JUSTIN

Über ihren Köpfen türmen sich Wolken. Sie treiben aufeinander zu und schließen die blauen Lücken dazwischen, wie Hände, die langsam einen Schleier aus Grau über den Tag weben. Die Sonne sickert durch die dünneren Wolken und formlose Lichtsprengsel ziehen über den Canyonboden und die Wände.

Graham hustet abgehackt in seine Faust. »Was machen wir jetzt?«

Das ist keine Frage, die Justin sofort beantworten kann, deshalb konzentriert er sich stattdessen auf den Wald um ihn herum, wo alles verdächtig wirkt. Jeder Ast ist eine ausgestreckte Pranke. Jeder sich bewegende Schatten ist wie ein plötzliches, verstohlenes Abtauchen in ein Versteck. Er wünscht sich weg aus diesem Canyon und schaut dabei zum Himmel, doch seine Augen verharren eine Sekunde zu lang auf der Sonne, so dass er einen weißen Punkt sieht, als er wieder wegschaut, wie der letzte Rest eines Fernsehbildes, wenn man ausschaltet, weil man diese Sendung doch nicht sehen will.

Als sie ins Lager zurückkommen, ist es nicht mehr so, wie sie es verlassen haben. Die Kühlbox ist offen, der Inhalt im Lager verstreut. Die Klappstühle sind umgeworfen. Das Zelt ist eingestürzt, und die Hälfte von Justins Schlafsack lugt hervor wie eine herausgestreckte Zunge.

»Was zum Teufel«, flucht Justin, während adrenalingetränkte Panik in seinem Hinterkopf summt. »Ich meine, was zum Teufel, Dad?« Justin weiß, das klingt wie eine Zeile aus einem schlechten Buch, und er hätte lieber eine Zeile aus einem guten Buch, aber es gibt sonst nichts zu sagen. »Dad?«

Sein Vater hebt den Schlafsack an und riecht gedankenverloren dran. »Hm.«

»Was ist hm?«

»Hm, der Bär war das nicht.«

Justin wartet, dass er noch mehr sagt, und bald tut er es auch, als er durchs Lager geht und die Überreste mit dem Fuß anstubst. »Bären schrauben keine Gläser mit Erdnussbutter auf. Sie schälen nicht die Verpackung von Dörrfleisch. Bären trinken kein PBR-Bier, und ich auch nicht.« Er schaut in die Kühlbox und klappt dann den Deckel wieder zu. »Und Bären stehlen keinen Whiskey.«

Der Gedanke an Seth – wer sonst könnte es gewesen sein? – in ihrem Lager, wie er Bier trinkt und rücksichtslos in ihren Sachen stöbert, erscheint trivial im Vergleich zu dem, was bereits passiert ist. Er ist nur beiläufig wütend. Wenn Seth jetzt aus dem Wald kommen würde, könnte Justin ihn töten, ohne lange nachzudenken, ihn in den Fluss werfen und sich wieder umdrehen, bevor das Weißwasser ihn mit sich zieht. Er weiß, das entspricht absolut nicht seinem normalen Denken, aber dazu hat dieser Tag ihn gebracht. Er will Löcher in Bäume schlagen, mit Felsbrocken um sich werfen.

»Lass uns verschwinden«, schlägt Justin vor. »Können wir einfach verschwinden? Jetzt sofort?«

Sein Vater geht zu der Feuergrube, kauert sich davor und macht sich daran, ein frisches Feuer aufzuschichten. »Nicht ohne Boo, nein.«

»Wir fahren nach John Day und –«

»Nicht ohne Boo, nein!« Es kommt als Schrei aus seinem Mund. Ein irrer Blick schleicht sich in seine Augen, und Justin will sich nicht mit ihm streiten, deshalb hebt er nur die Hände und lässt sie wieder fallen, jede Suche nach einer Erklärung erscheint ihm sinnlos. »Jetzt essen wir etwas«, sagt sein Vater, nun wieder mit ruhiger Stimme, »und dann suchen wir ihn, wie du gesagt hast. Wie du gesagt hast, dass wir es machen sollten. Wir werden ihn finden. Und wenn wir unterwegs auf etwas anderes stoßen, töten wir es.«

Bald knistern die Flammen und Wildsteaks brutzeln in Butter, und Justins Hirn fühlt sich an, als wären die Wolken heruntergestürzt und hätten es gepackt.

Nachdem sie gegessen haben, schaut Justin seinen Vater an, aber sein Vater schaut in den Wald. Seine Hoffnung, dass sein Vater zur Besinnung kommen wird, schwindet, als er aufsteht und sich ein Stückchen vom Lager entfernt und sich sein Gewehr quer über die Schultern legt. So sieht er aus wie eine Vogelscheuche in einem abgeernteten Getreidefeld. Das Gewehr trägt das Gewicht seiner Arme, oder er trägt sein Gewicht.

Justin fischt sich eine Pepsi aus dem Steinkreis im Fluss und gibt sie Graham. Er nimmt sie wortlos und trinkt zuerst zögernd, dann aber in gierigen Schlucken, als würde er erst jetzt merken, wie durstig er ist. Justin gießt sich den Rest des Kaffees in einen Blechbecher und trinkt. Er ist grässlich bitter, aber er schluckt ihn wie eine Medizin, die etwas aus seinem Körper vertreiben soll.

Vögel zwitschern. Der Fluss macht ein zischendes Geräusch. Büsche schwanken im Wind. Die Schatten der Wolken ziehen dunkel über den Canyonboden. Menschen sind tot, aber nichts hat sich verändert. Nichts ist anders bis auf den Kloß in seiner Kehle. Der Friede, die Stille des Canyons wurden kaum gestört.

Ein Marienkäfer öffnet die Flügel, und er folgt ihm mit dem Blick, als er eine kurze Strecke fliegt und auf einem besprühten Fleck Gras landet und die Halme kostet. Das hingesprühte Symbol hat scharfe Kanten wie der Ellbogen eines großen Körpers, dessen Umriss mit Kreide auf einen Boden gezeichnet wurde.

Er versucht, sich an alles zu erinnern, was er über Bären weiß, und undeutlich kommt ihm eine Fernsehsendung in den Sinn, die er im Discovery Channel gesehen hat. Über Filmmaterial von Grizzlys, die Lachse aus Flüssen fischen, und Schwarzbären, die auf Wiesen kämpfen, erklärte eine kehlige britische Stimme, dass alle Bären ursprünglich von einer Kreatur abstammen, die etwa so groß war wie ein kleiner Hund. Die Schulterblätter dieses Bären wurden als Sicheln fürs Grasschneiden verwendet. Dass Eisbären heute etwa zweihundert Pfund weniger wiegen als vor fünfzehn Jahren, da ihre Futtergründe sich immer mehr verringern. Das sind Tatsachen. Tatsachen sind beherrschbar. Tatsachen sind etwas, das man begreifen und in die Bücherregale seines Hirns einordnen und einem Klassenzimmer voller Schüler beibringen kann. Tatsachen beruhigen ihn.

Sein Vater hört Justin sicher näherkommen, aber er dreht sich nicht um. »Also komm«, sagt Justin seinem Rücken. »Wir gehen zur Polizei, zum Forest Service, zu wem auch immer. Und dann kommen wir hierher zurück. Dann finden wir Boo.«

Sein Vater sagt nichts. Er ist in ein stures Schweigen verfallen, das nichts, was Justin sagt, aufbrechen kann. Deshalb legt Justin ihm die Hand auf die Schulter und schüttelt ihn. Sein Vater schnellt herum, rammt Justin den ausgestreckten linken Arm an die Brust und schlägt mit der Rechten nach ihm. Seine Knöchel streifen Justins Wange. Justin taumelt ein paar Schritte zurück, und sein Vater versucht, an ihm vorbeizutauchen. Ohne es zu merken, hat Justin die Faust geballt, und mit der holt er jetzt aus und stoppt seinen Vater mit einem Schlag ins Gesicht, der sie beide ein paar Schritte zurücktaumeln lässt. Heiße Nägel des Schmerzes bohren sich zwischen seine Knöchel und in die Handgelenke. Etwas Ähnliches spürt er in seiner Brust, wo die Empfindungen des Triumphs und der Scham sich auf stechende Art vermischen. Der schlaffe Gesichtsausdruck seines Vaters zeigt, dass er ähnlich verblüfft ist; er hebt sich die Hand an den Mund, aus dem bereits Blut quillt.

Dann richtet sein Vater sich auf und senkt leicht den Kopf, und seine Hände schießen vor, um Justin am Kopf zu packen. Sein Vater wirft ihn zu Boden, und sein Atem weicht keuchend aus ihm. Sofort stürzt sein Vater sich auf ihn und trifft ihn mit seiner rechten Geraden, gefolgt von kurzen Haken an die Wange. Justin spürt eine Explosion weißglühenden Schmerzes im Ohr. Glühwürmchen tanzen am Rand seines Blickfelds. Justin greift wild nach dem Bein seines Vaters und reißt ihn zu Boden, und dann liegen sie nebeneinander und bedecken sich gegenseitig mit einer Serie von Schlägen an den Hals, in den Bauch, ins Gesicht. Justins Muskeln verkrampfen sich unter der Gewalt der Fäuste seines Vaters. Als sein Vater ihm den Ellbogen in die Nase rammt, kocht ein plötzlicher Schmerz in und um seine Augen auf, und Tränen treten hervor. Justin jagt ihm sein Knie zwischen die Beine, und sein Vater stöhnt und versetzt Justin mit der flachen Hand einen Schlag gegen die Stirn, der ihn mit solcher Kraft wieder zu Boden wirft, dass Justin buchstäblich sein Hirn gegen den Schädel klatschen hört. Kurz wird ihm schwarz vor Augen, dann kehrt die Sicht wieder zu der Technicolor-Schärfe zurück, die das durch seinen Körper pulsierende Adrenalin mit sich bringt.

Graham verlässt seinen Platz am Feuer und kommt zu ihnen gelaufen. Die einzigen Geräusche sind ihr keuchender Atem, ein gelegentliches Ächzen, das Klatschen von Fäusten auf Fleisch. Auf diese Art kämpfen sie wie Brüder es tun sollten, damit ihre Mutter es nicht hört.

Als Justin noch ein Kind war, kämpfte sein Vater mit ihm, drückte ihm manchmal ein Knie an die Schläfe oder hakte ihm einen Finger in den Mund, bis Justin flehte: »Onkel.« Aber für diesen Kampf gibt es kein zufriedenstellendes Ende. Graham sagt: »Hör auf«, zuerst leise, dann lauter: »Hör auf, ihn zu schlagen. Du tust ihm weh!« Justin weiß nicht so recht, wen Graham meint, aber seine Stimme ist kräftig genug, um sie zu trennen. Auf diese Art gewinnt oder verliert keiner. Sie hören einfach auf – leer, irgendwie befriedigt – und kriechen keuchend und blutend voneinander weg.

Inmitten des Schmerzes ist da ein Gefühl der Leere. Als wäre ein großes Zimmer in Justins Innern, das früher vollgestellt war mit kantigen Möbeln, plötzlich leer geräumt worden – mit einem Gefühl der Erleichterung. Jetzt schauen sie einander mit grollendem Verständnis an, und dann Graham, der mit verschränkten Armen, die Hände an den Ellbogen, dasteht. »Hört einfach auf«, sagt er.

Justin drückt den Daumen an ein Nasenloch und bläst und eine dicke Blutschliere löst sich und fällt ihm auf den Oberschenkel. Er versucht, sie wegzuwischen, aber das Blut verschmiert sich auf dem Jeansstoff, so dass es aussieht, als hätte er auch dort eine Wunde. »Und?«, sagt Justin. »Sind wir jetzt zu einer Entscheidung gekommen?«

»Sag dus mir.« Sein Vater beugt sich vor, um auszuspucken, und wischt sich dann mit dem Unterarm den Mund.

»Du kennst die Antwort bereits.«

Sie gehen in die Richtung, in der Boo verschwunden ist, auf eine unbekannte Gefahr zu. Justin versucht, im Geiste ein Bild von Karen heraufzubeschwören, die Hände in der Taille, die Lippen in grimmiger Missbilligung gekräuselt – aber das Bild wabert an den Rändern und löst sich dann auf, als wäre ein Teil seines Hirns ausgestöpselt worden, der Teil, dem früher eine Verkaufsaktion bei Target wichtig war oder dass unter den Möbeln gesaugt wurde.

Die Gewehre über dem Kopf waten sie durch den South Fork, und Graham klammert sich an Justins Rücken. Im tiefsten Teil des Flusses, wo es am kältesten ist, reicht Justin das Wasser bis zum Bauch und droht, seinen Sohn mitzureißen. Justin sagt ihm, er solle sich ja gut festhalten. Seine Arme liegen um Justins Hals und schnüren ihn ein wie ein zu eng sitzender Rucksack. Jeder Schritt ist eine rutschende Ungewissheit. Unter Wasser tapsen seine Stiefel langsam und blind. Die Steine sind rutschig und uneben, und hin und wieder scheinen sie seine Stiefel zu umklammern wie Zähne, die nur loslassen, wenn Justin den Stiefel hochreißt und versucht, einen anderen Halt zu finden, obwohl die Strömung seinen Fuß flussabwärts reißt. Das Wasser drängt sich gegen seinen Körper, bildet einen weißen Kragen um seinen Bauch, und seine Kraft ist enorm, so dass er den Körper dagegenstemmen und das andere Ufer in diagonaler Richtung angehen muss. Nur ein ungeschickter Tritt auf einen mit Algen bewachsenen Stein, und sie werden zum Opfer des Flusses, werden von einer eisigen Sturzflut flussabwärts gerissen.

Die Fäuste seines Vaters haben einen Schmerz hinterlassen, der gegen seinen Schädel pocht, doch im Augenblick versucht Justin, ihn zu ignorieren. Er versucht, sich mit jeder Faser seines Hirns aufs Vorwärtskommen zu konzentrieren, einen sicheren Tritt zu finden und einen Schritt nach dem anderen zu machen. Sein Vater erreicht das andere Ufer einige Minuten vor ihm, und nutzt diese Zeit, um mit gerunzelter Stirn und konzentriertem Gesicht zwischen Justin und dem Wald hin und her zu schauen. Er ruft ihnen Ermutigungen zu, als sie sich dem Ufer nähern, das vermutet Justin zumindest, denn er sieht seine Lippen sich bewegen und die Arme winken, seine Worte allerdings werden übertönt vom Brausen der Stromschnellen und Grahams nervösem Keuchen in seinem Ohr.

Als sie dann drüben sind – als er einen Fuß aus dem Wasser zieht und auf das schlammige Ufer stellt –, versucht er sofort, Graham abzuschütteln, doch der scheint erst nicht loslassen zu wollen und so kippen sie beide beinahe um. »Runter«, sagt Justin zu ihm, nicht unfreundlich – und erst jetzt lässt der Junge ihn los. Justin atmet schwer und geht ein paar schwankende Schritte vom Schlamm auf eine Kiesbank, wo er eher zu Boden fällt als sich hinsetzt.

Trotz der Kälte des Wassers ist ihm am ganzen Körper heiß. Seine Lunge brennt. Zwei lange Feuerfinger kriechen seinen Rücken hoch und erinnern Justin an Grahams sperriges Gewicht. Vor allem seine Oberschenkel- und Wadenmuskeln fühlen sich warm und hölzern an, wie Scheite, die man in der Sonne hat liegen lassen. Er massiert sie kurz mit den Händen und hofft, dass er keinen Krampf bekommt. Ein Schatten fällt über ihn, er hebt den Kopf und sieht Graham ihn mit trauriger Miene anschauen, die Augen weit und feucht. »Tut mir leid.«

»Schon okay«, sagt Justin, noch immer schwer atmend. Die Gischt des Flusses hat seine Haare befeuchtet, er fährt mit den Fingern hindurch und schaut zu seinem Vater. Vor langer Zeit stürzte ein Baum aus dem Wald und jetzt liegt sein faulender Stamm quer auf dem Ufer. Sein Vater hat einen Fuß darauf gestützt und den anderen auf dem Boden, als sei er bereits unterwegs in den Wald und habe nur kurz innegehalten, um nachzusehen, ob sie ihm folgen. »Und?«, sagt er.

»Gib mir nur eine Minute.«

Er schaut auf seine Uhr und sagt: »Eine Minute.«

Justin starrt den Fluss an, dessen graues Wasser weiß aufschäumt, und denkt an seine unendliche Kraft, gegen die er sich so jämmerlich wehrte. In seinem Tosen hört er sonst kaum etwas, bis auf das entfernte Tock-tock eines Spechts, wie eine Uhr, die das Näherrücken einer gefahrvollen Begegnung verkündet.

Als seine Atmung sich endlich wieder beruhigt hat, ist sein Vater ohne ein Wort bereits in den Wald gegangen. Justin steht auf, um ihm zu folgen, und stützt sich zuerst auf Graham, um seine Beine zu schütteln und kreisende Bewegungen mit den Hüften zu machen, um insgesamt die Muskeln zu lockern. Seine Stiefel glucksen und die Jeans kleben unangenehm an ihm, und als er den Wald betritt, verschwindet das Licht, als hätte plötzlich Dämmerung eingesetzt. Überall sind Abdrücke zu sehen – als hätten alle Tiere des Waldes beschlossen, ausgerechnet hier das Graffiti ihrer Wanderungen in die Erde zu zeichnen –, vorwiegend die gegabelten Abdrücke von Hufen, vermischt mit den langen, dünnen und entfernt menschlichen Spuren von Waschbären und Opossums, und sie alle verschmelzen miteinander. Tief gebückt bahnen sie sich einen Weg durch das dichte Unterholz und versuchen, in dieser geisterhaften Prozession der Tiere das Muster einer Hundepfote zu entdecken. »Hier«, schreit Graham und winkt sie zu sich und deutet auf einen Abdruck wie eine schuppige Birne, aus der Dornen wachsen. Er befindet sich in einer Sandkuhle, umgeben von einer kahlen Fläche Lavagestein, deshalb brauchen sie einige Minuten, bis sie einen anderen Abdruck gefunden haben, und dann noch einen, eine ganze Reihe von ihnen, die schließlich die Richtung anzeigen, in die der Hund gelaufen ist. Die Spuren wandern durch den Wald, um Stümpfe herum und über Stämme und durch Hasenpinselgestrüpp, aber sie zeigen eindeutig in nördliche Richtung. Schließlich öffnet das Gestrüpp sich zu einem schmalen Wildwechsel, und die Spuren führen darauf weiter, im festgetretenen Boden jetzt allerdings weniger deutlich sichtbar.

Justins Vater geht an der Spitze und er selbst bildet den Abschluss, so dass Graham zwischen ihnen geschützt ist. Wortlos gehen sie weiter, studieren den Boden und den Wald. Vögel umflattern sie, kreischend und neugierig, ansonsten aber sehen sie kein lebendiges Wesen auf ihrem Marsch, einer langsam sich bewegenden Prozession aus müden Gelenken und angsterfüllten Herzen, die Boos Spuren folgt, so gut es eben geht.

Justins Blick wandert auf dem Pfad hin und her, wie man es tut, wenn man auf einer schmalen Straße fährt und sich sorgt, dass etwas herausspringen und die Fahrt behindern könnte. Er fühlt sich verlassen, verdammt. Er überlegt sich andere Wörter, die mit ver- beginnen.

Vergeben.

Verlieben.

Was bedeutet diese Vorsilbe überhaupt? Er weiß es nicht. An seinen Beispielen merkt er, dass man ihr nicht einmal eine eindeutig positive oder negative Bedeutung zuweisen kann. Er vermutet, dass es irgendetwas mit dem Verlauf einer Entwicklung zu tun hat. Als Lehrer sollte er solche Sachen eigentlich wissen. Es gibt immer mal wieder irgendeinen Klugscheißer in der Klasse, der ihn herausfordert und wartet, dass er einen Fehler macht, und auf so etwas sollte er vorbereitet sein.

Verfahren.

Verantwortung.

Beim letzten Beispiel trifft nicht einmal die Sache mit der Entwicklung zu.

Er hört ein plötzliches Dröhnen und zuckt zusammen, bevor er nach oben sieht. Dort zieht, in einem Stück blauen Himmels, ein Jet einen langen weißen Kondensstreifen hinter sich her. Er stellt sich vor, in dem Jet zu sitzen, zwischen anderen Passagieren, die Zeitschriften lesen und Brezeln aus kleinen Tütchen essen, alle unterwegs zu einem zivilisierten Ort, einem sicheren Ort, geschützt von Zäunen und von hellen Lichtern beleuchtet.

Einen Augenblick schließt er die Augen und es erscheint ihm beinahe möglich. Er ist fast dort. Dann öffnet er sie wieder und sieht den Wald um sich herum und spürt sein Leben nach unten taumeln wie in eine Höhle.

Sie klettern einen steilen Abhang hoch und betreten eine bewaldete Schlucht mit einem Bach in der Mitte. Es ist ein enger Durchgang – voller Schatten und Basaltauswüchsen und Krüppellärchen, die irgendwie mit tastenden Wurzeln durch den Stein wachsen – und als sie ihn verlassen und eine breitere Senke vor sich sehen, betreten sie sie mit der Erleichterung eines tiefen Atemzugs und eines gelockerten Gürtels.

Nach einigen Schritten finden sie einen Kothaufen wie eine schlammige Perücke, verziert mit einem Diadem aus Beeren. Als Justin ihm ausweicht, fühlt der Boden unter ihm sich plötzlich instabil an, als könnte er aufbrechen und ihn bis zu den Knien verschlingen. Er geht vorsichtig, wie wenn man den Fuß auf den Rand eines gefrorenen Sees setzt, nur langsam den Druck vergrößert und die Risse beobachtet, die um einen herum auftauchen wie plötzliche schwarze Rinnsale. Unter dem Eis wartet der lähmende Griff der Angst. Als er an die erste Leiche und ihre geschwärzten Knochen denkt – als er an den Kreis denkt, der wie eine Zielscheibe um ihr Zelt getrampelt war – als er an die Sicherheit seines Sohns denkt –, verbreitern sich die Risse.

Sein Vater geht vor Justin und bleibt jetzt stehen, senkt den Kopf und sucht den Boden ab. »Seht ihr das?« Er kauert sich hin, als er sie das fragt. Justin und Graham kauern sich neben ihn und folgen seinem ausgestreckten Arm, der auf den Verlauf der Spur zeigt. »Erst rennt er mit gutem Tempo und dann …«

Er braucht nicht mehr zu sagen. Die Erde erzählt die Geschichte, sie ist hier noch morastig vom Regen der vergangenen Nacht und so leicht zu lesen wie eine bedruckte Seite. Der Bär. Justin sieht, wo die Ballen einander berühren und die Zehen sich dicht beieinander und fast in gerader Linie eindrücken. Weit vor den Zehen graben die Klauen sich in den Boden, so dass sie beinahe aussehen wie etwas vom Hauptabdruck Getrenntes, der so groß ist wie ein Fängerhandschuh im Baseball.

Sein Vater legt seine Hand auf den Abdruck, und zum ersten Mal in Justins Leben erscheint sie ihm klein. Ein Zucken huscht über das Gesicht seines Vaters und eine leichte Rötung folgt ihm. Er zieht die Hand vom Abdruck weg und hebt sie sich vor die Augen. Dann kneift er sich den Nasenrücken, wie um einen versteckten Schmerz zu vertreiben.

»Keine Grizzlys in Oregon«, murmelt er.

»Wenn du das noch oft genug sagst, wird’s vielleicht wahr.« Justin spürt, wie sein Herz sich weitet und das Blut es schneller durchfließt. Er bildet sich ein, den Nachhall eines Jaulens noch in der Luft zu hören. Er schaut den Pfad hoch und versucht, sich die riesige Gestalt des Bären vorzustellen, wie er durch den schmalen Korridor der Bäume tapst, mit Boo zwischen den Zähnen, zappelnd wie ein Lachs aus dem Fluss.

Als es sehr nahe bei ihnen zwischen den Bäumen kracht, heben Justin und sein Vater gleichzeitig ihre Gewehre. Justins panische Gedanken flattern in seinem Schädel wie in einem Dachboden gefangene Eulen. Aber aus dem Dämmer kommt nichts als ein Maultierhirsch, ein Sechsender, ein großes, wunderschönes Tier, das zwischen den Kiefern hindurch und über umgestürzte Stämme schreitet und auf den Pfad tritt, wo er stehen bleibt und sie beobachtet, mit leise wedelndem Schwanz, kaum drei Meter entfernt, so nahe, dass Justin seinen Duft riechen kann. Sein Geweih ist ein großer, wirr geflochtener Korb.

Justin hat seine Erleichterung noch nicht verarbeitet. Die Luft ist erstaunlich still, als er an seinem Gewehr entlangstarrt. Es ist kalt in seiner Hand. Er überlegt kurz zu schießen – wegen der Trophäe, aber auch wegen der Erleichterung, der Explosion –, aber er tut es nicht. Er bringt es nicht übers Herz, und offensichtlich auch nicht sein Vater, der seufzt – als wollte er sagen, was soll’s – und sein Gewehr senkt, und diese Bewegung schreckt den Hirsch auf. Er läuft den Pfad hoch und verschwindet um eine Biegung.

In diesem Augenblick entdeckt sein Vater das Halsband. Er geht zwanzig Schritte vorwärts und erstarrt dann. Er kauert sich hin und legt sein Gewehr weg und hebt etwas vom Boden auf. Ein Klimpern ist zu hören, wie von einer winzigen Glocke. In der Hand hält er ein Nylonhalsband. Boos. Zerrissen zu einem langen roten Streifen. Das Klimpern kommt von der Schnalle, die sich im Wind bewegt. Sein Vater hält es Justin hin, nicht damit er es nimmt, sondern damit er es anschaut. Lange Zeit starren sie das Halsband an. Es ist zerfetzt und sein normales Rot ist dunkler gerötet vom Blut, das auf die Hände seines Vaters abfärbt.

Nach einem langen, schweren Schweigen richtet er den Blick auf Justin, ohne ihn anzusehen, er sieht durch ihn hindurch. Seine Augen sind rot und feucht, vom Rauch oder vor Traurigkeit. Justin bemerkt einen kleinen weißen Fleck auf seinem Bart, der aussieht wie ein winziges Ei in einem Nest. »Mein Hund.« Seine Stimme ist belegt und wässerig. Er dreht und drückt das Halsband, als wollte er das Blut auswringen. Sein Gesicht überzieht sich mit Kummerfalten und eine Ader schlängelt sich über seine Stirn. Eine ganze Minute vergeht, bevor er sein Gewehr wieder aufhebt, den Finger um den Abzug legt und mit jetzt wilder, schneller Stimme sagt: »Ich werde …«

Aber er weiß nicht, was er tun wird.

Durch einen Nebel aus Schock und Wut und Angst und Verwirrung schaut er Justin an und fragt schließlich: »Was jetzt, Justin? Was tun wir jetzt?« Er spricht langsam, jede Silbe beansprucht Zeit und Raum.

Bis zu diesem Punkt ist Justin sich auf diesem Wildwechsel klein und verletzlich vorgekommen, nur ein Stück Fleisch zwischen den schattigen Bäumen. Jetzt wird dieses Gefühl noch schlimmer. Sein Vater, der immer weiß, was zu tun ist, weiß nicht, was zu tun ist. Sein Sohn soll jetzt das Denken für ihn übernehmen, und Justin muss sich eingestehen, dass er eine gewisse Lähmung spürt, während er sich ausrechnet, wie viele Meilen sie noch gehen können, bevor die Sonne vom Himmel sinkt.

»Du willst es nicht sagen«, sagt sein Vater, »aber du denkst es.«

Ein angespanntes Schweigen folgt diesem Satz, durchbrochen von einem Ast, der irgendwo in einiger Entfernung knackt. Sie beide zucken zusammen.

Als sein Vater schließlich wieder den Mund öffnet, klingt es wie eine Erwiderung. »Du denkst, dass wir sterben werden.« Er lächelt freudlos. »Das denkst du doch, oder?« Er lacht barsch auf.

Justin schaut zuerst Graham an – der einige Schritte entfernt steht, mit fest zusammengekniffenen Augen, scheinbar taub für ihre Unterhaltung – und dann das Halsband. In seinem blutdurchtränkten Gewebe meint er den öligen Schein der Unwirklichkeit zu sehen, der schimmert wie der Spiegel schimmert, kurz bevor Alice hindurchtritt. Nichts scheint möglich und alles scheint möglich. Leben scheint möglich. Der Tod auch.

Justin sagt: »Vielleicht bist du derjenige, der –«

»Du täuschst dich, wenn du das denkst!« Er lacht wie jemand, der nie Gefühle zeigt, explosiv und zynisch, und Justin weiß deshalb, dass es von ganz tief drinnen kommt. Das Lachen geht weiter und weiter, bis es in einem Schluchzen endet.

Justin hat ihn bei Beerdigungen gesehen, hat ihn nach einem Sturz von einem Hochsitz mit einem gebrochenen Bein gesehen, aber dies ist das erste Mal, dass er ihn weinen sieht. Ohne recht zu wissen, was er tut, legt er seinem Vater den Arm um die Schultern und drückt ihn an sich, und sein Vater ist völlig überwältigt.

Verstehen … Vereint … Versöhnt.

Justin klopft ihm auf den Rücken. Es ist ein komisches Gefühl, seinen Vater zu trösten, so wie es komisch ist, an gestern zu denken – das so weit weg, so unwiederbringlich ist. »Ich werde sehr froh sein, wenn wir aus diesem Canyon draußen sind«, sagt Justin.

Sein Vater löst sich von ihm und wischt sich die Augen mit den Innenseiten der Handgelenke. »Erzähl mir was Neues.« Er schenkt Justin kein Lächeln, aber in seiner Stimme schwingt ein gewisser erzwungener Humor mit.

Vernunft. Verfahren. Verbinden.

Graham hat noch immer die Augen geschlossen. Er kaut an seinem Daumennagel, zerrt gierig am schartigen Rand. Justin drückt ihm die Schulter. Der Junge reißt die Augen auf, sie zeigen Neugier und Angst.

»Müssen wir sterben?«, fragt Graham. Er drückt sich die Finger knapp unter dem Brustbein auf den Bauch, was er anscheinend immer tut, kurz bevor er weint.

»Müssen wir nicht«, sagt sein Großvater, doch seine Miene ist düster.

»Okay«, sagt Justin. »Gehen wir.«

Sein Vater bleibt wie angewurzelt in seinem Schatten stehen. »Wir werden nicht sterben, weil wir diesen Bären töten werden. Wir werden ihn finden und wir werden ihn totschießen.« Er atmet einmal tief und bebend ein, wie um sich gegen alles zu wappnen, was ihm noch bevorsteht. »Komm, Graham.« Er geht ein paar Schritte den Pfad hoch, und Justin stoppt ihn mit einer Reihe unvollständiger Sätze – aber jeder seiner Gedanken verliert in der leeren Luft seinen Halt.

»Bist du fertig?«, fragt sein Vater, und als Justin nichts antwortet, geht er weiter, jetzt auf der Suche nach dem Bär, nicht mehr dem Hund. »Komm, Graham«, ruft er über die Schulter. »Es dauert nicht mehr lange. Wir töten ihn und schneiden ihm den Pimmel ab und schneiden ihm sein Herz heraus und bis zum Einbruch der Nacht sind wir wieder im Lager.« Er bleibt stehen und sagt noch einmal: »Komm, Junge.« Ohne Justin auch nur anzusehen, streckt er die Hand nach Graham aus. Seine Hand, gegerbt von Schwielen vom Hantieren mit Hämmern und Hobeln und Sägen, vom Formen der Welt.

Justin weiß, dass dieser Augenblick – ob sein Sohn auf die Herausforderung dieser Hand reagiert oder nicht reagiert – etwas bedeutet. Seine Familie ist in der Schwebe. Die Familie, aus der er stammt, und die Familie, die er geschaffen hat. Justin macht sich bereit, den Jungen zu packen, aber es ist nicht nötig: Graham weicht zurück und versteckt sich hinter Justin.

Justins Vater lässt die Hand sinken und ballt sie zur Faust. »Schaut euch beide doch nur an.« In seiner Stimme schwingt Hass mit, aber auch die härteste Form der Liebe. »Dann geht schon.«

Justin weiß nichts mehr zu sagen. Nicht Bis dann oder Viel Glück oder Pass auf dich auf. Im Augenblick fehlen ihm einfach die Worte. Er kann seinem Vater nur nachschauen, der sie jetzt hier stehen lässt und davongeht, immer kleiner und kleiner wird, bis sie ihn nicht mehr sehen können.

»Was stand da noch in diesem Buch von dir?«

Flüsternd fragt Graham: »Buch?« Er scheint nicht zu wissen, wer Justin ist, geschweige denn, wovon er redet. Sein Kinn zittert und er schaut sich über die Schulter, als werde der Pfad jeden Augenblick unter seinen Füßen herausgezogen und zusammengerollt und in einem geheimen Schrank versteckt, so dass sie hilf- und orientierungslos mitten im Wald stehen.

Justin sagt: »Lass uns ins Lager zurückkehren, okay?«

Graham nickt und sie machen sich auf den Rückweg. Sie hasten zwischen Bäumen hindurch, eine Umgebung, in der die Schatten durchbrochen sind von Säulen aus Licht, wie am Grund des Meers. Mit jedem Schritt scheinen sie schneller zu werden – der Wald zieht verschwommen vorbei –, auch wenn Justins Muskeln schmerzen und seine Beine sich anfühlen wie mit schweren Gewichten behängt. Sie ziehen die Köpfe ein, um Ästen auszuweichen, die wie dicke Arme nach ihnen schlagen. Sie schwitzen und der Schweiß läuft ihnen in schlammigen Bächen über die Wangen. Sogar die Vögel scheinen verstummt, während sie vorwärtseilen und nur flüsternd sprechen und sich hin und wieder über die Schulter schauen.

In Justins Kopf wetteifern seine vielen verschiedenen Ängste. Er hat Angst um seinen Sohn und seinen Vater. Er hat Angst um sich selber, Angst, ein schlechtes Urteilsvermögen bewiesen zu haben, indem er Graham so in Gefahr brachte. Die kurzatmige Panik, die er in sich spürt, wächst mit dem immer schräger einfallenden Licht. Er kommt sich vor, als würde mit ihm gespielt. Er hat das Gefühl, dass sehr bald, jeden Augenblick jetzt, wenn die Sicherheit bereits zum Greifen nah ist, irgendetwas im Wald sich aufrichten und sie niederschlagen wird.

Der Fluss überrascht ihn. In einem Augenblick ist er noch vom Wald umgeben, im nächsten steht er benommen am Ufer des schnell dahinrauschenden South Fork. Er hat den Fluss nicht gehört, zu laut waren in seinem Kopf die Ängste und Zweifel, alle mit schwarzen Klauen und in ein Fell gehüllt. Er streckt einen Stiefel ins Wasser und zieht ihn wieder heraus, als würde er Badewasser testen, das sich als zu heiß erweist. »Ich weiß nicht, ob ich es wieder rüber schaffe.«

»Du musst mich nicht tragen«, sagt Graham, doch Stimme und Gesicht sind von Zweifel verdüstert. »Ich schaffe es alleine.«

»Nein, das schaffst du nicht. Der Fluss ist zu stark. Wir müssen flussaufwärts gehen, bis wir eine ruhigere Stelle finden.«

»Okay.«

»Kann aber noch eine Meile sein.«

»Okay.«

Noch eine Meile, obwohl das andere Ufer nur zwanzig Meter entfernt ist. Justin seufzt schwer und setzt sich flussaufwärts in Bewegung, seine Stiefel knirschen über Kies.

»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagt Graham.

»Was denn?«

»Aus dem Buch?«

»Okay.«

»Für ihren Bau graben sie einen Tunnel unter einem Baum oder einer Felsflanke hindurch. Der Tunnel führt zu einer Kammer, in der sie schlafen.« Bis zu diesem Punkt hat er gedanken- und gefühllos, beinahe akademisch geklungen, doch als er sagt: »Ich habe Angst«, wird er wieder zwölf und hebt einen langen, geraden Ast hoch und untersucht ihn, als sei er unschlüssig, ob er ihn als Spielzeug, mit dem er gegen Bäume schlagen kann, oder als Waffe, als Speer betrachten soll.