihren Siedepunkt. Und dann, als das Geschrille und Geheule sich zur Kakophonie gesteigert hatte, glaubte McFarlane im Graben eine kurze Bewegung auszumachen. Aber beschworen hätte er es bei all dem Lärm, der ihm in den Ohren gellte, und bei dem stiebenden Schnee und den schlechten Sichtverhältnissen nicht. Bis Garza zu ihnen hinaufsah und mit breitem Grinsen den Daumen in die Luft reckte. »Er bewegt sich!«, brüllte Rachel. Garza und Stonecipher riefen den Arbeitern immer wieder Anweisungen zu. Die stählernen Laufrollen unter dem Lastenschlitten quietschten und qualmten, eine Arbeitskolonne war ständig damit beschäftigt, sie und die Auflagefläche des Tiefladers mit Graphit zu besprühen. Und dann ging alles sehr schnell. Der Tieflader schien einen gequälten Schrei auszustoßen, als der Lastenschlitten mit dem Meteor auf der Ladefläche aufsetzte. Die Kevlargurte hingen schlaff durch, der Lärm der Dieselgeneratoren wurde schwächer. Einen Augenblick lang lag fast gespenstische Ruhe über der Szene. Dann pfiff Rachel gellend auf zwei Fingern und jubelte: »Wir haben’s geschafft!« »Drei Meter weit«, holte McFarlane sie trocken auf den Boden der Tatsachen zurück. »Und fast fünftausend Kilometer liegen noch vor uns.« Hinter Hanuxas Klauen zuckten in schneller Folge Blitze über den Himmel, fast unmittelbar danach grollte ohrenbetäubender Donner. Der Wind frischte so stark auf, dass er die Schneedecke aufriss und wie ein weißes Laken in ihre Richtung trieb. »Das war’s!«, rief Glinn der Arbeitskolonne zu. »Mr. Garza, bitte decken Sie den Graben ab.« Garza musste, als er sich zum Kranführer umwandte, die Kapuze des Parkas festhalten, sonst hätte sie ihm die Sicht versperrt. »Das geht jetzt nicht«, rief er zurück. »Der Wind ist zu stark, er knickt uns glatt den Kran um.« Glinn nickte. »Dann ziehen Sie das Segeltuch über den Graben, bis der Sturm vorbei ist.« Die Arbeitskolonne entrollte das in grau-weiß gefleckter Tarnfarbe gehaltene Segeltuch und musste sich wegen des böigen Winds mächtig ins Zeug legen, um es über die offene Grube und den Tieflader zu ziehen. Aber die Mühe lohnte sich, der Graben war nun selbst aus wenigen Metern Entfernung kaum noch auszumachen. Einmal mehr bewunderte McFarlane im Stillen Glinns Umsicht, seine Fähigkeit, in jeder Situation auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein und immer einen Alternativplan zur Hand zu haben. Zwei, drei Minuten später war das Segeltuch vollständig ausgerollt und fest verzurrt. Wieder zuckte ein greller Blitz über den Himmel, diesmal noch näher. Für den Bruchteil einer Sekunde war die Wand aus Schnee, die der Sturm vor sich her trieb, in schwefelgelbes Licht getaucht. Glinn nickte McFarlane und Rachel zu. »Gehen wir rüber in die Kommandozentrale.« Und als sie, gegen den Wind gestemmt, losmarschierten, rief er Garza zu: »Ich will niemanden hier draußen haben, bis auf die Wachen. Teilen Sie die Posten so ein, dass sie sich alle vier Stunden ablösen.«
Isla Desolación
22.40 Uhr
Adolfo Timmer wartete reglos hinter einer Schneewehe. Er lag schon so lange hier, dass der Sturm ihn mit Schnee bedeckt hatte. Vor ihm, etwas unterhalb, konnte er einen schwachen, hin und her wandernden Lichtschein ausmachen. Inzwischen war es stockdunkle Nacht, die Arbeiten waren anscheinend eingestellt worden, die Arbeiter hatten vermutlich in den Hütten Schutz gesucht. Genau die Situation, auf die er gewartet hatte, um selbst aktiv zu werden. Timmer stemmte sich hoch. Er konnte es sich sparen, den Schnee von der Kleidung zu klopfen, das besorgte schon der Wind, der immer noch mit unverminderter Stärke wehte. Überhaupt erwies sich der Sturm nachträglich als zuverlässiger Verbündeter: Er hatte aus dem Schnee eine Dünenlandschaft mit hüfthohen Kämmen und tiefen Furchen geformt, die ideale Deckung. Im Schutz der Dünen ging er langsam auf die planierte Mulde zu, an ihrem Rand machte er Halt und kauerte sich hinter eine Schneewehe. Irgendwo vor ihm fiel gedämpftes Licht in das offene Gelände. Er reckte den Kopf und sah, dass es durch die Ritzen einer etwa sieben, acht Meter entfernten schäbigen Bretterbude drang. Auf der gegenüberliegenden Seite der planierten Mulde reihten sich Hütten aneinander, die kleinen Fenster starrten wie viereckige gelbe Augen in die Dunkelheit. Daneben waren die Umrisse einiger Container und abgestellter Maschinen zu erkennen. Er kniff die Augen zusammen. Die Sickerbecken und Abwassergräben – das hatte er schon feststellen können – waren eine Finte; sie sollten nur von etwas anderem ablenken. Aber wovon? Timmer fuhr zusammen. Hinter der Bretterbude war ein Mann aufgetaucht. Er drückte die Tür auf, warf einen Blick nach innen, machte die Tür wieder zu und setzte seine Runde fort, am Rand der Mulde entlang. Zum Schutz gegen den Wind und das Schneegestöber zog er den Kopf zwischen die Schultern und rieb fröstelnd die Hände aneinander. Timmer beobachtete ihn aufmerksam. Der Mann vertrat sich mit Sicherheit nicht nur die Füße, weil er im Freien eine Zigarette rauchen wollte, so viel stand fest. Er war zur Wache eingeteilt und absolvierte seinen Rundgang. Doch was gab es auf einem öden Stück Land mit einer armseligen Bretterbude zu bewachen?
Timmer kroch langsam weiter auf die Bretterbude zu, bis er abermals hinter einer Schneewehe Deckung nehmen konnte. Der Mann kam zurück, ging zur Hütte, stapfte sich die Füße warm und entfernte sich wieder. Er war allein. Das heißt, falls in der Bretterbude keine zweite Wache postiert war. Timmer robbte um die Schneewehe herum und auf den Schuppen zu, sorgsam darauf bedacht, möglichst schnell ein Stück Holzwand zwischen sich und dem einsamen Posten zu haben. Comandante Vallenar hatte ihm auf der Almirante Ramirez ausdrücklich eingeschärft, kein unnötiges Risiko einzugehen. Seien Sie vorsichtig, Señor Timmer, ich möchte Sie heil zurückhaben ... Er hatte keine Ahnung, ob der Posten bewaffnet war, ging jedoch sicherheitshalber davon aus. Er kauerte sich ins Halbdunkel neben der Bretterbude und langte in die Tasche seines Schneeanzugs. Als die Hand wieder auftauchte, hielt sie den Griff eines Messers umklammert; er zog es aus der Scheide, um sich zu vergewissern, dass es nicht festgefroren war. Bei diesen Temperaturen musste man mit allem rechnen. Er fuhr mit dem Daumen prüfend über die Klinge – eiskalt und rasiermesserscharf. Ja, Comandante, dachte er, ich werde sehr, sehr vorsichtig sein. Er schloss die Hand fest um das Messer. Es machte ihm nichts, dass es sich schmerzhaft in die Fingerkuppen grub. Ihm war nur wichtig, die Klinge schön warm zu halten, damit sie sich glatt und geschmeidig ins Fleisch bohrte.
Er wartete ab, bis der Sturm wieder stärker wurde und der Wind heulend um die nackten Holzwände des Schuppens fegte. Um besser hören zu können, schob er die Kapuze zurück. Und da vernahm er es ganz deutlich: das knirschende Geräusch von Schritten, die durch den Schnee auf ihn zu kamen. Wieder näherte sich eine Gestalt der Bretterbude, kaum zu erkennen im schwachen Licht und bei dem stiebenden Schnee. Timmer schmiegte sich dicht an die Holzwand. Schwere Atemzüge – und gleich darauf ein hohles Klatschen, als der Mann mehrmals die Arme um sich schlang, um sich ein wenig aufzuwärmen. Timmer setzte mit einem Sprung um die Ecke der Hütte und brachte den Mann mit ausgestrecktem Bein zu Fall. Er lag bäuchlings im Schnee, und bevor er reagieren konnte, kauerte Timmer schon über ihm, drückte ihm das Knie ins Kreuz, riss ihm den Kopf hoch und zerrte ihn ins Dunkel. Das Messer blitzte auf, die Klinge fuhr tief in den Hals des Mannes. Timmer hörte es knirschen, als die zervikale Wirbelarterie durchtrennt wurde. Noch ein leises Gurgeln, dann schoss das Blut heraus. Timmer hielt den Kopf des Mannes nach hinten gebeugt, bis der Strom allmählich versiegte. Erst dann ließ er den Kopf nach vorn kippen, drehte den Toten um und sah sich das Gesicht an. Es war ein Weißer, nicht der Mestize, auf den er, wie der Comandante ihm aufgetragen hatte, ein besonders wachsames Auge haben sollte. Er klopfte rasch die Taschen des Toten ab: ein Handfunkgerät und eine kleinkalibrige halbautomatische Waffe. Er verstaute beides in seinem Schneeanzug, zerrte den Toten zu einer nahen Wechte, verscharrte ihn darin und häufte zusätzlich Schnee über ihn. Er reinigte sein Messer im Schnee und verwischte, so gut es ging, die Blutspuren. Er hatte zwar nur einen Wachmann gesehen, aber damit war nicht gesagt, dass kein zweiter seine Runden drehte. Tief geduckt – um im Lichtschein, der durch die Ritzen fiel, kein Ziel abzugeben – ging er um die Hütte herum auf den Rand der planierten Fläche zu, immer den Fußspuren des toten Postens folgend. Wirklich sehr seltsam, dachte er noch, weit und breit nichts als Schnee. Doch schon beim nächsten Schritt gab der Boden unter seinen Füßen plötzlich nach, sein linker Schneeschuh versank im Nichts. Er zerrte ihn verblüfft frei und wich ein Stück zurück. Erst nach einer Weile kroch er vorsichtig auf Händen und Knien wieder auf die Stelle zu, tastete sie sorgfältig ab und machte eine merkwürdige Entdeckung: Das, was seine Hände unter der dünnen, angewehten Schneedecke fühlten, war keine Erde. Aber es konnte auch keine Bodenspalte sein, dafür war die Ausdehnung zu groß. Unter der dünnen Schneeschicht musste sich eine regelrechte Höhle erstrecken, abgedeckt mit einer straff gespannten, von Pfosten gehaltenen Plane. Timmer dachte kurz nach, dann machte er kehrt und war kurz darauf wieder im Halbdunkel hinter der Hütte angelangt. Seine Intuition sagte ihm, dass er die Lösung des Rätsels hinter der Tür finden würde, die Frage war nur, ob dort eine böse Überraschung auf ihn wartete. Mit gezücktem Messer huschte er um die Bretterbude herum, öffnete die Tür einen Spalt und warf einen Blick nach innen. Die Hütte war leer. Er schlüpfte hinein, zog leise die Tür hinter sich zu, knipste eine kleine Taschenlampe an und ließ den Lichtstrahl langsam kreisen. Bis auf ein paar Holzbehälter mit Nägeln war nichts zu sehen. Aber wenn es nur eine leere Hütte war, wieso hatten die Amerikaner dann einen Wachposten abkommandiert? Dann glaubte er, doch etwas wahrzunehmen, und knipste rasch seine Taschenlampe aus. Unter einem der Holzbehälter war eine Stahlplatte in den Boden eingelassen, durch die Ritzen am Rand drang schwacher Lichtschein. Timmer schob den Behälter beiseite, tastete die Stahlplatte ab und stellte fest, dass er es mit einer – nur sehr oberflächlich getarnten – Klapptür zu tun hatte. Er kniete sich daneben und lauschte eine Weile. Stille. Schließlich fasste er den Griff und zog die Platte vorsichtig hoch.
Nach den langen Stunden draußen in der Dunkelheit blendete ihn das grelle Licht, das ihm entgegenschlug. Er schloss die Klappe, kauerte sich auf den Boden und dachte nach. Schließlich stand sein Entschluss fest. Er schnallte die Schneeschuhe ab, versteckte sie im hintersten Winkel der Hütte, hob die Klapptür wieder an, ließ seinen Augen ein paar Sekunden Zeit, sich an die Helligkeit zu gewöhnen, und stieg die schmalen Stufen hinunter. Nach zehn Metern war er unten angekommen – in einem Tunnel. Es war wärmer hier unten, zu warm für die Kleidung, die er trug, aber viel mehr störte ihn die Helligkeit. Er fühlte sich schutzlos allen potenziellen Gefahren ausgeliefert. Zumal das, was er sah, absolut nicht nach einer Goldmine aussah. Es gab überhaupt nichts, was auf eine Abbau- oder Schürfstelle hindeutete. An der nächsten Verzweigung machte er Halt, um sich zu orientieren. Niemand zu sehen, nichts rührte sich. Er fuhr sich unschlüssig mit der Zunge über die Lippen. Und dann entdeckte er doch etwas. Weiter vorne wurde der Tunnel breiter. So breit, dass man fast von einer Höhle sprechen konnte. Und in dieser Höhle lag oder stand etwas sehr Langes, sehr Großes. Er näherte sich vorsichtig der Stelle, wo der Tunnel in die Höhle mündete, knipste die Taschenlampe an und richtete den Lichtstrahl auf das rätselhafte Objekt. Ein Fahrzeug von gigantischer Größe. Timmer ging – mit dem Rücken zur Wand – darauf zu. Es war ein riesiger Tieflader, an die dreißig Meter lang, mit wuchtigen, auf Titanfelgen gezogenen Reifen. Er hatte noch nie ein Fahrzeug mit solchen Reifen gesehen – und schon gar nicht mit so vielen. Sein Blick wanderte langsam höher. Auf seiner Auflagefläche aus Stahl ruhte ein Balkengerüst mit Querstreben, eine Art Halterung. Und in ihr lag etwas Großes, Rotes. Etwas, das Timmer noch nie gesehen hatte und sogar seine Vorstellungskraft überstieg. Etwas, das in einem unglaublich satten Rot von innen zu leuchten schien. Wieder sah er sich vorsichtig um, bevor er den Fuß auf eine der Felgen setzte und sich hochzog. Er war etwas außer Atem, als er oben ankam. Es war sehr warm hier unten, und unter dem schweren Schneeanzug staute sich die Hitze. Aber er achtete kaum darauf, er hatte nur noch Augen für dieses seltsame rote Objekt in der riesigen Holzhalterung. Timmer kletterte auf den Querstreben weiter nach oben. Es gab keinen Zweifel mehr: Er hatte das gefunden, weswegen die Amerikaner auf diese einsame, abgelegene Insel gekommen waren. Aber was war es? Er durfte keine Zeit verlieren. Nicht einmal so viel Zeit, dass er sich auf die Suche nach dem kleinen Mestizen machen konnte. Denn Comandante Vallenar war sicher begierig darauf, so schnell wie möglich zu erfahren, was die Amerikaner hier in dieser Höhle versteckt hatten. Und doch zögerte er. Vertat seine Zeit damit, noch weiter nach oben zu klettern. Das rätselhafte Ding, das ihn so in den Bann zog, war fast ätherisch schön. Es sah aus, als habe es keine Oberfläche – als brauche er nur die Hand auszustrecken, und schon könne er tief in sein rubinrot leuchtendes Inneres langen. Während er so darauf starrte, glaubte er, hauchfeine Strukturen im Rot wahrzunehmen, die sich ständig zu verändern, schwerelos zu schweben und, sobald Licht auf sie fiel, zu funkeln schienen. Er bildete sich sogar ein, auf seiner heißen Haut die Kälte zu spüren, die dieses Ding ausströmte. Es war das Herrlichste, das Überirdischste, was er je gesehen hatte. Timmer konnte nicht anders, er steckte das Messer weg, zog den Handschuh aus und schob seine Hand langsam, fast ehrfürchtig näher auf das geheimnisvolle, wunderschön leuchtende Objekt zu.
Isla Desolación
23.15 Uhr
Sam McFarlane fuhr aus dem Schlaf hoch, sein Herz klopfte wild. Ein Albtraum, hätte er womöglich gedacht, wäre da nicht der Widerhall der Explosion gewesen, von dem die Luft vibrierte. Er kam so vehement auf die Beine, dass der Sessel, in dem er sein Nickerchen gehalten hatte, nach hinten umkippte. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Glinn ebenfalls aufgesprungen war und lauschte. Und genau in dem Moment, als ihre Blicke sich trafen, fing das Licht in der Hütte an zu flackern und erlosch. Einen Augenblick lang war es stockdunkel, dann schaltete sich die Notbeleuchtung ein und tauchte den Raum in schwaches orangefarbenes Schummerlicht. »Was, zum Teufel, war das?«, fragte McFarlane. Seine Stimme ging fast im Heulen des Windes unter. Die Druckwelle hatte das Fenster eingedrückt, Schnee wirbelte herein, auf dem Boden lagen Holzsplitter und Glasscherben. Glinn eilte zu dem leeren Fenstersturz und starrte angestrengt in die von Sturm durchtoste Nacht. Dann drehte er sich zu Garza um. »Wer hat Dienst?« »Hill.« Glinn griff nach einem Funkgerät. »Hill? Hier ist Glinn. Lagemeldung.« Er nahm den Daumen von der Sprechtaste und horchte. Keine Antwort. »Hill?«, versuchte er es noch einmal, dann wechselte er die Frequenz. »Außenposten? Thompson?« Wieder keine Antwort, nur starkes statisches Rauschen. Er legte das Funkgerät weg. »Die Funkverbindung ist tot, ich kriege keinen Kontakt.« Dann sah er, dass Garza sich den Schneeanzug überzog: »Wo wollen Sie hin?« »Rüber zur zentralen Stromversorgung.« »Nichts da. Wir gehen zusammen.« Knapp und scharf, wie ein militärischer Befehl. Stapfende Schritte, dann kam Amira hereingestolpert, über und über mit Schnee bestäubt. »Ich komme aus der Kommunikationszentrale«, brachte sie kurzatmig heraus. »Die Stromversorgung ist zusammengebrochen, überall. Nur das Notaggregat arbeitet noch.« Glinn nickte stumm. Er prüfte das Magazin einer kleinkalibrigen Glock 17, dann schob er sich die Pistole in den Gürtel. McFarlane hatte sich schon bis über die Hüften in den Schneeanzug gezwängt, doch als er in die Ärmel schlüpfen wollte, sah er, dass Glinn ihn stirnrunzelnd beobachtete. »Sparen Sie sich, was Sie sagen wollen, ich komme auf jeden Fall mit.« Glinn zögerte, dann gab er nach und wandte sich an Amira. »Rachel, Sie bleiben hier und ...« »Aber ...« »Keine Widerrede, Sie werden hier gebraucht. Verriegeln Sie hinter uns die Tür. Ich sorge dafür, dass hier so schnell wie möglich eine Wache postiert wird.« Wie aufs Stichwort tauchten Thompson, Rocco und Sanders an der Tür auf, mit lichtstarken Stablampen ausgerüstet, Maschinenpistolen über die Schulter gehängt. »Alle vollzählig, Sir, bis auf Hill«, meldete Thompson. »Gut, danke.« Glinn schnallte sich seine Schneeschuhe an und griff nach einer Stablampe. »Thompson und Rocco, Sie kommen mit uns. Sanders, stellen Sie vor allen Unterkünften und Arbeitsräumen bewaffnete Posten auf.« Glinn und die anderen waren schon draußen, als Mc-Farlane endlich die Schneeschuhe anhatte und hinter der Gruppe herhetzen konnte. Er zuckte zurück, als die eisige Kälte ihn wie mit Krallen packte. Die paar Stunden Schlaf in der warmen Hütte hatten ihn ganz vergessen lassen, wie scharf sich Schneeflocken anfühlen, wenn sie einem vom Wind horizontal ins Gesicht getrieben werden. Die Hütte, in der die zentrale Stromversorgung installiert war, lag nur gut fünfzehn Meter entfernt. Garza schloss auf. Der Gestank verbrannter Kabel hing in der Luft. Thompson und Rocco ließen den Lichtstrahl ihrer Stablampen durch den kleinen Raum huschen. Garza kauerte sich vor einen grauen Metallkasten und zog die Abdeckung auf. Eine beißend scharfe Qualmwolke schlug ihm entgegen. Er fuhr mit dem Finger an den Anzeigen entlang. »Alles verschmort.« »Geschätzter Zeitbedarf für die Reparatur?«, fragte Glinn. »Für den Hauptschaltkasten maximal zehn Minuten. Danach kommt aber noch die gezielte Fehlersuche.« »Gut, fangen Sie an. Und Sie« – er sah Thompson und Rocco an – »halten draußen Wache.« Garza machte sich ohne viele Worte an die Arbeit. Glinn versuchte noch einmal, Funkkontakt zu bekommen, aber außer Rauschen und Knacken drang nichts aus dem Lautsprecher. Er steckte das Funkgerät weg, stellte sich neben McFarlane und wartete. Und dann war Garza so weit, er kam aus der Hocke hoch, ging zur Schaltkonsole und drückte einige Schalter. Ein kurzes Klicken, leises Summen – aber kein Licht. Unwillig murrend ging er zu einem Schrank, nahm einen handtellergroßen Diagnose-Computer heraus, stöpselte ihn in einen Steckkontakt des Hauptschaltkastens und schaltete ihn ein. Der kleine blaue Bildschirm wurde mit einem Flackern hell. Nach einer Weile sagte er kopfschüttelnd: »Die Leitung ist an mehreren Stellen durchgeschmort.« »Was ist mit den Widerständen?«, fragte Glinn. Garza zuckte resignierend die Schultern. »Es muss ein enormer Impuls gewesen sein, bei dem über eine Milliarde Volt mit einer Stärke bis zu fünfzigtausend Ampere geflossen sind, und das in nicht mal einer Millisekunde. So was hält kein Widerstand und keine Sicherung aus.« »Eine Milliarde Volt?«, wiederholte McFarlane ungläubig. »Das wäre ja mehr als bei einem Blitzschlag.« »Völlig richtig«, bestätigte Garza, zog den Minicomputer aus der Steckdose und schob ihn in die Tasche seines Schneeanzugs. »Verglichen mit dem, was sich hier entladen hat, ist ein Blitz ein statischer Rülpser.« »Und was war es?« Garza zuckte die Achseln. »Weiß der Himmel.« Glinn starrte auf die verschmorten Leitungen, dann entschied er: »Gehen wir uns den Meteoriten ansehen.« Sie stapften hinaus in den Sturm, weg von den Hütten, auf die Fundstelle und das Tunnelsystem zu. Schon von weitem konnten sie das zerfetzte Segeltuch im Wind flattern sehen. Als sie näher kamen, ließ Glinn kurz anhalten. Er schickte Thompson und Rocco in den Tunnel; sie sollten sich dort bis zum Meteoriten vorarbeiten. Dann winkte er, die Pistole in der Hand, Garza und McFarlane hinter sich her. Sie hielten sich dicht am Rand des offenen Grabens, neben ihnen blähten sich die Fetzen der Segeltuchabdeckung gespenstisch im Wind. Als sie am Ziel angekommen waren, leuchtete Glinn in den Tunnel. Ein chaotisches Durcheinander, überall lagen Erdklumpen, Steine, zersplittertes Holz und geschmolzene Metallteile herum, der Meteorit dampfte still vor sich hin. Etliche Reifen des Tiefladers hatten Feuer gefangen und waren zu einem Klumpen zusammengeschmort, stinkender Qualm stieg auf. Glinn leuchtete die Szene mit der Stablampe aus, dann sah er Garza fragend an. »War das eine Bombe?« »Sieht eher nach einem gigantischen Lichtbogen aus.« Aus dem Dunkel des Tunnels kam schwankender Lichtschein auf sie zu, gleich darauf tauchten – gegen die Rauchschwaden anwedelnd – Thompson und Rocco auf. Sie machten sich sofort daran, den Reifenbrand unter dem Tieflader mit chemischen Feuerlöschern zu ersticken. »Fallen Ihnen irgendwelche Schäden an dem Meteoriten auf?«, rief Glinn ihnen zu. Thompson arbeitete sich näher an den Meteoriten heran, nach einer Weile rief er zurück: »So wie ich das sehe, hat der nicht mal einen Kratzer abgekriegt, Sir.« Inzwischen hatte Glinn den nächsten Brandherd entdeckt. »Dort drüben, Thompson, unter dem Tieflader!« McFarlanes Blick folgte Glinns ausgestrecktem Arm. Anfangs wurde er aus der verklumpten Materie, aus der helle Flammen züngelten, nicht schlau. Erst als Thompson die Stablampe darauf richtete, erkannte er die grausame Wahrheit: eine abgerissene Hand, ein Stück Schulter, verkohltes Fleisch – die Überreste eines menschlichen Körpers. »Mein Gott«, stöhnte er. »Sieht so aus, als hätten wir Hill gefunden«, rief Garza den Männern im Graben zu. »Ja«, antwortete Thompson, »hier liegt seine Pistole.« Glinn hatte genug gehört. »Thompson, suchen Sie das Tunnelsystem ab. Sobald Sie etwas finden, Meldung an mich. Rocco, Sie fordern einen Trupp an, der Ihnen hilft, die sterblichen Überreste zu bergen.« Dann wandte er sich an Garza. »Lassen Sie das Gelände abriegeln. Teilen Sie jemanden ein, der sofort sämtliche Daten des Überwachungssystems auswerten soll. Nehmen Sie Kontakt mit dem Schiff auf, geben Sie eine Warnmeldung an Captain Britton durch und fordern Sie neue Generatoren an. Ich will, dass die Energieversorgung in sechs Stunden wieder funktioniert.« »Wir haben keine Verbindung zum Schiff«, wandte Garza ein. »Auf allen Kanälen nur Rauschen.« Glinn erwischte Thompson gerade noch, bevor er im Tunnel verschwand. »Thompson! Sobald Sie da unten fertig sind, nehmen Sie ein Schneemobil und fahren zur Anlegestelle am Strand. Stellen Sie Kontakt zur Rolvaag her, notfalls durch Morsezeichen. Haben Sie den Auftrag an Mr. Garza mitgehört?« »Ja, Sir«, rief Thompson zurück. Glinn drehte sich zu McFarlane um. »Holen Sie Amira her. Und bringen Sie alles mit, was Sie an Messgeräten brauchen. Ich stelle ein Team für die Aufräumungsarbeiten im Tunnel zusammen. Sobald wir damit fertig sind und Hills Leichnam geborgen ist, möchte ich, dass Sie und Amira sich den Meteoriten genau ansehen. Auf eine Feinuntersuchung können wir fürs Erste verzichten; es reicht, wenn Sie zunächst feststellen, was dort unten passiert ist. Und auf keinen Fall den Meteoriten berühren, hören Sie?« McFarlane starrte in den Graben. Rocco hatte mit den Aufräumungsarbeiten begonnen, er legte wortlos etwas auf einem Stück Segeltuch ab – etwas, das aussah wie eine Lunge. »Rocco, da gibt’s noch was zu löschen«, rief Glinn ihm zu und deutete auf ein schwach flackerndes Feuer am hinteren Ende des Tiefladers. Rocco ging mit dem Feuerlöscher auf die Brandstelle zu. Dann blieb er wie angewurzelt stehen. Und schließlich hob er langsam den Kopf und starrte zu ihnen hinauf. »Ich glaube, Sir, das ist ein Herz.« Ein kurzes Zucken um die Mundwinkel war die einzige Regung, die Glinn sich anmerken ließ. »Verstanden. Löschen Sie es, Mr. Rocco, und machen Sie weiter.«
Isla Desolación
21. Juli, 12.05 Uhr
McFarlane quälte sich mühsam über die freie Fläche auf die Hütten zu, jeden Moment darauf gefasst, dass es ihm ergehen würde wie Rachel, die der böige Rückenwind vorhin fast auf die Knie gezwungen hatte. »Hört dieser verdammte Sturm denn nie auf?«, beklagte sie sich gerade lautstark. Mc-Farlane sagte nichts, ihm wirbelten alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Kurz darauf waren sie bei der Sanitätsbaracke angelangt. Die Luft roch widerlich nach verschmortem Fleisch. Erst als McFarlane sich aus dem Schneeanzug pellte, merkte er verblüfft, dass Garza ein Funkgespräch führte. Glinn schien genauso erstaunt, er fragte Garza: »Seit wann steht die Funkverbindung wieder?« »Seit etwa einer halben Stunde. Noch nicht ganz klar, aber es wird langsam besser.« »Das ist merkwürdig. Wir haben vorhin vom Tunnel aus versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, aber außer Rauschen nichts reingekriegt.« McFarlane kam sich wie in Trance vor, er konnte vor Müdigkeit kaum einen klaren Gedanken fassen. Garza nahm das Funkgerät vom Ohr und informierte Glinn: »Ich habe Thompson dran. Er ist an der Anlegestelle und meldet, dass Captain Britton sich weigert, jemanden mit den Geräten zur Küste zu schicken, solange der Sturm sich nicht gelegt hat. Es sei zu gefährlich.« »Das akzeptiere ich nicht!«, brauste Glinn auf. »Geben Sie mir das Funkgerät.« Er redete erregt auf Thompson ein. »Erklären Sie dem Captain, dass wir totalen Stromausfall haben. Keine Kommunikation, keine Computerauswertung, nichts. Wir brauchen den Generator und das Zubehör sofort. Jede Verzögerung kann Menschenleben kosten. Wenn Sie weiter auf Schwierigkeiten stoßen, verständigen Sie mich, dann kümmere ich mich persönlich darum. Und noch etwas: Brambell soll herkommen, er muss Hills sterbliche Überreste untersuchen.« McFarlane beobachtete Rocco, wie er, die Hände und Arme bis zu den Ellbogen durch dicke Gummihandschuhe geschützt, verschmorte Körperteile von den Segeltuchfetzen löste und sie in den Tiefkühlschrank legte. Garza, der das Funkgerät wieder übernommen hatte, drehte sich zu Glinn um. »Da ist noch etwas, Sir. Palmer Lloyd hat beim letzten Funkkontakt mit der Rolvaag verlangt, sofort mit McFarlane zu sprechen.« McFarlane sah auf, die raue Wirklichkeit hatte ihn eingeholt. »Das ist nicht gerade der beste Augenblick für eine Lagesondierung, oder?« Er lachte gequält und wartete auf Glinns zustimmendes Nicken. Zu seiner Überraschung hörte er, wie Glinn sich stattdessen bei Garza erkundigte: »Können Sie eine Konferenzschaltung herstellen?« »Ich hole das nötige Gerät aus dem Kommunikationszentrum.« McFarlane sah Glinn fassungslos an. »Sie haben doch nicht im Ernst vor, sich ausgerechnet jetzt auf sinnloses Palaver einzulassen?« Glinn hielt seinem Blick stand. »Die Alternative wäre wesentlich unangenehmer.« Erst viel später wurde McFarlane klar, was Glinn damit gemeint hatte. Nach wenigen Minuten stand die Konferenzschaltung. Als Garza sein Funkgerät einstöpselte, gab es noch einmal ein kurzes statisches Rauschen, das aber bald nachließ. McFarlane hatte kein gutes Gefühl. In seinem Kopf entstand eine Theorie, die allerdings noch so unvollständig und lückenhaft war, dass er sie lieber für sich behalten hätte. Nur, daraus wurde wohl nichts, wenn Lloyd ihn nun per Konferenzschaltung ins Kreuzverhör nahm.
Der schrille Pfeifton einer Rückkopplung, dann kam eine zornige Stimme aus dem Lautsprecher. »Hallo? Hallo!« Lloyd, unverkennbar in Rage. Glinn machte den Anfang. »Hier ist Eli Glinn, Mr. Lloyd. Können Sie mich hören?« »Ja, schon, aber Sie kommen verdammt schwach rüber.« »Wir haben leider eine Funkstörung und müssen uns darum kurz fassen. Hier ist eine Menge los, und die Kapazität unserer Batterie ist begrenzt.« »Wieso denn? Was, zum Teufel, soll das heißen? Warum hat Sam sich nicht zum täglichen Briefing gemeldet? Aus dem verdammten Captain war auch nichts Gescheites rauszukriegen!« »Wir hatten hier leider einen Zwischenfall. Einer unserer Männer ist tot.« »Ich denke, es waren zwei Männer? So habe ich McFarlane zumindest verstanden. Ein Jammer, die Sache mit Rochefort.« »Es gab inzwischen einen neuen tödlichen Unfall. Einer meiner Leute, ein gewisser Hill.« Abermals ein schriller Pfeifton, dann drang Lloyds Stimme wieder durch, wenn auch schwächer: »... denn passiert?« »Genaues wissen wir noch nicht. McFarlane und Amira sind gerade von der ersten Untersuchung des Meteoriten zurück.« Glinn winkte McFarlane zu sich heran. McFarlane hatte ein ungutes Gefühl. »Mr. Lloyd«, begann er, »ich muss vorabschicken, dass das, was ich Ihnen jetzt berichte, noch auf einer Theorie beruht. Und auf einigen Rückschlüssen aus dem, was wir bei der Untersuchung des Meteoriten festgestellt haben. Ich glaube, mit unserer Annahme über die Todesursache von Nestor Masangkay lagen wir falsch.« »Was soll das heißen?«, dröhnte Lloyd. »Und was hat das mit dem Tod von diesem Hill zu tun?« »Sehr viel, wenn meine Theorie stimmt. Ich denke, beide sind gestorben, weil sie den Meteoriten angefasst haben.« Lähmende Stille, bis auf das Knacken im Lautsprecher. Dann sagte Lloyd: »Sam, das ist absurd. Ich habe den Meteoriten schließlich auch berührt.« »Hören Sie mir erst weiter zu, Mr. Lloyd. Wir haben geglaubt, Nestor Masangkay sei durch einen Blitzschlag getötet worden. Aber Garza konnte feststellen, dass bei der elektrischen Entladung, die zu der Explosion im Tunnel geführt hat, etwa eine Milliarde Volt freigesetzt wurden. So viel Energie kann kein Blitz erzeugen. Ich habe mir den Tieflader und den Meteoriten genau angesehen. Aus der Art der Schäden lässt sich definitiv schließen, dass der Meteorit selbst die Ursache für die elektrische Entladung war.« »Aber ich habe doch meine Wange auch auf den verdammten Stein gelegt! Und mich gibt’s immer noch!« »Ich weiß momentan nicht, wieso Ihnen nichts passiert ist. Aber für diese Explosion heute Nacht gibt es keine andere schlüssige Erklärung. Es hat sich außer Hill niemand im Tunnel aufgehalten, der Meteorit war vor allen Witterungseinflüssen geschützt, auch andere Einwirkungen von außen können ausgeschlossen werden. Alles deutet daraufhin, dass die Energieentladung aus dem Meteoriten kam, sich durch den Lastenschlitten und einen Teil der Auflagefläche fortgepflanzt hat und schließlich im Tunnel verpufft ist. Ich habe unter dem Tieflader einen Handschuh gefunden – das einzige Stück von Hills Kleidung, das nicht verbrannt oder angesengt war. Vermutlich hatte er den Handschuh ausgezogen, weil er den Meteoriten anfassen wollte.« »Warum sollte er denn etwas derart Blödsinniges machen?«, fragte Lloyd ungehalten. »Warum haben Sie’s gemacht?«, platzte Rachel heraus. »Wer weiß schon im Voraus, was einer tut, wenn er den Meteoriten zum ersten Mal sieht?« Lloyd wusste einen Moment lang nichts zu sagen, dann fragte er: »Aber Sie können die Arbeiten fortsetzen, ja?« Alle sahen Glinn an.
»Der Tieflader und der Lastenschlitten wurden zwar beschädigt, aber Mr. Garza erklärte mir, dass sich das innerhalb von vierundzwanzig Stunden reparieren lässt. Der wunde Punkt ist im Grunde der Meteorit.« »Wieso? Ist der auch beschädigt?« »Nein«, erwiderte Glinn, »er sieht völlig unversehrt aus. Ich hatte von Anfang an Order erteilt, mit dem Meteoriten so umzugehen, als wüssten wir, dass er gefährlich ist. Was wir, wenn Dr. McFarlane Recht hat, ja nun tatsächlich wissen. Wir müssen zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen für die Schiffsverladung treffen. Andererseits müssen wir uns beeilen, es ist nämlich mit nicht unerheblichen Risiken verbunden, länger als unbedingt nötig hier zu bleiben.« »Das gefällt mir gar nicht. Sie hätten diese zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen eben von Anfang an einkalkulieren müssen.« Glinns Augen verengten sich fast unmerklich. »Mr. Lloyd, dieser Meteorit hat unser gesamtes Kalkül über den Haufen geworfen. Die Parameter aus der EES-Analyse stimmen nicht mehr. Das ist bisher noch nie vorgekommen. Ist Ihnen klar, was das normalerweise bedeuten würde?« Lloyd antwortete nicht. Glinn sagte es ihm. »Dass wir das Unternehmen sofort abbrechen.« »Diese Option war nicht ausgemacht!«, brauste Lloyd auf. Die Verbindung war inzwischen so schlecht geworden, dass Glinn Mühe hatte, ihn noch zu verstehen. »Ich will davon nichts hören, haben Sie mich verstanden? Glinn, Sie schaffen dieses verdammte Stück Stein aufs Schiff und bringen es mir her!« Dann brach die Funkverbindung ab. In der Baracke herrschte bedrückte Stille, alle Augen waren auf Glinn gerichtet. McFarlanes Blick fiel über Glinns Schulter auf Rocco, der in der rechten Hand ein Stück Schädeldecke hielt, aus dem an einem Nervenstrang ein Augapfel hing. Schließlich hielt Rachel das Schweigen nicht länger aus. »Was machen wir jetzt?«, fragte sie.
»Zunächst müssen wir dafür sorgen, dass wir wieder Strom haben. Dann arbeiten Sie und McFarlane Vorschläge für eine Problemlösung aus.« Glinn drehte sich suchend zu McFarlane um. »Wo ist der Handschuh von Hill?« »Hier.« McFarlane hielt Glinn den sterilen Beutel mit dem Handschuh hin. Garza runzelte die Stirn. »Das ist ein Lederhandschuh. Die Männer aus unserem Team tragen Goretex-Handschuhe.« Glinn und er sahen sich stumm an. Und in diesem Augenblick rief Rocco aufgeregt aus seiner Ecke: »Mr. Glinn!« Er streckte ihm das Stück der Schädeldecke hin, als warte er darauf, dass jemand einen Schnappschuss von der Trophäe machte. »Was ist, Mr. Rocco?« »Frank Hill hatte braune Augen.« Glinns Blick pendelte zwischen Rocco und dem Knochen hin und her. Die Frage, die ihm auf der Zunge lag, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Und dann tat Rocco etwas, was in dieser Situation geradezu skurril wirkte: Er fasste einen Zipfel seines T-Shirts und wischte damit behutsam den Augapfel ab. »Das ist gar nicht Hill«, sagte er sehr leise. »Dieses Auge ist blau.«
Isla Desolación
12.40 Uhr
Glinn strahlte eine erstaunliche Ruhe aus. »Mr. Garza, stellen Sie einen Trupp zusammen und suchen Sie Hill. Benutzen Sie Schneesonden und Wärmesensoren. Aber halten Sie die Augen nach Scharfschützen und versteckten Sprengfallen offen. Sie müssen auf alles gefasst sein.« Garza verließ die Sanitätsbaracke. Glinn ließ sich von Rocco das zerschmetterte Auge geben, hielt es ins Licht und drehte es hin und her. Dann ging er zu dem Tisch, an dem Rocco gerade arbeitete, und nahm die Leichenteile in Augenschein. »Mal sehen, was wir da haben«, murmelte er, hob ein Teil nach dem anderen hoch, um es von allen Seiten zu betrachten. McFarlane musste unwillkürlich an wählerische Hausfrauen an der Fleischtheke denken. Glinn fischte einen Fetzen Kopfhaut heraus, an dem ein dürftiges Haar hing. »Blond«, stellte er fest und konzentrierte die weitere Suche auf Teile des Kopfes. »Hohe Wangenknochen ... kurz geschorenes Haar ... nordische Züge ... noch ziemlich jung, etwa fünfundzwanzig ...« Dann fiel sein Blick auf den rechten Arm des Toten. »Eine Totenkopf-Tätowierung ...« Eine Viertelstunde verging, alle verfolgten die Prozedur stumm. Als Glinn fertig war und sich die Hände gewaschen hatte, ging er mit großen Schritten in der Baracke auf und ab. Schließlich griff er nach einem Funkgerät. »Thompson?« »Ja, Sir?«, meldete sich Thompson von der Anlegestelle. »Wie steht’s mit dem Generator?« »Britton will ihn selbst rüberbringen, sie will die Crew keinem Risiko aussetzen. Sie sagt, Brambell käme nach, sobald der Sturm abgeflaut ist. Nach der aktuellen Seewettermeldung ist in Kürze damit zu rechnen.« Ein Piepton zeigte an, dass Glinn auf der anderen Frequenz verlangt wurde. Er schaltete um. Es war Garza, er klang bedrückt. »Wir haben Hill gefunden. In einer Schneeverwehung, mit durchgeschnittener Kehle. Sieht nach einem Profikiller aus. Und noch etwas: In der Hütte, nicht weit vom Einstieg in den Tunnel, haben wir ein Paar Schneeschuhe entdeckt. Gehören nicht zu unserer Ausrüstung, genau wie der Handschuh.« »Danke, Mr. Garza. Lassen Sie Hills Leichnam bitte in die Sanitätsbaracke bringen. Ich möchte nicht, dass sie in der Kälte erstarrt, das würde Dr. Brambells Untersuchungen nur unnötig erschweren.« Er legte das Funkgerät weg, drehte sich um und murmelte etwas auf Spanisch – sehr leise, aber McFarlane bekam es trotzdem mit: »Kein kluger Schachzug, mi Comandante. Wirklich nicht.«
lsla Desolación
23. Juli, 0.05 Uhr
Der Sturm legte sich, achtundvierzig Stunden vergingen ohne neuerliche Zwischenfälle. Rings um das Operationsgebiet waren die Sicherheitsmaßnahmen erheblich verstärkt, die Wachen verdreifacht, zusätzliche Kameras installiert und ein Netz von Bewegungsmeldern aufgebaut worden. Gleichzeitig hatte Glinn die Arbeiten an dem unterirdischen Transportweg bis an die Grenzen der Belastbarkeit für Mensch und Material forcieren lassen. Kaum war ein Abschnitt fertig gestellt, rückte der Tieflader mit dem Meteoriten nach, und weiter hinten wurde der Schacht wieder zugeschüttet. Inzwischen hatte die Ausschachtung die fast siebzig Meter dicke Eisschicht im Zentrum des Schneefelds erreicht. Tag und Nacht arbeiteten zwei Teams an dem Schacht: eines Richtung Küste, das andere in Gegenrichtung, von der Küste auf den Meteoriten zu. Aus dem Schacht ragten gewaltige Schläuche wie Dinosaurierrüssel nach oben, die unablässig Ruß und Dieselqualm in die Luft spuckten – ein ausgeklügeltes Entlüftungssystem, ohne das der Einsatz schweren Geräts zu einem Gesundheitsrisiko für die Arbeiter geworden wäre. Glinn stand in dem Eisschacht und verfolgte den Fortgang der Ausschachtung. Bis jetzt hatten sie trotz der beiden letzten Todesfälle den Zeitplan einhalten können. Der Graben, den sie durch das Eis brachen, war eines der vielen technischen Wunder, die sie seit Beginn der Arbeiten an diesem Projekt vollbracht hatten. Die Wände des Schachts waren mit einer Maserung aus blendend weißen, skurril geformten Kristallen überzogen. Im Licht der Neonröhren und vor dem Hintergrund des unglaublich tiefen Blaus der geschlossenen Eisschicht erinnerte das Bild an ein eigenwilliges, die Sinne verwirrendes Kunstwerk. Der einzige Kontrast war der Boden des Schachts: völlig eben, aber mit einer Schicht Steinschutt bestreut, damit die Reifen des riesigen Fahrzeuges Halt finden konnten. Wenn er den Blick nach oben richtete, sah Glinn den Meteoriten in seiner Holzhalterung auf dem Tieflader liegen: ein geheimnisvoller roter Klumpen inmitten einer gespenstisch blauen Röhre. Hinter einem Knick, von Glinn nicht einzusehen, dröhnte und ratterte schweres Arbeitsgerät. Wie aus dem Nichts tauchte der Scheinwerfer der Grubenbahn auf, deren Zugmaschine einen Bandwurm von Loren hinter sich herzog, bis zum Rand mit Eisbrocken beladen. Der Konvoi schlängelte sich um den Meteoriten herum, zockelte an Glinn vorbei und verschwand irgendwo hinter ihm im Dunkel. Die Entdeckung, dass die bloße Berührung des Meteoriten tödlich sein konnte, erschreckte Glinn mehr, als er sich anmerken ließ. Er hatte zwar schon bei Beginn der Arbeiten angeordnet, den Meteoriten auf keinen Fall anzufassen, aber da war es ihm eher um eine vorsorgliche rechtliche Absicherung gegangen. Nun sagte ihm seine Intuition, dass McFarlane Recht hatte: Die Explosion musste durch eine Berührung ausgelöst worden sein, eine andere plausible Erklärung gab es nicht. Also mussten sie das unabdingbar Notwendige und die Risiken gegeneinander abwägen und eine angemessene Strategie für ihr weiteres Vorgehen entwickeln, was den Einsatz der gesamten Rechnerkapazität in der EES-Zentrale in New York erforderlich machte. Wieder zog das rote Meteoritengestein seinen Blick magisch an. Es ruhte – scheinbar friedlich, betörend schön wie ein funkelnder Edelstein – in seiner Halterung aus Eichenholz. Und doch hatte es vier Menschen getötet: Masangkay, Rochefort, Evans und den Mann, der ihnen von Vallenar auf den Hals gehetzt worden war. Was Glinn daran erinnerte, dass irgendwo da draußen immer noch der chilenische Zerstörer lauerte. Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. McFarlane und Amira mussten jeden Moment hier sein, sie waren immer pünktlich. Und da sah er sie auch schon mit dem Tragebeutel, der die Messgeräte enthielt, aus einem Schneemobil steigen. Glinn ging ihnen entgegen. »Ihnen bleiben rund vierzig Minuten, dann ist der Schacht weit genug vorgetrieben, dass wir den Meteoriten wieder ein Stück weiterbewegen können. Machen Sie das Beste daraus.« Amira nickte. »Das haben wir auch vor.« Glinn sah ihr zu, wie sie, während McFarlane mit einer Digitalkamera Aufnahmen von dem Meteoriten machte, die Geräte auspackte und aufbaute. Ein tüchtiges Mädchen, dachte Glinn. McFarlane war wie erwartet dahinter gekommen, dass sie Berichte über ihn schrieb. Und das hatte zum gewünschten Effekt geführt: McFarlane wusste nun, dass er bei allem, was er tat, mit Argusaugen beobachtet wurde, und Amira verkniff sich neuerdings die kritischen Fragen, die sie früher ständig gestellt hatte. Was Glinn begrüßte, weil moralische Bedenken bei der Lösung technischer Probleme nur störten. Und was McFarlane anging: erstaunlich, wie schnell er sich nach der ersten Verärgerung gefangen hatte. Gewiss, irgendwie war er der komplizierte Mensch, als der er in dem von Glinn angeforderten psychologischen Profil beschrieben wurde, aber er hatte sich auch als unerwartet nützlicher Mitarbeiter erwiesen. Wieder hielt ein Schneemobil im Eisschacht, Sally Britton stieg aus – in Uniform, mit einem langen, wehenden Mantel, lediglich die Kapitänskappe fehlte. Was ihr aber, wie Glinn feststellte, zum Vorteil gereichte. Im künstlichen Licht des Tunnels leuchtete ihr strohblondes Haar besonders schön. Er schmunzelte verstohlen. Weil er geahnt hatte, dass sie kommen würde. Spätestens seit dem Tod des chilenischen Spitzels hatte er sogar fest damit gerechnet. Und sich, wie er sich insgeheim eingestand, darauf gefreut. Er ging auf sie zu, sie gaben sich die Hand. »Schön, Sie zu sehen, Captain. Was hat Sie in unsere Maulwurfshöhle gelockt?«
Britton sah sich um, ihre klugen grünen Augen schienen alles in sich aufzunehmen. Dann fiel ihr Blick auf den Meteoriten und erstarrte. »Großer Gott!« Glinn lächelte. »Alle reagieren geschockt, wenn sie ihn zum ersten Mal sehen.« Und dann fügte er leise, aber bestimmt hinzu: »Für große Ziele muss man gewisse Schwierigkeiten in Kauf nehmen, Captain. Immerhin handelt es sich um die wissenschaftliche Entdeckung des Jahrhunderts.« An sich scherte er sich nicht um den wissenschaftlichen Wert der Expedition, ihn interessierte lediglich der technische Aspekt, aber wenn es von Nutzen war, schreckte er nicht vor dramatischen Formulierungen zurück. Britton konnte sich nicht vom Anblick des Meteoriten losreißen. »Ich hatte gehört, dass er rot ist, aber ich hätte mir nie träumen lassen ...« Sie starrte ein, zwei Minuten stumm auf die Fracht des Tiefladers, dann wandte sie sich zu Glinn um. »Es sind wieder zwei Menschen getötet worden. Es hat recht lange gedauert, bis wir die ersten spärlichen Informationen bekommen haben. Und inzwischen sind die Gerüchte ausgeufert. Die Mannschaft ist nervös, sogar meine Offiziere.« Glinn nickte und wartete darauf, dass sie fortfuhr. »Ich muss darauf bestehen, genau zu erfahren, was passiert ist – und warum. Der Meteorit kommt nicht an Bord meines Schiffes, ehe ich sicher sein kann, dass er keine Gefahr darstellt.« Sie hörte sich sehr entschieden an, was ihre Körperhaltung noch unterstrich. Glinn lächelte. Sally Britton, wie sie leibte und lebte. Seine Bewunderung für diese Frau wuchs von Tag zu Tag. »Ich sehe das genau wie Sie.« Sie starrte ihn verdutzt an, anscheinend hatte sie energischen Widerspruch erwartet. »Mr. Glinn, wir haben den Behörden den Tod eines chilenischen Marineoffiziers zu erklären. Irgendwo dort draußen liegt ein Kriegsschiff, das seine Geschütze auf uns gerichtet hat. Drei Ihrer Männer sind tot. Und Sie wollen mir einen fünfundzwanzigtausend Tonnen schweren Felsbrocken in den Tankraum laden – einen Meteoriten, der Menschen unter sich begräbt oder in Stücke reißt.« Sie brauchte einen Augenblick, um sich so weit zu beruhigen, dass sie in normaler Lautstärke weitersprechen konnte. »Keine Crew ist gegen Aberglauben gefeit. Schon jetzt kursieren die wildesten Gerüchte.« »Ich kann Ihre Besorgnis sehr gut verstehen. Und ich entschuldige mich dafür, dass ich nicht zu Ihnen aufs Schiff gekommen bin, um Sie zu unterrichten. Aber wir stehen, wie Sie wissen, unter enormem Zeitdruck. Lassen Sie mich also kurz schildern, was passiert ist.« Britton wartete. »Vorletzte Nacht, während des Sturms, hatte sich jemand von dem chilenischen Zerstörer bei uns eingeschlichen. Er wurde durch eine elektrische Entladung des Meteoriten getötet. Leider erst, nachdem er einen unserer Männer ermordet hatte.« Sie sah ihn scharf an. »Es stimmt also? Der Meteorit schleudert Blitze? Ich hatte das nicht glauben wollen. Und ehrlich gesagt, verstehen kann ich es immer noch nicht.« »Dabei ist es eigentlich ganz einfach. Er besteht aus Metall, und das ist bekanntlich ein guter Leiter. Der menschliche Körper – die Haut – ist gewissermaßen elektrisch geladen. Wenn sie in Berührung mit dem Meteoriten kommt, führt das zu einer Entladung der Elektrizität, die im Inneren des Meteoriten zirkuliert – ähnlich wie bei einem Blitzschlag, nur viel stärker. Das ist zumindest die Theorie, die McFarlane mir überzeugend erklärt hat. Der Chilene ist das Opfer so einer elektrischen Entladung geworden, genau wie Nestor Masangkay, der Mann, der den Meteoriten ursprünglich entdeckt hat. McFarlane und Amira sind gerade dabei, die Gründe näher zu untersuchen. Sie hatten bisher keine Gelegenheit dazu, weil der Transport des Meteoriten zur Küste Priorität hatte.« »Und was gedenken Sie zu tun, um mein Schiff davor zu bewahren, dass so etwas wieder passiert?« Glinn lächelte. »Wieder eine gute Frage. Das gehört ebenfalls zu den Problemen, an denen wir arbeiten. Zunächst werden wir alle nur erdenklichen Vorkehrungen treffen, um zu verhindern, dass noch einmal jemand mit dem Meteoriten in direkten Kontakt kommt. Wobei ich hinzufügen muss, dass wir diese Leitlinie von Anfang an aufgestellt hatten, schon bevor wir wussten, dass jede Berührung eine Explosion auslösen kann.« »Ja gut, aber – woher kommt die Elektrizität.« Ein kurzes Zögern, dann sagte Glinn: »Auch das gehört zu den Fragen, mit denen Dr. McFarlane sich zurzeit beschäftigt.« Als er spontan ihre Hand fasste, merkte er, wie sie sich in einer instinktiven Abwehrreaktion verkrampfte, aber nicht lange. »Noch einmal, Captain, ich verstehe Ihre Besorgnis. Darum lasse ich ja alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen walten. Sie müssen einfach darauf vertrauen, dass ich alles tun werde, um jede potenzielle Gefahr für das Schiff auszuschließen. So wie ich darauf vertraue, dass Sie die Disziplin an Bord Ihres Schiffes trotz aller Gerüchte und abergläubischen Ängste aufrechterhalten werden.« Sie wandte ihm weiter den Kopf zu, sah ihn aber nicht an. Ihr Blick wurde unwiderstehlich von dem großen roten Meteorgestein in Bann gezogen. »Bleiben Sie noch ein bisschen«, redete Glinn ihr lächelnd zu. »Erleben Sie mit, wie wir das schwerste Objekt, das je von Menschen bewegt wurde, zu Ihrem Schiff transportieren.« Sie zögerte, ihr Blick huschte zwischen Glinn und dem Meteoriten hin und her. Und dann piepste plötzlich das Funkgerät, das in ihrem Gürtel steckte. Sie entzog Glinn ihre Hand und trat ein Stück beiseite. »Hier Captain Britton.« Als Glinn sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte, ahnte er schon, worum es ging. Sie steckte das Funkgerät weg. »Der Zerstörer«, sagte sie. »Er ist wieder da.« Glinn nickte, ohne dass das Lächeln auf seinem Gesicht erlosch. »Das überrascht mich nicht. Die Almirante Ramirez hat einen aus ihren Reihen verloren. Nun will sie sich ihn wieder holen.«
Rolvaag
24. Juli, 15.45 Uhr
Dacht senkte sich über die Isla Desolación. McFarlane stand mit einem Becher Kaffee in der Hand mutterseelenallein auf dem vorderen Brückendeck und verfolgte, wie das Zwielicht langsam dem Dunkel wich. Ein Bilderbuchabend: windstill, klar und kalt. In der Ferne hingen ein paar Wolkenfetzen wie zerzauste, pink- und pfirsichfarbene Pferdeschweife an einem Himmel, der ungewöhnlich klares, scharf abgegrenztes Licht über der Insel ausschüttete. Hinter ihr spiegelten sich im schimmernden Wasser des Franklin-Kanals die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Und noch ein Stück weiter hinten lag Vallenars Zerstörer: grau, feindselig und so von Rost überzogen, dass der Schriftzug Almirante Ramirez kaum noch zu entziffern war. Heute Nachmittag hatte er seinen Bug in den Kanal geschoben und ihnen so die Fahrrinne und damit den Rückweg versperrt. McFarlane nahm noch einen Schluck Kaffee, den Rest kippte er über Bord. Koffein war das Letzte, was er jetzt brauchte. Er war ohnehin innerlich so angespannt, dass das Kribbeln im Bauch sich in ein hässliches Grimmen verwandelt hatte. Es war ihm ein Rätsel, wie Glinn das Problem mit dem Zerstörer lösen wollte. Aber der Chef der EES wirkte ruhig und gelassen – so gelassen, dass es fast nach den Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs aussah. Der Meteorit war auf dem unterirdischen Transportweg Zentimeter um Zentimeter durch das Schneefeld zur Küste vorgerückt und nun auf einer der schroffen Klippen angekommen, die wie eine Wehrmauer über dem Franklin-Kanal aufragten. Damit der Meteorit vom Zerstörer aus nicht zu sehen war, hatte Glinn um ihn herum einen Sichtschutz aus rostigen Wellblechplatten errichten lassen: so windschief, dass man befürchten musste, das Ding könnte jeden Moment umkippen – wieder eines der Täuschungsmanöver, auf die Glinn sich meisterhaft verstand. Es blieb nur die Frage, wie er den Meteoriten in den Bauch der Rolvaag bugsieren wollte. In diesem Punkt gab Glinn sich ausgesprochen wortkarg. McFarlane hatte lediglich gehört, dass es nachts passieren sollte – heute Nacht. Hinter ihm wurde ein Schott aufgestoßen. Er fuhr herum und war überrascht, Glinn zu sehen, der sich, soweit er wusste, fast die ganze Woche nicht an Bord hatte sehen lassen. Nun kam er – etwas grau im Gesicht, aber lässigen, schlendernden Schritts – auf ihn zu, murmelte »Guten Abend«, zog – die zweite Überraschung – ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, steckte sich eine an und nahm einen tiefen Zug. »Ich wusste gar nicht, dass Sie rauchen. Es sei denn zur Tarnung, wenn Sie gerade in Verkleidung herumlaufen.« Glinn lächelte. »Eine meiner Torheiten. Ich gestatte mir zwölf Zigaretten im Jahr.« »Und wann haben Sie das letzte Mal geschlafen?«, fragte Mc-Farlane. Glinns Blick war auf das an diesem Abend friedliche Meer gerichtet. »Weiß ich nicht mehr genau. Mit dem Schlafen ist es wie mit dem Essen: Wenn Sie erst mal einige Tage darauf verzichtet haben, vermissen Sie’s gar nicht mehr.« Er paffte eine Weile stumm vor sich hin, dann fragte er: »Hat sich bei der Untersuchung des Meteoriten irgendetwas Neues ergeben?« »Nur unbefriedigendes Stückwerk. Zum Beispiel, dass die Kernladungszahl die vierhundert übersteigt. Und dass sich der Schall in ihm mit einem Zehntel der Lichtgeschwindigkeit fortpflanzt. Er hat eine sehr schwach ausgeprägte innere Struktur. Sie besteht praktisch aus der äußeren und inneren Schicht und einem kleinen Einschluss im Zentrum. Die meisten Meteoriten entstehen, wenn ein Teil eines größeren Körpers abbricht. Hier ist es genau umgekehrt, unser Meteorit scheint durch Zuwachs größer geworden zu sein, möglicherweise durch den Plasmastrahl einer Hypernova. So ähnlich, wie sich eine Perle um ein Sandkorn bildet. Was auch die an zwei verschmolzene Ellipsen erinnernde Form erklären würde.« »Hört sich aufregend an. Und die Explosion?« »Da stehen wir weiter vor einem Rätsel. Wir können uns nicht erklären, wieso er beim Kontakt mit menschlicher Haut mit einer Entladung reagiert, nicht aber bei Kontakten mit anderen Fremdkörpern. Und wir haben auch keine Erklärung dafür, dass Lloyd als Einziger die Berührung unversehrt überlebt hat. Wir müssen zwar erst noch die vielen Daten analysieren, die wir gesammelt haben, aber bisher bleibt im Grunde alles widersprüchlich.« »Wieso waren unsere Funkverbindungen nach der Entladung unterbrochen? Gibt es da einen Zusammenhang?« »Ja. So merkwürdig es klingt, der Meteorit hat sich nach der Entladung anscheinend in einer Art Erregungszustand befunden. Er hat Funkwellen ausgestrahlt – eine elektromagnetische Strahlung im Langwellenbereich. Das war die Ursache für die Störung unseres Funkverkehrs. Die Strahlung ist mit der Zeit abgeklungen, nur im Tunnel hat sie den Funkverkehr noch etliche Stunden lang durch Störgeräusche beeinträchtigt.« »Und jetzt?« »Jetzt ist alles wieder normal. Zumindest bis zur nächsten Explosion.« Glinn paffte stumm vor sich. McFarlane hatte den Eindruck, dass er die Zigarette tatsächlich genoss. Nach einer Weile deutete er zur Küste hinüber, auf den windschiefen Sichtschutz. »In wenigen Stunden werden wir den Burschen in den Tankraum verfrachten. Falls Sie irgendwelche Einwände haben, müssen Sie es mir jetzt sagen. Wenn wir erst auf See sind, kann unser aller Leben davon abhängen.« McFarlane zögerte, von Zweifeln geplagt, ob er angesichts der Faszination, die der Meteorit auf ihn ausübte, überhaupt zu einem objektiven Urteil kommen konnte. Die Vorstellung, den Meteoriten hier lassen zu müssen ... nein, das war undenkbar. »Ich kann nicht exakt voraussagen, was passieren wird«, antwortete er schließlich. »Wir hatten jetzt zwei Wochen Gelegenheit, ihn unter wechselnden Bedingungen zu beobachten. Abgesehen von der offenbar durch Hautkontakt ausgelösten elektrischen Entladung, hat er sich absolut reaktionsträge verhalten, auch beim Kontakt mit Metall, sogar bei der elektronischen Mikrosonde. Daher kann ich mir nicht vorstellen, dass das im Tankraum der Rolvaag anders sein wird. Vorausgesetzt, die bisher geltenden Sicherheitsmaßnahmen werden weiterhin strikt beachtet.« Glinn schloss die Augen, sekundenlang sah er wie ein glückselig lächelnder Buddha aus. »In einer halben Stunde, sobald es völlig dunkel ist, manövrieren wir das Schiff dicht an die Klippen heran und beginnen mit der Verladung. Der Meteorit wird durch einen Förderturm in den Tank abgesenkt. Die Operation wird von Garza und Stonecipher geleitet und bis drei Uhr morgens abgeschlossen sein; bei Morgengrauen befinden wir uns dann bereits in internationalen Gewässern. Geben Sie das an Lloyd weiter, er wartet sicher schon ungeduldig darauf.« »Und was ist mit dem da?« McFarlane deutete mit dem Kopf auf den Zerstörer. »Spätestens bei Beginn der Verladung merken die Jungs doch dort drüben, was gespielt wird. Und dann sind wir für die eine schwimmende Zielscheibe.« »Wir haben nicht nur die Dunkelheit als Verbündeten, es ist auch Nebel vorhergesagt. Sicherheitshalber werde ich dem Comandante meine Aufwartung machen – und zwar genau in der kritischen Phase. Das wird ihn ablenken.« Der Rest hörte sich nach einem gemurmelten Selbstgespräch an: »... und sich auch sonst positiv auswirken.« McFarlane traute seinen Ohren nicht. »Das ist Wahnsinn. Der Kerl bringt es fertig, Sie auf der Stelle festzunehmen. Oder sogar umzubringen.« »Das glaube ich nicht. Nach allem, was ich über ihn weiß, ist Comandante Vallenar ein brutaler Hitzkopf, aber verrückt ist er nicht.«
»Nur für den Fall, dass Sie’s noch nicht bemerkt haben: Er hat unsere einzige Passage blockiert.« Die Dunkelheit lag wie ein undurchdringlicher Schleier über der Insel. Glinn warf einen Blick auf die goldene Taschenuhr, dann griff er zum Funkgerät. »Manuel? Es kann losgehen.« Urplötzlich flammte eine Batterie starker Scheinwerfer auf, die Klippen wurden in grelles Licht getaucht. Überall wimmelte es von Arbeitern. Die Nacht war erfüllt vom Gedröhne schwerer Maschinen. McFarlane starrte fassungslos auf das Spektakel. »Du liebe Güte, warum haben sie nicht gleich eine riesige Leuchtreklame installiert – mit dem Text: ›Hier spielt die Musik‹?« »Vom Zerstörer aus sind die Klippen nicht einzusehen, die Landzunge verdeckt sie«, beruhigte ihn Glinn. »Wenn Vallenar wissen will, was sich da drüben tut – und das will er bestimmt –, muss er seinen Zerstörer ans nördliche Kanalende manövrieren. Manchmal besteht die beste Tarnung darin, ganz auf Tarnung zu verzichten. Außerdem wird Vallenar nicht mit unserer Abreise rechnen.« »Warum nicht?« »Weil wir an der angeblichen Schürfstelle wie bisher weiterarbeiten. Zwei Dutzend Männer werden dort mit schwerem Gerät hektischen Aktivismus vortäuschen. Funkverkehr auf allen Kanälen, hin und wieder eine Sprengung. Und kurz vor Morgengrauen werden sie dann endlich fündig – so wird es zumindest für die Chilenen aussehen. Allgemeiner Jubel, die Arbeit wird eingestellt, die Männer gönnen sich eine Pause.« Glinn schnippte den Zigarettenstummel über Bord. »Was Vallenar nicht weiß: Auf der Leeseite der Isla Desolación wartet das Beiboot der Rolvaag. Sobald wir abgelegt haben, nimmt es die Männer auf, das Gerät lassen wir einfach da.« »Alles?«, fragte McFarlane fassungslos und dachte an den riesigen Kran, die Bulldozer, die Labor-Container ... »Ja, Gerät im Wert von vielen Millionen Dollar. Die Generatoren arbeiten weiter, sämtliche Lichter brennen. Falls Vallenar mitkriegt, dass wir ablegen, wird er annehmen, dass wir wiederkommen.« »Und wenn er uns folgt?« Glinn lächelte. »Wir haben für alle Eventualitäten vorgesorgt und Ausweichrouten eingeplant.« Er griff zum Funkgerät. »Captain? Steuern Sie das Schiff zu den Klippen.« Sekunden später spürte McFarlane die Vibration der stampfenden Maschinen unter seinen Füßen. Glinn wandte sich zu ihm um. »Sie spielen in dieser Phase eine entscheidende Rolle, Sam. Ich möchte, dass Sie Kontakt zu Lloyd halten. Decken Sie ihn mit Informationen ein. Hauptsache, Sie sorgen dafür, dass er bleibt, wo er ist. Wenn er jetzt herkäme, könnte sich das verheerend auswirken. So – und nun muss ich mich auf das Treffen mit unserem chilenischen Freund vorbereiten.« Er wandte sich zum Gehen, hielt inne und sah McFarlane in die Augen. »Ich bin Ihnen noch eine Entschuldigung schuldig.« Und als McFarlane ihn fragend ansah: »Sie wissen schon, was ich meine. Ich hätte mir keinen loyaleren, verlässlicheren wissenschaftlichen Berater wünschen können. Sobald unser Auftrag erfüllt ist, wird Ihre Akte vernichtet.« McFarlane kämpfte mit einem Zwiespalt der Gefühle. Glinn schien es ernst zu meinen. Andererseits hatte er immer wieder erlebt, dass dieser Mann sich doppelt und dreifach absicherte. War dieses überraschende Geständnis vielleicht auch nur eine Art vorsorgliche Absicherung? Glinn streckte ihm die Hand hin. McFarlane wollte seinerseits ein Zeichen setzen und legte Glinn, während sie sich die Hände schüttelten, die Linke auf die Schulter. Erst als der Chef der EES schon gegangen war, wurde ihm klar, dass das dicke Polster, das er unter seiner Hand gespürt hatte, keine wattierte Winterjacke, sondern eine schusssichere Weste gewesen war.
Franklin-Kanal
20.40 Uhr
Glinn stand am Bug des kleinen Bootes und genoss die frische Brise, die ihm ins Gesicht wehte. Die vier Männer, die er mitgenommen hatte, saßen in voller Montur auf dem Boden der Kajüte. Vor ihnen schaukelten die Lichter des Zerstörers auf dem ruhigen Wasser des Sunds. Seine Vorhersage hatte sich als richtig erwiesen, die Almirante Ramirez war ein Stück kanalaufwärts gefahren. Er blickte zurück zur Insel. An der angeblichen Schürfstelle herrschte hektische Aktivität. Sie war von gleißendem Licht ausgeleuchtet, schwere Maschinen rumpelten hin und her. Gerade erbebte die Luft wieder vom dumpfen Widerhall einer Sprengung. Für unbeteiligte Beobachter musste es so aussehen, als läge der Schwerpunkt der Anstrengungen dort, während es sich oben in den Klippen nur um kleinere Arbeiten handeln konnte. Auch der Funkverkehr zwischen Brücke und Schürfstelle, bei dem die Verlegung der Rolvaag als Vorsichtsmaßnahme wegen der vom Seewetterdienst ausgegebenen Sturmwarnung erklärt wurde, war Teil der ausgeklügelten Täuschungsmaßnahmen gewesen. Glinn hatte das Gefühl, mit der feuchten Meeresluft auch die trügerische Ruhe vor dem Sturm in sich aufzusaugen. Dass es ein schweres Unwetter war, was sich da zusammenbraute, wussten nur er, Britton und der Erste Offizier. Es wäre unsinnig gewesen, die Mannschaft und die Techniker der EES in diesem kritischen Stadium damit zu belasten. Nach den Vorhersagen sollte es ein panteonero bis zur Stärke fünfzehn werden – der berüchtigte Friedhofswind, der gewöhnlich bei Morgengrauen aufkam. Dabei wehte der Wind anfangs immer aus Südwest, um dann, bei zunehmender Stärke, auf Nordwest zu drehen. Aber wenn es gelang, die Rolvaag bis zum Mittag durch die Straße von Le Maire zu bringen, konnten sie im Lee der Tierra del Fuego sein, ehe der Tanz losging. Und dann hatten sie den Sturm im Rücken: ideal für einen riesigen Tanker, aber teuflisch gefährlich für einen Verfolger von der Größe des Zerstörers. Vallenar musste die Positionslichter des Bootes längst bemerkt haben. Die Entfernung zum Zerstörer betrug nur noch etwa siebzig Meter. Glinn hörte hinter sich ein dumpf platschendes Geräusch, danach in rascher Folge drei weitere. Wenn er in sich hineinhorchte, spürte er die unheimliche Ruhe, die ihn vor solchen Operationen jedes Mal überkam. Es war ein angenehmes und – weil er es lange entbehrt hatte – fast schon nostalgisches Gefühl. Auf dem Zerstörer flammte ein Suchscheinwerfer auf, der Lichtstrahl erfasste sie. Glinn blieb reglos am Bug stehen, während das Boot seine Fahrt verlangsamte. Wenn sie entgegen aller Vernunft – und seiner festen Überzeugung – das Feuer eröffneten, war das sein Ende. Er atmete tief ein und langsam aus, zweimal, dreimal. Dann wusste er, dass der kritische Moment vorüber war. Er wurde am Fallreep erwartet und durch übel riechende Flure und über schlüpfrige Metallstege zur Brücke geführt. Vallenar war, abgesehen vom Deckoffizier, allein. Er stand am Fenster, die Zigarre im Mund, die Arme auf dem Rücken verschränkt, den Blick auf die Insel gerichtet. Es war kalt, entweder hatten sie die Heizung abgestellt, oder sie war ausgefallen. Außerdem stank es, wie überall auf dem Schiff, nach Maschinenöl, fauligem Bilgenwasser und Fisch. Vallenar machte keine Anstalten, sich umzudrehen. Glinn ließ eine angemessene Zeit verstreichen, ehe er in fließendem Spanisch sagte: »Ich bin gekommen, um Ihnen einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, mi Comandante.« Vallenar kehrte ihm weiter den Rücken zu und stieß ein leises Schnauben aus, das Glinn als Ausdruck stiller Belustigung deutete. Die Atmosphäre war so unwirklich, dass er sich fast wie in einem überirdischen Schwebezustand fühlte, leicht und seltsam beschwingt. Schließlich zog Vallenar einen Schrieb aus der Jackentasche und faltete ihn auseinander. Glinn konnte den Briefkopf einer renommierten australischen Universität erkennen. Und dann sagte der Comandante trocken und ohne merkliche Erregung: »Es ist ein Meteorit.« Er wusste es also. Natürlich hatten sie mit der Möglichkeit gerechnet, sie aber als eher unwahrscheinlich eingestuft. Und nun bestimmte das vermeintlich Unwahrscheinliche auf einmal den weiteren Ablauf der Ereignisse. Vallenar drehte sich um. Sein schwerer Wollmantel klaffte auseinander, Glinn konnte die alte Luger sehen, die in seinem Koppel steckte. »Ein Meteorit, den Sie meinem Land stehlen.« »Wir stehlen ihn nicht«, widersprach Glinn. »Wir bewegen uns im Rahmen des internationalen Rechts.« Vallenar stieß ein bellendes Lachen aus. »Ich weiß. Sie haben das Recht zum Erzabbau erworben. Und der Meteorit ist ja aus Erz. Das ist der Punkt, in dem ich mich geirrt habe: Sie waren tatsächlich auf Erz aus.« Glinn sagte nichts. Sollte Vallenar ruhig reden und es ihm mit jedem Wort leichter machen, die künftigen Schachzüge des Chilenen noch genauer vorherzusehen. »Aber, Señor, Sie bewegen sich nicht im Rahmen meines Rechts – des Rechts von Comandante Vallenar.« »Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen.« Glinn stellte sich ahnungslos. »Sie werden Chile nicht mit diesem Meteoriten verlassen!« »Nun, zunächst müssten wir ihn ja finden.« Vallenar stutzte nur einen winzigen Augenblick, aber der reichte aus, um Glinn Gewissheit zu geben, dass der Comandante nicht wusste, wie weit sie schon waren. »Wie wollen Sie verhindern, dass ich die Behörden in Santiago informiere? Oder haben Sie dorthin auch schon Ihr Bestechungsgeld überwiesen?« »Informieren Sie, wen Sie wollen«, erwiderte Glinn. »Wir tun nichts Illegales.« Ihm war bekannt, dass Vallenar es vorzog, Schwierigkeiten auf seine Art aus dem Weg zu räumen. Er würde den Teufel tun und eine Behörde einschalten. Vallenar nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarre und blies den Rauch in Glinns Richtung. »Sagen Sie mir, Señor ... Ishmael, wenn ich mich recht erinnere?« »Eigentlich ist mein Name Glinn.« »Aha. Gut, dann sagen Sie mir bitte, Señor Glinn, warum Sie zu mir aufs Schiff gekommen sind?« Glinn wusste, dass es jetzt auf eine sorgfältige Formulierung ankam. »Weil ich hoffe, dass wir zu einem Arrangement mit Ihnen kommen können, Comandante.« Er sah die Verärgerung, die sich auf Vallenars Gesicht widerspiegelte, und setzte rasch noch eins drauf: »Ich bin ermächtigt, Ihnen eine Million Dollar in Gold für Ihre Kooperation anzubieten.« Ein Lächeln spielte um Vallenars Lippen, sein Blick verschleierte sich. »Haben Sie sie dabei?« »Natürlich nicht.« Der Comandante paffte lässig seine Zigarre. »Vermutlich glauben Sie, ich sei käuflich – wie alle anderen. Weil ich Südamerikaner bin, ein mieser Latino. Die sind doch immer bereit, für eine mordida zu kooperieren.« »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ausnahmslos alle korrupt sind«, sagte Glinn, »Amerikaner eingeschlossen.« Er sah den Comandante lauernd an. Vallenar würde natürlich ablehnen, das war ihm klar, aber er versprach sich interessante Aufschlüsse von der Art, wie er es tat. »Wenn Sie diese Erfahrung gemacht haben, müssen Sie ein korruptes Leben geführt haben, umgeben von Huren, Homosexuellen und anderen Individuen von niederer Gesinnung. Ich sage es Ihnen noch einmal: Sie werden Chile nicht mit dem Meteoriten verlassen. Behalten Sie also Ihr verdammtes Geld und stopfen Sie es Ihrer verhurten Mutter in den cono.« Glinn reagierte nicht auf diese schlimmste Beleidigung, welche die spanische Sprache kennt. Vallenar nahm die Zigarre aus dem Mund. »Da wäre noch was. Ich habe einen meiner Männer auf die Insel geschickt, damit er sich ein wenig umsieht. Er ist nicht zurückgekehrt. Sein Name ist Timmer, er ist mein Fernmeldeoffizier.« Glinn war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Vallenar das Thema ansprechen würde. Schließlich gab er so freimütig zu, dass er einen Spion auf die Insel beordert hatte. Außerdem hatte Timmer letztendlich versagt, und so wie er Vallenar einschätzte, war für den Comandante jegliches Versagen unentschuldbar. »Er hat einem unserer Leute die Kehle durchgeschnitten. Wir haben ihn festgenommen.« Vallenars Augen verengten sich. Aber er hatte sich rasch wieder im Griff und sagte lächelnd: »Dann sollten Sie ihn mir bitte schleunigst zurückschicken.« Glinn schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Er hat ein Verbrechen begangen.« »Sie schicken ihn mir auf der Stelle zurück, oder ich schieße Ihnen Ihr Schiff in die Luft«, brüllte Vallenar ihn an. Wieder etwas, das Glinn verwunderte. Von der Situation her war ein derart unbeherrschter Wutausbruch nicht gerechtfertigt. Es ging schließlich nur um einen Subalternoffizier, solche Leute sind ersetzbar. Es musste also mehr dahinter stecken. »Das wäre unklug, weil Ihr Mann sich nämlich in unserer Arrestzelle befindet.« In Vallenars Augen lag ein harter Glanz, aber seine Stimme hörte sich wieder kontrolliert an. »Händigen Sie mir Timmer aus, und ich will in Erwägung ziehen, Sie mit dem Meteoriten abreisen zu lassen.« Glinn wusste, dass das die Unwahrheit war. Vallenar würde sie niemals unbehelligt ziehen lassen, so wenig wie sie in der Lage waren, ihm Timmer wiederzugeben. Von Puppup hatte er erfahren, dass die Besatzung des Zerstörers ihrem Comandante in geradezu blinder Loyalität ergeben war. Bisher hatte Glinn geglaubt, für einen Mann wie Vallenar würden Menschenleben nicht viel zählen, doch nun entdeckte er eine Seite an ihm, auf die er nicht vorbereitet war. In dem Profil seines Teams in New York hatte kein Wort davon gestanden. Er musste, was den Comandante anging, wohl umdenken. Dennoch, es war ein nützliches Gespräch gewesen. Jetzt war klar, wie viel Vallenar wusste. Und dass seinen Leuten genug Zeit für die Verladung des Meteoriten blieb. »Ich werde Ihr Angebot unserem Captain übermitteln«, sagte er. »Und ich denke, es müsste sich eine Lösung finden lassen. Bis morgen haben Sie eine Antwort.« Er deutete eine leichte Verbeugung an. »Und nun möchte ich, mit Ihrer Erlaubnis, auf unser Schiff zurückkehren.« Der Comandante gab sich alle Mühe, seine Verärgerung zu verbergen; er rang sich sogar ein Lächeln ab. »Tun Sie das, Señor. Denn wenn ich Timmer nicht bis morgen Mittag mit eigenen Augen gesehen habe, gehe ich davon aus, dass er tot ist. Und dann ist Ihr Leben – und das aller anderen auf dem Tanker – nicht mal mehr einen Haufen Hundedreck wert.«
Rolvaag
23.50 Uhr
McFarlane wartete in Lloyds leeren Büroräumen auf den nächsten Anruf. Durch das Panoramafenster sah er, dass draußen starker Wind aufgekommen war, von Westen her rollten gischtende Wellen auf sie zu. Das große Schiff lag im Lee der kahlen Basaltklippen, gesichert durch Taue, die von den Ankerklüsen zu Stahlbolzen im nackten Fels liefen. Alles war für die Verladung vorbereitet, sie warteten nur noch auf den für Mitternacht vorhergesagten dichten Nebel. Das Telefon auf Lloyds Schreibtisch begann ungeduldig zu blinken, McFarlane nahm seufzend ab. Das war nun der dritte Anruf in dieser Nacht. Allmählich hatte er seine Rolle als Kontaktmann und besserer Laufbursche gründlich satt. »Sam? Ich bin’s. Ist Glinn zurück?« Im Hintergrund hörte McFarlane wieder das ständige dumpfe Gedröhn wie beim letzten Anruf. Er fragte sich wirklich, von wo aus Lloyd eigentlich anrief. »Ja, er ist vor zwei Stunden zurückgekommen.« »Was hat er gesagt? Hat Vallenar das Bestechungsgeld angenommen?« »Nein.« »Dann hat er ihm bestimmt nicht genug angeboten.« »Glinn scheint der Ansicht zu sein, dass der Mann für kein Geld der Welt käuflich ist.« »Blödsinn, jeder hat seinen Preis. Vielleicht ist es jetzt zu spät, aber ich wäre bereit, zwanzig Millionen zu zahlen. Sagen Sie ihm das. Zwanzig Millionen in Gold, wohin er will. Und dazu amerikanische Pässe für ihn und seine Familie.« McFarlane erwiderte nichts. Sein Gefühl sagte ihm, dass Vallenar sich nichts aus amerikanischen Pässen machte. »Also – wie sieht jetzt Glinns Plan aus?« McFarlane schluckte. Das Spiel kotzte ihn von Minute zu Minute mehr an. »Er hat einen Plan, einen todsicheren. Aber er kann uns noch nicht einweihen. Er sagt, absolute Verschwiegenheit sei die Voraussetzung dafür, dass ...« »Blödes Gerede! Holen Sie ihn mir an die Strippe, sofort!« »Ich habe schon versucht, ihn aufzutreiben, als ich hörte, dass Sie noch einmal anrufen wollen. Er meldet sich weder über das interne Computernetz noch über Funk. Offenbar weiß niemand, wo er gerade steckt.« »Der Teufel soll ihn holen! Das kommt davon, wenn man jemandem blindlings ...« Starkes Dröhnen übertönte seine Stimme. Dann war sie wieder da, allerdings ganz schwach. »Sam? Sam?« »Ja, ich bin noch dran.« »Hören Sie, Sie sind dort unten der Repräsentant von Lloyd. Sagen Sie Glinn, er soll mich sofort anrufen. Und sagen Sie ihm, das ist ein Befehl, und wenn er ihn nicht befolgt, ist er gefeuert; ich schmeiße ihn persönlich über Bord!« »Ja«, antwortete McFarlane müde. »Sind Sie in meinem Büro? Können Sie den Meteoriten sehen?« »Nein, der liegt noch getarnt in den Klippen.« »Wann wird er aufs Schiff verladen?« »Sobald der Nebel bis hierher gezogen ist. Man hat mir gesagt, es dauert einige Stunden, den Burschen in den Tank abzusenken, und möglicherweise eine halbe Stunde, ihn zu sichern. Dann legen wir sofort ab. Dem Plan nach sind wir spätestens um fünf Uhr früh weg.« »Das wird knapp. Und wie ich höre, zieht ein neuer Sturm auf, stärker als der letzte.« »Sturm?«, fragte McFarlane zurück. Statt einer Antwort hörte er nur statisches Rauschen. Er wartete, aber die Leitung blieb tot. Nach einer Weile legte er auf. Und während er aus dem Fenster starrte, hörte er Glinns Uhr Mitternacht schlagen.
Und da wurde ihm auf einmal klar, was dieses stetige Dröhnen gewesen war, das er im Hintergrund gehört hatte: das Düsentriebwerk eines Jets. Lloyd saß in einem Flugzeug.
Almirante Ramirez
25. Juli, Mitternacht
Comandante Vallenar stand auf der Brücke und starrte durch das Doppelfernrohr. Sein Schiff lag am nördlichen Ende des Kanals, von wo aus er einen guten Überblick über alles hatte, was sich auf der Insel tat. Die Amerikaner hatten ihren Tanker zu den Felsklippen gebracht und mit Ankertauen gesichert. Der Kapitän schien sich mit den hiesigen Wetterkapriolen ja gut auszukennen. Von der Felsbank im Meer, an der die Almirante Ramirez Anker geworfen hatte, konnte er natürlich nichts wissen. Darum hatte er die zweitbeste Lösung wählen und sein Schiff im Lee der Insel festmachen müssen, in der Hoffnung, dass der in der Regel ablandige Wind es davor bewahren würde, gegen die Klippen geworfen zu werden. Dennoch blieb das Manöver für einen Tanker dieser Größe sehr gewagt, weil der Wind jederzeit umschlagen konnte. Sicherer wäre es allemal gewesen, die Rolvaag in offenes Gewässer zu bringen. Offenbar gab es für den Kapitän also einen zwingenden Grund, in der Nähe der Insel zu bleiben. Und nach dem musste der Comandante nicht lange suchen. Er richtete das Fernrohr auf die etwa drei Kilometer vom Liegeplatz des Tankers entfernte Abbaustelle im Zentrum der Insel. Die Aktivitäten dort drüben, die wenige Stunden vor Glinns Besuch geradezu hektisch geworden waren, beobachtete er schon lange mit Misstrauen. Da wurde gesprengt, ein gewaltiger Maschinenpark war im Einsatz, es wimmelte von Arbeitern, die Abbaustelle war taghell beleuchtet. Der abgehörte Funkverkehr ließ keinen anderen Schluss zu als den, dass die Amerikaner heute auf etwas gestoßen waren. Etwas sehr Großes. Aber sie hatten offensichtlich erhebliche Schwierigkeiten mit ihrem Fund. Beim ersten Hebeversuch hatte ihr riesiger Kran den Geist aufgegeben. Nun versuchten sie, das Ding mit Hilfe starker Maschinen aus dem Boden zu ziehen. Was ihnen aber, wie der abgehörte Funkverkehr belegte, bisher nicht gelungen war. Vallenar grinste. Sie waren eben doch nicht die Tausendsassas, für die sie sich hielten. Wenn es in dem Tempo weiterging, würde es Wochen dauern, bis sie den Meteoriten an Bord der Rolvaag gebracht hätten. Aber so weit würde er es natürlich gar nicht erst kommen lassen. Sein Plan stand fest: Sobald er Timmer zurückhatte, würde er den Tanker manövrierunfähig machen und den Behörden melden, was die Fremden vorhatten. Ganz Chile würde ihn als Volksheld feiern. Wenn er den Coup mit dem Meteoriten verhinderte, konnte er sogar damit rechnen, endlich aus Puerto Williams versetzt zu werden. Und dann waren diese korrupten Mistkerle in Punta Arenas die Gelackmeierten. Nur, Erfolg oder Misserfolg hingen, wie immer, vom richtigen Timing ab... Sein Grinsen verging ihm, als er an Timmer dachte – und daran, dass er eingesperrt in der Arrestzelle des Tankers saß. Dass er jemanden umgebracht hatte, wunderte ihn nicht. Der Junge wusste eben, wann und wie er handeln musste. Vallenar fand es allenfalls merkwürdig, dass er erwischt worden war. Er war sehr gespannt, wie Timmer ihm das erklären würde. Den Gedanken, dass der Amerikaner ihn belogen hatte und Timmer tot sein könnte, verdrängte er. Schritte näherten sich, der Oficial de guardia betrat die Brücke. »Comandante? Wir haben neue Order erhalten, zur Basis zurückzukehren.« Vallenar starrte stumm vor sich hin und dachte nach. »Sir?« Vallenar richtete den Blick unverwandt in die Dunkelheit. Die angekündigte Nebelwand rollte auf sie zu. Ohne sich umzudrehen, wies er den Wachoffizier an: »Keine Bestätigung, absolute Funkstille einhalten.«
Ein kaum merkliches Augenzucken war die einzige Reaktion. Der Offizier war viel zu diszipliniert, um einen Befehl in Frage zu stellen. »Ja, Sir.« Vallenar beobachtete, wie die Nebelfront auf sie zu zog und einen undurchdringlichen Schleier über das Meer und die Insel legte. Erst fingen die Lichter des Tankers an zu flackern, dann, als der Nebel dichter wurde, verschwanden sie ganz. Auch das gleißende Licht im Zentrum der Insel reduzierte sich zu einem schwachen Schimmer, bis es schließlich völlig verschluckt war. Rings um die Brücke des Zerstörers gab es nur noch Finsternis. Vallenar beugte sich über den FLIR-Monitor, auf dem sich der Tanker als verwischte gelbe Silhouette abzeichnete. Er musste an Glinn denken. Der Mann war unergründlich. Er hatte selbst etwas von einem verschwommenen Schatten an sich. Sein Besuch auf der Almirante Raminez war eine Dreistigkeit gewesen. Und letzten Endes ein Misserfolg. Aber er hatte Vallenar trotzdem geärgert. Er starrte ein paar Sekunden in den Nebel. Dann wandte er sich zu seinem Wachoffizier um und sagte leise, aber mit Nachdruck: »Lassen Sie mir die Vorschriften über Meldungen beim Waffeneinsatz auf See bringen.«
Rolvaag
Mitternacht
Als McFarlane auf die Brücke kam, fand er dort eine Gruppe Offiziere vor, die sich mit sorgenvollen Mienen um den Kommandostand drängten. Vor wenigen Minuten hatte die Alarmsirene geheult – das Signal, dass die Mannschaft sich unverzüglich am Sammelpunkt einfinden solle. Vor den Scheiben ballte sich dichter Nebel, die starken Lichter auf dem Vorschiff waren zu verwaschenen gelben Stecknadelköpfen verkümmert. »Hat er uns im Visier?«, fragte Britton. »Zweifellos«, antwortete einer der Offiziere. »Mit aktiviertem Zielradar.« Brittons Blick fiel auf McFarlane. »Wo steckt Mr. Glinn? Warum reagiert er nicht auf unsere Anrufe?« »Keine Ahnung. Er ist seit seiner Rückkehr untergetaucht. Ich versuche selber schon die ganze Zeit, ihn zu erreichen.« Britton wandte sich an Howell. »Ich möchte, dass Sie zwei Suchtrupps losschicken, von mittschiffs zum Bug und nach achtern. Dringlichkeitsstufe eins. Bringen Sie ihn mir so schnell wie möglich zur Brücke.« »Das wird nicht nötig sein.« Glinn stand neben McFarlane. Er war wie immer lautlos und unbemerkt hereingehuscht, begleitet von zwei Männern mit EES-Firmenlogo auf dem Hemd. Mc-Farlane konnte sich nicht erinnern, sie je gesehen zu haben. »Eli«, platzte er heraus, »Palmer Lloyd hat schon wieder angerufen, er ...« »Wer sind diese Leute?«, unterbrach ihn Britton. »Und was haben sie auf meiner Kommandobrücke zu suchen?« »Das sind Mitarbeiter meiner Firma.« Britton überlegte einen Augenblick, dann sagte sie: »Mr. Glinn, ich darf Sie – ebenso wie Dr. McFarlane als Repräsentanten von Lloyds Industries – daran erinnern, dass ich diesem Schiff vorstehe und damit das letzte Entscheidungsrecht bei allen relevanten Fragen bei mir liegt.« McFarlane sah, dass Howells Miene und die der anderenSchiffsoffiziere sich verdüsterten. Ärger lag in der Luft. »Und wie beabsichtigen Sie von diesem Vorrecht Gebrauch zu machen?« »Indem ich nicht zulasse, dass der Meteorit auf mein Schiff gebracht wird.« Glinn sah sie nachsichtig an. »Captain, ich hielte es für besser, das unter vier Augen zu besprechen.« »Nein, Sir.« Sie wandte sich an Howell. »Treffen Sie alle Vorbereitungen für die Evakuierung der Insel. Wir legen in neunzig Minuten ab.« »Einen Augenblick – mit Ihrer Erlaubnis, Mr. Howell.« Glinns Blick war unverwandt auf Captain Britton gerichtet. »Darf ich fragen, was Sie zu dieser Entscheidung veranlasst?« »Mein Unbehagen wegen des Meteoriten ist Ihnen bekannt. Bisher konnten Sie sich bei Ihrer Zusicherung, dass keine Gefahr von ihm ausgeht, nur auf Annahmen stützen. Nun hat allerdings der Zerstörer vor fünf Minuten sein Zielradar aktiviert. Wir befinden uns hier wie auf dem Präsentierteller. Selbst wenn dieser Meteorit ungefährlich ist – die sonstigen Umstände sind es nicht. Ein schwerer Sturm zieht auf. Man kann sich nicht einen Meteoriten in den Tankraum laden und so tun, als ginge einen alles andere nichts an, wenn man in die Mündung einer Zehn-Zentimeter-Geschützes starrt.« »Er wird das Feuer nicht eröffnen. Zumindest noch nicht. Weil er nämlich annimmt, dass wir Timmer in der Arrestzelle eingesperrt haben. Und es scheint ihm sehr viel daran zu liegen, ihn wohlbehalten zurückzukriegen.« »Alles schön und gut, aber wenn er nun herausfindet, dass Timmer tot ist?« Glinn ging nicht auf die Frage ein. »Ohne konkreten Plan die Flucht anzutreten würde mit Sicherheit zu einem Desaster fuhren. Zumal Vallenar uns nicht ablegen lässt, bevor Timmer nicht wieder bei ihm an Bord ist.« »Dazu kann ich nur sagen: Lieber jetzt ablegen, als mir einen Meteoriten in den Tankraum hieven zu lassen, der so schwer ist, dass wir unweigerlich an Fahrt verlieren.« In die Nachsicht, die Glinns Miene signalisierte, mischte sich ein Anflug von Betrübnis. Jemand rief vom Kommandostand: »Ich habe einen Luftkontakt auf dem Schirm. Kurs null-null-neun, Entfernung fünfzig Kilometer.« »Weiter verfolgen, Rufzeichen feststellen«, ordnete Britton an, ohne den Blick von Glinn zu wenden. Einige Sekunden lang herrschte gespanntes Schweigen, dann fragte Glinn unvermittelt: »Haben Sie vergessen, was Sie in Ihrem Vertrag mit der EES unterschrieben haben?« »Ich habe nichts vergessen, Mr. Glinn. Aber Verträge verlieren ihre Gültigkeit, sobald sie sich nicht mit dem übergeordneten Seerecht vereinbaren lassen. Nach dem Seerecht trifft der Captain die Entscheidungen in allen Fragen, bei denen es um das Wohl und Wehe des Schiffes und der Besatzung geht. Daher werde ich unter den gegebenen Umständen nicht gestatten, dass der Meteorit auf die Rolvaag verladen wird.« »Captain Britton, wenn Sie nicht zu einem Gespräch unter vier Augen mit mir bereit sind, bleibt mir nur, Ihnen zu versichern, dass kein Anlass zur Besorgnis besteht.« Glinn nickte seinen Männern zu. Einer von ihnen trat vor und setzte sich an einen Prozessor aus schwarzem Stahl, in dem links und rechts das Wort DATENZUGRIFFSICHERUNG eingeprägt war. Der andere nahm mit dem Rücken zu ihm Aufstellung und behielt die Schiffsoffiziere im Auge. McFarlane dämmerte, dass der schwarze Kasten offensichtlich der kleinere Bruder jenes rätselhaften Prozessors war, den Captain Britton ihm einmal im Ladekontrollraum gezeigt hatte. Sie musterte die beiden Techniker mit finsterer Miene. »Mr. Howell, veranlassen Sie, dass das EES-Personal von der Brücke gewiesen wird.«
»Das wird nicht möglich sein«, warf Glinn mit zutiefst bekümmerter Miene ein. Sein Tonfall machte Britton stutzig. »Was heißt das?« »Sehen Sie, die Rolvaag ist ein wunderbares Schiff mit modernster Computerausstattung, bei der wir vorsichtshalber die Möglichkeit unvorhergesehener Zwischenfälle wie diesen hier einkalkuliert haben. Unser System steuert den Zentralcomputer. Normalerweise ist diese Steuerung transparent. Aber nachdem wir an diesem neuen Liegeplatz festgemacht hatten, habe ich die automatische Datenbrücke blockiert. Die Codes, mit denen die Blockade aufgehoben werden kann, kennen nur wir. Bevor wir nicht die richtige Kombination eingegeben haben, können Sie keine Befehle an die Maschine oder das Ruder übermitteln.« Britton starrte ihn an, sprachlos vor Wut. Howell griff nach einem der Telefone. »Offizierswache auf die Brücke, schnell!« Britton drehte sich zum Brückenoffizier um. »Geben Sie den Code zur Aktivierung der Turbinen ein.« Der Offizier tippte eine Reihe von Befehlen ein und wartete gespannt. Nach einer langen Pause sagte er: »Die Maschinen reagieren nicht, Ma’am. Das Eingabeboard ist tot.« »Diagnoseprogramm«, ordnete Britton an. »Captain«, mischte sich Glinn ein, »Sie werden nicht darum herumkommen, noch einmal einen Blick in den Wortlaut Ihres Vertrags zu werfen.« Britton wirbelte herum, ihre Augen funkelten. Sie zischte Glinn etwas zu, allerdings so leise, dass niemand außer dem Chef der EES sie verstehen konnte. Glinn ging zu ihr. Als sie sich Auge in Auge gegenüberstanden, verfiel auch er in einen heiseren Flüsterton. »Nein. Sie haben sich verpflichtet, das Schiff zurück nach New York zu bringen. Ich habe lediglich Vorkehrungen getroffen, um falls nötig auf einen Verstoß gegen diese Pflicht – sei es durch Sie oder andere – reagieren zu können.« Britton biss die Lippen zusammen, ein Zittern überlief sie von Kopf bis Fuß.
»Wenn wir jetzt ablegen, überstürzt und planlos, werden sie uns tatsächlich versenken«, fuhr Glinn in eindringlichem, beschwörendem Ton fort. »Unsere Chancen zu überleben hängen davon ab, dass Sie meinen Rat befolgen. Ich weiß, was ich tue.«
Britton sah ihn fest an. »Damit kommen Sie nicht durch.« »Captain«, redete Glinn weiter auf sie ein, »es gibt nur einen Weg, der uns – uns allen – das Überleben garantiert. Vertrauen Sie mir. Unterstützen Sie mich, oder wir werden alle sterben – so einfach ist das.« »Captain«, rief der Brückenoffizier von hinten, »das Diagnoseprogramm reagiert ebenfalls ...« Er brach ab, als er merkte, dass Britton ihn gar nicht hörte. Eine Offizierswache stürmte auf die Brücke. »Anordnung des Kapitäns«, bellte Howell, »Brücke von allen Angehörigen der EES räumen!« Die beiden EES-Techniker am Prozessor gingen in Hab-Acht-Stellung. Britton hob langsam die Hand. »Captain?« Howell starrte sie ungläubig an und suchte nach Worten. Aber Britton sagte nur: »Die Leute können bleiben.« Stille, alle waren wie gelähmt. Schließlich nickte Glinn seinen Männern zu. Einer von ihnen fischte einen dünnen Lederriemen unter dem Hemdkragen hervor und steckte eine Art Schlüssel in den Schlitz an der Vorderseite der Steuerkonsole. Glinn ging zu ihm und gab ein Kennwort und eine kurze Zahlensequenz ein. Der Brückenoffizier sah auf. »Ma’am, das Eingabeboard reagiert wieder.« Britton nickte. Dann sagte sie, ohne Glinn anzusehen: »Ich hoffe bei Gott, dass Sie wirklich wissen, was Sie tun.« »Darauf können Sie sich verlassen, Captain. Ich habe mich mit meiner beruflichen und persönlichen Reputation dazu verpflichtet, den Meteoriten nach New York zu bringen. Und ich habe eine Unmenge Wissen, Können und Material aufgeboten, um in der Lage zu sein, alle erdenklichen Probleme zu lösen – einschließlich dieses Problems. Ich werde ... wir werden dieses Unternehmen erfolgreich zu Ende fuhren.« Falls das irgendeinen Eindruck auf Britton gemacht hatte, so war es ihr zumindest nicht anzusehen. Der Blick, mit dem sie Glinn maß, blieb kühl und reserviert. Glinn zog sich wieder in seine Ecke in der Nähe der Tür zurück. »Captain, die nächsten zwölf Stunden werden über Erfolg oder Misserfolg unserer Mission entscheiden. Gerade in kritischen Augenblicken kommt es darauf an, dass sich alle dem Kapitän unterordnen. Ich entschuldige mich hiermit, dass ich gegen diese Regel verstoßen musste. Sobald der Meteorit sicher im Zentraltank gelagert ist, wird das nicht wieder vorkommen. Sie werden sehen, morgen Nachmittag sind wir auf dem Rückweg nach New York – mit einer Fracht von unschätzbarem Wert.« Das Lächeln, das um seine Lippen spielte, sollte Captain Britton wohl Zuversicht vermitteln. Aber McFarlane konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es dazu zu dünn und gezwungen wirkte. Banks riss die Tür des Funkraums auf. »Ich habe den Vogel identifiziert, Ma’am. Ein Helikopter der Lloyds Holdings. Er steht in chiffriertem Funkkontakt mit einer Bodenstation.« Das Lächeln verschwand schlagartig von Glinns Lippen. Er warf McFarlane einen vorwurfsvollen Blick zu. Guck mich nicht so an, hätte McFarlane am liebsten gesagt, es wäre deine Sache gewesen, ihn uns vom Hals zu halten. Der Offizier am Radarschirm rückte seine Kopfhörer zurecht. »Er bittet um Landeerlaubnis, Captain.« »Voraussichtliche Ankunft?« »In dreißig Minuten.« Glinn schien von einer plötzlichen Unruhe befallen zu sein.
»Bitte entschuldigen Sie mich, Captain, ich muss mich um ein paar Dinge kümmern.« An der Tür wandte er sich zu McFarlane um. »Sam, wären Sie so freundlich, die nötigen Arrangements für den Empfang von Mr. Lloyd zu treffen?«
Rolvaag
26. Juli, 0.30 Uhr
McFarlane ging mit einem bedrückenden Deja-vu-Gefühl auf dem Hauptdeck auf und ab, er wartete auf die Ankunft des Hubschraubers. Die Sekunden, in denen nur das vom Nebel gedämpfte Knattern der Rotoren zu hören war, schienen sich endlos zu dehnen. Seit die Nebelwand sich wie eine Tarnkappe über die Rolvaag gelegt hatte, war ein EES-Team in hektischer Eile damit beschäftigt, von einem Arbeitslift aus und mit Hilfe zweier Mastenkräne die vorgefertigten Teile des Förderturms zusammenzubauen und durch Stahlstreben zu verstärken. McFarlane konnte den Fortgang der Arbeiten durch die offenen Ladeklappen gut verfolgen, er sah fasziniert zu, wie schnell der Turm aus dem Tank nach oben wuchs. Am unteren Teil hatten schon die Schweißarbeiten begonnen, ein sprühender Funkenregen ergoss sich über die durch Helme und feuerfeste Westen geschützten Arbeiter. Trotz seiner Größe und Breite wirkte der Turm fast zierlich, McFarlane musste unwillkürlich an ein dreidimensionales Spinnennetz denken. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie das EES-Team den irrsinnig schweren Meteoriten, der vorläufig noch versteckt im Bretterverschlag auf den Klippen lag, auf diesen Turm hieven und dann in den Zentraltank absenken wollte. Der knatternde Rotorenlärm wurde lauter, McFarlane machte sich auf den Weg zum Heck. Kurz darauf tauchte die riesige Chinook aus dem Nebel auf, ein Besatzungsmitglied dirigierte die Maschine mit zwei starken Stablampen auf das Landeviereck. Reine Routine, verglichen mit dem waghalsigen Manöver, als Lloyd während des schweren Sturms eingeschwebt war. Mc-Farlane verfolgte missmutig, wie die überdimensionalen Reifen des Helikopters aufsetzten. Es stank ihm gewaltig, dass sowohl Lloyd wie auch Glinn ihn neuerdings als Laufburschen missbrauchten. Er war Wissenschaftler, in seinem Vertrag stand nichts davon, dass er als Verbindungsmann fungieren sollte. Es ärgerte ihn, dass er sich so ausnutzen ließ. Die Tür des Hubschraubers wurde aufgeschoben, Lloyd stand im Türrahmen, sein langer schwarzer Kaschmirmantel blähte sich im Wind, den breitkrempigen grauen Hut hatte er vorsichtshalber schon abgenommen. Noch ehe die Rotoren still standen, sprang er aufs Schiffsdeck, was ihm für einen Mann seiner Größe und seines Gewichts mit relativer Anmut gelang. Er stürmte energischen Schritts los, lächelte McFarlane flüchtig zu, drückte ihm mit seinem Schraubstockgriff die Hand und wollte schon weitereilen, als er plötzlich den Turm entdeckte, der aus dem Bauch des Schiffes nach oben ragte. Abrupt blieb er stehen. »Wo ist Glinn?«, schrie er gegen den abklingenden Lärm der Rotoren an. »Er müsste inzwischen wieder auf der Brücke sein.« »Okay, kommen Sie mit.«
Auf der Brücke war den in fahles Licht getauchten Gesichtern die innere Anspannung deutlich anzusehen. Lloyd blieb kurz unter der Tür stehen, um die Szenerie in sich aufzunehmen. Glinn stand am EES-Prozessor und redete leise mit dem Techniker am Keyboard. Lloyd trat an ihn heran, umfasste mit seiner Pranke Glinns schmale Hand und schüttelte sie bewegt. »Der Mann der Stunde!«, dröhnte er. Die schlechte Laune, die er während des Flugs gezeigt hatte, schien verschwunden, er war wieder in Hochstimmung, deutete mit dem Kopf auf die Stahlkonstruktion und sagte bewundernd: »Mein Gott, Eli, der Turm ist ja fantastisch. Sind Sie sicher, dass das Ding ein Gewicht von fünfundzwanzigtausend Tonnen trägt?« »Es ist für die doppelte Last ausgelegt«, erwiderte Glinn. »Das hätte ich mir denken können. Wie, zum Teufel, soll das eigentlich funktionieren?« »Durch kontrollierte Zerstörung.«
»Zerstörung? Ich höre wohl nicht recht? Möge uns der Himmel davor bewahren!« »Wir hieven den Meteoriten auf den Turm. Dann lösen wir eine Serie vorbereiteter Sprengungen aus, durch die der Turm nach und nach immer mehr in sich zusammensackt. Auf die Weise senken wir den Meteoriten langsam in den Zentraltank ab.« Lloyd musterte skeptisch das Stahlgerüst. »Genial. Haben Sie das Verfahren schon mal in der Praxis ausprobiert?« »Ganz genau so nicht.« »Aber Sie sind sicher, dass es klappt?« Glinn lächelte säuerlich. »Frage gestrichen. Das fällt in Ihr Fachgebiet, Eli, ich verspreche Ihnen, mich da nicht mehr einzumischen. Ich bin schließlich aus ganz anderen Gründen hier.« Er richtete sich zu voller Größe auf und ließ den Blick einmal in die Runde schweifen, als wolle er sich vergewissern, dass ihm auch alle zuhörten. »Ich sag’s frei heraus: Wir haben ein Problem, um das sich bis jetzt niemand gekümmert hat. Aber bevor ich tatenlos zusehe, wie hier in letzter Minute etwas schief geht, nehme ich mir lieber die Schuldigen zur Brust und lasse notfalls auch Köpfe rollen.« Er deutete auf die Nebelwand. »Da draußen parkt ein Kriegsschiff, direkt vor unserem Bug. Die wollen uns ausspionieren. Sie warten nur darauf, dass wir ablegen. Und Sie, Eli, haben nichts dagegen unternommen. Also gut, Schluss mit der Duckmäuserei, jetzt hilft nur noch energisches Handeln. Darum werde ich die Sache persönlich in die Hand nehmen. Ich beabsichtige, an Bord der Rolvaag nach New York zurückzureisen. Aber vorher sorge ich dafür, dass die chilenische Marine ihren Cowboy zurückpfeift.« Er wandte sich um und machte Anstalten, zur Tür zu gehen. »In ein paar Minuten habe ich meine Leute in New York auf Trab gebracht. Eli, ich erwarte Sie in einer halben Stunde in meinem Büro. Inzwischen blase ich einigen Leuten per Telefon gehörig den Marsch. Ich habe Erfahrung darin, wie man mit so miesen politischen Winkelzügen fertig wird.« Glinn hatte ihn unverwandt angesehen, sich aber, wie üblich, nicht anmerken lassen, was in ihm vorging. »Entschuldigung, Mr. Lloyd, habe ich das so zu verstehen, dass Sie bereits Kontakt mit den chilenischen Behörden aufgenommen haben?« »Nein, noch nicht. Ich wollte erst genau wissen, was sich hier unten abspielt. Aber jetzt werde ich meine Freunde in Chile einspannen – einflussreiche Freunde, unter anderem den Vizepräsidenten und den amerikanischen Botschafter.« Glinn trat unauffällig näher an den schwarzen Stahlprozessor heran. »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.« »Wie meinen Sie das? Was wird nicht möglich sein?«, fragte Lloyd gereizt. »Dass Sie sich in Belange einmischen, die etwas mit dieser Operation zu tun haben. Sie hätten besser daran getan, in New York zu bleiben.« Lloyd machte aus seiner Verärgerung keinen Hehl. »Glinn, erzählen Sie mir nicht, was ich kann und was ich nicht kann. Die technischen Dinge überlasse ich Ihnen, aber hier geht es um politisches Fingerspitzengefühl.« »Ich kann Ihnen versichern, dass ich alles fest im Griff habe, auch das, was Sie unter politischem Fingerspitzengefühl verstehen.« »Ach, wirklich?« Lloyds Stimme bebte. »Und was ist mit dem Zerstörer da draußen? Der ist bis an die Zähne bewaffnet und hat seine Kanonen auf uns gerichtet, falls Sie’s noch nicht bemerkt haben sollten. Und Sie, was tun Sie? Sie gucken einfach zu.« Captain Britton wechselte einen Blick mit Howell, dann sah sie Glinn gespannt an. »Mr. Lloyd, ich möchte das, was ich Ihnen jetzt sage, nicht noch einmal wiederholen müssen: Sie haben mir einen Auftrag erteilt, und den führe ich durch. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf: mich meinem Plan folgen zu lassen. Für nähere Erläuterungen ist jetzt keine Zeit.«
Anstatt auf Glinn einzugehen, wandte sich Lloyd zu Penfold um, der wie ein Häufchen Unglück an der Tür lehnte. »Holen Sie mir Botschafter Throckmorton an die Strippe, er soll eine Konferenzschaltung mit dem Büro des Vizepräsidenten in Santiago herstellen. Ich bin jeden Moment unten.« Penfold verschwand. »Mr. Lloyd«, sagte Glinn ruhig, »Sie können von mir aus auf der Brücke bleiben und die weitere Entwicklung verfolgen. Aber das ist auch alles, was Sie tun können.« Er wandte sich an seinen Mann am Computer. »Schalten Sie die Lloyd-Industries-Suite von der Stromversorgung ab und unterbrechen Sie sämtliche Kommunikationsverbindungen zum Festland.« Einen Moment lang herrschte lähmende Stille. Dann schrie Lloyd: »Sie verdammter Mistkerl!« Er wirbelte herum und wies Captain Britton an: »Ich hebe die Anweisung auf. Mr. Glinn ist mit sofortiger Wirkung all seiner Befugnisse enthoben.« Doch Glinn beachtete ihn gar nicht. Er griff zum Funkgerät, wechselte die Frequenz und drückte ein paar Tasten. »Mr. Garza? Ich würde jetzt gern Ihren Lagebericht hören.« Er lauschte eine Weile, dann sagte er: »Ausgezeichnet. Ich denke, wir sollten den Schutz der Nebelwand nutzen und die Insel vorzeitig räumen. Beordern Sie alles Personal, das nicht unbedingt gebraucht wird, aufs Schiff zurück. Aber schärfen Sie den Leuten ein, das Licht brennen und die Motoren laufen zu lassen, genau wie besprochen. Amira soll das vorbereitete Band mit dem Routinefunkverkehr abspielen lassen. Und achten Sie auf dem Rückweg darauf, mit dem Beiboot ständig im Radarschatten der Insel oder der Rolvaag zu bleiben.« Lloyd kochte vor Wut. »Ist Ihnen entfallen, wer hier letzten Endes das Sagen hat, Glinn? Sie sind nicht nur gefeuert, ich stelle hiermit auch alle Zahlungen an die EES ein.« Und zu Britton gewandt: »Sorgen Sie sofort dafür, dass ich in meiner Suite wieder Strom habe.«
Glinn beachtete ihn gar nicht, sondern gab seelenruhig weiter über Funk Anweisungen an Garza durch. Auch Britton rührte keinen Finger. Lloyd lief dunkelrot an, sah sich wild um, als suche er nach einem Verbündeten, doch das Brückenpersonal wich dem Blickkontakt mit ihm aus. Schließlich drehte Glinn sich zu ihm um und sagte versöhnlich: »Es ist mir nicht entfallen, wer hier letzten Endes die Verantwortung hat, Mr. Lloyd.« Lloyd schnappte nach Luft, Glinns überraschend freundlicher Ton hatte ihn aus dem Konzept gebracht. »Sehen Sie, Mr. Lloyd, bei jeder Operation kann nur einer die Marschrichtung vorgeben, das wissen Sie besser als jeder andere.« Glinn fuhr in unverändert konziliantem Ton fort: »In unserem Vertrag habe ich Ihnen ein Versprechen gegeben, und das gedenke ich einzuhalten. Falls Sie den Eindruck hatten, dass ich mich Ihnen widersetze, bedenken Sie bitte, dass ich das alles für Sie tue. Wenn Sie Kontakt zum chilenischen Vizepräsidenten aufgenommen hätten, wäre alles verloren gewesen. Ich kenne ihn persönlich, wir haben oft auf seiner Ranch in Patagonien Polo gespielt. Er würde nichts lieber tun, als uns Amerikanern eins auszuwischen.« »Sie haben mit ihm auf seiner Ranch ... ?«, brachte Lloyd stockend über die Lippen. Glinn wollte das Eisen schmieden, solange es heiß war. »Sehen Sie, nur ich kenne sämtliche Fakten. Also kann nur ich beurteilen, welcher Weg zum Erfolg führt. Ich gebe mich hier nicht zum Spaß so verschwiegen, Mr. Lloyd, sondern aus einem wichtigen Grund: Bei den jetzt notwendigen Entscheidungen dürfen Eitelkeiten und Eigeninteressen keine Rolle spielen. Bei mir können Sie sicher sein, dass ich kein persönliches Interesse an diesem Meteoriten habe. Aber ich habe versprochen, ihn von A nach B zu bringen, und dabei lasse ich mich von niemandem aufhalten. Von niemandem. Ich hoffe, dass Sie jetzt verstehen, warum ich mir die Leitung der Operation nicht nehmen lasse und das, was ich weiß, für mich behalte. Was die Einstellung der Zahlungen angeht – das können wir unter Gentlemen regeln, sobald wir wieder amerikanischen Boden unter den Füßen haben.« »Glinn, das ist ja alles schön und gut...« »Ende der Diskussion, Sir«, sagte Glinn mit ruhiger, aber plötzlich stahlharter Stimme. »Ich muss Sie bitten, sich von nun an meinen Weisungen zu fügen. Es hängt allein von Ihnen ab, ob Sie sich still verhalten und hier auf der Brücke bleiben oder sich in Ihr Büro zurückziehen wollen. Wenn es gar nicht anders geht, können Sie sich auch zur Arrestzelle eskortieren lassen. Mir ist jede Lösung recht, für die Sie sich entscheiden.« Lloyd starrte ihn fassungslos an. »Ja, glauben Sie allen Ernstes, Sie könnten mich in die Arrestzelle schleppen lassen, Sie arroganter Mistkerl?« Der Blick, mit dem Glinn ihn maß, erübrigte jede Antwort. Lloyd schluckte, sein Gesicht war rot vor Zorn. Dann fuhr er zu Britton herum. »Und für wen arbeiten Sie?« Britton wich seinem Blick aus, ihre Augen, grün und tief wie der Ozean, ruhten unverwandt auf Glinn. »Ich arbeite für den, der die Autoschlüssel eingesteckt hat.« Lloyd bebte vor Wut, verkniff sich aber jede übereilte Reaktion. Erst als er ein paarmal mit großen Schritten auf der Brücke auf und ab gegangen war, sah er Britton an und sagte schwer atmend: »Zum letzten Mal: Ich weise Sie an, die Stromversorgung und die uneingeschränkte Nutzung aller Kommunikationsmittel in meiner Suite sicherzustellen.« Lautlose Stille, niemand rührte sich. Lloyd drehte sich um, sein Blick fixierte McFarlane. »Und Sie, Sam?« Eine Sturmböe ließ die Scheiben klirren. McFarlane wusste, dass er sich entscheiden musste. Und zu seiner eigenen Verblüffung stellte er fest, dass sie ihm viel leichter fiel, als er gedacht hatte. »Ich arbeite für den Meteoriten.« In Lloyds schwarzen Augen lag Stahlglanz. Und dann schien er von einem Augenblick zum anderen in sich zusammenzusacken. Er ließ die Schultern hängen, sein bulliger Körper wurde zu einer schlaffen Fleischmasse, sein Gesicht nahm wieder die normale Farbe an. Er drehte sich langsam um, blieb einen Moment unschlüssig stehen. Dann ging er auf die Tür zu, riss sie auf und tauchte im Nebel unter. Glinn, der seinen Abgang stumm verfolgt hatte, beugte sich wieder über den Computer und gab seinem Techniker – sehr leise und ruhig – ein paar Anweisungen.
Rolvaag
1.45 Uhr
Captain Britton starrte nach vorn, fest entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, was in ihr vorging. Sie versuchte, ihre Atemzüge und ihren Pulsschlag dem Rhythmus des Schiffes anzupassen. Der Wind war während der letzten Stunden immer mehr aufgefrischt, die ersten Böen rüttelten heulend an allem, was nicht niet- und nagelfest war. Auch der Regen war stärker geworden, dicke Tropfen kamen wie Pistolenkugeln aus der Nebelwand geschossen. Der panteonero kündigte sich an. Sie wandte sich zu der filigranartigen Konstruktion um, die aus dem Bauch des Schiffes ragte. Die Oberkante des Turms reichte noch nicht bis zur Höhe der Klippen heran, trotzdem schienen die Arbeiten abgeschlossen zu sein. Nicht zu wissen, wie es jetzt weitergehen sollte, machte Britten nicht nur unruhig, sie empfand es auch als demütigend. Verstohlen schielte sie zu dem EES-Prozessor hinüber. Bisher hatte sie immer geglaubt, jeden an Bord zu kennen, aber der Mann, der an dem schwarzen Kasten saß, war ihr völlig fremd. Und er schien eine Menge von Supertankern zu verstehen. Ein Gedanke, bei dem ihre Lippen noch schmaler wurden. Natürlich war sie daran gewöhnt, bei bestimmten Gelegenheiten die Führung der Rolvaag vorübergebend abzugeben, zum Beispiel, wenn sie Treibstoff bunkerten oder wenn die Hafenpolizei an Bord kam. Das war normale Routine, alle Kapitäne kannten das. Aber dass plötzlich Fremde auf ihrem Schiff das Kommando übernahmen, sie anwiesen, die Rolvaag – unweit von diesem Zerstörer – dicht an die Klippen zu manövrieren, und dann sogar ohne Absprache mit ihr einen Ladevorgang vorbereiteten, das war nicht normal, es war schlichtweg brüskierend. Dennoch hatte sie sich fest vorgenommen, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie das verärgert und gekränkt hatte. Schließlich waren ihre Gefühle nicht so wichtig. Zumindest nicht, wenn sie daran dachte, was sie draußen auf der stürmischen, nachtdunklen See erwartete. Ihre Augen huschten zu Glinn hinüber, der seinem Operator von Zeit zu Zeit etwas zuflüsterte. Völlig ruhig und gelassen, obwohl er gerade den mächtigsten Industriemagnaten der Welt rüde gedemütigt hatte. Der Mann war ihr ein Rätsel. Mehr als einmal hatte sie nachts wach gelegen und sich gefragt, wie es nur möglich war, dass ein Mann, der äußerlich eher unauffällig wirkte und nach dem sie sich auf der Straße nicht einmal umgedreht hätte, sie gedanklich nicht mehr losließ. Sie fragte sich, wie sich seine Disziplin und die unnachsichtige Härte gegenüber anderen miteinander vertrugen. Hatte er tatsächlich eine Strategie oder verließ er sich nur auf seine Begabung, auf unvorhergesehene Ereignisse richtig zu reagieren? Ihrer Erfahrung nach gab es nichts Gefährlicheres als Leute, die immer und überall wussten, was das Richtige war. Andererseits hatte Glinn wirklich immer Recht behalten. Offenbar konnte er alles vorhersehen und in anderen lesen wie in einem offenen Buch. Auch in ihr hatte er sich nicht getäuscht, als es um die berufliche Laufbahn der Sally Britton gegangen war. Gerade in kritischen Augenblicken kommt es darauf an, dass sich alle dem Kapitän unterordnen ... Ob er überhaupt ahnte, was er ihr mit dem – zumindest vorübergehenden – Entzug des Kommandos angetan hatte? Oder war das etwas, was einen Mann wie ihn kalt ließ? Ach, zum Teufel – wieso grübelte sie eigentlich dauernd herum? Sie spürte, wie ein Zittern durch den Tanker lief, als die Pumpen ansprangen und auf beiden Seiten des Schiffsrumpfes riesige Mengen Meerwasser aus den Ballasträumen ins offene Meer pressten. Langsam, aber stetig begann die Rolvaag sich zu heben. Und da wurde es ihr plötzlich klar: Natürlich, auf die Weise sollte der Turm auf gleiche Höhe mit den Klippen und dem Meteoriten gebracht werden. Da war er wieder, der Zwiespalt ihrer Gefühle. Einerseits konnte sie ihre Bewunderung für Glinns genial einfachen Plan nicht verhehlen, andererseits fühlte sie sich gedemütigt, weil er sie im entscheidenden Moment zur Statistin degradiert hatte. Sie stand da wie eine Statue – stumm, das Kinn hochgereckt, mit durchgedrücktem Kreuz. Es war ein seltsames Gefühl, diesmal nur Zuschauerin zu sein, während der altbekannte Prozess ablief: Ballast abzulassen, sich der Hubkraft des Meeres anzuvertrauen, eine Kammer nach der anderen zu öffnen, die Stabilisatoren auszufahren ... Ein gewagtes Manöver im Lee eines Sturms und gefährlich nahe einer Felsküste, wider jegliches Lehrbuchwissen und auch jegliche Erfahrung. Schließlich war die Oberkante des Turms auf gleicher Höhe mit der Wellblechhütte auf den Klippen. Glinn flüsterte dem Operator am Prozessor etwas zu, das Stampfen der Pumpen wurde augenblicklich schwächer. Plötzlich ein lauter Knall, auf den Klippen flogen das Dach und die Wände der Wellblechhütte weg, die aufsteigende dunkelgraue Rauchwolke riss einen Teil der Nebelschwaden mit, und auf einmal lag der Meteorit für alle sichtbar da – glutrot und geheimnisvoll. Auf den Klippen sprangen Dieselmotoren an, das komplizierte Zusammenspiel Dutzender Flaschenzüge und Ankerwinden begann. Unter schrillem Quietschen, in Schwaden von Dieselqualm gehüllt, bewegte sich der Meteorit Zentimeter um Zentimeter auf die Rampe zu, die wie eine Brücke zwischen den Klippen und dem Turm lag. Britton musste sich eingestehen, dass das Schauspiel etwas Erhabenes an sich hatte. Dann trat eine kurze Pause ein, durch die Rolvaag lief ein Vibrieren, die computergesteuerten Pumpen ließen genau so viel Ballast ab, dass das Zugewicht des Meteoriten ausgeglichen und das Schiff wieder in Trimmlage gebracht wurde.
Auf der Brücke herrschte eine beinahe andächtige Stille. Wieder und wieder dasselbe Spiel: der Meteorit kroch ein Stück weiter auf die Oberkante des Turms zu, machte Halt, die Pumpen sprangen an. Ungefähr zwanzig Minuten lang ging das so, dann war es geschafft: Der rote Koloss ruhte auf der Oberkante des Turms. Britton spürte, dass das Schiff zu hoch im Wasser lag, aber sie hörte die Pumpen bereits arbeiten. Es konnte nur Minuten dauern, bis die Ballasttanks wieder so weit gefüllt waren, dass sie den Kiel tief genug ins Wasser drückten. Glinn flüsterte dem Operator eine Anweisung zu, dann trat er, nicht ohne Britton beruhigend zuzunicken, an die Glasscheibe auf der Landseite der Brücke. Und in dem Augenblick merkte Britton, dass Howell, ihr Erster Offizier, hinter ihr stand. Da sie sich nicht umdrehte, musste er sich nahe an ihr Ohr beugen. »Captain, ich wollte Ihnen sagen, dass wir ... Also, die Offiziere und ich, wir sind nicht einverstanden damit, wie das hier läuft. Wir halten zu Ihnen. Ein Wort von Ihnen genügt ...« Howell brach ab, ohne den Satz zu Ende zu führen, aber Britton hatte die Botschaft auch so verstanden. Sie stand weiter reglos da wie ein Soldat in Habt-Acht-Stellung. »Ich danke Ihnen, Mr. Howell«, sagte sie leise, mit ruhiger Stimme. »Aber belassen wir’s dabei.« Howell stutzte, dann ging er zum Kommandostand zurück. Britton atmete tief durch. Der Moment, in dem es möglich gewesen wäre zu handeln, war ungenutzt verstrichen. Nun hatten sie sich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wenn es Probleme mit dem Meteoriten gab, waren es ihre Probleme. Und das würde so bleiben, bis die Rolvaag sicher in New York angedockt hatte. Wieder fiel ihr Glinn ein. Wie er ihr zugeredet hatte, das Kommando über dieses Schiff zu übernehmen, obwohl er alles über sie wusste. Wie blind er ihr auf der Zollstation in Puerto Williams vertraut hatte. Sie waren ein gutes Team gewesen. Blieb die Frage, ob es richtig gewesen war zu kuschen, als er ihr, wenn auch nur vorübergehend, das Kommando über die Rolvaag entzogen hatte. Nur, es war ihr ja gar nichts anderes übrig geblieben. Während sie noch wie versteinert dastand und grübelte, hörte sie draußen einen dumpfen Knall. Sie sah auf. Ein paar Titanstreben flogen durch die Luft – offensichtlich die erste jener kontrollierten Sprengungen, von denen Glinn gesprochen hatte. Und tatsächlich, der oberste Teil des Turms war verschwunden; nachdem der Qualm sich verzogen hatte, sah sie gerade noch die letzten Bruchstücke ins Meer trudeln. Der Meteorit war auf die nächste Ebene abgesackt. Wieder lief ein Zittern durch das Schiff, als die Pumpen ansprangen, um den Gewichtsverlust durch zusätzlichen Ballast auszugleichen. Und dann ging es Schlag auf Schlag: die nächste Explosion, wieder brach ein Stück des Turms in sich zusammen, wieder sackte der Meteorit tiefer ... Mit einem Teil ihres Herzens musste Britton sich eingestehen, dass sie Augenzeugin einer großartigen technischen Leistung wurde – perfekt geplant und meisterhaft durchgeführt. Aber da regte sich noch eine andere Stimme in ihr, und die sagte ihr, dass das alles gar nicht so großartig war. Sie brauchte nur den Kopf zu heben und einen Blick nach draußen zu werfen. Die Nebelwand war aufgerissen, der böige Wind trieb die Graupelschauer waagerecht gegen die Scheiben, es konnte nicht mehr lange dauern, bis die graue Tarnkappe vollends verweht war. Und dann war die Jagd eröffnet. Denn Vallenar war kein technisches Problem, das Glinn mit Hilfe von Flaschenzügen, Ankerwindungen und sorgfältig berechneten Sprengladungen lösen konnte. Und das einzige Pfand, das sie in der Hand hatten, lag tief unten im Rumpf des Schiffes. Aber eben nicht in der Arrestzelle, sondern in Dr. Brambells tiefgekühltem Leichenfach.
Rolvaag
2.50 Uhr
Lloyd ging ruhelos wie ein gefangenes Tier in seinem Studio im hinteren Brückendeck auf und ab. Der Wind war stärker geworden, alle paar Minuten traf eine Böe das Schiff mit solcher Wucht, dass die Fenster bebten und leise in ihren Rahmen klirrten. Was Lloyd allerdings kaum wahrnahm. Er blieb stehen und starrte durch die offene Tür in seine nur vom schwachen Schein rötlich schimmernder Notlampen erhellte Bürosuite. Die schwarzen Monitore starrten stumm zurück, wie zum Hohn spiegelte sich in ihnen sein auf Zwergenmaß geschrumpftes Konterfei wider. Von unbändiger Wut erfüllt, stieß er einen der Ohrensessel mit einem kräftigen Tritt um, bevor er seine Wanderung fortsetzte. Es war unglaublich. Glinn
– der Mann, dem er dreihundert Millionen Dollar gezahlt hatte
– wies ihn von der Brücke seines eigenen Schiffes! Drehte ihm den Strom ab, machte einen blinden, taubstummen Narren aus ihm! Dabei hätte es so vieles gegeben, was er dringend mit seinen Leuten in New York besprechen musste – Geschäfte, bei denen es um eine Menge Geld ging. Aber das war nicht alles. Viel mehr als das Geld schmerzte es ihn, dass Glinn es gewagt hatte, ihn vor den Schiffsoffizieren und seinen eigenen Leuten zu demütigen. Das würde er ihm nie verzeihen, das nicht. Er hatte sich Machtkämpfe mit Präsidenten, Regierungschefs, Scheichs, Industriemagnaten und Unterweltbossen geliefert, aber bei Glinn ... Dieser Mann war irgendwie anders. Unddann erstarrte er plötzlich und lauschte. Über das Lärmen der Maschinen, das von der fiktiven Schürfstelle auf der Insel herüberdrang, und über den heulenden Wind hinweg hörte er auf einmal Geräusche, die er, obwohl sie sich fast rhythmisch wiederholten, in seiner Wut bisher gar nicht wahrgenommen hatte.
Da war es wieder: das dumpfe Stakkato einer Explosion ganz in der Nähe. Offenbar auf dem Schiff, denn nun spürte er auch das Vibrieren, das durch die Planken unter seinen Füßen lief. Er stand reglos da, alle Muskeln angespannt, und wartete auf den nächsten Knall. Neugier dämpfte seine Wut. Irgendetwas tat sich auf dem Hauptdeck. Da – schon wieder: erst ein dumpfer Knall, dann das Vibrieren. Er durchmaß schnellen Schritts seine Suite und eilte den Flur hinunter in das Großraumbüro. Assistenten und Sekretärinnen saßen müßig vor schwarzen Bildschirmen und toten Telefonen und vertrieben sich die Zeit mit Klatsch und Tratsch, der freilich sofort verstummte, als sie Lloyd in den Raum stürmen sahen. Penfold löste sich lautlos aus dem Halbdunkel, eilte hinter ihm her und zupfte ihn am Ärmel. Lloyd wedelte ihn unwirsch beiseite und setzte seinen Sturmlauf fort – vorbei an den Türen der lahm gelegten Fahrstühle, durch die schalldicht isolierte Tür in sein privates Apartment und weiter bis zu dem Bullauge, von dem aus er die Stahlkonstruktion sehen konnte, die aus dem Zentraltank ragte. Auf dem Deck unter ihm herrschte rege Betriebsamkeit. EES-Personal war bereits mit den letzten Vorbereitungen für das Ablegen beschäftigt. Ladeluken wurden zugeklappt, Schotten geschlossen, Abdichtungen überprüft – aber all das nahm Lloyd nur beiläufig wahr, sein eigentliches Interesse galt der bizarren Turmkonstruktion. Sie war kürzer geworden, erheblich kürzer sogar, und von dunklem Qualm umwallt, der sich mit dem aufsteigenden Nebel zu zerfransten kleinen Wolken formte und meerwärts trieb: ein skurriles Ballett in Zeitlupe. Und während er noch fasziniert nach unten starrte, hörte er schon die nächste Explosion – das heißt eigentlich eher eine Serie von Explosionen, wie stotterndes Maschinengewehrfeuer – und sah, dass der Meteorit abermals ein Stück absackte. Das Beben, das durch den Rumpf der Rolvaag lief, war kaum vergangen, als auch schon ein Spezialtrupp anrückte, kurz den Schutt wegräumte und die nächste Sprengladung anbrachte. Nun war ihm klar, was Glinn mit kontrollierter Zerstörung gemeint hatte. Seine Leute sprengten den Turm tatsächlich Stück für Stück weg. Und so wütend er auch war, musste Lloyd doch zugeben, dass dies die beste, wenn nicht gar die einzige Möglichkeit darstellte, ein derart schweres Objekt in den Tank zu verfrachten. Angesichts der Brillanz der Idee und der Professionalität der Durchführung blieb ihm schier die Luft weg. Glinn und McFarlane hatten ihm zugeredet, nicht zu kommen. Er war trotzdem gekommen. So wie er damals, allen Warnungen zum Trotz, auf den gerade erst freigelegten Meteoriten gesprungen war. Nachträglich lief es ihm eiskalt über den Rücken, wenn er daran dachte, wie es diesem – wie hieß er noch?
– diesem Timmer ergangen war. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, noch einmal herzukommen. Ein impulsiver Entschluss, der ihm im Grunde gar nicht ähnlich sah. Er hatte sich da in etwas hineingesteigert, der Meteorit war ihm zu einem Herzensanliegen geworden. Und wie J.
P. Morgan schon gesagt hatte: »Wenn du etwas zu sehr willst, empfindest du es nicht einmal mehr als Erfolg, wenn du es schließlich bekommst.« Er hatte sich immer an diese Lebensweisheit gehalten und nötigenfalls nicht gezögert, ein Projekt aufzugeben, wie lukrativ es auch sein mochte. Seine Fähigkeit, ein Blatt abzulegen, selbst wenn es eines mit vier Assen war, hatte sich bei all seinen Geschäften ausgezahlt. Nun aber wollte er zum ersten Mal in seinem Leben ein Blatt behalten, obwohl er das Spiel gar nicht machen konnte. Er hatte überreizt, nun konnte er nur noch gewinnen oder verlieren. Er versuchte, sich zur Vernunft zu zwingen. Mein Gott, er war zu seinen Milliarden schließlich nicht durch unbedachte Starrköpfigkeit gekommen. Und es war nie seine Art gewesen, Zweifel an der Tüchtigkeit der Leute zu hegen, die für ihn gute Arbeit leisteten. Wenn er in sich hineinlauschte, musste er sich
eingestehen, dass Glinn ihn womöglich vor einer Dummheit bewahrte, wenn er ihn von der Brücke schickte – aller Demütigung zum Trotz. Aber dann kochte wieder Wut in ihm hoch. Was immer der Kerl sich dabei gedacht hatte, er war arrogant und anmaßend gewesen. Seine kühle Gelassenheit, seine Unfehlbarkeit, sein heimlicher Führungsanspruch – das alles reizte ihn. Glinn hatte ihn vor allen anderen lächerlich gemacht, und das konnte ein Palmer Lloyd nie vergessen, geschweige denn vergeben. Wenn all das hier vorüber war, würde er mit dem Mann abrechnen – finanziell und auch sonst. Aber jetzt kam es erst einmal darauf an, den Meteoriten hier wegzuschaffen. Und Glinn schien der Einzige zu sein, der dazu imstande war.
Rolvaag
3.40 Uhr
Captain Britton, in zehn Minuten liegt der Meteorit in der Halterung im Zentraltank. Dann gehört das Schiff wieder Ihnen, wir können auslaufen.« Glinns Worte zerrissen die Stille auf der Brücke. Britton verharrte noch ein, zwei Minuten in der Pose, in der sie wie versteinert dagestanden hatte, seit Glinn und Lloyd aneinander geraten waren, dann drehte sie sich zu ihm um, maß ihn mit einem abschätzenden Blick und wandte sich schließlich an den Zweiten Offizier. »Windgeschwindigkeit?« »Dreißig Knoten aus Südwest, in Böen auffrischend auf vierzig. Tendenz stärker werdend.« »Strömung?« Glinn hörte nicht mehr hin, die nautischen Details waren Brittons Sache. Er beugte sich zu seinem Operator am Prozessor hinunter. »Puppup und Amira sollen auf die Brücke kommen und mir berichten.« Wieder waren in rascher Folge Explosionen zu hören. Das Schiff krängte nach Backbord, die Pumpen sprangen an, um die Schräglage auszugleichen. »Eine Schlechtwetterfront zieht auf uns zu, Ma’am«, meldete Howell, »der Nebel taugt nicht mehr lange als Tarnkappe.« »Sichtweite?«, fragte Britton. »Knapp zweihundert Meter, zunehmend.« »Position des Zerstörers?« »Null-fünf-eins, unverändert zweitausend Meter.« Eine starke Böe traf das Schiff, gefolgt von einem lauten, hohl widerhallenden Knall, der sich anders anhörte als die Explosionen aus dem Zentraltank. Auch die Erschütterung war ganz anders, McFarlane kam es vor, als hätte es die Rolvaag bis ins Mark getroffen. »Wir hatten soeben Berührung mit den Klippen«, sagte Britton in ruhigem Ton und sah Glinn fragend an. Glinn schüttelte den Kopf. »Wir können noch nicht ablegen. Wird der Rumpf das aushaken?« Britton verzog keine Miene. »Eine Weile bestimmt. Hoffe ich jedenfalls.« Amira kam auf die Brücke, ihre hellwachen Augen erfassten die Situation sofort. »Ist wohl besser, wenn Garza unten bleibt und zusieht, dass unser Bursche fest in seiner Halterung verankert ist, ehe er uns ein Loch in den Rumpf schlagen kann«, flüsterte sie McFarlane zu. Abermals eine Serie von Sprengungen, der Meteorit sackte wieder ein Stück tiefer. »Dr. McFarlane«, sagte Glinn, ohne sich umzudrehen, »sobald der Meteorit in der Halterung liegt, sind Sie dran. Sie und Amira beobachten ihn rund um die Uhr. Informieren Sie mich auf der Stelle, wenn sich irgendwelche Messwerte verändern oder etwas mit dem Meteoriten nicht zu stimmen scheint. Ich möchte keine unliebsamen Überraschungen mehr erleben.« »Geht in Ordnung.« »Das Labor ist bereit. Und wir haben oben im Tank eine Beobachtungsplattform gebaut. Sagen Sie’s mir, wenn Sie sonst noch was brauchen.« Der Zweite Offizier meldete: »Heftiger Blitzschlag, Entfernung fünfzehn Kilometer.« Einen Augenblick lang herrschte angespannte Stille, dann sagte Britton zu Glinn: »Machen Sie schneller.« »Das kann ich nicht«, murmelte Glinn geistesabwesend, wie tief in Gedanken versunken. »Sichtweite neunhundert Meter«, sagte der Zweite Offizier, »Windgeschwindigkeit vierzig Knoten, weiter zunehmend.« McFarlane schluckte schwer. Bisher war die Aktion mit der Präzision eines Uhrwerks gelaufen, er hatte gar nicht mehr mit der Möglichkeit irgendwelcher Komplikationen gerechnet.
Was mochte wohl in Glinn vorgehen, da unten in seinen dunklen Büroräumen? Wobei ihm plötzlich einfiel, dass er sein Sie-benhundertfünfzigtausend-Dollar-Honorar nach der ausweichenden Antwort, die er Glinn gegeben hatte, vermutlich abschreiben konnte. Merkwürdig, er trauerte dem Geld nicht mal nach. Dass sie den Meteoriten an Bord hatten, war das Einzige, was jetzt noch für ihn zählte, das versprochene Honorar war vergleichsweise unwichtig geworden. Abermals eine Serie von Explosionen, Bruchstücke der Verstrebungen schlugen auf dem Boden des Tanks auf. Dazu mischte sich das trockene Klicken, mit dem Steinsplitt gegen die Fenster der Brücke geschleudert wurde. Der Wind war so stark geworden, dass er Steinchen und Felssplitter von den Klippen zu ihnen herübertrieb. Der panteonero machte Ernst. »Noch sechzig Zentimeter, dann haben wir’s geschafft«, kam Garzas Stimme verzerrt aus Glinns Funkgerät. »Bleiben Sie dran und geben Sie ständig den Stand der Absenkung durch«, antwortete Glinn. Puppup kam gähnend auf die Brücke und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Sichtweite eintausendachthundert Meter«, meldete der Zweite. »Der Nebel lichtet sich rasch, das Kriegsschiff wird jeden Augenblick Sichtkontakt haben.« In der Ferne hörte McFarlane Donner grollen, der aber übertönt wurde, als die Rolvaag mit einem lauten, hohlen Knall zum zweiten Mal die Klippen berührte. »Tourenzahl Hauptmaschine erhöhen!«, rief Britton, während aus dem Tankraum abermals eine Detonation zu vernehmen war. »Noch fünfzig Zentimeter«, gab Garza durch. »Blitzschlag in sieben Kilometer Entfernung«, meldete der Zweite Offizier. »Sichtweite zweitausenddreihundert Meter.« »Blackout auf dem Deck«, ordnete Glinn an. Nahezu im selben Moment verloschen an Deck sämtliche Scheinwerfer, nur der Lichtschimmer von der Brücke warf noch einen gespenstischen Schein auf den nun fast ganz in der Tiefe des Tankraums verschwundenen Meteoriten. Ein Beben lief durch die Rolvaag, McFarlane hätte nicht sagen können, ob es noch von der Berührung mit den Klippen oder von der letzten Sprengung kam. Je mehr der Nebel sich lichtete, desto deutlicher sah man, wie aufgewühlt der Kanal inzwischen war. Weiße Gischtkronen tanzten auf und ab, bis der nächste Brecher sie verschluckte. Er, starrte wie gebannt auf die nächtliche See hinaus, jeden Moment darauf gefasst, die schlanke Silhouette des Zerstörers auftauchen zu sehen. Garza meldete über Funk: »Fünfzehn Zentimeter.« »Fertig machen zum Schließen der Luken«, ordnete Glinn an. Im Südwesten zuckte ein greller Blitz über den Himmel, beinahe unmittelbar gefolgt von gedämpftem Donnergrollen. »Sichtweite dreitausendsechshundert Meter. Blitzschlag in dreieinhalb Kilometer Entfernung.« Rachels Hand hielt McFarlanes Ellbogen umklammert. »Himmel noch mal, das ist verdammt nahe«, murmelte sie. Und plötzlich tauchte der Zerstörer auf, anfangs nur an den schwach flackernden, wie vom Sturm verwehten Lichtern auf der Steuerbordseite zu erkennen. Als der Nebelschleier sich weiter hob, sah man, dass er keine Fahrt machte. Aber er hatte, als wolle er sie einschüchtern, alle Lichter gesetzt. Wieder eine Explosion, wieder das Vibrieren, und dann gab Garza durch: »Wir haben ihn in der Halterung.« »Schotten schließen«, befahl Britton. »Mr. Howell, alle Haltetaue kappen. Kurs eins-drei-fünf setzen.« Ein Ruck ging durch das Schiff, als die Haltetaue abgesprengt wurden und gegen die Klippen schnellten. »Ruder exakt fünfzehn Grad«, meldete Howell, »Kurs eins-drei-fünf liegt an.«
AImirante Ramirez
3.55 Uhr
Gerade mal gut einen Kilometer entfernt ging Comandante Vallenar unruhig auf seiner Brücke auf und ab. Sie war unbeheizt, wie er es am liebsten hatte, und nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Er starrte durch die Fenster auf das Vorschiff des Zerstörers, das costillo. Der Nebel lichtete sich, war aber noch zu dicht, um etwas erkennen zu können. Ungeduld trieb ihn zur Radaranzeige, der Domäne des Oficial de guardia en la mar, wie die korrekte Bezeichnung des wachhabenden Brückenoffiziers lautete. Er beugte sich über dessen Schulter und suchte den Radarschirm ab. Die Umrisse des Ice Ship verrieten ihm nichts, was er nicht ohnehin schon gewusst hätte, und lösten keines seiner Rätsel. Warum war der Tanker immer noch vor der Felsküste vertäut? Bei dem Sturm, der sich da zusammenbraute, wurde das von Minute zu Minute gefährlicher. Konnte es sein, dass sie versuchten, den Meteoriten im Schutz der Dunkelheit auf das Schiff zu schaffen? Nein, ausgeschlossen. Er hatte ja, bevor der Nebel sich zugezogen hatte, selbst gesehen, dass sie im Zentrum der Insel noch alle Hände voll zu tun hatten. Sogar jetzt konnte er dort die Maschinen noch rattern hören. Und der undisziplinierte Funkverkehr war noch genauso lebhaft wie vorher. Dennoch, es wäre dumm gewesen, den Tanker bei diesem Wetter so dicht vor den Klippen festzumachen. Und dieser Glinn war mit Sicherheit kein Dummkopf. Was ging dort drüben also vor? Irgendwann hatte er die knatternden Rotorblätter eines Helikopters vernommen, der offenbar irgendwo in der Nähe gelandet und wenig später wieder abgeflogen war. Und er hatte auch Explosionen gehört, wesentlich schwächer als die von den Abbauarbeiten auf der Insel und vermutlich irgendwo in der Nähe der Klippen. Oder vielleicht sogar von dem Schiff? Hatte es womöglich an Bord einen Unfall oder eine technische Störung gegeben? Oder war es Timmer gelungen, sich eine Waffe zu beschaffen und einen Fluchtversuch zu wagen? Er löste den Blick von dem grünen Radarschirm des veralteten Geräts und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Vorhin war ihm gewesen, als habe er hinter den halb verwehten Nebelfetzen Lichter wahrgenommen. Inzwischen hatte der Nebel sich weiter gelichtet, es war also nur noch eine Frage der Zeit, bis sie Sichtkontakt hatten. Er kniff die Augen zusammen. Nein – die Lichter, falls es welche gegeben hatte, waren erloschen. Er spürte, wie der Wind sich gegen sein Schiff stemmte, er hörte ihn heulen und pfeifen. Er kannte dieses Geheul. Es war das Klagelied des panteonero. Vallenar hatte bereits mehrere immer drängendere und drohendere Aufforderungen ignoriert, zur Basis zurückzukehren. Er wusste nur zu gut, dass es die korrupten, bestechlichen Staatsdiener waren, die ihn zurückrufen wollten. Bei der Muttergottes, die Kerle würden ihm am Ende noch auf den Knien danken. Er spürte, wie das Schiff in der schweren See rollte. Er mochte es absolut nicht, wenn es so auf und ab schlingerte, wie ein Korkenzieher. Aber die Anker würden in der – in keiner Seekarte verzeichneten – Unterwasserfelsbank schon halten. Es war der beste, nein, der einzige Ankerplatz im Franklin-Kanal. Was ging dort drüben vor? Er dachte gar nicht daran, bis Mittag auf ihre Antwort wegen Timmer zu warten. Beim ersten Büchsenlicht würde er ihnen ein paar Zehn-Zentimeter-Granaten vor den Bug setzen und ihnen dann ein Ultimatum stellen: Liefert ihr Timmer aus oder wollt ihr alle sterben? Etwas Helles flackerte durch die rissig gewordene Nebelwand. Er drückte das Gesicht an die Scheibe und starrte zu dem Tanker hinüber. Da war es wieder: Lichter, kein Zweifel. Seine Augen bohrten sich in die Dunkelheit. Nebelschwaden und Graupelschauer verhängten ihm den Blick, aber ganz schwach nahm er sie einen Augenblick lang doch wahr – und dann wieder: eindeutig Lichter. Dann meinte er sogar die Umrisse des riesigen Tankers in der nicht mehr gar so undurchdringlichen Dunkelheit zu erkennen. Und ein Licht – ein einziges. Diese Mistkerle hatten ihr Schiff abgedunkelt. Warum? Was hatten sie zu verbergen? Er trat zurück an den Kommandostand, beugte sich über die Instrumente und versuchte, irgendeine Erkenntnis aus dem verwischten grünen Zerrbild des FLIR zu gewinnen. Seine Intuition sagte ihm, dass sich dort drüben etwas tat. Vielleicht war es an der Zeit, aktiv zu werden. Er wandte sich an den Ersten Bootsmann und befahl: »Geben Sie Gefechtsalarm.« Der Bootsmann beugte sich über das Mikrophon der Schiffssprechanlage. »Gefechtsalarm! Gefechtsalarm! Alle Mann auf Gefechtsstation!« Eine Sirene heulte auf. Sekunden später betrat der Jefe de la guardia en la mar, sein Feuerleitoffizier, die Brücke und salutierte. Vallenar schloss einen Stahlschrank auf und entnahm ihm ein Infrarotglas, ein noch aus der Sowjetzeit stammendes Modell. Er streifte sich die Froschaugen-Brille über und trat ans Fenster. Die russische Technologie war nicht so gut wie die der amerikanischen ITT-Geräte, aber dafür wesentlich billiger zu haben. Mit der Brille konnte er jetzt alles deutlicher erkennen. Gestalten huschten über das Deck des Tankers. Kein Zweifel, es wurden Vorbereitungen zum Ablegen getroffen. Nur, erstaunlicherweise schien der Schwerpunkt der Aktivitäten rund um die offenen Ladeluken auf dem Mitteldeck zu liegen. Aus dem Rumpf des Schiffes ragte etwas heraus. Er konnte sich allerdings keinen Reim darauf machen, was es war. Und plötzlich sah er den Lichtschein mehrerer kleiner Explosionen aus dem offenen Tank zucken. Verdammt – dieses altmodische Nachtsichtgerät hier hatte noch keinen automatischen Blendschutz, die grellen Lichtblitze verwandelten das Bild in gleißendes Weiß. Vallenar taumelte zurück, riss sich das Okular herunter und rieb sich fluchend die Augen. »Ziel aufnehmen, laden und sichern«, rief er dem Gefechtsoffizier zu. »Feuervorbehalt.« Der Offizier starrte ihn entgeistert an. Vallenar starrte – ungeachtet der Lichtblitze, die immer noch vor seinen Augen tanzten – scharf zurück. Der Offizier riss sich zusammen. »Aye-aye, Sir, Ziel aufnehmen, laden und sichern, Feuervorbehalt.« Vallenar drehte sich zu seinem Brückenoffizier um. »Fertig machen zum Ankerlichten.« »Aye, Sir, fertig machen zum Ankerlichten.« »Treibstoffvorrat?« »Fünfundfünfzig Prozent, Sir.« Vallenar schloss die Augen und wartete darauf, dass der Schmerz ein wenig nachließ. Dann fischte er eine Zigarre aus der Jackentasche und zündete sie umständlich an. Erst als sie schön gleichmäßig brannte, trat er wieder ans Fenster und starrte in die Dunkelheit. Über den Radarschirm gebeugt, meldete der Brückenoffizier: »Das amerikanische Schiff nimmt Fahrt auf.« Vallenar tat bedächtig einen langen Zug. Vielleicht waren sie ja nun zur Vernunft gekommen und suchten sich einen windgeschützten Liegeplatz weiter oben im Kanal, an dem sie den Sturm aussitzen wollten. »Der Tanker bewegt sich weg von den Klippen ...« Vallenar sagte nichts, er wartete. »... dreht jetzt bei. Neuer Kurs null-acht-fünf.« Das war der falsche Kurs, wenn sie das ruhige Wasser des Kanals erreichen wollten. Vallenar wartete beklommenen Herzens weiter ab. Geschlagene fünf Minuten vergingen. »Kurs unverändert null-acht-fünf. Geschwindigkeit jetzt annähernd vier Knoten.« »Weiter auf dem Radarschirm verfolgen«, murmelte Vallenar. Aus seiner Beklommenheit waren Befürchtungen geworden. »Ziel dreht weiter ab, Geschwindigkeit fünf Knoten, Kurs eins-eins-fünf... eins-zwo-null... eins-zwo-fünf...« Für einen Tanker ist diese Beschleunigung beachtlich, ging es Vallenar durch den Kopf. Aber egal, was sie aus ihren Maschinen herausholten, einem Zerstörer konnten sie nicht davonfahren, das war völlig unmöglich. Er drehte sich um. »Zielansprache: Schwachstellen am Bug, oberhalb der Wasserlinie. Ich will das Schiff manövrierunfähig machen, nicht versenken.« »Fünf Knoten, Kurs bei eins-drei-fünf stabilisiert.« Sie wollen aufs offene Meer, dachte Vallenar. Und damit gab es keinen Zweifel mehr: Timmer war tot. Casseo, der Feuerleitoffizier, räusperte sich und sagte mit belegter Stimme: »Mündungen unter Feuervorbehalt auf die befohlenen Ziele gerichtet, Sir.« Vallenar versuchte, Besonnenheit auszustrahlen, so wie er es seinen Männern schuldig war. Er durfte nichts von dem preisgeben, was in ihm vorging. Aber er musste sich endlich Klarheit verschaffen. Daran lag ihm mehr denn je, schließlich ging es – wie sagte man in solchen Fällen? – um ein Herzensanliegen. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und fuhr sich langsam mit der Zunge über die trockenen Lippen. Dann gab er sich einen Ruck: »Feuerbereitschaft herstellen.«
Rolvaag
3.55 Uhr
Glinn atmete tief ein und spürte, wie seine Lungen sich mit frischer Luft voll pumpten. Wie immer vor entscheidenden Augenblicken überkam ihn eine fast unnatürliche Ruhe. Der Bug des Schiffes war aufs offene Meer gerichtet, unter seinen Füßen hörte er die starken Maschinen röhren. Hinter ihnen, etwa zwanzig Grad neben dem Backbordmast, zeichnete sich der Zerstörer als heller Punkt im verwaschenen Grau ab. In fünf Minuten konnte alles erledigt sein. Aber wie immer hing Erfolg oder Misserfolg davon ab, dass sie den richtigen Zeitpunkt wählten. Er wandte sich suchend um. Puppup hatte sich in eine dunkle Ecke der Brücke verdrückt. Als Glinn ihm durch eine Kopfbewegung ein Zeichen gab, kam er zu ihm herüber. »Ja, Chef?« »Halten Sie sich bereit, dem Rudergänger zu assistieren. Möglicherweise müssen wir einige Male abrupt den Kurs ändern. Dann brauchen wir Sie und Ihre Erfahrung mit den Strömungen und der Unterwassertopographie.« »Der Unterwasser... was?« »Ihrem Wissen, wo es Riffs oder Untiefen gibt und wo wir genügend Wasser unter dem Kiel haben.« Puppup nickte mechanisch, doch dann schielte er mit schief gelegtem Kopf auf zu Glinn. »Chef, mein Kanu braucht höchstens zwanzig Zentimeter Wassertiefe. Ich hab mir um solche Dinge nie viel Sorgen machen müssen.« »Das ist mir klar. Aber mir ist auch klar, dass der Wasserspiegel hier bei Flut bis zu zehn Meter ansteigt. Und wir haben Höchststand, das Wasser wird also bald wieder fallen. Sie wissen, wo es Wracks und verborgene Felsbänke gibt. Also, halten Sie sich bereit.« »Ist geritzt, Chef.« Glinn sah dem kleinwüchsigen Mann nach, bis er sich wieder in seine dunkle Ecke verdrückt hatte, dann schielte er zu Britton hinüber, die mit Howell und dem Wachoffizier am Kommandopult stand. Sie war tatsächlich die tapfere, tüchtige Frau, die er von Anfang an in ihr gesehen hatte. Alles an ihr beeindruckte ihn, besonders die Art, wie beherrscht sie auf seinen rüden Eingriff in ihre Machtbefugnisse reagiert hatte. Dazu gehörten eiserne Selbstdisziplin und natürliche Würde, und sie hatte beides. Er fragte sich, ob ihr das angeboren oder das Ergebnis der bitteren Lehren war, die ihr die viel beschworene »Schule des Lebens« erteilt hatte. Vor kurzem war er in der Schiffsbibliothek zufällig auf ein Bändchen mit Gedichten von
W. H. Auden gestoßen. Eigentlich machte er sich nicht viel aus Poesie, er hatte sie immer für nutzloses Wortgeklingel gehalten. Aber dann hatte er in dem schmalen Band das Gedicht »Lobpreis des Kalksteins« gefunden, und das war eine Art Offenbarung für ihn gewesen. Er hatte nicht geahnt, welche Wortgewalt Dichtung entfalten und wie tief sie die Gefühle eines Menschen anrühren kann. Er nahm sich vor, Britton irgendwann darauf anzusprechen, schließlich hatte sie seinerzeit bei ihrer ersten Begegnung durch ihr Auden-Zitat erst den Anstoß zu seinem spontanen Entschluss gegeben, sich auf diese literarische Entdeckungsreise zu begeben. Das gedämpfte Geheul einer Alarmanlage riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Und da hörte er auch schon Britton sagen: »Der Zerstörer hat uns mit seinem Feuerleitradar erfasst. Mr. Howell, geben Sie Alarm. Alle Männer sollen sofort ihre Posten einnehmen.« Howell wiederholte den Befehl, überall auf dem Schiff heulten die Alarmsirenen. Glinn trat unauffällig neben seinen Mann an der Steuerkonsole und murmelte: »Ablenken.« Er spürte Brittons bohrenden Blick im Nacken. »Sein Feuer ablenken?« In ihrem erregten, mühsam beherrschten Ton schwang Sarkasmus mit. »Darf ich fragen womit?« »Mit dem Breitband-ECM-System an Ihrem Mast. Er hat offensichtlich vor, seine Schiffsgeschütze oder sogar eine Exocet auf uns abzufeuern. Aber mit Düppelstreifen und dem CIWS kommen wir denen schon bei.« »Denken Sie an eine Art Sperrfeuer auf kürzeste Distanz?«, fragte Howell. »Dafür sind wir nicht...« »Doch«, fiel ihm Glinn ins Wort, »dafür sind wir ausgerüstet. Unter den Backschotten.« Der EES-Techniker tippte einen Code ein, und Sekundenbruchteile später war am Bug ein lautes, trockenes Knacken zu hören. Glinn beobachtete, wie die abgesprengten Schotten nach oben geschleudert wurden und dann ins Meer stürzten. Fast zeitgleich schoben sich die kurzen Mündungen der mit Uranmunition bestückten Zwei-Zentimeter-Zwillings-Geschützen aus dem Rumpf – Waffen, die es immerhin auf eine Feuergeschwindigkeit von dreitausend Schuss pro Minute brachten. »Mein Gott«, hauchte Howell, »die sind doch ...« »Stimmt«, bestätigte Glinn trocken. »Das Pentagon stuft sie als geheim ein.« Er wandte sich an Britton. »Sobald wir Sperrfeuer schießen, empfehle ich, den Bug der Rolvaag hart steuerbord zu drehen.« »Ein Ausweichmanöver?«, fragte Howell. »Mit diesem Schiff? Wir brauchen drei Meilen, um es zu stoppen.« »Das weiß ich. Tun Sie’s trotzdem.« »Mr. Howell«, griff Britton ein, »Bug hart steuerbord.« Howell drehte sich zu dem Rudergänger um. »Ruder rechts hart steuerbord, Steuerbordmaschine volle Kraft zurück, Backbordmaschine weiter volle Kraft voraus.« Britton wandte sich an Glinns Techniker. »Bringen Sie sämtliche Gegenmaßnahmen zum Einsatz. Falls er eine Rakete abfeuert, brauchen wir Düppelstreifen und wahrscheinlich auch CIWS.« Einige Sekunden verstrichen, dann ging ein scharfer Ruck durch den Schiffsrumpf, die Rolvaag wurde langsamer und driftete zur Steuerbordseite ab. »Das geht nie und nimmer gut«, murmelte Howell. Glinn machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Er wusste, dass dieses taktische Manöver seine Wirkung nicht verfehlen würde. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall eines Versagens der elektronischen Gegenmaßnahmen war er absolut sicher, dass Vallenar hoch oben auf den Bug zielen würde, weil er so ein Höchstmaß an psychologischer Wirkung erreichen konnte, ohne das Schiff ernsthaft zu beschädigen. Er legte es bestimmt nicht darauf an, die Rolvaag zu versenken – zumindest jetzt noch nicht. Die Sekunden krochen quälend langsam dahin, bis nach etwa zwei Minuten an der Steuerbordseite des Zerstörers ein Feuerwerk aus grellen Lichtblitzen losbrach: die Schiffsgeschütze eröffneten das Feuer. Alle hielten den Atem an. Und dann hörten sie plötzlich weit vor dem Bug der Rolvaag eine Detonation, eine Wasserfontäne schoss in den Nachthimmel und zerstäubte im Wind. Das Schauspiel wiederholte sich an anderer Stelle und dann noch einmal, danach trat abrupt Stille ein. Glinn atmete tief durch, der Angriff war abgewehrt. Die Offiziere auf der Brücke tauschten blass betroffene Blicke. Glinn konnte es ihnen nachfühlen. Er wusste, dass es für jeden ein traumatisches Erlebnis ist, zum ersten Mal unter Beschuss zu liegen. »Drüben auf dem Zerstörer tut sich was«, meldete Howell, tief über den Radarschirm gebeugt. Ohne eine Miene zu verziehen, sagte Glinn leise: »Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf: seitlich ausmanövrieren, volle Kraft voraus, Kurs eins-acht-null.« Der Rudergänger reagierte nicht, stattdessen wandte er sich um, sah Captain Britton fragend an und gab zu bedenken. »Da verlassen wir die Fahrrinne und kommen mitten zwischen die Riffs. Es gibt dort nicht eingezeichnete Untiefen und ...« Glinn winkte Puppup zu sich heran. »Wir steuern die Riffseite des Kanals an.« »Alles klar, Chef.« Britton seufzte und wies den Rudergänger an: »Führen Sie die Anweisung aus.«
Der Bug des Tankers drehte ab. Gischt schäumte vor dem Schiff auf, weißer Schaum schwappte auf das Deck. Puppup starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. »Sie da – nehmen Sie den Bug ein Stück nach links.« »Tun Sie das, Mr. Howell«, sagte Britton knapp. »Ruder fünf Grad backbord«, gab Howell an den Rudergänger weiter, »Kurs stetig eins-sieben-fünf.« Ein paar Sekunden lang herrschte angespannte Stille, dann bestätigte der Rudergänger: »Aye, Sir, Kurs stetig eins-sieben-fünf.« Howell beugte sich über den Radarschirm. »Die nehmen schnell Fahrt auf. Machen jetzt zwölf Knoten, wir nur acht.« Er starrte Glinn finster an. »Und was, zum Teufel, fällt Ihnen jetzt ein? Haben Sie gedacht, wir können den Mistkerl abhängen? Das ist der reinste Irrsinn. In ein paar Minuten sitzt er uns so dicht auf der Pelle, dass er uns mit seinen Zehn-Zentimeter-Geschützen in Grund und Boden bohrt. Dann helfen alle Gegenmaßnahmen nichts mehr.« »Mr. Howell!«, sagte Britton scharf. Der Erste Offizier schwieg. Glinn sah seinen Mann am Computer fragend an. »Geladen?« Der Mann nickte. »Warten Sie auf mein Zeichen.« Glinn verfolgte durch das Fenster, wie der Zerstörer mit hoher Geschwindigkeit durch Wasser pflügte. Selbst ein betagtes Kriegsschiff wie die Almirante Ramirez brachte es noch auf vierunddreißig Knoten. Es war – zumindest in der Dunkelheit – ein faszinierender Anblick: das Glitzern der Lichter und das Spiel der Wellen, das sich an der Panzerung der Waffentürme widerspiegelte. Man meinte förmlich zu ahnen, wie der Zerstörer nur darauf lauerte, mit gebleckten Zähnen zuzuschnappen. Glinn wartete, er wollte Vallenar Zeit lassen, noch näher heranzukommen. »Aufs Heck halten – Feuer!« Es war ihm eine Genugtuung zu sehen, wie die Spur der Geschossgarbe dicht über der Wasserfläche das Meer riffelte und am Heck des Zerstörers plötzlich zwei Wassersäulen hochstiegen. Fast im selben Moment war der dumpfe Widerhall von Unterwasserdetonationen zu hören. Der Rumpf des Zerstörers schwang herum, das Schiff, längsseits der aufgewühlten See ausgesetzt, begann hilflos zu treiben. Mit zwei gebrochenen Schrauben war der Almirante Ramirez sicher bald ein schmähliches Ende an den Felsen beschieden. Nicht ohne Häme fragte sich Glinn, wie Comandante Vallenar seinen Admirälen wohl den Verlust des Schiffes erklären wollte – vorausgesetzt, er überlebte das Desaster. Dann brach auf dem Zerstörer die Hölle los, er feuerte aus allen Rohren. In den dumpfen Abschussknall der Zehn-Zentimeter-Geschütze mischte sich das frenetische hohe Pfeifen der Vier-Zentimeter-Schnellfeuerkanonen. Aber nachdem sie ihr Radar und die Steuerung verloren hatte, konnte die Almirante Ramirez nur noch in blinder Wut um sich schießen. Und die Rolvaag stahl sich mit gelöschten Lichtern auf neuem Kurs in die Dunkelheit davon. »Eine Spur mehr links, Chef«, murmelte Puppup, den Blick fest ins Dunkel gerichtet, dem Rudergänger zu. Britton ahnte, wie schwer es Howell fiel, das Gemurmel des alten Mannes ernst zu nehmen, und so entschloss sie sich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und wies den Rudergänger an: »Ruder fünf Grad steuerbord.« Der Yaghan kroch mit den Augen förmlich in die Dunkelheit hinein. Minuten reihten sich aneinander, bis er sich schließlich zu Glinn umwandte, sagte: »Chef, wir haben die Felsen hinter uns«, und ohne jedes weitere Wort wieder im Halbdunkel verschwand. Das Echo des Geschützdonners hallte von den Bergen und Gletschern wider, irrte eine Zeit lang hin und her und verhallte erst, als die Rolvaag ins offene Meer bog und Kurs auf die verschwommene Silhouette des Cabo de Hornos nahm, die sich in der Ferne abzeichnete. Glinn hörte neben sich Schritte, wandte sich um und sah Brittons Augen auf sich gerichtet – Augen, die ihm ein wenig bohrend vorkamen, aber trotzdem nichts von ihrem wunderschönen Glanz verloren hatten.
»Wie gedenken Sie zu erklären, dass ein chilenisches Kriegsschiff in den eigenen Hoheitsgewässern gesunken ist?« »Sie haben das Feuer eröffnet, wir haben in Notwehr gehandelt. Abgesehen davon haben unsere Geschosse nur ihre Schrauben beschädigt. Das Versenken besorgt der panteonero.« »Damit werden wir die Vorwürfe von Seiten der Chilenen kaum entkräften können. Wir dürfen von Glück sagen, wenn wir nicht den Rest unseres Lebens im Gefängnis verbringen.« »Bei allem Respekt, Captain, das sehe ich anders. Was wir getan haben, war legal. Alles. Wir hatten eine Schürflizenz erworben, der zufolge wir Erz abbauen durften. Und wir haben Erz abgebaut, selbst wenn es sich dabei zufällig um einen Meteoriten handelt. Der Wortlaut unseres Vertrags mit Chile schließt diese Möglichkeit nicht aus. Man hat uns von Anfang an Schwierigkeiten gemacht, uns zur Zahlung von Bestechungsgeldern genötigt und uns bedroht. Einer unserer Männer ist das Opfer eines feigen Mordes geworden. Und als wir es endlich geschafft hatten und ablegen wollten, hat ein Kriegsschiff der chilenischen Marine das Feuer auf uns eröffnet. Zugegeben, der Kommandant hat eigenmächtig gehandelt, aber es hat zu keiner Zeit eine Warnung von Seiten der chilenischen Regierung, einen offiziellen Kontakt oder irgendetwas dergleichen gegeben. Ich kann Ihnen versichern, dass wir nach unserer Rückkehr beim State Department geharnischten Protest wegen des unmöglichen Verhaltens der Chilenen einlegen werden.« Er machte eine kleine Pause, um dann mit einem kaum merklichen Lächeln um die Lippen hinzuzufügen: »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass unsere Regierung das anders sehen wird, oder?« Britton sah ihn stumm an, ein paar Sekunden lang. Aber weil es ein Blick aus diesen betörend schönen grünen Augen war, kamen die Sekunden Glinn wie eine Ewigkeit vor. Dann trat sie dicht an ihn heran und wisperte ihm ins Ohr: »Ist Ihnen eigentlich klar, dass so einer wie Sie in eine geschlossene Anstalt gehört?«
Seltsam, aber irgendwie konnte sich Glinn des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Unterton von Bewunderung darin mitschwang.
Rolvaag
4.00 Uhr
Palmer Lloyd saß mutterseelenallein in seinem Studio, den breiten Rücken der Tür zugekehrt, tief in den einzigen Ohrensessel gelümmelt. Das Telefon und den Laptop hatte er mit einem gezielten Schubs seiner handgearbeiteten englischen Schuhe in die äußerste Ecke des kleinen Tisches befördert. Vor der Fensterfront lag ein grünlicher, schwach phosphoreszierender Schimmer über dem aufgewühlten Meer, der einen bizarr geriffelten Lichtschein an die Wände des dunklen Raumes malte, was ihm irgendwie die Illusion vermittelte, an einem verwunschenen Ort auf dem Meeresgrund zu sein. Er starrte auf den schwachen Lichtschimmer. Reglos, so wie er die ganze Zeit über dagesessen hatte: während der Kanonade, der kurzen Verfolgungsjagd durch den Zerstörer, der Detonationen am Heck des chilenischen Schiffes und der stürmischen Umrundung des Kap Hoorn. Mit leisem Klicken gingen die Lichter im Studio an. Von einem Augenblick zum anderen verwandelte sich die sturmgepeitschte See vor den Fenstern in eine unförmige schwarze Masse. In seinem Privatbüro erwachten die Bildschirme der nebeneinander aufgereihten Fernsehapparate zum Leben, Dutzende erregter Gesichter redeten stumm aufeinander ein. Weiter hinten, im Großraumbüro, klingelte ein Telefon – dann ein anderes und gleich darauf wieder eins. Aber Palmer Lloyd rührte sich nicht. Er hätte selbst nicht in Worte fassen können, was er empfand. Während der unfreiwilligen Dämmerstunden waren es Verstimmung, Frustration, das Gefühl der Demütigung und natürlich auch ein bisschen störrische Selbstverleugnung gewesen. Glinn hatte ihn wie einen lästigen Bittsteller von der Brücke gewiesen, ihm den Strom abgedreht und ihn all seiner Machtmittel beraubt. Aber da war noch etwas anderes gewesen – etwas, das er nicht erklären, ja nicht einmal verstehen konnte: ein wachsendes Glücksgefühl, das alle anderen Empfindungen verdrängte. Er ahnte, was ihn so glücklich machte. Die Verladung des Meteoriten, die erfolgreiche Gegenattacke, durch die der chilenische Zerstörer manövrierunfähig geworden war – lauter meisterhaft inszenierte Schachzüge. In einem unerwarteten Anflug von Selbsterkenntnis gestand er sich ein, dass Glinn Recht daran getan hatte, ihn von der Brücke zu weisen. Er wäre mit seiner Art, sich wie ein Elefant im Porzellanladen aufzuführen, bei diesen sorgsam ausbalancierten Aktionen nur ein Störfaktor gewesen. Und nun war der Strom wieder eingeschaltet worden
– klarer hätte die Botschaft, die Glinn ihm übermitteln wollte, gar nicht sein können. Er dachte an all die Erfolge, auf die er zurückblicken konnte. Und erkannte, dass auch diese Mission ein Erfolg geworden war. Dank Eli Glinn. Aber wer hatte Glinn angeheuert? Wer hatte sich den richtigen Mann – den Einzigen, der in Frage kam – für diesen Job ausgesucht? Trotz allem, was geschehen war, gratulierte er sich im Nachhinein zu dieser Wahl. Es war eine gute Wahl gewesen, sie hatte zum Erfolg geführt. Der Meteorit lag sicher im Rumpf des Schiffes. Nachdem der Zerstörer schachmatt war, gab es nun nichts mehr, was sie aufhalten konnte. Nicht mehr lange, und sie befanden sich in internationalen Gewässern und nahmen Kurs auf New York. Natürlich würde es in den Staaten neben Jubel einen Aufschrei der Empörung geben. Aber das stand er durch. Solche Auseinandersetzungen bereiteten ihm sogar Vergnügen, vor allem, wenn er im Recht war. Das Glücksgefühl schwoll an, es schnürte ihm fast die Kehle zu. Er gab sich Mühe, ruhig und tief durchzuatmen. Und plötzlich klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Er ignorierte es. Dann klopfte es an der Tür, zweifellos Penfold, die Nervensäge. Er tat so, als habe er nichts gehört. Eine hoch aufsteigende Welle schleuderte einen Schwall Meerwasser, vermischt mit Regen und Graupel, gegen die Fensterscheiben. Und dann stemmte er sich endlich aus dem Sessel hoch, wischte sich ein paar Fussel von der Hose und drückte die Schultern durch. Nicht sofort, aber bald – sogar sehr bald – wurde es Zeit, sich wieder auf der Brücke blicken zu lassen und Glinn zu seinem – zu ihrem – Erfolg zu gratulieren.
AImirante Ramirez
4.10 Uhr
Comandante Vallenar starrte in die rabenschwarze Nacht am Kap. Das Schiff rollte so stark, dass er sich mir durch wiegende Gegenbewegungen auf den Beinen halten konnte. Er griff zum Telegraphen, der ihn mit dem Maschinenraum verband. Obwohl er eigentlich nur zu gut wusste, was passiert war ... und wer ihnen das eingebrockt hatte. Er unterdrückte seine Wut und bemühte sich, die Lage kühl zu beurteilen. Der Sech-zig-Knoten-panteonero in seinem Rücken gab dem bewegungsunfähigen Zerstörer eine Drift von zwei Knoten. Rechnete er die zwei Knoten Abdrift durch die Strömung ein, blieb noch etwa eine Stunde, bis sein Schiff auf die Riffs jenseits der Isla Deceit geworfen wurde. Er konnte seine Offiziere, die stumm hinter ihm standen, förmlich denken hören. Sie warteten auf den Befehl, das Schiff aufzugeben. Nun, da musste er sie enttäuschen. Er zwang sich zur Ruhe, nur sein Atem ging vielleicht etwas schneller. Aber davon war nichts zu merken, als er sich an den Deckoffizier wandte. »Schadensabschätzung, Señor Santander.« »Schwer zu sagen, Comandante. Beide Schrauben haben etwas abgekriegt. Das Ruder ist beschädigt, aber funktionsfähig. Schäden am Rumpf wurden nicht gemeldet. Aber das Schiff hat Antrieb und Steuerung verloren. Wir treiben manövrierunfähig in der Strömung, Sir.« »Schicken Sie zwei Taucher runter. Sie sollen das genaue Ausmaß der Schäden an den Schrauben feststellen.« Die Stille war zum Schneiden dick. Vallenar drehte sich um, sehr, sehr langsam. Sein Blick schien die versammelten Offiziere auszuloten. »Sir, jemanden bei dem Seegang über Bord zu schicken bedeutet für ihn den sicheren Tod«, gab der Decksoffizier zu bedenken. Vallenars Augen nagelten ihn fest. Santander war, im Gegensatz zu den anderen, noch relativ neu unter seinem Kommando, er hatte gerade mal sechs Monate hier unten hinter sich. Sechs Monate am Arsch der Welt. »Sie haben Recht. Das dürfen wir nicht riskieren. Schicken Sie eine Gruppe von sechs Mann hinunter. Auf die Weise bleibt mindestens einer übrig, der uns das Ausmaß der Schäden melden kann.« Santander starrte ihn entsetzt an. »Das ist ein Befehl. Wenn Sie sich widersetzen, teile ich Sie als Führer der Gruppe ein.« Der Deckoffizier schluckte. »Ja, Sir.« »Im vorderen Stauraum befindet sich auf der Steuerbordseite eine Lattenkiste, gekennzeichnet mit ›Vier-Zentimeter-Geschütze‹. Darin liegt eine Reserveschraube.« Vallenar hatte für viele Notfälle Vorsorge getroffen, auch für den Verlust einer Schraube. Die einzige Möglichkeit, den schlafmützigen, korrupten Versorgungsoffizieren in Punta Arenas zum Trotz das Schiff einsatzbereit zu halten. »Sobald Sie einen Überblick über das Ausmaß der Schäden haben, bauen Sie die benötigten Ersatzteile an der Reserveschraube ab. Wir werden in maximal sechzig Minuten bei den Untiefen der Isla Deceit sein. Wir werden das Schiff nicht aufgeben. Und auch keinen Notruf absetzen. Entweder sorgen Sie dafür, dass die Schrauben sich wieder drehen, oder das Schiff geht unter, mit Mann und Maus.« »Ja, Sir«, brachte der Deckoffizier mit belegter Stimme heraus. Die Blicke der anderen Offiziere verrieten nichts von dem, was in ihren Köpfen vorging. Aber Vallenar schenkte ihnen ohnehin keine Beachtung. Ihn interessierte nicht, was sie dachten, ihm kam es nur darauf an, dass sie gehorchten. Und momentan gehorchten sie noch.
Rolvaag
7.55 Uhr
Manuel Garza warf einen Blick von dem schmalen Laufsteg auf den großen roten Stein tief unter ihm. Von hier oben sah er ziemlich klein aus: ein bizarres Ei, in ein Nest aus Stahl und Holz gebettet. Das Netz, mit dem er gesichert war, war Garzas ganzer Stolz. Verdammt gute Arbeit – vielleicht das Beste, was er je in seinem Leben gemacht hatte. Wie schwierig es war, aus derart feinem Material ein reißfestes Netz zu knüpfen, konnte nur jemand vom Fach beurteilen. Gene Rochefort zum Beispiel – ja, er hätte das zu schätzen gewusst und seine sauertöpfische Miene vielleicht sogar zu einem Lächeln verzogen. Schade, dass er es nicht mehr sehen konnte. Der Schweißtrupp trottete hinter ihm her. Der schwere Schritt so vieler Gummistiefel brachte den Laufsteg in leichte Schlingerbewegungen. Mit den gelben Monturen, dicken Schutzhandschuhen und roten Helmen erinnerten die Männer an den sprichwörtlichen bunt zusammengewürfelten Haufen. Jeder hielt ein Schweißdia-gramm in der Hand, auf dem sein Verantwortungsbereich rot markiert war. Garza blieb stehen. »Okay, ihr wisst, was ihr zu tun habt. Wir müssen den Koloss gut sichern, und zwar bevor die See noch rauer wird.« Der Vorarbeiter tippte sich grinsend an den Helmrand. Er war, wie seine Männer, fast übermütig gut gelaunt. Kein Wunder, der Meteorit lag in der Halterung, der chilenische Zerstörer ließ sich nicht mehr blicken, und vor allem: Sie waren auf dem Weg nach Hause. »Und noch was: Seht zu, dass ihr das Ding nicht anfasst.« Die Männer lachten über Garzas guten Witz. Einige versuchten ihrerseits, vermeintlich witzige Bemerkungen anzubringen: die Vermutung, dass Timmer zur Zeit mit Lichtgeschwindigkeit durchs Weltall raste, und den Vorschlag, schon mal Grüße an die Lieben daheim zu schicken – in Tupperware-Dosen statt per Flaschenpost. Und so standen sie da, quatschten und lachten, und keiner bequemte sich, in den Aufzugskäfig zu steigen, der sie zum Boden des Tankraums bringen sollte. Da half alles nichts, Garza musste ihnen Beine machen. »Also los, Leute, bewegt euren Arsch.« Garza hatte eigentlich nicht vorgehabt, mit nach unten zu fahren, vom Laufsteg aus ließ sich die Arbeit viel besser überwachen. Aber irgendwie hatte er plötzlich das Gefühl, dass ihm das als Drückebergerei ausgelegt werden könnte, und so quetschte er sich im letzten Moment mit in den Käfig. »Kommen Sie mit in die Höhle des Löwen, Mr. Garza?«, flachste einer der Männer. »Muss ich ja wohl. Wer soll denn sonst aufpassen, dass ihr keinen Pfusch macht?« Sie fuhren nach unten, wo auf dem Boden des Tanks mehrere Eisenträger zu einer Art Bodenbelag zusammengefügt worden waren. Querstreben sorgten dafür, dass das Gewicht des Meteoriten einigermaßen gleichmäßig verteilt war. Die Männer suchten sich anhand der Markierung auf dem Schweißdiagramm ihren Arbeitsplatz, kletterten an den Verstrebungen entlang und verschwanden im Inneren des Lastenschlittens. Trotzdem dauerte es geraume Zeit, bis Garza den ersten Schweißbrenner zischen hörte. Irgendwie wollte hier unten, in unmittelbarer Nähe dieses rätselhaften glutroten Steins, niemand den Anfang machen. Aber schließlich hörte man überall das schrille Kreischen der Schweiß gerate, als der Brennstrahl sich in Metall fraß. Der aufsteigende grelle Funkenregen zeichnete huschende Schatten an die Wände des Zentraltanks. Garza ging den Arbeitsbereich ab, um sich zu vergewissern, dass alles nach Plan lief und niemand dem Meteoriten zu nahe kam. Von Zeit zu Zeit, wenn gerade mal einen Augenblick lang Stille herrschte, meinte er, irgendwo etwas tropfen oder plätschern zu hören. Auf der Suche nach einem potenziellen Leck fiel sein Blick auf die Bullaugen, die gut achtzehn Meter über ihm in den stählernen Schiffsrumpf eingelassen waren. Entlang den nach unten laufenden Längsstreben machte er tatsächlich eine Sickerspur aus, auch der Boden des Tankraums schimmerte feucht. Die Erklärung lag auf der Hand, er brauchte nur hinzuhören, wie die Unterströmung immer wieder mit dumpfer Wucht gegen den Rumpf der Rolvaag schlug. Nun gut, irgendwo drang bei jedem Schiff etwas Bilgenwasser ein, das war normal. Trotzdem lief ihm bei dem Gedanken, dass zwischen ihm und dem Grund des Ozeans nur drei dünne Metallschichten lagen, ein leichter Schauder über den Rücken. Er sah schnell weg, wodurch sein Blick wieder an dem Meteoriten hängen blieb. Obwohl er aus der Nähe wesentlich größer aussah, schien er sich doch im weiten Raum des Zentraltanks zu verlieren. Es war ihm immer noch ein Rätsel, wie so ein relativ kleines Objekt so viel wie fünf Eiffeltürme wiegen konnte. Das Faszinierendste an ihm war die mit Worten kaum zu beschreibende Farbe. Er hätte sich gewünscht, ein kleines Stück aus diesem märchenhaft roten Stein herausbrechen zu können – es hätte sich gut in einem Ring für seine Freundin gemacht. Aber er brauchte nur daran zu denken, wie mühsam sie vor ein paar Tagen, nach der Explosion im Tunnel, Timmers sterbliche Überreste zusammengesucht hatten, um die Idee mit dem Ring schnell zu vergessen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Fünfzehn Minuten waren vergangen. Somit blieben ihnen nach der Zeitkalkulation noch zehn. »Wie läuft’s bei euch?«, rief er dem Vorarbeiter des Schweißtrupps zu. Der formte aus den Händen einen Trichter. »Fast fertig«, brüllte er zurück. Das Echo irrte hohl im Tank hin und her. Garza spürte, dass das Schiff jetzt stärker schlingerte. Und als er schnupperte, stieg ihm der Geruch von überhitztem Stahl, Wolfram und Titan in die Nase. Schließlich war die Arbeit getan, die Schweißbrenner wurden abgestellt. Zwanzig Minuten, nicht schlecht. Garza nickte zufrieden. Das war eben typisch Rochefort. Ihm war es bei allen Konstruktionen stets darauf angekommen, dass sie einfach und möglichst störunanfällig waren. Da blieben solche nachträglichen Schweißarbeiten die Ausnahme. Er mochte als Pedant gegolten haben, aber er war ein hervorragender Ingenieur gewesen. Ein Jammer, dass er nicht mehr miterlebt hatte, wie der Meteorit in den Tank abgesenkt worden war – genau nach seinem Plan. Aber so war das eben, bei nahezu jedem Auftrag gab es Tote. Es war fast wie im Krieg: Wer für die EES arbeitete, tat gut daran, keine allzu engen Bindungen einzugehen. Mein Gott, jetzt schlingert das Schiff aber mächtig! Das muss eine gewaltige Welle sein, dachte er. Überall knirschte und knackte es, die Rolvaag schaukelte und bockte immer mehr. Garza griff nach dem Schutzgitter des Aufzugskäfigs, um nicht den Halt zu verlieren. »Festhalten, Leute!«, konnte er dem Trupp noch zurufen, dann wurde es Nacht. Als er zu sich kam, merkte er, dass er auf dem Rücken lag. Um ihn herum war es stockdunkel, Schmerzen wüteten in ihm. Was, zum Teufel, war passiert? Er hatte keine Ahnung, wie lange er so dalag. Vielleicht erst seit einer Minute, aber genauso gut konnte eine Stunde vergangen sein. Seine Gedanken rotierten. Es musste eine Explosion gegeben haben. Irgendwo im rabenschwarzen Dunkel schrie jemand. Es stank nach Ozon, heißem Metall und angesengtem Holz. Etwas Warmes, Klebriges rann ihm übers Gesicht. Der klopfende Schmerz kam in Wellen, genau im Rhythmus seines Herzschlags. Aber dann wurde er schwächer, verebbte, zog sich immer tiefer ins Dunkel zurück. Und das war gut so, denn nun konnte er endlich wieder einschlafen.
Rolvaag
8.00 Uhr
Palmer Lloyd hatte sich für seine Rückkehr auf die Brücke Zeit gelassen. Er wollte sich vorher innerlich stählen. Glinn sollte nicht denken, er hege insgeheim immer noch irgendwelche Ressentiments. Alle begegneten ihm ausgesprochen höflich und respektvoll. Was Lloyd ein wenig erstaunte, bis ihm klar wurde, dass allgemein eine neue Stimmung herrschte. Der Auftrag war so gut wie erledigt, alle hatten Zeit für ihn. Er war nicht mehr der lästige Störenfried, sondern Palmer Lloyd, Eigentümer des sensationellsten Meteoriten, der je geborgen worden war, Chef des Lloyd-Museums, Präsident der Lloyd Holdings und einer der sieben reichsten Männer der Welt. Über Brittons goldene Epauletten hinweg konnte er das Monitorbild sehen. Er kannte sich damit aus. Das Kreuz markierte die gegenwärtige Position ihres Schiffes, die Längsachse den geplanten weiteren Verlauf der Reise. Die Achse näherte sich immer mehr dem Kreuzungspunkt mit der geschwungenen, horizontal verlaufenden roten Linie, welche die Grenze der internationalen Gewässer markierte. Das kurze Flackern, das alle paar Sekunden über den Bildschirm lief, zeigte an, dass das Monitorbild anhand der neuesten Satellitendaten aktualisiert wurde. »Wie lange noch?«, fragte er. »Acht Minuten«, antwortete Britton. Ihre Stimme klang fest wie immer, die Ereignisse der letzten Stunden waren ihr nicht mehr anzumerken. Lloyd schielte zu Glinn hinüber, der, die Hände auf dem Rücken verschränkt, mit der für ihn typischen undurchdringlichen Miene neben Puppup stand. Lloyd glaubte allerdings einen Anflug blasierter Selbstgefälligkeit in seinem Gesicht auszumachen. Wozu er auch allen Grund hatte. Immerhin trennten ihn nur noch wenige Minuten von dem Augenblick, von dem an er für sich in Anspruch nehmen konnte, die wissenschaftliche und technische Großtat des Jahrhunderts vollbracht zu haben. Lloyd ließ den Blick weiter schweifen. Die Brückenwache: abgekämpft, aber stolz; die Männer warteten auf ihre Ablösung. Der Erste Offizier – nun, seine verdrossene Miene verriet nichts, aber das war ja bei Howell immer so. McFarlane und Amira standen stumm nebeneinander. Und eine Überraschung: Sogar Brambell, der gerissene alte Fuchs, hatte sich aus seinem Bau unter Deck auf die Brücke bemüht. Vermutlich wollte er, wie alle anderen, Augenzeuge des bevorstehenden großen Moments werden. Lloyd richtete sich auf, wartete, bis die Botschaft seiner Körpersprache alle erreicht hatte und die Blicke der anderen auf ihm ruhten, dann wandte er sich an Glinn: »Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch auszusprechen, Mr. Glinn.« Glinn deutete eine Verbeugung an. Die anderen schmunzelten und wechselten verstohlene Blicke. In diesem Moment ging die Tür zur Brücke auf, ein Steward rollte einen Servierwagen herein. Aus dem Eisbehälter ragte der Hals einer Champagnerflasche, daneben stand ein Rack mit einem Dutzend Kristallgläsern. Lloyd rieb sich vergnügt die Hände. »Eli, Sie alter Schwindler! Sie mögen ja manchmal ein wenig übervorsichtig sein, aber diesmal ist Ihnen das Timing perfekt gelungen.« Glinn grinste. »Ich gebe zu, ich habe versehentlich von einer Flasche gesprochen. Tatsächlich hatte ich eine Kiste mit an Bord genommen. Hier und heute müssen Sie trotzdem mit dieser Flasche vorlieb nehmen. Aber ich verspreche Ihnen, sobald wir in New York angelegt haben, werde ich die restlichen zehn persönlich für Sie entkorken.«
Lloyd schlenderte zum Servierwagen, nahm die Flasche aus dem Kühler und hielt sie strahlend hoch. »Lassen Sie die bloß nicht wieder fallen, Chef«, murmelte Puppup halblaut. Lloyd fragte bei Britton nach: »Wie lange noch?« Sie warf einen Blick auf den Monitor, dann auf Howell, und als der Erste Offizier bestätigend nickte, sagte sie in feierlichem Ton: »Die Rolvaag hat soeben internationale Gewässer erreicht.« Verhaltener Jubel, Lloyd ließ den Korken knallen und schickte sich an, die Gläser zu füllen. Er war fast fertig, als sich Puppup, in jeder Hand ein Glas, vor ihm aufbaute. »Wenn Sie mal so freundlich wären, Chef ... Eins für mich und eins für meinen Freund.« Lloyd füllte die beiden Gläser. Der Yaghan hatte bei dem Unternehmen keine große Rolle gespielt, sich aber dennoch als unverzichtbar erwiesen. In Gedanken merkte er sich vor, ihm nach der Rückkehr in die Staaten einen guten Job zu verschaffen, vielleicht sogar im Lloyd-Museum. Immerhin war er der letzte Yaghan-Indianer, da ließ sich bestimmt ein gewisser Showeffekt erzielen. Was natürlich Fingerspitzengefühl erforderte und nichts mit dem Jahrmarktsrummel zu tun haben durfte, mit dem man im neunzehnten Jahrhundert Eingeborene dem staunenden Publikum vorgeführt hatte. Aber ihm würde schon etwas einfallen ... »Und wer ist dieser Freund?«, fragte er Puppup. Puppups Grinsen floss in die Breite. Er machte eine Verbeugung, antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: »Hanuxa, Chef«, und nahm erst aus dem linken und dann aus dem rechten Glas einen tiefen Zug. Während Lloyd ihn noch verblüfft ansah, verschaffte sich Howell über das Stimmengemurmel hinweg Gehör: »Ich habe einen Schiff-Schiff-Kontakt. Entfernung dreißig Seemeilen, Kurs drei-eins-fünf konstant, Geschwindigkeit zwanzig Knoten.« Das Gemurmel verstummte. Lloyd verspürte ein seltsames Kribbeln in der Magengegend. Er suchte Glinns Blick und erschrak, weil er in den Augen des EES-Chefs noch nie so viel Verblüffung und Beunruhigung gelesen hatte. »Das muss ja wohl ein Frachter sein?«, fragte er. »Oder?« Ohne zu antworten, drehte sich Glinn zu seinem Operator am Computer um und flüsterte ihm etwas zu. »Es ist die Almirante Ramirez«, sagte Captain Britton mit belegter Stimme. »Was?«, platzte Lloyd heraus. »Wie wollen Sie denn das auf dem Radarschirm erkennen?« Britton sah ihn an. »Mit Sicherheit lässt sich so was nie sagen, aber Zeit und Ort sprechen dafür. Die meisten Schiffe wählen hier unten die Passage durch die Straße von Le Maire, besonders bei solchem Wetter. Aber dieses Schiff kommt mit voller Kraft direkt hinter uns her.« Lloyds Blick wanderte zurück zu Glinn und seinem Techniker am Computer. Die beiden berieten sich immer noch flüsternd. »Ich dachte, Sie hätten dem verdammten Kerl die Flügel gestutzt?«, fragte er. Glinn richtete sich auf. Lloyd stellte erleichtert fest, dass seine Miene wieder die alte Gelassenheit und Zuversicht ausstrahlte. »Unser Freund hat sich als unerwartet einfallsreich erwiesen.« Lloyd sah ihn verwundert an. »Comandante Vallenar hat es fertig gebracht, sein Schiff zu reparieren, zumindest notdürftig. Eine beachtliche Leistung, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Aber es wird ihm nichts nützen.« Britton führ herum. »Und wieso nicht?« »Werfen Sie einen Blick auf das Computerbild. In internationalen Gewässern wird er seine Verfolgungsjagd sicher nicht fortsetzen.« »Eine sehr gewagte Annahme, wenn Sie mich fragen. Der Mann ist verrückt. So einer bringt alles fertig.« »Sie irren sich. Was man dem Comandante auch nachsagt, er ist bis ins Mark Marineoffizier. Ein Mann von Ehre, stolz auf seine Loyalität und seine verschrobenen militärischen Ideale. Und genau darum wird er uns nicht über die rote Linie folgen.
Das könnte sein Land in eine peinliche Lage gegenüber den Staaten bringen, die den größten Anteil an der Wirtschafts- und Militärhilfe für Chile haben. Außerdem wird er sich hüten, sich mit seinem angeschlagenen Schiff so weit in einen immer stärker werdenden Sturm zu wagen.« »Und warum verfolgt er uns dann?« »Aus zwei Gründen. Erstens ist ihm unsere genaue Position unbekannt, so dass er immer noch hofft, uns vor Erreichen der internationalen Gewässer abzufangen. Zweitens: Unser Comandante liebt große Gesten. Er rennt hinter uns her wie ein Hund, der genau weiß, wie viel Spielraum ihm die Kette lässt und wann er aufgeben muss. Er wird uns bis zur Grenze der chilenischen Hoheitsgewässer verfolgen und dann kehrtmachen.« »Eine kühne Analyse. Aber trifft sie auch zu?« »Ja, sie trifft mit Sicherheit zu«, antwortete Glinn im Brustton der Überzeugung. Lloyd nickte. »Ich habe einmal den Fehler gemacht, Ihnen nicht zu glauben, ich bin geheilt. Wenn Sie behaupten, dass er abdrehen wird, dann tut er’s wohl auch.« Britton sagte nichts. Glinn ging zu ihr und fasste, während er leise auf sie einredete, mit fast intimer Vertraulichkeit ihre Hände. Lloyd bekam nicht mit, was geredet wurde, aber er bemerkte verdutzt, dass Britton rot wurde. »Ja, gut«, murmelte sie schließlich. Und in dem Moment hielt Puppup Lloyd wieder seine beiden Gläser hin. »Wär da wohl noch ’n Schlückchen drin? Für mich und meinen Freund – Sie wissen schon.« Ehe Lloyd antworten konnte, wurde der Tanker plötzlich von einer gewaltigen Explosion erschüttert. Das Schiff schien sich regelrecht aufzubäumen, so wurde es durchgerüttelt, das Licht auf der Brücke fing an zu flackern, auf allen Monitoren war nur noch grauer Schnee zu sehen. »Was, zum Teufel, war das?«, rief Glinn erschrocken. Niemand antwortete. Glinn war wieder zu seinem Operator geeilt und beriet sich flüsternd mit ihm. Aus dem Rumpf drang ein tiefer, vibrierender Ton herauf, fast wie gequältes Stöhnen, das sich kurz darauf wiederholte. Und dann war der Spuk auf einmal genauso schnell vorbei, wie er gekommen war, das Licht flackerte nicht mehr, die Monitore wurden wieder hell und klar. Britton wandte sich zu Lloyd um, um endlich seine Frage zu beantworten. »Was es war, wissen wir noch nicht.« Ihr Blick suchte die Instrumente am Kommandostand ab. »Offenbar irgendeine Fehlfunktion. Vielleicht eine Explosion, durch die sämtliche Systeme in Mitleidenschaft gezogen wurden. Mr. Howell, ich möchte umgehend eine genau Schadensfeststellung haben.« Howell griff zum Telefon und führte zwei, drei kurze Gespräche. Als er den Hörer auflegte, war sein Gesicht aschfahl. »Es kam aus dem Zentraltank – wo der Meteorit liegt. Dort hat sich ein schwerer Unfall ereignet.« »Was für eine Art Unfall?«, wollte Glinn wissen. »Anscheinend eine elektronische Entladung, die vermutlich von dem Meteoriten ausgegangen ist.« Glinn drehte sich zu McFarlane und Amira um. »Kümmern Sie sich darum. Finden Sie heraus, was passiert ist und warum. Und Sie, Dr. Brambell, sollten sich sofort...« Aber der Schiffsarzt hatte die Brücke bereits verlassen.
AImirante Ramirez
8.30 Uhr
Vallenar starrte ins Dunkel, als könne er durch seine bohrenden Blicke den Tanker zwingen, sich endlich zu zeigen. »Lagemeldung«, verlangte er mit zusammengebissenen Zähnen vom Brückenoffizier. »Sir, das ist wegen der elektronischen Störmaßnahmen schwer zu sagen. Ich schätze, das Ziel macht mit Kurs null-neun-null etwa sechzehn Knoten Fahrt.« »Entfernung? « »Die kann ich wirklich nicht genau bestimmen, Sir. Etwa um die dreißig Seemeilen, würde ich sagen. Wenn ihr ECM-System nicht vorhin ein paar Minuten lang ausgefallen wäre, würden wir völlig im Dunkeln tappen.« Vallenar spürte den rhythmischen Wellenschlag, der sein Schiff beutelte: ein ständiges Heben und Senken, das einem den Magen umdrehen konnte. So schlimm hatte er das bis jetzt nur in dem Sturm erlebt, in den er während einer Ausbildungsfahrt südlich von Diego Ramirez geraten war. Er wusste, warum das Schiff so durchgerüttelt wurde: Der Abstand der Wellenkämme wurde immer größer, er musste jetzt ungefähr die doppelte Länge des Zerstörers betragen. Er konnte die schwere See, die auf ihn zu rollte, durch das hintere Fenster sehen: lange, kraftvolle, von schäumender Gischt gekrönte Brecher, die sich irgendwo vor dem Bug in der Dunkelheit verloren. Von Zeit zu Zeit rauschte von achtern eine wahrhaft gigantische Welle heran, ein tigre. Dann bäumte sich das Meer turmhoch auf, riss dem Rudergänger das Ruder aus den Händen und drohte den Zerstörer unkontrolliert ausscheren zu lassen. Wenn sie nach Süden abdrehten und die schwere See von vorn nehmen mussten, würde alles noch schlimmer werden. Er griff in die Tasche, zog eine Zigarre heraus und betrachtete gedankenverloren das feucht gewordene Deckblatt. Er dachte an die beiden toten Taucher, deren starre Körper nun, in Segeltuch gewickelt, in den Staukästen auf dem Achterdeck ruhten, an ihre drei Kameraden, die nicht wieder aufgetaucht waren, und den vierten, der, völlig unterkühlt und zitternd, unter Deck in den letzten Zügen lag. Sie hatten ihre Pflicht getan, nicht mehr und nicht weniger. Hauptsache, das Schiff war wieder seetüchtig. Sie konnten mit den beschädigten Schrauben zwar nur zwanzig Knoten machen, aber das waren immer noch vier mehr als der Tanker. Und einen Vorteil hatte die lange Verfolgungsjagd: Während sie ostwärts jagten, auf die internationalen Gewässer zu, blieb ihm viel Zeit, sich eine Strategie auszudenken. Er warf einen verstohlenen Blick auf den Brückenoffizier. Unter den Männern hatte sich Angst breit gemacht – wegen des Sturms und weil er die Verfolgungsjagd nicht abbrach. Angst war immer gut, verängstigte Männer gaben sich mehr Mühe. Und Timmer war die Toten allemal wert. Er zündete umständlich die Zigarre an, bis sich die rote Glut in den nachtschwarzen Scheiben spiegelte. Bestimmt wussten sie inzwischen da vorn auf dem Tanker, dass er wieder hinter ihnen herjagte. Diesmal würde er vorsichtiger sein und nicht noch einmal auf ihre miesen Tricks hereinfallen. Ursprünglich hatte er es dabei belassen wollen, den Tanker nur manövrierunfähig zu schießen. Aber damit war es vorbei, schon lange. Denn inzwischen war klar, dass Timmer tot war. Damit war alles anders geworden. Nun kamen sie ihm nicht mehr so billig davon. Fünf Stunden, vielleicht auch weniger, und sie waren wieder in Reichweite seiner Zehn-Zentimeter-Geschütze. Und falls ihr ECM noch einmal ausfiel: Die Exocets waren auf Knopfdruck abschussbereit. Diesmal beging er bestimmt keinen Fehler.
Rolvaag
9.20 Uhr
Als McFarlane, dicht gefolgt von Amira, den Flur der Krankenabteilung hinunterrannte, wäre er um ein Haar mit Brambell zusammengestoßen. Es war ihm sofort klar, dass sie nicht mehr den verschrobenen, sarkastischen Brambell vor sich hatten, den sie von den abendlichen Dinners kannten. Der Mann, der aus dem Operationsraum kam, wirkte verbissen und gestresst, sogar seine Bewegungen hatten etwas ungewohnt Brüskes, Kantiges. »Wir sind hier, weil wir ...«, wollte McFarlane sagen, aber der Arzt ging, ohne sie überhaupt zu beachten, weiter den Flur hinunter und verschwand hinter einer Tür. McFarlane und Amira sahen sich groß an. Dann folgten sie Brambell und kamen in einen hell beleuchteten Raum. Der Arzt stand, über einen reglos daliegenden Patienten gebeugt, an einer Krankentrage. Vom Gesicht des Mannes war vor lauter Verbänden kaum etwas zu sehen, das Betttuch war mit Blut getränkt. Brambell zog ihm mit einer hastigen, zornigen Bewegung das Laken übers Gesicht. Dann wandte er sich stumm um und ging zum Waschbecken. McFarlane holte tief Luft. »Wir müssen mit Manuel Garza sprechen.« »Ausgeschlossen«, fertigte Brambell ihn barsch ab, streifte die grünen Chirurgenhandschuhe ab und tauchte die Hände ins heiße Wasser. »Doktor, wir müssen Garza fragen, was dort unten passiert ist. Die Sicherheit des Schiffes hängt davon ab.« Brambell hielt mitten in der Bewegung inne und sah McFarlane zum ersten Mal in die Augen. Sein Blick wirkte verzweifelt und müde. Es war, als wolle er sich hinter seiner Gesichtsmaske verkriechen. Aber McFarlane merkte ihm trotzdem an, dass er sich die Entscheidung nicht leicht machte. »Raum drei«, sagte er schließlich und streifte sich ein Paar frische Handschuhe über. »Fünf Minuten.« Garza lag hellwach in einem kleinen Krankenzimmer. Sein Gesicht sah zerschunden und geschwollen aus, sein Blick wirkte leer und stumpf, sein Schädel war dick mit Bandagen umwickelt. Als die Tür aufging, sah er sie kurz an, wandte sich aber sofort wieder ab. Den Blick auf das Bullauge gerichtet, fragte er flüsternd: »Sie sind alle tot, nicht wahr?« McFarlane zögerte. »Bis auf einen.« »Aber der wird auch sterben.« Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Amira drängte sich an McFarlane vorbei und legte Garza die Hand auf die Schulter. »Manuel, ich kann mir denken, wie bitter das für Sie ist, aber wir müssen genau wissen, was in dem Tankraum passiert ist.« Garza sah sie nicht an, er schürzte die Lippen, seine Augen huschten unruhig hin und her. »Was passiert ist? Was vermuten Sie denn, was passiert sein könnte? Der gottverdammte Meteorit hat wieder verrückt gespielt.« »Verrückt gespielt?«, wiederholte McFarlane. »Ja. Er ist explodiert. Wie bei diesem Timmer.« McFarlane und Amira sahen sich erschrocken an. »Wer von Ihren Männern hat den Meteoriten berührt?«, fragte Rachel. Garza drehte den Kopf und starrte sie an. Sie hätten nicht sagen können, ob es ungläubige Überraschung oder dumpfe Wut war, was sie in seinen weit aufgerissenen Augen lasen. »Niemand hat ihn berührt.« »Jemand muss es getan haben.« »Ich sage doch: niemand. Ich habe die Männer die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen.« »Manuel ...«, begann Amira. Weiter kam sie nicht, Garza stemmte sich zornig hoch. »Glauben Sie, meine Männer sind verrückt? Es hat ihnen überhaupt nicht gepasst, dass sie so nahe an dieses Monster ranmussten. Sie hatten eine Scheißangst davor. Ich sag’s noch mal, Rachel: niemand ist an den Meteoriten auch nur auf Armeslänge herangekommen.« Er verzog schmerzhaft das Gesicht und sank in die Laken zurück. McFarlane ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann drängte er: »Sie müssen uns genau schildern, was Sie gesehen haben. Erinnern Sie sich an den Augenblick, bevor es passiert ist? Können Sie uns etwas darüber sagen? Hat sich irgendetwas Ungewöhnliches ereignet?« »Nein. Die Männer waren mit der Arbeit fast fertig. Einige hatten die Schweißbrenner bereits abgestellt. Aber alle trugen noch die Schutzkleidung. Wir waren auf dem Sprung, zusammenzupacken und zu gehen. Dann hat das Schiff sich steil aufgebäumt. Es muss eine verdammt hohe Welle genommen haben.« »Ja, an die erinnere ich mich«, sagte Amira. »Sind Sie ganz sicher, dass niemand ... Ich meine, wenn jemand das Gleichgewicht verliert, streckt er vielleicht ungewollt die Hand aus und ...« »Sie glauben mir wohl nicht, wie?«, fiel ihr Garza ins Wort. »Dann lassen Sie’s eben bleiben. Ich weiß jedenfalls, dassniemand den Meteoriten berührt hat. Überprüfen Sie doch die Bänder der Überwachungskameras, wenn Sie mir nicht trauen.« »Ist Ihnen an dem Meteoriten etwas aufgefallen? Etwas, das anders war als sonst?«, wollte McFarlane wissen. »Irgendetwas Merkwürdiges?« Garza dachte einen Augenblick lang nach, dann schüttelte er den Kopf. McFarlane beugte sich weiter zu ihm hinunter. »Diese Welle, die das Schiff zum Aufbäumen gebracht hat ... Halten Sie es für denkbar, dass die heftige Schlingerbewegung die Explosion ausgelöst hat?« »Wieso denn? Der Meteorit ist die ganze Zeit bewegt, unsanft herumgestoßen und durchgeschüttelt worden, von der Ausgrabung bis in den Tankraum, und nie ist etwas passiert.« Amira und McFarlane wechselten stumm einen Blick – das unausgesprochene Eingeständnis, dass Garza Recht hatte. »Der Stein ist es«, murmelte Garza. McFarlane sah ihn verblüfft an, er war nicht sicher, ob er sich nicht verhört hätte. »Wie bitte?« »Ich sage, es ist der gottverdammte Meteorit«, brachte Garza wütend heraus. »Er will unseren Tod. Er will uns alle sterben sehen.« Und damit drehte er den Kopf zur Seite, starrte auf das Bullauge und ließ sich kein Wort mehr entlocken.
Rolvaag
10.00 Uhr
Ein unheilschwangeres Morgengrauen dämmerte hinter den Scheiben der Brücke heran, das erste Licht des neuen Tages enthüllte den Blick auf die sturmgepeitschte See. Unablässig rollten meterhohe Wellen von Westen auf sie zu. Noch sammelte der panteonero wohl Kräfte, doch der heulende Wind schien das Meer schon jetzt regelrecht zu pflügen. Er riss den Wellenbergen den weißen Schaum von den Kronen und trieb ihn wie Wolkenfetzen vor sich her. Das Schiff hob und senkte sich, schlingerte verzweifelt einem Todeskampf gleich. Glinn stand in seiner gewohnten Pose am Fenster, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und starrte auf die entfesselten Naturgewalten. Er fühlte sich von einer heiteren Gelassenheit getragen – ein Gefühl, das ihm seit Beginn der Expedition selten genug vergönnt gewesen war. Immer wieder hatte es böse Überraschungen und gefährliche Wendungen gegeben. Es war, als übe der Meteorit einen unheilvollen Zauber auf sie aus, sogar jetzt noch, hier auf dem Schiff. Howell hatte aus der Krankenstation schlechte Nachrichten mitgebracht: sechs Tote und Garza schwer verletzt. Und dennoch, die EES hatte obsiegt und eine der großartigsten technischen Leistungen seit Menschengedenken vollbracht. Er würde keine Sekunde zögern, ein solches Projekt noch einmal zu übernehmen. Er drehte sich um. Am Kommandostand drängte sich eine Gruppe Offiziere um Britton, den Blick auf den Radarschirm gerichtet, auf dem sie die Route des Zerstörers verfolgen konnten. Lloyd hatte sich hinter ihnen aufgebaut, wie ein Fels in der Brandung. Die vom grünlichen Schimmer des Radars beschienenen Gesichter sahen besorgt aus. Offensichtlich hatte seine Beurteilung, wie Vallenar sich verhalten würde, sie nicht überzeugt. Was er ihnen sogar nachfühlen konnte. Aber seine Fähigkeit, in kritischen Phasen die weitere Entwicklung vorauszusehen, hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Weil er Vallenar eben kannte. Er war auf der Almirante Ramirez gewesen, hatte den Löwen sozusagen in seiner Höhle aufgesucht und dabei ein Bild von der eisernen Disziplin, die auf dem Schiff herrschte, und von dem Comandante gewinnen können: von seiner Erfahrung als Marineoffizier, seinem anmaßenden Stolz und seiner hingebungsvollen Liebe zu seinem Land. So ein Mann setzte die Verfolgungsjagd bestimmt nicht über die Grenze der internationalen Gewässer hinaus fort, nie und nimmer. Nicht wegen eines Meteoriten. Er würde im letzten Moment beidrehen. Und damit war die Krise ausgestanden, sie konnten ungehindert nach Hause zurückfahren. »Captain«, fragte er, »welchen Kurs gedenken Sie einzuschlagen, um uns aus der Drake-Straße herauszuführen?« »Sobald die Ramirez abgedreht hat, werde ich Kurs drei-drei-null befehlen. Das bringt uns ins Lee der Südspitze Südamerikas und damit aus dem Sturm heraus.« Glinn nickte zustimmend. »Es wird bald so weit sein.« Britton sagte nichts, ihr Blick war wieder auf den Monitor gerichtet. Glinn schlenderte auf den Kommandostand zu und stellte sich neben Lloyd. Über Brittons Schulter konnte er die elektronische Karte auf dem Bildschirm sehen. Der grüne Punkt, der die Position des Zerstörers markierte, näherte sich rasch der Grenze der internationalen Gewässer. Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Irgendwie kam er sich vor wie jemand, der im Fernsehen ein Pferderennen verfolgt und als Einziger weiß, wie es ausgehen wird. »Gab es irgendwelche Funkkontakte mit der Ramirez?« »Nein«, sagte Britton, ohne sich umzudrehen. »Sie haben absolute Funkstille gewahrt. Sogar der eigenen Basis gegenüber. Banks hat einen Funkspruch des dortigen Kommandanten abgehört, in dem Vallenar aufgefordert wurde, sofort zurückzukehren. Das war vor Stunden.« Natürlich, dachte Glinn. Das entsprach genau dem Bild, das er sich von dem Mann gemacht hatte. Er nahm sich Zeit, Britton anzuschauen. Die Sommersprossen, die auf ihrer Nase tummelten, und ihre aufrechte Haltung – alles an ihr war unverwechselbar. Sollte sie noch Zweifel an seiner Urteilskraft hegen, dann nicht mehr lange, und sie würde einsehen, dass er Recht gehabt hatte. Er dachte daran, wie viel Courage sie bewiesen hatte, wie kühl und beherrscht sie in kritischen Augenblicken geblieben war und wie sie, selbst als ihr praktisch das Kommando entzogen worden war, nichts von ihrer natürlichen Würde verloren hatte. Er spürte, dass er dieser Frau blindlings vertrauen konnte. Vielleicht war sie die Frau, die er immer gesucht hatte: Aus alter Gewohnheit fing er gleich an, über die geeignete Strategie nachzudenken, mit der er sie gewinnen könnte. Er ließ im Geiste die Möglichkeiten Revue passieren, die Sackgassen, in die er sich verrennen konnte, und den Pfad, der am ehesten Erfolg versprach ... Er schielte auf den Radarschirm. Der grüne Punkt war nur noch wenige Minuten von der roten Grenzlinie entfernt. Nun verspürte er doch einen leichten Anflug von Nervosität. Was ihn ärgerte, weil es die Harmonie seiner inneren Heiterkeit störte. Nein, nein und nochmals nein – er hatte in seiner Analyse alle Faktoren berücksichtigt. Vallenar würde beidrehen. Er wandte sich ostentativ ab und ging zu dem nach achtern gelegenen Fenster. Der Anblick war Furcht einflößend. Die Wellen schwappten aufs Deck, rauschten wie eine grüne Sintflut auf die Brücke zu und flössen durch die Speigatts ins Meer zurück. Aber die Rolvaag hatte sich dem Rhythmus des Wellengangs angepasst und lag erstaunlich ruhig in der aufgewühlten See. Wozu wohl auch das schwere Gewicht im Zentraltank beitrug. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es musste jeden Moment so weit sein, gleich würde Britton ihnen mitteilen, dass die Almirante Ramirez abgedreht hatte.
»Der Zerstörer ändert den Kurs.« Britton wandte sich um und sah ihn verstohlen an. Glinn verkniff sich ein triumphierendes Lächeln. »Dreht nordwärts auf null-sechs-null.« Glinn wartete. »Kreuzt soeben die rote Linie«, fuhr Britton etwas leiser fort. »Kurs unverändert null-sechs-null.« Glinn stutzte. »Sein Ruder ist beschädigt, das wirkt sich wahrscheinlich auf die Navigation aus. Aber er hat eindeutig ein Wendemanöver eingeleitet.« Die Minuten verstrichen. Glinn hielt es nicht mehr aus, ging wieder nach vorn zum Kommandostand und starrte auf den Bildschirm. Der grüne Punkt bewegte sich weiter nach Ostnordost. Er jagte nicht mehr hinter ihnen her, aber man konnte auch nicht sagen, dass er abdrehte. Merkwürdig. In ihm fing etwas an zu nagen. Die ersten Zweifel, wie er sich eingestehen musste. »Er wird gleich abdrehen«, versuchte er sich murmelnd Mut zu machen. Die Stille auf der Brücke wurde unerträglich. Der Zerstörer folgte unbeirrt seinem Kurs. »Geschwindigkeit gleich bleibend«, meldete Howell. »Los, dreh schon ab!«, flüsterte Glinn beschwörend. Aber das chilenische Schiff drehte nicht ab, es korrigierte den Kurs lediglich leicht auf null-fünf-null. »Was, zum Teufel, hat er vor?«, explodierte Lloyd. Britton richtete sich auf und suchte Glinns Blick. Sie sagte nichts, aber das war auch nicht nötig. Glinn las ihr an den Augen ab, was sie dachte. Jetzt waren seine Zweifel keine spontane Regung mehr, sie kamen massiv. Noch wehrte er sich dagegen, suchte nach Erklärungen. Und plötzlich hatte er’s. »Natürlich. Er hat nicht nur Probleme mit dem Ruder, auch sein veraltetes Radarsystem wird durch unsere ECM gestört. Der Mann hat keine Ahnung, wo er genau ist.« Er gab seinem Operator einen Wink. »Schalten Sie die ECM ab. Unser Freund muss erst mal seinen Kurs finden.« Der Operator tippte einen Befehl ein.
»Er ist fünfundzwanzig Seemeilen entfernt«, sagte Howell. »Wir befinden uns innerhalb der Reichweite seiner Exocets.« »Ja, das ist mir klar«, knurrte Glinn unwillig. Einen Augenblick lang herrschte beklommene Stille. Dann sagte Howell: »Er hat uns auf seinem Ziel-Erfassungs-Radar. Misst unsere Entfernung und peilt unseren Kurs.« Zum ersten Mal seit seiner Zeit als Ranger verspürte Glinn eine quälende Ungewissheit. »Geben Sie ihm noch ein paar Minuten. Er wird gleich herausfinden, dass wir uns beide in internationalen Gewässern befinden.« Wieder verrann Minute um Minute. »Schalten Sie um Himmels willen die ECM wieder ein!«, rief Britton in scharfem Ton. »Noch einen Augenblick, bitte.« »Exocet abgefeuert«, meldete Howell. »CIWS aktivieren, auf Automatik schalten«, ordnete Britton an. »Abschuss der Düppelstreifen auf meinen Befehl.« Selbst die Zeit schien den Atem anzuhalten. Und dann ratterten plötzlich die Gatling-Kanonen los, als das computergesteuerte Erfassungssystem die anfliegende Exocet erfasst hatte. Fast unmittelbar darauf gab es auf der Steuerbordseite einen ohrenbetäubenden Knall. Ein Splitter knallte gegen eine der Scheiben und hinterließ ein feines Spinnwebenmuster. »Ich nehme weiter sein Radarsignal auf«, meldete Howell. »Mr. Glinn«, schrie Britton, »sagen Sie Ihrem Mann, er soll die ECM reaktivieren!« »Elektronische Abwehrmaßnahmen reaktivieren«, sagte Glinn mit fast tonloser Stimme. Er stützte sich auf die Konsole, als habe er einen Schwächeanfall, starrte ungläubig auf die elektronische Karte und rätselte, warum der grüne Punkt da war, wo der Schirm ihn zeigte. Dass Vallenar die Rakete abgefeuert hatte, entsprach seiner Erwartung, er hatte mit einer abschließenden martialischen Geste von Vallenar gerechnet. Aber nachdem der Chilene nun mit dem Säbel gerasselt und seiner Wut Luft gemacht hatte, würde er abdrehen. Bestimmt, es konnte gar nicht anders sein. Er musste es tun. Glinn wartete.
Er starrte auf den Bildschirm, als wolle er den Zerstörer durch seine bloße Willenskraft zwingen, das Wendemanöver einzuleiten. Aber der blinkende grüne Punkt blieb auf seinem Kurs. Er entsprach nicht exakt ihrem Kurs, führte das chilenische Schiff aber immer tiefer in internationale Gewässer. »Eli?« Glinn sah auf. Es war Lloyd. Seine Stimme klang ungewohnt ruhig. Glinn riss sich von seinen Gedanken und Spekulationen los und begegnete Lloyds versteinertem Blick. »Er wird nicht abdrehen, Eli«, sagte Lloyd. »Er wird über uns herfallen. Um uns den Todesstoß zu versetzen.«
Rolvaag
10.20 Uhr
Sally Britton gab sich einen Ruck. Sie versuchte, alles Nebensächliche beiseite zu schieben und sich ganz auf das zu konzentrieren, was unausweichlich auf sie zukam. Ein Blick auf Glinns fassungslose Miene genügte, um sie ihren Zorn vergessen zu lassen. Sie las in seinem Gesicht das Eingeständnis, dass er sich geirrt hatte. Warum, musste sie gar nicht wissen. Und plötzlich empfand sie Mitleid mit ihm, obwohl seine falsche Lagebeurteilung sie alle in große Gefahr gebracht hatte. Aber sie war sich im Klaren, dass auch sie vor nicht allzu langer Zeit eine Situation unverzeihlich falsch beurteilt hatte – auf einer Brücke, ähnlich der, auf der sie jetzt stand. Sie ging nach hinten, wo an der Rückwand eine große nautische Karte der Kap-Hoorn-Region hing. Während sie die Karte studierte und in Gedanken die Möglichkeiten durchging, die ihnen blieben, spürte sie, wie ihre innere Anspannung nachließ. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren. Sie merkte, dass Glinn dicht hinter ihr stand. Als sie sich umdrehte, stellte sie erleichtert fest, dass er nicht mehr ganz so blass aussah. Der Schock, der ihn nahezu gelähmt hatte, war überwunden. Ein Mann wie er gab sich eben nicht so schnell geschlagen, das hätte sie eigentlich wissen müssen. »Captain, darf ich Sie einen Augenblick stören?« Als sie nickte, trat er neben sie und zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Ich habe hier die detaillierten Angaben über die Almirante Ramirez. Die Daten entsprechen dem Stand von vor ungefähr drei Wochen.« Sie sah ihn an. »Woher haben Sie die?« »Von meinem Büro in New York.« »Dann lassen Sie mal hören.« »Es handelt sich um einen Zerstörer der Almirante-Klasse, gebaut von Vickers-Armstrong in Großbritannien für die chilenische Marine. Das Schiff wurde 1957 auf Kiel gelegt und 1960 ausgeliefert. Es hat eine Besatzung von 266 Mann, darunter 17 Offiziere. Die Wasserverdrängung ...« »Ich muss nicht bis ins letzte Detail wissen, wie viele Gänge zum Dinner serviert werden. Es genügt, wenn Sie mir etwas über die Bewaffnung sagen.« Glinns Augen überflogen das Papier. »Das Schiff wurde in den Siebzigern überholt, dabei wurden die Abschussvorrichtungenfür vier Überwasserraketen des Typs Aerospatiale 38 Exocet nachgerüstet. Sie haben eine Reichweite von fünfundzwanzig nautischen Meilen. Zum Glück für uns verwenden sie für die Zielerfassung ein Radargerät aus einer der ersten Baureihen, das unser hoch modernes ECM-System nicht ausschalten kann. Damit sind die Exocets für den Comandante nutzlos, selbst auf eine Entfernung, bei der Sichtkontakt gegeben ist.« »Und was hat er sonst noch?« »Vier Vickers Zehn-Zentimeter-Geschütze, zwei vorn, zwei hinten, die pro Minute vierzig Granaten mit einer Reichweite von zehn Seemeilen abfeuern können. Für die Zielerfassung werden normalerweise zwei radargestützte SRG-102-Feuerleitsysteme verwendet, auf kurze Distanz lässt sich das Ziel aber auch direkt anvisieren.« »Großer Gott«, stöhnte Britton, »vierzig Schuss pro Minute? Und das pro Geschütz?« »Außerdem sind sie mit vier Vier-Zentimeter-Bofors mit einer Reichweite von sechseinhalb nautischen Meilen ausgerüstet. Die Feuergeschwindigkeit beträgt dreihundert Schuss pro Minute.« Britton wurde bleich. »Damit können sie uns innerhalb von Minuten in die Knie zwingen. Wir dürfen sie nicht auf Schussentfernung an unser Ice Ship herankommen lassen.«
»Eine nicht radargestützte Zielerfassung dürfte bei dem Wetter schwierig sein. Aber Sie haben Recht, wenn sie aus allen Rohren mit ihrem schweren Kaliber auf uns feuern, halten wir das nicht lange durch. Daher bleibt uns nur eins: Wir müssen mehr Fahrt machen.« Britton zögerte. »Sie wissen, dass wir die Turbinen bei sechzehn Knoten schon am Limit beanspruchen.« Sie wandte sich an den Ersten Offizier. »Mr. Howell, können wir ein bisschen mehr aus den Maschinen herausholen?« »Nun, ein Knoten müsste noch drin sein.« »Sehr gut. Veranlassen Sie das Nötige.« »Hochfahren auf neunzig«, wies Howell den Rudergänger an. Britton spürte das dumpfe Rumpeln, mit dem die Maschinen reagierten, als die Leistung auf hundertneunzig Umdrehungen pro Minute erhöht wurde. Das brachte ihnen, wie sie rasch überschlägig berechnete, einen Vorsprung von etwa viereinhalb Stunden, bevor sie wieder in der Reichweite der Geschütze lagen. Sie wandte sich erneut der Seekarte zu. »Ich habe mir das genau angesehen. Unsere beste Option ist, Kurs Nordost zu nehmen, damit wir so schnell wie möglich in argentinische Hoheitsgewässer kommen. Argentinien befindet sich in erbitterter Dauerfehde mit Chile. Sie würden das Eindringen eines chilenischen Zerstörers auf keinen Fall hinnehmen. Das wäre eine Art kriegerischer Akt für sie.« Sie sah Glinn erwartungsvoll an, doch Glinn hielt sich bedeckt, sein Blick verriet nichts. »Als Alternative bietet sich an, Kurs auf den britischen Marinestützpunkt auf den Falkland-Inseln zu nehmen. Gleichzeitig sollten wir einen Funkspruch an unsere Regierung absetzen und melden, dass wir von einem chilenischen Kriegsschiff angegriffen werden. Dann wird Washington hoffentlich politischen Druck auf die chilenische Seite ausüben und ihren wild gewordenen Comandante zurückpfeifen.«
Glinn sah sie lange stumm an. Dann sagte er: »Mir ist inzwischen klar geworden, was Vallenar mit seiner leichten Kursänderung bezweckt hat.« »Und das wäre?« »Er hat uns den Weg abgeschnitten.« Britton warf rasch einen Blick auf die Karte. Die Ramirez war jetzt zwanzig Seemeilen nordwestlich von ihnen, auf einem konstanten Kurs, der sie in eine Position von dreihundert Grad zu ihnen brachte. Glinn hatte Recht. Verdammter Mist. »Wenn wir Kurs auf Argentinien oder die Falklands nehmen, werden wir etwa hier abgefangen.« Glinns Zeigefinger beschrieb einen kleinen Kreis auf der Karte. »Gut, dann nehmen wir eben Kurs nach Westen«, erklärte Britton. »Zurück nach Chile. So verrückt, uns im Hafen von Puerto Williams zu versenken, wird er bestimmt nicht sein.« »Das sehe ich auch so. Das Missliche an unserer Situation ist nur, dass er uns, selbst wenn wir sofort in Richtung Chile abdrehen, ungefähr hier abfangen wird.« Sein Finger beschrieb abermals einen kleinen Kreis auf der Karte. »Gut, dann laufen wir eben die britische Forschungsstation auf South Georgia Island an.« »Dann fängt er uns hier ab.« Britton starrte auf die Karte. Ein eiskalter Schauder lief ihr über den Rücken. »Sehen Sie, Sally ... darf ich Sally zu Ihnen sagen? Sehen Sie, bei seiner Kurskorrektur nach Nordost hat er bereits die Punkte berücksichtigt, an denen wir möglicherweise Zuflucht vor ihm suchen könnten. Wenn uns das früher klar geworden wäre und wir sofort reagiert hätten, wäre uns vielleicht ein Fluchtweg geblieben – zumindest der nach Argentinien. Aber jetzt ist uns selbst diese Route verwehrt.« Britton hatte das Gefühl, dass ihr ein zentnerschweres Gewicht den Atem abschnürte. »Die U.S. Navy ...« »Das hat mein Kontaktmann bereits geprüft. Eine effektive militärische Hilfe wäre frühestens in vierundzwanzig Stunden möglich.«
»Aber es gibt auf den Falklands eine britische Marinebasis. Die sind bis an die Zähne bewaffnet.« »Das haben wir ebenfalls erwogen. Chile war während des Falkland-Krieges mit Großbritannien verbündet. Wenn die Vereinigten Staaten Großbritannien um militärische Hilfe gegen seinen früheren Verbündeten und Schutz in der Marinebasis ersuchen würden ... nun, drücken wir’s mal so aus: Eine Reaktion darauf würde mehr Zeit erfordern, als wir haben, selbst wenn Lloyd und ich unsere Verbindungen spielen lassen. Der äußerste Südatlantik ist nämlich leider nicht gerade ein Ort, an dem man sich leichtfertig in einen militärischen Konflikt verwickeln lässt. Ich fürchte, wir sind auf uns gestellt.« Britton sah ihn groß an. Das Grau seiner Augen schien noch eine Spur dunkler geworden zu sein, es unterschied sich kaum von der Farbe des Ozeans, der sie alle umgab. Aber sie ahnte, dass es hinter dem Grau dieser Augen einen Plan gab. Sie wagte nur nicht, ihn danach zu fragen. »Wir nehmen Kurs nach Süden«, sagte Glinn schließlich ohne dramatische Betonung. »Auf das Eis zu.« Britton traute ihren Ohren nicht. »Nach Süden? Mitten in die ›Heulenden Sechziger‹? Ins Eis? Und das bei diesem Sturm? Das ist für mich keine Option.« Glinn sagte leise, mit belegter Stimme: »Sie haben Recht. Es ist keine Option. Es ist unsere einzige Möglichkeit.«
Almirante Ramirez
11.00 Uhr
Als der Morgen herangedämmert war, wusste Vallenar, dass seine Rechnung aufgegangen war. Der Wind hatte sich immer mehr nach Westen gedreht. Den Amerikanern war zu spät klar geworden, dass sie in der Falle saßen. Jetzt konnten sie nur noch nach Süden abdrehen, in die »Heulenden Sechziger«. Sie hatten bereits reagiert, ihr neuer Kurs war eins-acht-null. Und dort unten im Süden würde er sie abfangen. Der Schauplatz für den letzten Akt stand fest: jenseits der Eisgrenze
– dort, wo die schwarzen Wasser des antarktischen Ozeans gefroren. »Von jetzt an übernehme ich das Kommando auf dem Deck«, sagte er leise, aber sehr bestimmt. »Aye, Sir«, bestätigte der Oficial de guardia. »Setzen Sie Kurs eins-acht-null«, wies Vallenar ihn an. Bei diesem Kurs mussten sie die raue See direkt von vorn nehmen – die gefährlichste Position für den Zerstörer, was die Brückenoffiziere auch wussten: Vallenar wartete darauf, dass der Wachoffizier den Befehl wiederholte und an den Rudergänger weitergab. Doch es tat sich nichts. »Sir?« Aha, Santander, der Wachoffizier. Vallenar wandte sich ihm nicht zu, er ahnte auch so, worum es ging. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Wachoffizier und der Rudergänger ihn aufsässig anstarrten. Es war also so weit. Nun gut, besser jetzt als später. Er musterte Santander mit hochgezogenen Augenbrauen und fragte in scheinbar nachsichtigem Ton: »Haben Sie irgendwelche Probleme mit der Kommandostruktur auf der Brücke?« »Sir, die Offiziere der Almirante Ramirez möchten gern wissen, welchen Auftrag wir eigentlich haben.«
Vallenar hatte sich wieder abgewandt, er sagte nichts. Seine langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es kaum etwas gab, das Untergebene mehr einschüchterte als eisiges Schweigen. Nachdem eine geraume Weile verstrichen war, fragte er: »Ist es in der chilenischen Marine üblich, dass Offiziere Weisungen ihres Kommandanten hinterfragen?« »Nein, Sir.« Vallenar zog eine puro aus der Tasche, rollte sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, biss das obere Ende ab, schob sich die Zigarre in den Mund und kostete genüsslich den kalten Tabakgeschmack. »Warum tun Sie’s dann?«, fragte er in freundlichem Ton. »Sir, weil ... weil es sich offensichtlich um einen überaus ungewöhnlichen Auftrag handelt, Sir.« Vallenar nahm die Zigarre aus dem Mund und betrachtete sie eingehend. »Ungewöhnlich? Inwiefern?« Betretenes Schweigen. »Sir, wir glauben zu wissen, dass wir vergangene Nacht Order erhalten haben, zur Basis zurückzukehren. Von einem Befehl, ein amerikanisches Zivilschiff zu verfolgen, ist uns nichts bekannt.« Die eigentümliche Betonung des Wortes »Zivilschiff« war Vallenar nicht entgangen. Darin lag ein versteckter Tadel. Santander wollte offenbar zum Ausdruck bringen, dass er die Verfolgung eines unbewaffneten Schiffes für einen feigen, unehrenhaften Akt hielt. »Sagen Sie mir doch bitte, Señor Santander, ob Sie an Bord eines Schiffes Ihre Befehle von Ihrem Kommandanten oder von irgendeinem Stützpunktkommandanten erhalten, der weit weg auf dem Festland sitzt?« »Von meinem Kommandanten, Sir.« »Aha. Und wer ist Ihr Kommandant?« »Sie, Sir.« »Dann weiß ich nicht, was es noch zu diskutieren gibt.« Vallenar kramte eine Streichholzschachtel aus der Tasche, nahm ein Wachshölzchen heraus, riss es an und zündete sich sorgfältig seine Zigarre an.
»Sir, ich bitte um Entschuldigung, aber Ihre Erklärungen sind unbefriedigend. Mehrere unserer Männer haben bei der Reparatur der Schrauben ihr Leben verloren. Wir ersuchen Sie respektvoll, uns mitzuteilen, wie unser Auftrag lautet.« Das war der Moment, in dem Vallenar sich voll zu ihm umwandte. Er spürte, wie sich die Wut in ihm aufstaute – Wut auf die arroganten Amerikaner und besonders auf diesen Mann, der sich Glinn nannte und sich unter dem Vorwand eines Höflichkeitsbesuchs bei ihm eingeschlichen hatte, damit seine Taucher ungestört Sprengladungen an den Schrauben des Zerstörers anbringen konnten ... Wut über Timmers Tod ... Und jetzt auch noch Wut auf diesen unverschämten Frechling, der es wagte, seine Entscheidungen in Frage zu stellen. Er zog an der Zigarre, pumpte sich den Rauch in die Lungen und merkte, wie das Nikotin sein Blut in Wallung brachte. Als er sich wieder im Griff hatte, warf er das Streichholz weg und nahm die Zigarre aus dem Mund. Dieser Oficial de guardia war ein dummer Grünschnabel. Dass so einer die Frechheit besaß, ihn herauszufordern, überraschte ihn nicht. Er sah die anderen Offiziere der Reihe nach an. Wie erwartet, senkten sie alle rasch den Blick. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog Vallenar seine Pistole und drückte sie Santander an die Brust. Und als er den Mund auftat, um zu protestieren, drückte er ab. Die Wucht des Geschosses schleuderte den Wachoffizier gegen ein Schott. Er starrte ungläubig auf seine klaffende Brustwunde und den Blutstrahl, der im Rhythmus seines Herzschlags horizontal nach vorn schoss. Dann brach er auf die Knie, kippte mit aufgerissenem Mund nach vorn und verdrehte die weit aufgerissenen, aber schon glasigen Augen. Vallenar schob die Pistole ins Holster zurück. Das einzige Geräusch auf der Brücke waren Santanders röchelnde Atemzüge. Vallenars Blick suchte die Runde der anwesenden Offiziere ab. »Señor Aller, Sie übernehmen mit sofortiger Wirkung die Pflichten des Wachoffiziers – und Sie, Señor Lomas, die von Señor Aller. Der neue Kurs ist Ihnen bekannt, Ausführung.« Aller und Lomas verständigten sich rasch mit einem Blick, der neue Brückenoffizier gab die Order an den Rudergänger weiter, und der bestätigte: »Rechtes Ruder fest, auf Kurs eins-acht-null gehen.« Vallenar nahm die Hand von der Waffe. Schlag dem Aufruhr den Kopf ab, dann erstickt der Rest von allein. Das Schiff begann sich langsam breitseits zur See zu drehen, unterstützt von meterhohen Wellen, die es mit der Wucht jedes Aufpralls ein Stück weiter herumschoben. Als das Rollen und Schlingern immer schlimmer wurde, mussten die Männer auf der Brücke nach einem Haltetau greifen oder sich irgendwo abstützen, um sich auf den Beinen halten zu können. »Neuer Kurs liegt an«, meldete der Rudergänger mit brüchiger Stimme. »Eins-acht-null konstant.« »Verstanden«, bestätigte der Brückenoffizier. Comandante Vallenar beugte sich über den Trichter der Sprechanlage. »Radarwache – geschätzte Zeit, bis der amerikanische Tanker in Reichweite unserer Vickers gelangt?« Einen Augenblick später kam die Rückmeldung: »Beim gegenwärtigen Kurs und gleich bleibender Geschwindigkeit in drei Stunden und dreißig Minuten, Sir.« »Sehr gut.« Vallenar richtete sich auf und deutete mit dem Daumen auf den sterbenden Mann zu seinen Füßen. »Señor Sanchez, lassen Sie das entfernen und das Brückendeck anschließend gründlich reinigen.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit der tobenden See zu.
Rolvaag
11.30 Uhr
Glinn stand reglos in der Nähe des Ruders, dicht neben Britton. Auf ihrer Flucht über den sechzigsten Breitengrad in die »Heulenden Sechziger« hatte die Rolvaag sich ihren Weg quer zu den von stürmischem Westwind getriebenen haushohen Wellenbergen gebahnt. In der letzten Stunde, als der Sturm noch an Stärke gewonnen hatte, hätte man meinen können, das Schiff sei von einer Wasserwüste umschlossen, deren Konturen sich – wie Wanderdünen – ständig veränderten, so dass es unmöglich wurde, eine Trennungslinie zwischen Meer und Luft auszumachen. Sturm und See schienen all ihre Kräfte zu vereinen, um das Wasser zu Schaum und Gischt zu schlagen. Sooft der Tanker in ein tiefes Wellental geschleudert wurde, umhüllte ihn jäh gespenstische Stille, doch schon im nächsten Moment wurde er von einem der unablässig ostwärts rollenden Brecher hochgeworfen und war damit wieder dem heulenden Sturm preisgegeben. Glinn nahm den Sturm allerdings kaum wahr, er war mit seinen Gedanken weit weg. Warum hatte Vallenar bei dieser Verfolgungsjagd so viel aufs Spiel gesetzt – sein Schiff, seine Mannschaft, seine Karriere, die Ehre seines Landes, praktisch alles, sogar sein Leben? Er wusste doch, dass ihre Ladung nur aus einem Stück Felsgestein bestand. Gut, es war ein besonderer Felsen, ein Meteorit, aber letzten Endes eben doch nur Stein. Diese verbissene Hetzjagd machte keinen Sinn. Er gestand sich ein, dass er sich gründlich verrechnet hatte. Was ein unverzeihlicher Fehler war. Für den Bruchteil einer Sekunde lag ihm sogar das Wort »Versagen« auf der Zunge. Er ließ es sich zwischen Zunge und Gaumen zergehen, als wolle er den bitteren Geschmack kosten. Dann schluckte er es entschlossen herunter. Es durfte, es würde bei dieser Mission kein Versagen geben. Schuld war nicht Vallenars Computerprofil oder der dicke Aktenordner über ihn in New York. Schuld war allein er. Irgendetwas fehlte, irgendetwas Wichtiges. Und das, was diese Wissenslücke bedingte, musste irgendwo in seinem Gehirn verborgen sein und darauf warten, dass er es hervorkramte. Erst wenn ihm klar war, welches Motiv hinter Vallenars irrsinniger Hetzjagd steckte, konnte er über einen Plan nachdenken, um diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Wie weit würde Vallenar sie verfolgen? Über die Eisgrenze hinaus? Er schüttelte den Kopf, als wolle er die Antwort aus sich herausschütteln. Aber da kam nichts. Er schielte verstohlen zu Britton hinüber. Sie starrte auf den Radarschirm und den blinkenden grünen Punkt, der die Almirante Ramirez markierte. »Der Zerstörer folgt seit einer halben Stunde unserem Kurs. Eins-acht-null, genau hinter uns her«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Hält konstant zwanzig Knoten und verkürzt den Abstand immer mehr.« Glinn wusste nicht, was er sagen sollte. Es war unglaublich, dass Vallenar sein Schiff in eine derart stürmische See steuerte. Selbst die Rolvaag hatte es schwer, gegen die über zehn Meter hohen Wellen anzukämpfen, für den wesentlich schlankeren und kleineren Zerstörer musste diese Fahrt ein wahrer Höllenritt sein. Reinster Wahnsinn. Es war gut möglich, dass die Ramirez kenterte, diese Chance bestand durchaus. Nur, auf Annahmen ließ sich kein verlässlicher Plan gründen. Alles hing davon ab, wie viel seemännische Erfahrung Vallenar einbringen konnte. Und eine innere Ahnung sagte Glinn, dass es eine ganze Menge war. »Gleich bleibenden Kurs und gleich bleibende Geschwindigkeit vorausgesetzt, fängt er uns an der Eisgrenze ab«, fügte Britton hinzu. »Und in Reichweite seiner Geschütze geraten wir voraussichtlich schon früher.«
Glinn nickte. »In knapp über drei Stunden. Etwa mit Beginn der Dämmerung.« »Glauben Sie, dass er das Feuer tatsächlich eröffnet, wenn er nahe genug heran ist?« »Daran besteht für mich kein Zweifel.« »Wir können uns nicht wehren. Er wird uns regelrecht auseinander nehmen«, murmelte Britton. »Ich fürchte, da haben Sie Recht. Es sei denn, es gelingt uns, ihn in der Dunkelheit abzuschütteln.« Sie sah ihm in die Augen. »Was ist mit dem Meteoriten?« »Was soll mit ihm sein?« Sie sah sich scheu nach Lloyd um und senkte die Stimme. »Wenn wir ihn abwerfen, können wir mehr Fahrt machen.« Glinn schaute sie lang stumm an. Dann huschten seine Augen zu Lloyd hinüber, der mit gerunzelter Stirn – die Füße auf den Boden gestemmt, das breite Kreuz durchgedrückt – am Fenster der Brücke stand. Dank des Sturms hatte er nichts gehört. »Hören Sie«, sagte Glinn leise, jedes Wort mit Bedacht wählend, »für einen Notabwurf müssten wir das Schiff zunächst stoppen. Das dauert eine halbe Stunde – genau die Zeit, die er braucht, um uns endgültig abzufangen. Er würde uns versenken, ehe wir die Fallklappe überhaupt geöffnet haben.« Brittons Stimme war nur noch ein Hauch. »Dann fällt Ihnen also auch keine Lösung mehr ein?« Er sah ihr in die wunderschön klaren, grünen Augen. »Es gibt kein Problem, für das sich keine Lösung fände.« Es kostete sie Überwindung, aber schließlich rang Britton sich durch zu sagen: »Kurz bevor wir von der Insel abgelegt haben, da haben Sie mich gebeten, Ihnen zu vertrauen. Ich hoffe, ich kann es. Ich würde es jedenfalls sehr gern.« Glinn senkte den Blick. Ein paar Sekunden lang fühlte er sich von seinen Gefühlen überwältigt. Sein Blick fiel auf den Radarschirm, auf die gepunktete grüne Linie, welche die Eisgrenze markierte. Dann sah er Britton wieder in die Augen. »Sie können sich auf mich verlassen, Captain. Ich werde eine Lösung finden. Ich verspreche es Ihnen.« Sie nickte bedrückt. »Ich schätze Sie nicht so ein, dass Sie leichtfertig etwas versprechen, das Sie nicht einhalten können. Wissen Sie, Mr. Glinn ... Eli – es gibt nur eines, was ich mir noch vom Leben erhoffe: dass ich meine Tochter noch einmal sehe.« Glinn hatte schon eine Antwort auf der Zunge. Aber dann brachte er doch nur einen verblüfften Zischlaut heraus. Plötzlich war ihm alles klar, Brittons persönliches Bekenntnis hatte ihn auf die richtige Spur gebracht. Auf einmal ahnte er, was Vallenar umtrieb. Er drehte sich abrupt um und verließ wortlos die Brücke.
Rolvaag
12.30 Uhr