TAG DREI

»Manchmal frage ich mich, ob du außer Macht überhaupt etwas respektierst.«

»Was gibt es denn sonst?«

»Siehst du? Genau das meine ich, das ist eine hingeschnippte, aalglatte, wegwerfende Antwort. Weil dir nämlich nicht das wichtig ist, was mir wichtig ist. Werte, die Bedeutung haben, wirkliche Bedeutung …«

»Was denn zum Beispiel? Gerechtigkeit? Verschon mich damit. Ehre? Das sind Abstraktionen, die wir erfunden haben, um die Realitäten der Macht leichter ertragen zu können, um Leute zu täuschen, damit sie sich freiwillig Beschränkungen auferlegen.«

»Was ist mit Liebe? Ist das etwas weniger abstrakt als Gerechtigkeit?«

»Shanna, Menschenskinder …«

»Ist es nicht lustig, dass wir am Ende immer über die abstrakten Themen streiten?«

»Wir streiten nicht.«

»Doch, das tun wir. Vielleicht streiten wir nicht über Gerechtigkeit und Liebe, aber wir streiten todsicher.«

1

Bröckelnde Steinbänke und Gänge erhoben sich Ring um Ring in steilem Anstieg über dem inneren Kreis aus regennassem Sand im Zentrum. Das titanische Bauwerk hätte genauso gut eine Zielscheibe sein können, die für ein Spiel zwischen Göttern bereitstand. Die Innenmauer, die den Sand vom Sitzbereich trennte, war einst dreimal so hoch wie ein Mensch gewesen. Obwohl sie inzwischen aufgrund ihres Alters und der Verwitterung durch den zersetzenden Kohlerauch aus den Stahlwerken im nahe gelegenen Gewerbedistrikt zunehmend verfiel, zeichneten sich auf ihrer verfärbten Fassade noch die Spuren der Vergangenheit ab: gebogene, parallel verlaufende Narben, die von den Diamantklauen der Drakonymphen hinterlassen worden waren, amöbenartige Verätzungen vom brennenden Gift der Wyvernstacheln und Pockennarben, verursacht von glatt durch die Körper fliehender Gladiatoren geschlagenen Armbrustbolzen.

Auf einem Drittel des Wegs nach oben gab es im Rund der Sitzränge einen Ring von Pissoirs, die vor einer mittleren Ewigkeit errichtet worden waren, um von längst verstorbenen Zuschauern benutzt zu werden. Sie glichen den Pissoirs, die überall in der Stadt verstreut standen: Relikte des Messingkönigs Tar-Mennelekil, der die Nation mit seinen prunkvollen Bauten fast in den Ruin getrieben hätte.

Die öffentlichen Pissoirs von Ankhana sind auf Schächten im Kalkstein errichtet, aus dem das Grundgestein unter der Stadt besteht; in diesen Schächten gibt es Filter aus zunehmend feinerem Bronzenetz, um die festen Abfallstoffe zurückzuhalten und es der Flüssigkeit zu gestatten, in den bodenlosen Höhlen zu versickern. Neben jedem Schacht verläuft parallel ein zweiter. Die Dungsammler machen einmal alle zehn Tage ihre Runde, um die wertvolle Scheiße einzusammeln und sie zu den ankhanischen Mist- und Dungfahrern von Janner dem Glückspilz in den Außenbezirken der Exotenstadt zu karren.

So viel wusste jeder Bürger von Ankhana. Bei den respektablen Leuten weniger gut bekannt war die Tatsache, dass verborgene Türen in den Schächten der Dungsammler in jene bodenlosen Kavernen führten, in denen sich jemand, der sich auskannte, frei unter der Stadt bewegen konnte.

Und aus diesen Pissoirs kamen sie: die Deformierten, die Blinden, die Verkrüppelten, die Amputierten auf ihren Krücken und die Aussätzigen in ihren von Eiter durchtränkten Lumpenfetzen. Sie waren durch die Kloake des Imperiums gekrochen, um hierherzugelangen, und nun scheuchten sie die Ritter der Zinken, die in Paaren an jedem Pissoir-Eingang standen, durch die zerbrochenen Ränge aus verwitterten Steinbänken mit grüßenden Gesten nach unten.

Fröhliches Geplauder und Liedfetzen waberten durch die erfrischende Nachtbrise, während die Masse der Bettler von den Keramikarmaturen nach unten schwärmte, über Sitze kletterte, zu denen ihre Vorfahren nur neidvoll hatten aufblicken können, die sie aber niemals berührt hatten – nur der Landadel hatte jemals so weit unten gesessen, so dicht an der Arena. Sie erreichten die hohe Mauer, die den Sand der Arena einschloss, und glitten darüber wie Schafe, wie Lemminge, wie eine Woge aus gefräßigem Ungeziefer.

Der Sand auf dem Boden der Arena, der vom abendlichen Nieselregen noch feucht war, wurde nun unter Sandalen und mit Seilzeug zusammengehaltenen Stiefelfetzen aufgewühlt, unter den eisernen Kappen ihrer Krücken und der Hornhaut ihrer bloßen Füße. 200 Jahre lang hatte dieser Sand das Blut und die Exkremente tödlich verwundeter Gladiatoren, Oger, Trolle, Ogrilloi und Zwerge aufgesaugt; den halb verdauten Mageninhalt von Löwen, denen man den Bauch aufgeschlitzt hatte; das Sekret von Wyvern mit durchgeschnittener Kehle und das Kammerwasser von Drakonymphen, die man durch ihre verwundbaren Augen erstochen hatte. Weitere 100 Jahre hatte die Arena verlassen dagelegen und war von Hausbesetzern genutzt worden, aber auch das lag in der Vergangenheit: Nun wurden Zeltplanen aus Ölzeug von aufgeschichtetem Scheitholz gezogen, die Haufen mehr als mannshoch, und knackende Lagerfeuer sprangen zu niedrig hängenden Wolken empor, die das gedämpfte orangefarbene Glühen der Feuer unter sich spiegelten.

Um die Lagerfeuer herum tanzten die Krüppel, denn dieser aufragende Steinring war das Messingstadion und diese Bettler die Untertanen der Zinken und diese Nacht die Nacht des Mirakels.

Und unter ihnen ging eine Präsenz um, ein geisterhaftes Empfinden von Vorhandenheit, das sich nicht erklären ließ.

Ein Aussätziger hielt inne in seiner grinsenden Geschichte von der dicken Börse, die er gestohlen hatte, während ihr Besitzer ihm eine Münze spendierte; er spürte, wie ihn jemand streifte, aber es stand niemand neben ihm. Er zuckte die Schultern und erzählte seine Geschichte zu Ende. Warmer Atem auf dem Hals einer vermeintlich Blinden veranlasste sie dazu, sich umzudrehen und die schmutzigen Bandagen über den Augen wegzuschieben, damit sie sehen konnte, wer ihr so nahe gekommen war. Sie rieb sich über die Augen und schüttelte den Kopf über ihre rege Vorstellungskraft. Einmal, kurz, schienen durch etwas, das ein Trick der Schatten sein musste, Fußabdrücke auf einem unberührten Weg zu entstehen, weit entfernt von allen Füßen, die sie hätten hinterlassen können, aber der Ritter, der es mitbekam, seufzte nur. Seine stechende, argwöhnische Verwunderung schlug flugs in gelangweilte Vergesslichkeit um.

Ein Tarnzauber ist schon unter den besten Umständen teuflisch schwer aufrechtzuerhalten. Inmitten einer Menge zynischer Berufsdiebe und -bettler in ständiger Bewegung wird es nahezu unmöglich. Ein Tarnzauber wirkt nicht auf die materielle Welt, er verändert den Weg des Lichtes nicht und lässt dessen Reflexion unangetastet. Er wirkt unmittelbar und ausschließlich auf den Verstand. Ihn erfolgreich zu wirken, verlangt dem Adepten ab, dass er eine ständige mentale Visualisierung der momentanen Umgebung im Kopf behält, wozu auch die Positionen und Haltungen jedes einzelnen Anwesenden gehören, mit Ausnahme seiner selbst – mit anderen Worten: Der Adept muss in seinen Gedanken ein perfektes Bild der Szenerie vor Augen haben, wie sie ohne ihn darin aussähe. Solange seine Konzentration bestehen bleibt, ist der Adept für das Auge zwar noch sichtbar, aber nicht für das Gehirn. Zuschauer werden auf magische Weise daran gehindert, den Anblick mental wahrzunehmen. Es ist ziemlich einfach, wenn man es nur mit einer Person zu tun hat, und mit zweien oder dreien nicht allzu schlimm.

Inmitten der Untertanen der Zinken hätte kein gewöhnlicher Adept hoffen können, einen Tarnzauber aufrechtzuerhalten. Kein gewöhnlicher Adept hätte es auch nur versucht – wurde man als Außenseiter in der Nacht des Mirakels im Messingstadion aufgegriffen, bedeutete es den sofortigen Tod, der unmittelbar und skrupellos vollzogen wurde, ohne jegliche Urteilsfindungen oder Appelle.

Doch niemand unter Pallas Rils Bekannten hätte es gewagt, sie als gewöhnlich zu bezeichnen.

40 Stunden, murmelte eine kleine, nörgelnde Stimme in einem fernen und abgetrennten Teil ihres Verstands. Ich bin seit fast 40 Stunden auf den Beinen.

Ihre Zähne fühlten sich pelzig an und jedes Mal, wenn sie blinzelte, schienen ihre Augen im Schädel zu kratzen, aber sie bewegte sich still durch die Menge, lauschte hier, beobachtete da, ließ sich dorthin treiben, wohin ihre Füße sie trugen. Es mochte töricht von ihr gewesen sein, diesen Leuten überhaupt erst zu vertrauen, aber sie war nicht so töricht zu ignorieren, dass man sie verraten hatte.

In der Nacht des Mirakels versammelten sich alle Untertanen der Zinken an diesem Ort. Das bedeutete, dass irgendwo in dieser Menge derjenige zu finden war, der sie verraten hatte, der die Zwillinge getötet hatte und Talann – und Lamorak. Sie würde ihn nicht selbst töten müssen; sie wusste, dass Majestät diese Ehre dankend annahm.

Es sei denn, bei dem Verräter handelte es sich, wie ihr eine kalte innere Stimme in Erinnerung rief, um Majestät selbst. Sie verfügte über genug Lebenserfahrung, um den König der Zinken nicht als Verdächtigen auszuschließen, nur weil sie ihn mochte. Sie brauchte einen Beweis und sie brauchte einen Finger, der auf das Ziel deutete, und diese Notwendigkeiten hatten sie hergeführt. Wie der Beweis aussehen mochte, auf den sie stieß, wusste sie selbst noch nicht.

Eine ruhelose, bedrückende Lust, in Bewegung zu bleiben, hatte sie hergetrieben, das Gefühl, dass sich ihr etwas, das sie nicht sehen konnte, von hinten näherte. Sie besaß keinen konkreten Plan. Das Aufrechterhalten des Tarnzaubers, das sie nun schon seit etlichen Stunden betrieb, nahm so viel von ihrer Aufmerksamkeit in Anspruch, dass sie sich mehr oder weniger darauf beschränkte, Sinneswahrnehmungen für eine spätere Betrachtung mental abzuspeichern. Sie hatte sich der grundlegenden Gegenwart geöffnet, beinahe in einem Zen-Zustand meditativer Achtsamkeit, und vertraute darauf, dass der Augenblick selbst bereitstellte, was sie brauchte.

Der Augenblick stellte einen Trommelwirbel von unsichtbarer Hand bereit, irgendwo im nördlichen Quadranten der Sitzreihen des Stadions.

Dort stand eine Zikkurat – neun steil ansteigende Stufen, die sich über den Steinbänken erhoben und in einem riesigen Thron mit hoher Lehne gipfelten, der aus einem einzelnen Block des einheimischen Kalksteins gehauen war. Das schwebende Gitter des Flux, das Pallas’ Gedankensicht mit seinen durchscheinenden, bunten Adern füllte, wirbelte unvermittelt hinauf zur Zikkurat und schoss nach unten durch sie hindurch. Pallas nickte in sich hinein. In der Zikkurat befand sich wohl Abbal Paslava der Bannknüpfer, der die Effekte für Majestäts Auftritt wob. Caine hatte ihr das Ganze einmal beschrieben und sie wusste, was sie erwartete.

In Kohlebecken auf einem Standbein aus Bronze flammten Funkenregen auf, ohne dass sie von jemandem entzündet worden wären. Dichte Wolken aus weißem Rauch strömten aus den Bronzeschalen und über die Plattform hinab, wo sie sich verdichteten, bis sie den Thron vollständig einhüllten.

Das vereinzelte Lachen und die Gespräche unter den Untertanen der Zinken erstarben rasch. Lammhaxen und Weinschläuche wurden respektvoll beiseitegelegt. Gesichter, rosig in der Hitze der Lagerfeuer, wandten sich nach oben und der wogenden Wolke zu. Der Trommelwirbel ging stotternd in den Gleichschritt eines Marschs über. Aus dem Rauch schritten die neun Barone der Zinken herab.

Pallas kniff die Augen zusammen, um sie zu beobachten, nur begrenzt neugierig. Sie war mit den Namen und dem Ruf einiger von ihnen vertraut, aber sie hatte keinen Grund zur Annahme, dass sie über ihre Verbindung zu den Untertanen Bescheid wussten. Sie bezogen auf dem unteren Drittel der neun Stufen Stellung, sieben Männer und zwei sehnige Frauen, die die Spitzen ihrer nackten Klingen auf dem Stein abstellten und die Hände auf den mit Seilen umwickelten Griffen ruhen ließen.

Nun begann sich der Nebel zu zerstreuen, gab langsam die ersten schattenhaften Umrisse frei, dann die reglosen Gestalten der Herzöge der Zinken, die auf der dritten Stufe von oben aufgereiht standen. Pallas erkannte die beiden Männer: Die skeletthafte Gestalt war Paslava, der weiterhin auf den Flux einwirkte; auf der gegenüberliegenden Seite stand Deofad der Kriegsherr, einst ein imperialer Wächter von Lipke, weißbärtig und stur.

Sie war diesen beiden Männern begegnet, kurz nachdem sie mit den Plänen für den Simon-Jester-Einsatz zu Majestät gekommen war. Jeder von ihnen konnte der Verräter sein.

Aus dem dünner werdenden Nebel an der Spitze der Zikkurat erscholl Majestäts Stimme, tief und deutlich wie eine Tempelglocke. Pallas nahm nicht die Spur von Anstrengung in seiner Stimme wahr, keinen Hinweis darauf, dass er sie erheben musste, um das Stadion auszufüllen. Die Querwirbel im Flux, der von der Spitze sprudelte, legten nahe, dass Paslava Majestäts Lautstärke mit einem Trick erhöhte.

»Meine Kinder«, begann er. »Wir versammeln uns heute Nacht hier, in der ausrangierten Arena eines Imperiums. Und auch wir sind ausrangiert. Wir sind die Vergessenen, die Versehrten, die Verkrüppelten, die Blinden!«

Der Choralruf, mit dem die Untertanen antworteten, hallte von den bröckelnden Mauern wider: »Das sind wir!«

»Wir sind die Diebe, die Vagabunden, die Bettler!«

»Das sind wir!«

»Aber wir sind nicht allein! Aber wir sind nicht hilflos! Wir sind mächtig! Wir sind Brüder!«

»Das sind wir!«

»Diese Arena der Verzweiflung erbebt unter unserer Brüderschaft! Die Macht unserer Brüderschaft verwandelt die Arena der Verzweiflung in die Bühne des Mirakels! Hier, unter euren Brüdern, werft eure Krücken ab! Werft eure Schlingen von euch, eure Bandagen! Lasst die Verkrüppelten gehen, lasst die Blinden sehen! Freut euch! Meine Kinder, ihr seid geheilt!«

»DAS SIND WIR!«

Und in der ganzen Arena fielen Krücken in den nassen Sand, Glieder wuchsen aus leeren Ärmeln, milchweiße Katarakte ploppten aus klaren und funkelnden Augen und die tropfenden Geschwüre des Aussatzes schälten sich von glatter Haut, während sich der letzte Nebel klärte und Seine Majestät, der König der Zinken, sich in einem Heiligenschein – einer Korona aus dem scharlachroten Licht der Kohlebecken, die über und hinter ihm aufflammten – hinsetzte, um reglos die Verwandlung seiner Untertanen zu überwachen.

Reines Theater, wie Pallas gut wusste – kein echter Krüppel oder Bettler hätte je hier Einlass gefunden –, aber sie konnte die Macht dieses einfachen Rituals nicht leugnen, den Ansturm der Freude von allen Seiten, als ihre Masken alle gleichzeitig abfielen.

Caine hatte versucht, ihr zu erklären, warum die Untertanen sehr viel mehr waren als eine bloße Straßenbande, hatte ihr diese beinahe religiöse gegenseitige Ergebenheit vermitteln wollen, ihren Familiensinn, weil sie zu etwas Größeres bildeten als der Summe seiner Teile. Pallas hatte gesehen, wie diese Ergebenheit in die Tat umgesetzt wurde; und nun verstand sie langsam, wie es funktionierte. Sie verstand außerdem, dass dieses simple Ritual es für einen Außenseiter völlig unmöglich machte, sich zu verstecken und hier mit den Anwesenden zu verschmelzen, ohne dass er Magick einsetzte.

Und beim Blick auf Majestät, der von der Zikkurat herabstolzierte, lächelnd und entspannt, und seine Herzöge und Barone mitnahm, um den Zehnten an der Stützmauer entgegenzunehmen, musste Pallas zugeben, dass er nur zu gut wusste, wie man einen Starauftritt hinlegte.

Sie bewegte sich auf die Mauer zu, sorgsam darauf bedacht, Untertanen auszuweichen, die in derselben Richtung unterwegs waren, und kam nah genug heran, um zu belauschen, wie er von den Untertanen, die vorbeischlenderten, die Gaben annahm, ob es sich nun um Geld oder etwas anderes handelte. Drei Barone schafften die Beute anschließend weg und Majestät sprang leichtfüßig in die Arena, um sich unter seine Leute zu mischen und mit ihnen zu lachen. Die Herzöge und Barone folgten ihm und bald wurde in der ganzen Arena ein ausgelassenes Fest gefeiert, bei dem Weinschläuche von Hand zu Hand wanderten und Stimmen sich zu fröhlichen Liedern erhoben.

Pallas blieb dicht an Majestäts Seite, weil sie vage auf eine Gelegenheit hoffte, ihn ungestört zu erwischen, um mit ihm zu reden. Deshalb bekam sie Abbal Paslavas leise Warnung mit, als dieser Majestät zur Seite zog.

»Hier ist Magick am Werk. Jemand außer mir beeinflusst hier im Stadion noch den Flux.«

Majestäts erwiderndes Lächeln wirkte auf grimmige Weise heiter. »Na, zeig ihn mir und wir versohlen dem dreisten Bastard den Hintern.«

»Das kann ich nicht.«

»Versteh ich nicht.«

»Ich genauso wenig. Ich spüre das Zupfen an meinen Gedanken, aber wenn ich meine Aufmerksamkeit darauf richte, scheint es wegzuhuschen wie das Aufblitzen der Sonne im Augenwinkel. Das ist definitiv ein Grund zur Besorgnis.«

»Kümmere dich weiter darum. Und in der Zwischenzeit decke meinen Abgang. Der Zehnte hat echt zu lange gedauert und ich bin spät für mein Treffen.«

»Wird gemacht.« Paslavas Kopf neigte sich zurück. Seine Augen rollten nach oben. Der Flux wurde in Spiralen in seine Schale gesogen, während er eine winzige Puppe aus der Tasche holte und sie zwischen den Fingern rollte. Ein violetter Fühler aus magischer Energie hängte sich an Majestät, während dieser sich vom Acker machte. Pallas folgte ihm auf dem Fuß.

Nicht zu dicht. So mancher Magier mit Tarnzauber hatte sich schon verraten, indem er einfach in jemanden hineinlief. Ein- oder zweimal musste sie blitzschnell reagieren, um Zusammenballungen von Untertanen auszuweichen, und jedes Mal, wenn sie sich freigelaufen hatte, schien Majestät unerklärlicherweise einen deutlichen Vorsprung gewonnen zu haben, obwohl er hier jemandem zunickte und dort ein oder zwei Worte zu den Untertanen sprach, an denen er vorbeikam. Er schien sich zu keiner Zeit schnell zu bewegen, aber irgendwie konnte sie ihn nie ganz einholen.

Selbst in ihrem distanzierten meditativen Zustand brauchte sie nur eine knappe Minute, um zu erkennen, was Paslava getan hatte. Das musste eine ausgeklügelte Variante jenes Tarnzaubers sein, unter dem sie selbst sich bewegte – jeder, der nach Majestät suchte, nahm ihn irgendwo auf der anderen Seite der Arena wahr, stets nur ein kleines Stück zu weit entfernt, um mit ihm in Kontakt zu treten. Im Geiste erwies sie Paslavas Kreativität professionellen Respekt. Ein schlauer Spruch, obwohl er sich leicht brechen ließe, wenn sie es denn gewollt hätte.

Paslava mochte schlau sein, aber was rohe Kraft anbelangte, spielte er nicht einmal annähernd in ihrer Liga.

Das Brechen des Spruchs hätte Konzentration erfordert und die brauchte sie, um ihren eigenen Tarnzauber aufrechtzuerhalten. Stattdessen sah sie sich also in der Arena um. Als ihr Blick über ein halb offenes Tor unweit von einem der Tierschächte glitt, wirbelte der Flux stärker um Abbal Paslavas Schale. Sie spürte, wie der Sog dieses Spruchs um eine Winzigkeit fester zupfte. Mehr als das musste sie nicht wissen und ließ sich von ihrem Verlangen, mit Majestät zu sprechen, zum Schacht treiben – sie fühlte sich, als schwebte sie, ihre Beine gehorchten ihrem Verlangen nach dieser Richtung, aber nicht nach Geschwindigkeit.

Die Dunkelheit des Tierschachts schloss sich über ihren Augen, während sie sich aus dem Licht der Lagerfeuer entfernte und den staubigen Geruch nach verfaulendem Holz und uraltem Urin aufnahm. Hier in der Dunkelheit, auf unvertrautem Gelände, gelang es ihr nicht, die notwendige Vorstellung von ihrer Umgebung aufzubringen. Der Tarnzauber brach um sie herum zusammen und sie sank gegen die Mauer und zitterte.

Gedankensicht – der geistige Zustand, der nötig ist, um den Flux wahrzunehmen, um Sprüche zu wirken und aufrechtzuerhalten – ist ein meditativer Zustand, beinahe transzendental. Wenn man sich in Gedankensicht befindet, fühlt man sich nicht müde, verspürt keine Angst, man spürt eigentlich gar nicht viel; man ist sich nur seiner Umgebung und seines Willens bewusst, dessen, was die Adepten als Intention bezeichnen.

Stundenlang hatte Pallas’ Gedankensicht die ganze Müdigkeit zurückgehalten, die sich während der Verteidigung der Konnosi aufgebaut hatte, die Erschöpfung aus zwei Tagen Flucht vor den Katzen, die ganze Angst und das Grauen des Kampfes, die nagende Trauer um die Zwillinge, um Talann und Lamorak, den anwachsenden Schmerz darüber, sie in den Tod geführt zu haben. Doch diese Gefühle waren um sie gekreist wie Hyänen: Sie hatten das Interesse nicht verloren, zogen nicht einfach weiter, um sich andere Beute zu suchen. Ihre Geduld schien endlos zu sein.

Nun, da ihre Verteidigung dahin war, fielen sie über sie her. Sie bohrten ihre nadelspitzen Zähne in Pallas’ Hals und zerrten sie keuchend zu Boden.

Einen Augenblick lang wurde sie von Gesichtern überschwemmt, die jeden anderen Gedanken aussperrten: dem Schrecken und der verzweifelten Hoffnung von Konnos’ beiden Töchtern, ganz ähnlich wie das, was sie auf den Gesichtern aller Tokali erblickte; den Gejagten, die sich in jenem verfallenen Lagerhaus im Gewerbedistrikt aneinanderdrängten und die niemanden hatten, auf den sie sich verlassen konnten, nur sie. Der manischen Selbstsicherheit von Talann, dem grimmigen Vertrauen der Zwillinge …

Und natürlich dem Gesicht, das ihr eine stechende Träne ins Auge trieb: Lamorak mit seinem sanften Lächeln, der mit der Klinge von Kosall an den frisch ausgeschnittenen Ziegelbogen klopfte. »Und das ist eine Lücke, die ich sehr, sehr lange halten kann.«

Oh, Karl … Sein Name, der Name, den sie nicht laut aussprechen konnte, nicht in ihrem Monolog murmeln konnte, der Name, den die Studiokonditionierung sie nicht einmal flüstern ließ, bis sie zur Erde zurückkehrte.

Bis sie allein zur Erde zurückkehrte.

Er hatte jenen Bogen vielleicht eine Minute gehalten, nicht länger.

All diese Hyänen verbissen sich in ihren Bauch, aber sie war eine Adeptin: Die Kontrolle über ihren Geist entschied bei ihr über Leben und Tod. Sie brauchte nur Sekunden, um diese fleischfressenden Gedanken abzuwürgen, und bald kämpfte sie sich zurück nach oben. Die Gefahr, in der sie schwebte, allein durch ihre Anwesenheit, ließ sich nicht verdrängen. Während sie sich nun einen Weg den steilen Anstieg hinauf suchte, eine Hand am zerbröckelnden Stein des Schachts, begannen die Bilder, die sie vom Mirakel mitgenommen hatte, sich in ihrem Geist zu ordnen.

*Ein Treffen*, teilte sie über den Monolog mit. *Ein Treffen während des Mirakels. Während jeder andere Untertan der Zinken sich im Stadion aufhält. Zu dem einen Zeitpunkt der ganzen Woche, in dem man durch die Stollen gehen kann, ohne von einem Untertan der Zinken gesehen zu werden.*

Ein hämmerndes Grollen wie eine ferne Brandung begann in ihren Ohren zu mahlen. Blut stieg ihr ins Gesicht und sie beschleunigte ihre Schritte.

*Majestät, ich schwöre … wenn du es bist, Majestät, dann schwöre ich, dass ich dein verfaultes Herz verspeisen werde.*

Ihre geübten Hände huschten unbewusst über die Taschen ihrer Tunika und des Umhangs, suchten nach etwas, das sie auf Majestäts Spur setzte, ohne sie der verlangsamenden Notwendigkeit der Gedankensicht zu unterwerfen. Sie hatte noch viel Artillerie übrig, auch ohne den Blitzstab, den sie an die Katzen verloren hatte: vier von den geladenen Kastanien-Feuerbällen, zwei Brocken geladenen Bernstein für Haltezauber, einen mächtigen Tiki und einen Klingenstab, außerdem einen nicht ganz so aggressiven Kristall mit Freundschaftszauber. Bisher bestand das Abenteuer fast nur aus Rennen und Verstecken. Ihre Verteidigungs- und Ausweichzauber hatte sie bis auf einen einzigen Chamäleonzauber verbraucht, genauso ihre wenigen Utensilien für Spähzauber. Ohne diese vorbereiteten Sprüche musste sie alles unter Gedankensicht erledigen – so wie bei dem Tarnzauber –, was im besten Fall gefährlich und zeitaufwendig war.

Als ihr der rettende Einfall kam, lächelte sie vor sich hin und unterdrückte ein Kichern. Die Lösung war so einfach und elegant, dass sie es beinahe amüsant fand. Sie holte einen kleinen, facettierten Brocken aus violettem Quarz aus einer Tasche am Gürtel und passte ihr Gedankenmuster an die Sigel an, die darauf geschrieben standen. Dieser Prozess war ähnlich simpel wie das Drehen eines Schlüssels – man musste keine Gedankensicht aufrechterhalten. Der Quarz erwärmte sich in ihrer Hand und als sie ihn nach vorne hielt, fluoreszierte etwa auf Schulterhöhe ein pulsierender Streifen in einem trüben, rötlichen Magenta, außerdem erschienen schwache, ungefähr stiefelförmige Umrisse auf dem Boden. Die Variante des Tarnzaubers, die Paslava auf Majestät gewirkt hatte, gab stetig Magick ab, bis der Effekt abklang, wie eine Batterie, die Ladung verlor – bis dahin konnte Pallas einen einfachen Wahrnehmungszauber nutzen, um seine Fußabdrücke und die Stellen aufzuspüren, an denen er mit der Hand über die Mauer gestrichen hatte. Auf diese Weise verfolgte sie seinen Pfad durch diesen stygischen Irrgarten.

Der Kristall brachte Spuren von Magick lediglich in einer Reichweite von drei bis vier Metern zum Leuchten. Sie musste nicht befürchten, Majestät vorzuwarnen, und die magischen Spuren verblassten bereits sichtlich, während sie die Verfolgung aufnahm. Wenn nötig, konnte sich Pallas bewegen wie ein Fluss, schnell und geschmeidig und mit nur so viel Lärm, wie ihn ihre Umgebung aufnehmen und decken konnte. Mit hoher Geschwindigkeit verließ sie das Stadion innerhalb von Sekunden und glitt auf die Straßen der Stollen hinaus.

Zum Glück teilten sich die Wolken über ihr und der Mond schien hindurch. Sie konnte ihn jetzt erkennen, nur 40 oder 50 Meter vor ihr, wie er in gleichmäßigem Trab lief. Irgendwo unterwegs hatte er einen Mantel mit Kapuze aufgesammelt, aber es musste die Wahrheit gewesen sein, als er gegenüber Paslava erwähnte, er sei spät dran – er bewegte sich zu schnell, um seinen natürlichen Gang zu verbergen, der ihn genauso unverwechselbar machte wie seine Stimme. Er schien nicht zu befürchten, dass ihm jemand folgte, warum auch? Sollte jemand probieren, mit seiner Geschwindigkeit mitzuhalten, ließen ihn seine Schritte unüberhörbar werden.

Pallas lächelte grimmig, während sie den Wahrnehmungskristall wegsteckte. Sie zog ihre knöchelhohen Stiefel aus und hielt einen in jeder Hand, während sie ihm leichtfüßig nachlief, sich beinahe lautlos auf den Ballen ihrer bloßen Füße abfederte und sich dabei stets dicht an den Gebäuden auf ihrer Seite hielt. Der festgetretene Boden auf den Straßen der Stollen stieg zum Rand hin leicht an und war trockener als im Zentrum. Der aufgehäufte Müll aus Steinen, Holzabfällen und Tonscherben neigte dazu, abwärtszurollen. An den Seiten konnte sie hingegen ohne Bedenken barfuß sprinten.

Weiter vorne glitt Majestät in die Dunkelheit eines türlosen Bogens. Anstatt ihm nach drinnen zu folgen, schlüpfte sie in ihre Stiefel und bahnte sich langsam einen Weg um das Gebäude. In der Nähe einer Hausecke im dritten Stock, auf der gegenüberliegenden Seite des Bogeneingangs, den Majestät genommen hatte, sickerte ein Spalt Lampenlicht durch Läden, denen die Witterung Risse verliehen hatte – die einzige Helligkeit, die sich auf der Fassade dieser verdüsterten Ruine abzeichnete.

Über die Atemkontrolle beschwor sie die Gedankensicht herauf und durchforstete die krummen Gassen um sich herum, die Gebäudefassaden und das, was sie von den Dächern ausmachen konnte. Das verdrillte Gitter des Flux trieb ungestört dahin und in den Schatten schimmerten nur glänzende Schalen, die kaum größer waren als die von Ratten.

Das bedeutete, dass hier keine Handlager Schmiere standen, keine Wachen den Treffpunkt beschützten. Es hieß, dass Geheimhaltung, sogar vor seinen eigenen Leuten, Majestät wichtiger war als Sicherheit.

Die ferne Brandung des Zorns, die in Pallas’ Ohren donnerte, kam näher.

Aber sie verharrte in der Gedankensicht und die Brandung klang ab. Aus eigenem Antrieb fischten ihre geschickten Finger das Modell eines Chamäleons aus der Tasche des Umhangs. Komplexe Machtwirbel glänzten auf dem wunderschön geformten Platin. Diese Wirbel breiteten sich in ihrem Geist aus, dann abwärts über ihren Körper. Für einen Beobachter hätten Haut und Kleidung dabei die grauschwarze, vom Mondlicht gefleckte Erscheinung der Mauer angenommen, vor der sie stand. Sie hielt noch einen Augenblick inne, um das Bild stärker in ihrer Konzentration zu verfestigen, drehte sich schließlich zur Mauer um und erkletterte sie mit der Leichtigkeit einer Eidechse.

Mühelos hing sie neben dem kleinen Lichtspalt an der Wand und lauschte.

»… ehe Berne ihn erwischt. Das ist entscheidend«, erklärte gerade eine unbekannte Stimme. »Berne übt bereits einen viel zu großen Einfluss auf Ma’elKoth aus. Ich glaube, dass Berne ein zutiefst kranker Mann ist – krank im Geist. Es ist entscheidend, dass Berne an dieser Stelle keinen Erfolg hat, ich dagegen schon. Erzählt mir nicht, dass Ihr nicht in die Sache verwickelt gewesen seid. Bei drei der fünf toten Wachposten handelt es sich um uns bekannte Untertanen. Die anderen beiden gehörten vermutlich auch dazu.«

»Wenn ich ihn ausliefern könnte, gehörte er Euch, Euer Gnaden.« Majestäts Stimme klang merkwürdig demütig, unterwürfig sogar. »Ich verlange von den Untertanen keinen vollen Nachweis über ihre Aktionen, nur über ihr Einkommen. Wenn einige von ihnen sich entschieden haben, ihr Einkommen zu erhöhen, indem sie für Simon Jester Schmiere stehen, geht mich das nichts an, außer sie schaffen es nicht, ihren vollen Zehnten zu zahlen. Sie waren jedoch meine Leute und ich erwarte eine Entschädigung.«

*Euer Gnaden? Das ist vermutlich Toa-Sytell höchstpersönlich!*, äußerte Pallas im Monolog, während sich eine Übelkeit erregende Panik in ihrem Bauch ausbreitete. Mit einem Mal ging ihr auf, warum gerade diese private Stunde für das Treffen gewählt worden war. *Dann ist er es also. Der König der Zinken hat uns alle verraten. Ich hätte damit rechnen müssen. Er ist nun mal Caines bester Freund. Aber … ach, ihr Götter, ich hatte wirklich gehofft, er sei unschuldig.*

Die blutverschmierten Gesichter von Dak und Jak, von Lamorak und Talann erstanden vor ihrem geistigen Auge auf.

*Ich könnte sie beide erledigen. Genau in diesem Augenblick. Genau hier. Einen Feuerball auslösen und die Kastanie durch den Spalt in den Fensterladen schieben. Ich könnte mich zu Boden fallen lassen und hielte mich weit genug außerhalb des Explosionsradius auf. Ich müsste mir nicht einmal anhören, wie sie schreien, während sie verbrennen.*

Sie verbannte das Bild aus ihrem Kopf. Ich habe zu lange mit Hari zusammengelebt, dachte sie. Sie verstand die Falle, die ihr der Zorn stellte, zu gut, um ihr auf den Leim zu gehen. Dass es sich um eine rechtschaffene Wut handelte, machte sie nur noch gefährlicher, nicht weniger gefährlich.

Im Monolog sagte sie: *Aber das werde ich nicht tun. Ich werde warten und ich werde lauschen. Wenn es jemanden zu töten gibt, kann ich es auch erledigen, nachdem ich herausgefunden habe, was vorgeht.*

»Ich glaube nicht, dass Euch die Ernsthaftigkeit der gegenwärtigen Lage bewusst ist«, fuhr die unbekannte Stimme fort, so ausdruckslos wie ein Mann, der sich gerade ein Frühstück bestellte. »Simon Jester hat den Imperator bereits bloßgestellt. Er scheint nicht nur ungestraft vorzugehen, selbst hier in der Hauptstadt des Imperiums, sondern dieses anmaßende Graffito ist selbst auf Wänden im Colhari-Palast aufgetaucht.«

*Ha. Ich bin zu einer Modeerscheinung geworden.*

»Ich tue, was ich kann, Toa-Sytell. Niemand scheint zu wissen, wer Simon Jester ist oder wo er als Nächstes auftaucht.«

*Und dafür kann ich Konnos und seinem schicken Spruch danken.*

»Ich denke«, sagte Toa-Sytell, »dass sich diese Angeklagten immer noch innerhalb der Stadtgrenzen von Ankhana aufhalten. Es geht um 17 Menschen und viele von ihnen haben ihre Familien mitgenommen – also insgesamt 38 Personen. Vielleicht wären Eure Energien sinnvoller eingesetzt, wenn Ihr sie nutzt, um nach deren Unterschlupf zu suchen?«

Pallas schluckte und fischte eine Kastanie aus der Hüfttasche.

Sie konnte die Sigel der Macht nicht sehen, die auf die Oberfläche eingraviert waren, weil sie sich nicht in der Gedankensicht befand, aber sie schien zu spüren, wie sie sich in die Haut ihrer Handfläche einbrannten.

Möglicherweise musste sie diese Männer doch erledigen.

*Majestät weiß, wo sie sind. Konnos’ Spruch hat daran nichts geändert. Zwei Leben nehmen, um 36 zu retten.* Sie holte tief Luft und wappnete sich körperlich für das Kommende, während sie mit einer geistigen Hand ihre Emotionen erstickte.

»Es ist eine große Stadt«, meinte Majestät entschuldigend.

*Hä?*

Er fuhr fort: »Ich werde meine Leute sofort darauf ansetzen, aber ich kann keine Versprechungen machen. Es gibt viele Orte, an denen man sich verstecken kann, und mehr als nur ein paar davon sind für die Untertanen nicht zugänglich.«

»Unternehmt in dieser Angelegenheit, was immer Ihr könnt. Dabei geht es um viel mehr als nur Geld, wie Ihr sicher versteht. Wenn die Barone der äußeren Marken mitbekommen, dass man Ma’elKoth mühelos und ungestraft trotzen kann … ich glaube, Ihr könnt Euch die möglichen Folgen ausmalen.«

»Ja. Einen weiteren Bürgerkrieg brauchen wir auf keinen Fall.«

Pallas stellte fest, dass sie keuchte, mit weißen Fingerknöcheln die Kastanie zerdrückte. Was für ein Spiel trieb Majestät? Und sie hätte ihn beinahe getötet, sie hätte beinahe beide getötet. Nur durch die Gnade eines unbekannten Gottes hatte sie lange genug gewartet, um zu hören, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelte …

Sie hörte nur mit halbem Ohr zu, während die beiden Männer sich über andere, nicht so dringliche Themen unterhielten, sich etwa mit der Tagespolitik der Stollenbanden und Gerüchten auseinandersetzten, die Majestät bei den Untertanen aufgeschnappt hatte. Dieser Chamäleonzauber, der es ihr gestattete, an der Mauer zu hängen, hielt nicht ewig. Sie hatte sich schon langsam entfernt, als sie Majestät sagen hörte: »Eine letzte Sache. Ich muss wissen, worum es bei diesem Haftbefehl gegen Caine geht. Weswegen wird er gesucht?«

Caine? Pallas’ Herz hämmerte schmerzhaft in ihrer Brust. Sie bewegte sich nicht mehr, atmete nicht und kniff die Augen zusammen, um besser lauschen zu können.

»Ich glaube nicht, dass Euch das etwas angeht.«

Majestäts unbekümmerter Tonfall klang ein klein wenig gezwungen. »Er ist ein Freund. Ich will nicht, dass dieses … Arrangement zwischen Euch und mir dieser Freundschaft in die Quere kommt. Ich will auch nicht, dass die Freundschaft unserem Arrangement in die Quere kommt. Könnt Ihr mir folgen? Ich will ihn nicht ausliefern, ohne zu wissen, warum nach ihm gefahndet wird.«

Ihn ausliefern? Hari ist hier? Er ist jetzt hier? Pallas’ Mund wurde trocken, ihr Magen zog sich zusammen und ihr Herz schlug heftig wie Hammerschläge. Ihre Finger prickelten unangenehm, als habe sie gerade jemandem eine heftige Ohrfeige verpasst.

»Macht Euch darüber keine Gedanken. Ich habe Caine am frühen Abend in Gewahrsam genommen, aber er ist nicht in Schwierigkeiten. Nicht von unserer Seite zumindest, wenngleich ich glaube, dass die Monasterien recht verärgert über ihn sind. Eigentlich habe ich ihm klipp und klar gesagt, dass Ma’elKoth ihn anheuern will.«

»Ihn anheuern? Wozu?«

»Na, wozu schon? Um Simon Jester zu finden und ihn zu töten natürlich.«

Natürlich, dachte Pallas distanziert. Weshalb sollte er sonst hier sein, wenn nicht, um mein Leben wieder mal in einen Haufen Dreck zu verwandeln?

Die freundliche Verabschiedung der beiden Männer ging an ihr vorbei, während Bilder und Gedanken wahllos über die Oberfläche ihres Verstands wirbelten. Caine wusste es natürlich – er wusste, wer Simon Jester war und wo Simon Jester sich aufhielt und wo die Tokali steckten –, das Studio hatte ihm bestimmt einfach ihren Cube gezeigt. Und sie wusste auch, dass er sie nicht wirklich jagen und fangen wollte; nicht einmal Caine war so niederträchtig. Es ließ sich nicht übersehen, was da für eine Scheiße ablief.

Das Studio hatte entschieden, dass sie es diesmal versaut hatte und unmöglich allein schaffte. Also verfielen sie auf die Idee, einen größeren Knalleffekt zu erzeugen, indem sie den mächtigen Caine herschickten, der ihr den nutzlosen, inkompetenten, weiblichen Arsch rettete.

Mit Caine, der im letzten Moment angaloppiert kam, um das Ruder herumzureißen, nahmen sie locker 100 Millionen mehr ein, als wenn es ihr irgendwie gelang, die Sache auf eigene Faust durchzuziehen.

Ihr ganzer unterdrückter Zorn ergoss sich brüllend wie ein Wasserfall in ihre Brust. Verstanden sie nicht, dass das kein dummes Spiel war? Dass es nicht nur um Unterhaltung ging? Dass Leben davon abhingen, reale Existenzen, Existenzen von echten Leuten, die liebten und trauerten und lachten und bluteten?

Ihm würde das gefallen, auch das wusste sie. Hari musste sich in diesem Augenblick bis ganz runter in den Grind zwischen den Zehen einen abgrinsen. Sie hörte beinahe, wie er mit selbstgefälliger, gönnerhafter Stimme verkündete: Siehst du? Du schaffst es nicht ohne mich. Weshalb probierst du es überhaupt?

Und sie hörte auch ihre Antwort oder vielmehr ihre Nicht-Antwort, ihre unartikulierte Wut darüber, in ihrem eigenen Leben wie ein Kleindarsteller behandelt zu werden, wie ein Sidekick, nicht mehr zu sein als die Motivation für das Abenteuer eines anderen. Sie gaben ihr nicht die Gelegenheit, eine eigene Geschichte zu bekommen.

Das Licht hinter den Fensterläden war erloschen.

Sie trippelte seitlich um das Gebäude herum, krabbelte auf allen vieren im Tempo eines eiligen Fußgängers über die Mauer. Unter sich, am Bogen, wo Majestät eingetreten war, zeichnete sich der obere Teil der Kapuze seines Umhangs ab. Er stand an der Wand und nutzte seine Zunderbüchse, um eine Zigarre anzuzünden. Surrend stieben kleine Funken auf die Straße hinab. Niemand sonst war zu sehen. Toa-Sytell musste durch eine andere Tür hinausgegangen sein.

Sie wartete, bis die Zigarre gut brannte, beendete den Chamäleonzauber und stürzte sich auf ihn wie ein altes Bauwerk.

Ihre Füße trafen seine Schultern und er ging hart zu Boden. Sie prallte ab und rollte sich in einen geduckten, gut ausbalancierten Stand ab. Von der unerwarteten Attacke betäubt, konnte Majestät nicht mehr tun, als träge den Kopf zu schütteln, ehe sie ihre bloße Hand an seine Wange legte und verkündete: »Du kennst mich.«

So, hatte Konnos ihr erklärt, ließ sich die Wirkung seines Spruchs aufheben.

Erst klärte sich der Schleier vor seinen Augen, dann bemerkte sie, wie dort die Verwunderung wuchs, als ihre Aufhebung des Ewigen Vergessens es ihm gestattete, die verschiedenen Einzelheiten, die er über sie wusste, in seinem Geiste langsam wieder miteinander zu verknüpfen.

»P-Pallas«, keuchte er, »was für ein Scheißhaufen von einem Fluch! Was hast du … Wie hast du … Und Caine … Caine …«

Sie ging über ihm in die Hocke. »Ich weiß alles darüber. Du spielst ein ziemlich gefährliches Spiel, Majestät.«

»Ich, ich, ach, verflucht … Weswegen hast du mich geschlagen?«

»Ich musste jemanden schlagen. Du warst gerade da. Nun hör zu, während ich dir sage, was wir tun werden.«

Er setzte sich hin und klopfte sich den Schmutz ab. »Weißt du, ich lass mir ja viel von dir gefallen. Aber jetzt hast du’s wirklich übertrieben. Niemand legt Hand an mich …«

Pallas landete einen Schlag mit der flachen Hand auf seinem Ohr. »So, meinst du?«

Von Neuem halb gelähmt, konnte er nur ungläubig den Kopf schütteln.

Sie hielt ihm die offene Hand vors Gesicht. »Du wirst nicht gerne so angefasst, hm? Dann stell dir einfach vor, wie Caine dich anfasst, wenn er herausfindet, dass du mit Toa-Sytell unter einer Decke steckst, obwohl du doch mir helfen solltest.«

Sie blieb in der Hocke vor ihm und ließ ihn darüber nachdenken.

Er brauchte nicht lange. »Hey, äh, hey. Ich hab dir die ganze Zeit geholfen. Sogar Toa-Sytell verschaukle ich, um ihn dir aus dem Weg zu halten.«

»Ich versteh das ja vielleicht. Aber meinst du, Caine versteht es auch?«

»Nun, aber, ja, aber … du musst es ihm doch nicht verraten, oder?«

»Nicht unbedingt. Aber du solltest kapieren, dass ich ein bisschen wütend darüber bin.«

Er rieb sich das Ohr und nickte langsam. »Ich nehme an, so weit kann ich folgen. Aber es hat nichts mit dir zu tun. Ich war nicht derjenige, der dich an die Katzen verpfiffen hat, verstehst du?«

»Nein, das verstehe ich nicht. Du hältst mich doch nur hin, bis du von Toa-Sytell einen besseren Preis bekommst.«

»Pallas, ich schwöre …«

»Schwör nicht. Du weißt, was ich die letzten 40 Stunden oder so gemacht habe?«

»Ich, äh …«

»Zwischen den Versuchen, den Katzen und Augen des Königs einen Schritt voraus zu sein und generell am Leben zu bleiben, habe ich eine unschuldige Familie unter die Lupe genommen, sie auf hässliche und außerordentlich unangenehme Weise auf die Probe gestellt, um sicherzugehen, dass niemand von ihnen der Spion gewesen ist oder man ihnen etwas Verräterisches untergeschoben oder in sie eingepflanzt hat. Der Name des Vaters ist Konnos. Du würdest ihn mögen, Majestät. Er arbeitet für die Regierung.« Sie beugte sich dicht zu ihm und fletschte die Zähne. »Genau wie du.«

»Pallas, hey, Pallas …«

»Schnauze.« Sie stellte fest, dass sie plötzlich außer Puste war und schwitzte. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, als sie sich vorstellte, den Klingenstab aus ihrer Handgelenksscheide zu holen und ihm einfach den verdammten Kopf abzuschneiden. Sie bebte vor kalter Wut und fragte sich flüchtig, ob sich Caine so fühlte, kurz bevor er jemanden umbrachte. »Ich habe dir vertraut, Majestät. Ich habe dir vertraut und du hast mich belogen. Menschen, die mir etwas bedeutet haben, sind gestorben.«

»Denk nach, was du tust, Pallas.« Majestät leckte sich über die Lippen und ruckelte mit den Beinen, um von ihr wegzurutschen.

»Du wirst mich nie wieder belügen.«

»Pallas, wirklich, das ist nicht nötig!«

»Ich glaube, doch. Ich habe niemanden mehr, auf den ich mich verlassen kann, Majestät, und ich habe 36 Leute, die auf mich zählen, damit ich ihnen das Leben rette. Es gab ein paar Leute, drei oder vier, von denen wusste ich, dass ich ihnen vertrauen kann. Sie sind jetzt tot. Ich gehe kein Risiko mehr ein.« Sie schloss abrupt den Mund. Weshalb sollte sie ihm etwas darüber erzählen? Sie redete nur mit sich selbst, um zu rechtfertigen, was sie gleich tun musste.

Aus einer Tasche auf der Innenseite ihres Gürtels fischte sie einen prismenförmigen Quarzkristall heraus, etwas kleiner als einer ihrer Finger. Er hing in einem Käfig aus Platin, der an einer Kette aus demselben Material baumelte. Sie zwirbelte die Kette zwischen den Fingern, damit der Kristall sich drehte, wobei er das Mondlicht in Splitter zerbrach.

»Tu es nicht«, flehte Majestät heiser und rang um einen kämpferischen Tonfall. »Beleg mich nicht mit Magick, Pallas. Niemand belegt mich mit Magick.«

Mit einem einzigen Atemzug glitt sie in die Gedankensicht und entfachte das glühende Machtmuster des Kristalls. Nur ein zarter Hauch ihrer Schale löste den Freundschaftszauber aus. Die Mondsplitter, die von den Quarzflächen reflektiert wurden, erhielten in der Gedankensicht eine geisterhafte Festigkeit. Die Splitter schossen nach außen, auf ihnen lag das Machtmuster des Freundschaftszaubers wie Gift auf einer Klinge. Sie durchstießen Majestäts Schale und das glänzende Netz des Freundschaftszaubers breitete sich über die von gelben Flecken durchzogene, überaus bedrohliche Orangefärbung seiner Schale aus wie Öl, das man auf wogendes Wasser gießt. Nicht mal einen Atemzug später wich das Changieren von Wut und Angst den Grüntönen der Ruhe und den warmen, soliden Erdtönen absoluter Loyalität.

»Bist du sicher?«, fragte sie leichthin, als sie aus der Gedankensicht auftauchte. »Es ist nur ein kleiner Spruch.«

Majestät holte tief Luft. Er nahm sich sichtlich zusammen. »Schon gut«, brummte er. »Ich vertrau dir. Tu das, was du für richtig hältst.«

Das habe ich verdient, dachte sie und zuckte dabei zusammen. Sie fühlte sich ein wenig angewidert, hatte aber nicht wirklich eine andere Wahl. So viele Leben hingen von ihr ab – und von ihm. Sie hatte ihm mitten ins Herz gegriffen und sich zur besten Freundin seines Lebens gemacht, enger als eine Schwester, enger als eine Mutter. Ein schrecklicher Eingriff, selbst bei einem Tier. Es aber einem Menschen anzutun – wie konnte sie nur so tief sinken? Die Frau, die sie gewesen war, nur vor ein paar Tagen, hätte so etwas nicht einmal in Betracht gezogen. Dieser Kristall war Notfällen vorbehalten, verzweifelten Situationen, in denen ihr keine andere Wahl blieb. Ließ sich ihr Handeln überhaupt rechtfertigen?

Sie schüttelte sich. Über den möglichen Verfall ihrer moralischen Werte konnte sie sich immer noch Sorgen machen, wenn alle, die unter ihrer Obhut standen, Ankhana sicher verlassen hatten. »Komm mit, Majestät, steh auf«, forderte sie. »Wir haben einiges zu erledigen.«

Majestät erhob sich gehorsam und himmelte sie an wie ein verliebtes Hündchen. »Was immer du sagst, Pallas.«

2

Der grelle gelbe Schein der Sonne von Ankhana stach durch Caines Augenlider wie der Lichtblitz einer Bombe und ließ ihn aufrecht aus dem Stuhl schnellen, auf dem er irgendwann eingeschlafen war.

Einen Augenblick lang, der sich ins Unendliche zu dehnen schien, kämpfte er mit dem klebrigen Durcheinander in seinem Kopf, versuchte zusammenzupuzzeln, wo er sich befand und was gerade vorging. Schließlich richtete sich sein Blick auf die sechs Männer im Gewand der Garderitter, die eine Art menschlichen Wall zwischen ihm und Seiner Gnaden, dem imperialen Herzog der öffentlichen Ordnung, bildeten.

Toa-Sytell stand vor dem Fenster, eine Hand noch am Vorhang, den er just in diesem Augenblick zur Seite geschoben hatte. Sonnenlicht strömte an ihm vorbei, Staubkörnchen wirbelten darin. »Wie fühlt Ihr Euch?«

Caine kratzte sich das zerwühlte Haar. »Das hängt davon ab. Habt Ihr Kaffee dabei?«

»Ich fürchte, nein.«

»Dann fühle ich mich beschissen.« Caine kniff die Augen zusammen, um den Herzog zu erkennen, der sich nun vom Fenster ins Licht bewegte. Violette Schlieren zogen sich von den Augen des Adligen nach unten, die blutunterlaufen und aufgequollen waren. »Ihr selbst seht auch nicht allzu gut aus. Spät geworden gestern?«

»Das soll nicht Eure Sorge sein. Ich bin gekommen, um Euch zum Imperator zu bringen.«

»Das hätten wir schon gestern Nacht erledigen können.«

»Nein, hätten wir nicht.«

»Und der Grund dafür?«

Toa-Sytell breitete die Hände aus. »Ma’elKoth hat gerade eben erst entschieden, Euch zu empfangen.«

Caine nickte und kratzte sich angeekelt am Bart. Es war das Privileg der Mächtigen überall, andere warten zu lassen, aber deshalb musste es ihm noch lange nicht gefallen. Genau genommen brütete er wahrscheinlich sogar einen verdammt großen Ärger aus. Er musste nur erst mal richtig wach werden.

»Ihr glaubt doch nicht, dass Ihr diese Typen noch braucht, oder?«, fragte er und wedelte dabei wegwerfend mit der Hand zu den Wächtern hin. »Ich dachte, wir hätten eine Art Übereinkunft erzielt.«

Der Mund des Herzogs verzog sich kaum wahrnehmbar zu einem vertrockneten Lächeln. »Vielleicht sollte ich Zutrauen haben und glauben, dass ich mich auf Euren guten Charakter verlassen kann. Ich nehme an, bei Creele war das der Fall.«

In der letzten Nacht, als Toa-Sytell Caine unter Vorsichtsmaßnahmen in diesem Zimmer im Colhari-Palast untergebracht hatte – einem Zimmer, in dem bereits eine großzügige Platte mit kaltem Fleisch, Früchten und Brot bereitgestanden hatte, eine Karaffe mit Wein und ein frisch aus den Rohren gelassenes heißes Bad –, hatte Caine den Kopf geschüttelt und ein bitteres Lachen zum Besten gegeben. »Wenn man nur bedenkt, dass ich gerade eben jemanden getötet habe, weil er mich an Euch ausgeliefert hat.«

Toa-Sytell, der vom Eingang aus überwacht hatte, wie die Eskorte der Augen des Königs Caines Handfesseln entfernte, hatte ohne einen Hauch von Heiterkeit geantwortet: »Vielleicht seid Ihr etwas voreilig gewesen.«

Während Caine anschließend in dem Essen herumgestochert hatte, erfuhr er von Toa-Sytell, weshalb die Belohnung ausgesetzt worden war, warum man ihn festgenommen und hergebracht hatte. Die beißende Ironie an der Sache machte Caine sprachlos.

Der Imperator wollte, dass er Simon Jester fand. Wollte ihn dafür bezahlen, das zu tun, was er bereits tat, wollte ihm sämtliche Mittel der Regierung des Imperiums zu Füßen legen, um ihn bei seiner Suche zu unterstützen.

Creele hatte Caine völlig unwissend einen Gefallen getan.

Caine hatte also ganz langsam und sorgfältig das Sandwich zur Seite geschoben, das er sich belegt hatte, geschluckt und gesagt: »Klar. Was wird bezahlt und wann kann ich anfangen?«

Aber darin bestand der Knackpunkt: Ma’elKoth wollte ihn persönlich befragen. Toa-Sytell wusste nicht, weshalb. Caine wurde nahegelegt, ein Bad zu nehmen und seine Kleider zu waschen, um sich anschließend bereitzuhalten. Er machte sich fleißig an die Arbeit, flickte sogar den Riss, den der Oger-Hauer in seiner Hose hinterlassen hatte. Seine Finger hatten gezittert, gebebt vor Vorfreude und Verwunderung, die diese plötzliche Fülle an glücklichen Wendungen in ihm hervorrief – Zugang zum Palast, ein Vorwand, sich unter vier Augen mit der Zielperson zu treffen, und sämtliche Mittel der Augen des Königs, um seine Frau zu finden.

Dann hatte er gewartet.

Und danach hatte er noch ein wenig gewartet.

Allein in dem üppig ausgestatteten Raum, war er auf und ab gewandert, zunehmend ungeduldig und missmutig geworden, dann wütend. Als er an der von außen verschlossenen Tür rüttelte, hatte sich ein Wächter, der im Gang Wache hielt, mit besorgter Stimme erkundigt, ob ihm irgendetwas fehlte. Er überprüfte schließlich die verborgene Dienstbotentür, an deren Position er sich aus der Woche erinnerte, die er vor dem Mord an Toa-Phelathon in Dienerverkleidung verbracht hatte, aber auch die war versperrt. Er dachte kurz darüber nach, ein Fenster einzuschlagen und auf diesem Weg zu fliehen, aber wozu?

Er war hier eher von seinen eigenen Wünschen, seinen Hoffnungen und Sehnsüchten gefangen als von den Schlössern an den Türen. Diese einmalige Chance durfte er sich nicht entgehen lassen.

Seine Gedanken kreisten um die weibliche Gefangene im Zwinger wie ein Windrad in der Hand eines rennenden Kindes.

Shanna könnte in dieser Zelle sein.

Sie könnte sicher sein.

Sie könnte in einer Stunde oder weniger in seinen Armen liegen.

Aufgrund des Spruchs lag es durchaus im Bereich des Möglichen, dass Berne sie gefangen hatte, ohne sie zu erkennen; dass er sie einfach in Gewahrsam genommen hatte, weil sie sich in der Nähe des Vorfalls aufgehalten hatte, allein aufgrund ihrer Anwesenheit. Das lag im Bereich des Möglichen.

Es lag aber auch im Bereich des Möglichen, dass es sich bei der Gefangenen im Zwinger um diese Talann handelte. Shanna konnte überall sein. Es lag im Bereich des Möglichen, dass sie gerade ein üppiges Abendessen in einer Bar am Südufer zu sich nahm. Es lag im Bereich des Möglichen, dass sie in einer kleinen Gasse der Exotenstadt in die Ecke getrieben wurde und gegen die Katzen um ihr Leben kämpfte.

Es lag im Bereich des Möglichen, dass sie gar nicht mehr lebte.

Die Unsicherheit hatte an ihm genagt wie eine Ratte, die sich in seinem Schädel festfraß.

Ma’elKoth war nicht gekommen, hatte nicht nach ihm verlangt. Während sich die Nacht hereinschlich, hatte er nur zornig auf und ab gehen und zuschauen können, wie der Pegel des nach Rosen duftenden Öls im Lampenfuß Millimeter um Millimeter sank. Anhand seines Herzschlags maß er jede Minute von Shannas Leben ab, die er in diesem Zimmer vergeudete.

Irgendwann nach Mitternacht war er über jegliches Bedauern des Mords an Creele hinweg gewesen.

Schließlich hatte ihn die Erschöpfung hinab in einen weichen, über die Maßen gepolsterten Sessel gezerrt. Dort blieb er sitzen und brütete über seine Hilflosigkeit, bis das Brüten nahtlos in den Schlaf überging.

Nun lief er vor seiner Eskorte in die Korridore des Colhari-Palasts. Die sechs Garderitter folgten ihm in weit ausgefächertem Bogen. Toa-Sytell kam als Letzter, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und einen Ausdruck nachdenklicher Aufmerksamkeit auf dem Gesicht. Ihre Absätze verursachten auf dem kräftig blau-grün gefärbten Läufer, der den blassen, pfirsichfarbenen Marmorboden halb bedeckte, keinerlei Geräusch. Toa-Sytell lenkte Caine mit Worten: Hier abbiegen, dort noch mal, diese Stufen nach unten.

In der Nähe der Treppen gab es einen offenen Bogen, der in einen vertikalen Schacht führte, mit geölten Seilen an den Wänden, die sich nach oben und unten erstreckten, bis sie in der Dunkelheit verschwanden. Neben dem Bogen befand sich ein Glockenzug. Caine nickte im Vorbeigehen zu dieser Anordnung hin. »Wir sind zu viele für den Beweglichen Raum, hm?«

»Ja«, erwiderte Toa-Sytell, »die Oger am Göpel im Keller schaffen nicht mehr als drei oder … Aber eigentlich wisst Ihr das doch alles, denke ich mir.« In seiner Stimme schwang eine merkwürdige Heiserkeit mit, als werde sie durch ein nicht genau bestimmbares Gefühl gepresst.

Caine zuckte die Schultern und näherte sich den Stufen. Sie stiegen schweigend zwei Stockwerke hinab und durchquerten einen weiteren Gang. Caine nahm inzwischen einen zunehmenden Fleischgeruch wahr, einen kupferartigen Kühlhausgestank.

»Ihr und ich, wir sind beinahe gleich alt, Caine«, sagte Toa-Sytell unvermittelt. »Ihr könnt höchstens vier oder fünf Jahre jünger sein als ich. Habt Ihr Kinder?«

Caine stoppte und blickte den Herzog mit zusammengekniffenen Augen über die Schulter an. »Warum wollt Ihr das wissen?«

»Söhne sind der Stolz eines Mannes, Caine, und Töchter sein Trost im Alter. Ich bin nur neugierig.«

Caine zuckte die Schultern. »Vielleicht irgendwann.«

»Ich hatte zwei. Söhne, die ich geliebt habe, Caine. Die zu ehrenhaften Männern herangewachsen sind, stark und kämpferisch. Tashinel und Jarrothe. Sie wurden beide getötet, mit nur einem Monat Abstand, während des Erbfolgekriegs.«

Er sagte das, als berichte er von einem Anstieg der Getreidepreise auf den Märkten, aber etwas Düsteres und Mächtiges flackerte hinter seinen Zügen auf.

Caines Augen hielten den Blick des Herzogs einen Moment lang fest, nahmen seinen Verlust ernst zur Kenntnis. Ein weiteres Messer, das auf mein Gewissen zielt, überlegte er. Verglichen mit den anderen Verletzungen, die sein Gewissen erlitten hatte, war es aber kaum ein Kratzer.

Schließlich senkte er den Blick, als sei er beschämt, und lief weiter. Soll er doch denken, dass ich es mir mehr zu Herzen nehme, als es tatsächlich der Fall ist, wenn es ihm wichtig ist. Soll er doch den Trost bekommen, den ihm das spendet.

Und ich sollte auf keinen Fall vergessen, dass Berne sicher nicht mein einziger Feind im Palast ist.

»Euer Ziel befindet sich hinter dem Bogen am Ende des Gangs«, sagte Toa-Sytell. »Achtet darauf, nichts zu tun oder zu sagen, was den Imperator stören könnte. Er ist mit etwas beschäftigt, das er sein Großes Werk nennt, und wird Euch ansprechen, wenn und falls er es wünscht.«

»Großes Werk?« Die Großbuchstaben hörte man dem Tonfall des Herzogs förmlich an.

»Ihr werdet schon sehen. Nun geht.«

Der Blutgeruch wurde stärker. Bis Caine den Eingang erreicht hatte, konnte er es schmecken wie rohes Fleisch, das bereits seit ein paar Tagen vergammelte.

In den Tagen von Toa-Phelathon war dieser Raum als kleiner Ballsaal genutzt worden; ein intimer Schauplatz für Feste mit weniger als 1000 Gästen. Sonnenlicht, hell genug, um einem die Augen zu verbrennen, schien durch die riesigen Fenster herein, die die Südwand dominierten – ausladende Öffnungen, die zehn Meter hoch aufragten und durch robuste Säulen aus importiertem Granit voneinander getrennt wurden. Die Mitte des Tanzparketts hatte man ausgeschnitten und aus dem Kalkstein darunter eine flache Kuhle mit einem halben Steinwurf Durchmesser ausgehoben.

In der dadurch entstandenen Grube glühten rote Kohlen, die eine lähmende Hitze, jedoch keinerlei Rauch oder Geruch absonderten. Oberhalb davon befand sich, von Messingbeinen gestützt, ein riesiger Kessel, flach wie eine Eintopfschüssel, aber breit genug, um darin ein paar Runden zu schwimmen. Der Kessel wurde von Pagen beaufsichtigt, die um die Ränder huschten, mit langen Holzstäben darin rührten, die sie hoch über ihre schweißgetränkten Köpfe hielten, oder Tröge mit verschiedenen Inhalten in die Brühe kippten, während weitere Pagenpaare von Seite zu Seite hetzten und riesige Blasebälge aus Leder schleppten. Diese stellten sie auf den Boden und lehnten sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf, um den Kohlen sengendes Leben einzuhauchen.

Im Kessel schien kochender Schlamm oder extrem feuchter Ton zu brodeln. Von dort, dachte Caine, stammte auch der Blutgeruch – ein bitterer, säuerlicher Unterton. Der ganze Raum waberte und schimmerte unter der Hitze.

Barfuß über die Oberfläche des kochenden Schlamms schritt der Imperator Ma’elKoth.

Allein schon seine Statur machte ihn unverkennbar. Caine blieb einfach unter dem Bogen stehen und beobachtete das Schauspiel von dort aus. Dabei war er sich des Fingers bewusst, der ihn am Hinterkopf stupste; dieses nagenden Gefühls der Vertrautheit damit, wie der Imperator sich auch damals in der Aufzeichnung, die Kollberg ihm gezeigt hatte, bewegt, wie er gestikuliert und gesprochen hatte.

Der Imperator trug lediglich einen Kilt aus scharlachrotem Samt, eingesäumt von einem Gewebe aus Goldstoff. Der langsamen, majestätischen Anmut seiner Bewegungen haftete etwas von einem Dinosaurier oder Drachen an, ebenso wie der Art, wie er mit offensichtlicher Befriedigung von Pose zu Pose zu fließen schien, als erfülle ihn das Spiel der Muskeln in seinen riesigen Armen und Schultern, Brust und Rücken mit einer tiefen spirituellen Freude, die man genießen musste; als liefere es die Antwort auf eine persönliche ästhetische Notwendigkeit, in derselben animalischen Art und Weise wie Sex. Die Bewegungen waren stilisiert wie die eines Bodybuilders, präzise wie ein Ballett.

Der kochende Ton unter Ma’elKoth spie rauchende Brocken an den Beinen hoch; er achtete genauso wenig darauf wie auf den steten Lufthauch, den die Blasebälge der Pagen produzierten. Seine Augen leuchteten in blassem Kleeblattgrün – mehr als das: wie fluoreszierender Smaragd. Er hob die Hände in der Manier eines Priesters, der einen Segen austeilt, und aus dem kochenden Ton quoll eine formlose Masse, die immer noch Dampf spuckte und unter der inneren Hitze bebte.

Die Masse aus Ton, 100 Kilo oder mehr, schwebte im Hitzeflimmern, zwei Meter über der Oberfläche, getragen allein von Ma’elKoths Willen. Scheinfüße wanden sich aus der Masse nach außen, fünf Glieder, die sich aus eigenem Willen zu strecken und formen schienen. Ton fiel heraus, klatschte wie frische Scheiße in den Schlamm darunter. Vier der Glieder streckten und dünnten sich aus, während sich das andere zusammenzog. Der Ton nahm die Gestalt eines Menschen an.

Die Gestalt wirkte klein, winzig sogar, wenn man sie mit der Masse des Imperators verglich. Sie drehte sich in der Luft, ihre Züge verfeinerten sich. Sich bauschende Falten, die wohl Kleidung darstellten, glitten in Wellen über die Oberfläche. Ihr Gesicht rotierte an ihm vorbei, sodass Caine es betrachten konnte: kurz gestutzter Schnurrbart, von Bartstoppeln eingefasst, eine Nase, die von einem alten Bruch leicht gekrümmt war und über die sich eine Narbe zog. Sein Mund wurde plötzlich trocken.

Er hob einen Fuß, um vorzutreten und näher heranzugehen. Ma’elKoth sagte: »Bitte beweg dich nicht. Das ist, wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst, ziemlich schwierig.« Er hatte den Bogen keines Blickes gewürdigt. Absolut unmöglich, dass er Caine dort entdeckt hatte, zumindest nicht mit den Augen.

Caine starrte die Statue an und wagte kaum zu atmen. Bei Tyshalles blutiger Axt, dachte er.

Das bin ich.

Und sobald dieser Gedanke zu Ende gedacht war, entsprach er auch der Wahrheit: Bei dem Wesen aus Ton handelte es sich um eine Replik, vollkommen in jeder Einzelheit, nur dass sie nach wie vor die Farbe von Schlamm aufwies – sie passte sich sogar an seine Haltung im Eingang an, hing in der Luft und drehte sich langsam wie eine Leiche am Galgen, während Ma’elKoth sein Werk musterte. In der Stimme des Imperators schwang das warme und ferne Grollen eines Vaters mit, den man durch die Wände der Gebärmutter sprechen hört.

»Du darfst dich jetzt bewegen, Caine. Bitte komm herein.«

Die Pagen, die um den Kessel flitzten, darin rührten und die Blasebälge pumpten, ignorierten ihn, als er den Raum betrat. Caines Schritte waren zögerlich und in seiner Brust spürte er ein Ziehen, das er zunächst nicht einordnen konnte, weil er sich wirklich nicht erinnerte, wann er das letzte Mal so etwas empfunden hatte – Sekunden vergingen, bis ihm klar wurde, dass es sich um Ehrfurcht handelte.

Das war die erstaunlichste Vorführung vollkommener Meisterschaft gewesen, die er je erlebt hatte: Es fiel ihm schwer, sich einen Menschen vorzustellen, der eine noch vollständigere Herrschaft über jedes Element seiner Umgebung ausübte.

Und ich habe unterschrieben, diesen Mann zu töten. Ich beseitige ihn wohl besser im Schlaf.

Ma’elKoth schlenderte über die kochende Oberfläche aus Ton, ohne den Dampf und die Hitze wahrzunehmen. Das Caine-Modell, das er gefertigt hatte, hüpfte hinter ihm her wie ein Hundewelpe. Sein Willkommenslächeln wärmte Caine wie ein Schluck Whisky. »Ich kann nicht genau erkennen«, meinte er, »wo dieses Teil hinpasst. Was meinst du?«

»Teil?«, fragte Caine heiser. Was für ein Teil? Teil wovon? »Ich verstehe nicht.«

Ein dröhnendes Lachen. »Natürlich nicht. Du siehst das« – er nickte zu der Tonstatue hin – »als fertiges Kunstwerk. Für Mich ist es nur ein Einzelteil: davon.«

Ma’elKoth deutete mit großer Geste auf einen Punkt hinter und über Caines Kopf. Caine drehte sich um und blickte auf, immer höher und höher. Sein Mund stand offen wie bei einem Kind, während es an der Seite eines Wolkenkratzers emporstarrt.

Es handelte sich um ein Gesicht.

Es konnte zu nichts anderem als einem Titanen gehören, zu Atlas, der den Himmel auf den Schultern trug. Von kurz oberhalb des Bodens bis zur Decke des Ballsaals in 35 Metern Höhe erstreckte sich dieses gigantische Relief eines Antlitzes.

Es schien weniger als zur Hälfte vollendet. Zum Teil sah man noch die nackte Wand; in anderen Bereichen gab es eine Knochenstruktur, die sich langsam nach außen erweiterte. Nur die Stirn und ein Auge hatte Ma’elKoth bereits vollendet.

Ein Gesicht, das sich aus Menschen zusammensetzte.

Wie das Puzzle eines verrückten Gottes waren die Leiber geschichtet und eingepasst, ineinandergesteckt wie Leichen in einem Massengrab. Einen Augenblick später erkannte Caine, dass er es natürlich nicht mit Körpern zu tun hatte, nicht mit richtigen Leichen, sondern mit Tonstatuen wie jener von ihm, die an Ma’elKoths Seite schwebte.

Die schiere Größe des Objekts war atemberaubend. Wenn er daran dachte, wie viel Arbeit es gemacht haben musste, jedes einzelne perfekte Modell zu gestalten und einzupassen, und wie viel Arbeit noch zu erledigen blieb, schwoll seine Ehrfurcht bis in die Kehle an, würgte jegliche echte Hoffnung ab, dass Ma’elKoth nur ein weiterer Thaumaturg war, nur ein weiteres Musterbild eines mächtigen Mannes.

Caine konnte nur starren.

»Gefällt es dir?«, dröhnte Ma’elKoth. »Ich nenne es Die Zukunft der Menschheit.«

Bei diesen Worten klickte etwas in Caines Verstand, und er nahm die Gesamtheit des Werkes wahr: Einen Augenblick lang hatte er eine Vision, in der sich diese Knochen weiter nach außen dehnten, und er gab ihnen Fleisch und bemalte sie mit Farbe.

Hier entstand das Gesicht von Ma’elKoth.

Caine flüsterte: »Es sieht aus wie Ihr.«

»Natürlich. Es ist ein Selbstporträt.«

Ma’elKoths Stimme erklang inzwischen unmittelbar neben ihm. Caine drehte sich um und fand sich Nase an Schlüsselbein vor der massiven Brust des Imperators wieder. Er musste so lautlos wie eine Katze vom Rand des Kessels herabgesprungen sein. Caine konnte ihn riechen: üppiger, maskuliner Schweiß über dem nach Lavendel duftenden Öl, das in Haaren und Bart glänzte, und der schwere, fleischige Geruch des Tons, der seine nackte Haut verklebte. Ma’elKoth ließ seine vollkommen weißen, vollkommen geraden und beeindruckend großen Zähne aufblitzen.

»Jedes große Kunstwerk ist letzten Endes ein Selbstporträt, Caine.«

Es lag etwas so Einschüchterndes darin, sich in Reichweite dieser gewölbten Arme zu befinden, dass Caine nichts sagen und als Antwort nur nicken konnte.

Das Caine-Modell schwebte neben ihm, von vollkommener Größe und makellos auch in jedem anderen Detail: Caine blickte in seine eigenen Augen, aus Ton gestaltet, und konnte nun erkennen, dass sogar einzelne Barthaare ausmodelliert waren.

»Und das ist das Fragment, an dem Ich gerade arbeite«, sagte Ma’elKoth, »aber Ich kann nicht recht erkennen, wo es hin soll. Jedes Fragment hat seinen konkreten Platz, jedes Teil muss zum Ganzen beitragen. Seit zwei Tagen habe Ich immer wieder an diesem Exemplar gearbeitet und Ich sehe es nach wie vor nicht. Vielleicht hast du einen Vorschlag?«

Caine schüttelte den Kopf und zwang die Worte durch seinen zugeschnürten Hals. »Ich möchte mir das nicht anmaßen.«

»Selbstredend.« Ma’elKoth seufzte. »Nun denn. Wenn sich kein richtiger Platz finden lässt …«

Der Imperator hob die Hand vor den Augen und ballte sie unvermittelt zur Faust. Das Caine-Modell krümmte sich und dellte sich formlos zusammen, quetschte sein irdenes Fleisch zwischen den Fingern eines unsichtbaren Giganten heraus.

Einen Augenblick nur dachte Caine, er nehme einen veränderten Ausdruck auf seinem Tongesicht wahr, einen Ausdruck schrecklicher und unaussprechlicher Qual, doch dann wurde auch dieser zerquetscht. Eine weitere Geste von Ma’elKoth, und der unförmige Tonklumpen erhob sich über den Rand des Kessels wie ein Kinderball, um in den Ton hineinzuklatschen, aus dem er entstanden war.

»Noch Fragen?«, wollte Ma’elKoth wissen.

»Ihr«, erwiderte Caine langsam, »seid nicht subtil.«

»Subtilität ist etwas für Schwächlinge. Es ist eine schmeichlerische Taktik, die sie einsetzen, um ihre Sehnsüchte zu erfüllen, wenn es ihnen an Macht fehlt, etwas direkt zu tun.«

Witzig, dachte Caine. Ich kann mich erinnern, fast dasselbe gesagt zu haben, und das mehr als einmal.

Ein Page ging mit einem großen Eimer voll dunkler Flüssigkeit vorbei, um ihn über den Rand des Kessels zu kippen. Caine sah ihm dabei zu und kniff dann die Augen vor Ma’elKoth zusammen.

»Hier kommt eine Frage: Was ist das für ein Zeug, das sie da ständig in den Ton kippen? Es riecht nach Blut.«

»Es ist Blut«, gab Ma’elKoth ernst zurück. »Alle Großen Werke sind mit Blut errichtet, wusstest du das nicht?«

»Das, äh …« Caine räusperte sich unbehaglich. »Das ist für gewöhnlich nur eine Metapher.«

»Ist das so?«

Er rieb munter die Hände aneinander und klopfte Caine ohne Vorwarnung kameradschaftlich mit einer Hand auf den Rücken, fest genug, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Komm. Ich muss Mich waschen und du bist natürlich hungrig und solltest essen. Wir haben viel zu diskutieren.«

Er schritt durch den Torbogen hinaus und schlug einen federnden Schritt an, so schnell, dass Caine laufen musste, um mitzuhalten.

3

Auf der Frühstückstafel türmten sich die Köstlichkeiten wie bei einem Bankett. Sie war beladen mit allem, vom Gemüsesoufflé bis hin zu gefüllter Wachtel. Caine nippte an einem hohen Kelch mit Eisrand, gefüllt mit gekühltem Kaffee, und verdrängte den Gedanken an griechische Mythen und Granatapfelkerne.

Ma’elKoth lag auf einem geschwungenen Sofa am anderen Ende der Tafel und räkelte sich mit löwenhafter Anmut. Beim Baden hatte er kunstvollen Small Talk betrieben. Die drei hübschen Mädchen, die die Wanne mit ihm teilten, um den aushärtenden Ton abzuschrubben, hatten Ma’elKoths Aufmerksamkeit kaum stärker in Anspruch genommen als der kleine Abstelltisch neben ihnen.

Caine beugte sich über den Tisch, wobei ihm die Griffe seiner neuen Messer in die Rippen stachen. Er war sich der Anwesenheit aller sieben dieser Klingen genauestens bewusst. Auf dem Marsch von den Bädern zum Frühstücksraum hatte sich Ma’elKoth ihm zugewandt und fröhlich verkündet: »Ich muss dich um Verzeihung bitten, dass Ich ein derart schlechter Gastgeber bin. Ich habe erst jetzt erkannt, warum du dich so unwohl zu fühlen scheinst und in der Konversation so zurückhaltend bist. Bitte folge Mir.«

Der Imperator hatte ihn in der Waffengalerie im zweiten Stock in einen Raum so groß wie ein Schlafgemach geführt, gefüllt mit Gestell um Gestell jedes erdenklichen Messertyps. Die Auswahl reichte von gebogenen Klingen wie Khukris bis hin zu Parierdolchen mit fächerförmigen Griffen, katar-ähnlichen Faustmessern, Meißelklingen im Tanto-Stil und selbst einigen Scheiden mit den gleichschenkligen, ellenlangen Klingen im Stil eines Arkansas Toothpick. »Bitte«, forderte Ma’elKoth ihn auf. »Bedien dich.«

Caine hatte einen geflammten Ehrendolch genommen, ähnlich wie ein Florentiner Flammenstilett, und ihn in den Fingern hin und her gewendet. Sie hielten sich ohne weitere Bedienstete in diesem Raum mit der massiven Holztür auf und überall lagen Messer griffbereit.

»Wisst Ihr«, hatte er gesagt, »Creele glaubte, dass jemand mich angeheuert hat, um Euch zu töten. Ihr wärt gut beraten, mich unbewaffnet zu lassen.«

Tiefe Erheiterung hatte in den leuchtend grünen Augen des Imperators gefunkelt. »Bin Ich ein Narr? Du, Caine, bist niemals unbewaffnet. Ich könnte dir die Arme von den Schultern schneiden und du würdest Mich immer noch mit den Füßen töten. Bitte, nimm Meine Gastfreundschaft an. Es ist Mein Wunsch, dass du dich vollkommen wohlfühlst.«

Wohlfühlen? In der Anwesenheit von Ma’elKoth?

»Das ist ein Witz, oder?«

»Natürlich.«

Und so war jede Scheide mit frischem Stahl gefüllt, als Caine zum Frühstück Platz nahm.

Caine hatte den ganzen Vormittag darauf gewartet, dass Ma’elKoth zum Geschäftlichen kam. Nun wollte er nicht länger warten.

»Herzog Toa-Sytell hat mir erklärt, was Ihr von mir erwartet. Ich bin einverstanden. Sagt mir nur, welche Ressourcen ich nutzen kann und was Ihr mir für den Auftrag bezahlt.«

Ihm war bewusst, dass er es übertrieb und viel zu eifrig wirkte, aber er konnte nicht anders. Und es war ihm auch egal. Ihn plagte ein stechendes Bedürfnis in den Eingeweiden und trieb ihn weiter: Er musste aus diesem Palast verschwinden, musste auf die Straßen hinaus und sich Shanna an die Fersen heften.

»Caine, bitte.« Ma’elKoth lümmelte sich träge auf dem Sofa. »Es ist vulgär, während des Essens Geschäftliches zu besprechen, und zudem schlecht für die Verdauung.«

»Ihr esst nicht.«

»Ich esse gar nicht mehr«, antwortete Ma’elKoth mit schwerem Schulterzucken. »Genauso wenig schlafe Ich. In kleinen, nebensächlichen Angelegenheiten wie diesen kann eine Macht wie Meine schon belastend sein.«

So viel zu der Idee, ihn bei einem Nickerchen zu erwischen oder ihm ein paar Tropfen Arsen in den Eintopf zu schmuggeln. Caine ließ ein wenig von seiner Ungeduld in die nächsten Worte fließen: »Nun, wenn wir nicht übers Geschäft reden, warum verschwenden wir dann unsere Zeit?«

»Diese Zeit ist nicht verschwendet, Caine. Ich nutze sie, um dich zu studieren.«

Caine stellte sorgfältig seinen Kelch ab. Er wollte keinen Kaffee auf die Leinentischdecke verschütten, falls seine Hand zu zittern anfing.

»Ach?«

»Und ob. Es war eine mächtige Entität, Caine, die deinen Namen und dein Bild aus Meinen Gedanken geholt hat, eine Entität des Äußeren, die Meine Frage beantwortet hat: Wer soll diese Pest namens Simon Jester in Meine Hände ausliefern? Anfangs war Ich geneigt, es für einen glücklichen Zufall zu halten, dass die Entität Mir ein Gesicht zeigte, das Mir so vertraut war, dass es nicht einmal zwei volle Tage dauerte, dich anzuziehen.«

»Mich anzuziehen?« Caine runzelte die Stirn. »Ihr denkt, ich sei hier wegen irgendeines …«

»Wir wollen nicht streiten, Mein lieber Junge. Ich habe nach deiner Anwesenheit verlangt und hier bist du. Das sind die Fakten. Welcher Mechanismus dahintersteckt, ist irrelevant. Darüber hinaus, auch wenn es Mich freut, dass du dich nun wohl genug fühlst, Mich zu unterbrechen, ist es unhöflich, es zu tun. Rüde sogar.«

An der Oberfläche blieb Ma’elKoths Tonfall leichtfertig, aber ein unterirdischer Hall unter dem Kontrabassgrollen legte nahe, dass tief in seiner Brust eine große und hungrige Kreatur unruhig schlief. Er wartete, äußerlich ruhig, starrte Caine aus klaren, haselnussbraunen Augen …

Hey, dachte Caine, sind seine Augen vorhin nicht blau gewesen? Oder grün? Für einen Augenblick abgelenkt, ließ Caine zu, dass sich das Schweigen schmerzlich in die Länge zog, ehe er wieder zu sich fand. Er begegnete dem Blick des Imperators etwas verlegen. »Entschuldigt, imperiale Maj…«

»Angenommen«, erwiderte Ma’elKoth munter. »Ich bestehe hier nicht sehr auf Förmlichkeiten, wie dir vielleicht aufgefallen ist. Das Zeremoniell ist etwas für unbedeutende Menschen, die die gespielte Ehrfurcht anderer wie Speichel von ihrem Kinn lecken. Meine ursprüngliche Absicht, dir einfach zu gestatten, diese Aufgabe anzugehen, ist etwas auf der Strecke geblieben, denn Ich, Caine, bin ein Mann, der mit Neugier geschlagen ist. Ich habe die fatale Frage gestellt: Weshalb du?«

Caine breitete die Hände aus. »Ich frage mich das ebenfalls.«

»Meine Suche nach der Antwort auf diese Frage hat Mich dazu geführt, über deinen Werdegang nachzudenken.« Ma’elKoth setzte sich auf und legte die Handflächen zwischen ihnen auf den Tisch. Seine Augen brannten. »Hast du eine Vorstellung davon, was für ein außergewöhnlicher Mensch du bist, Caine?«

»Aufhören, sonst werd ich ganz verlegen.«

»Mach dich nicht lächerlich. Von den sechs entscheidenden Wendepunkten der Geschichte des Imperiums im Lauf dieses letzten turbulenten Jahrzehnts bist du an vieren zentral beteiligt gewesen. Die einzige greifbare Verbindung zwischen ihnen ist ihre Größenordnung und die Tatsache, dass du persönlich Einfluss auf den Ausgang genommen hast.«

»Tatsächlich?«

Ma’elKoth zählte sie an den Fingern ab. »Erstens: das Attentat auf Prinzregent Toa-Phelathon …« Er hob eine Hand. »Nein, langweile mich nicht mit Unschuldsbeteuerungen. Es hat den Erbfolgekrieg ausgelöst, der mit der Vernichtung der Menelethiden-Dynastie und Meinem Herrschaftsantritt endete. Zweitens: Du hast eine kleine Gruppe von Abenteurern angeführt, die unter großem persönlichen Risiko aus dem Boedecken-Ödland kamen, um Neuigkeiten vom Aufstieg des Khulan G’thar und seiner Vereinigung der Ogrilloi zu überbringen, und zwar rechtzeitig, sodass Ankhana die Grenzstädte befestigen und zwei Armeen gegen seinen Ansturm aufstellen konnte.«

»Das war eher Zufall«, widersprach Caine. Er und seine Partner hatten in den Ruinen einer uralten Metropole der Ersten nach Artefakten und Schätzen gesucht – aus einer Ära vor Tausenden von Jahren, in der die Elfen noch Städte erbaut und darin gelebt hatten –, als sie ein umherziehender Ogrillo-Stamm gefangen nahm. Die blutigen Spiele, die die Ogrilloi mit ihnen getrieben hatten, und Caines noch blutigere Flucht mit seinen beiden überlebenden Begleiterinnen waren dafür verantwortlich, dass sich Rückzug aus dem Boedecken nach beinahe zehn Jahren im Verleih unverändert großer Beliebtheit erfreute.

»Trotzdem. Mehr als ein Jahr später, als die Inkompetenz der Generäle von Ankhana es der Horde von Khulan gestattete, das bloße Vorhandensein der Menschheit auf diesem Kontinent infrage zu stellen, bist du es gewesen, Caine, der die Leibgarde von Khulan G’thar infiltrierte. Du hast die Armee von Ankhana nicht nur rechtzeitig mit G’thars vollständiger Schlachtordnung versorgt, um unsere Truppen mit der monastischen Expeditionsstreitmacht zu vereinen und der Horde von Khulan bei Ceraeno zu trotzen, sondern bist auch ein weiteres Mal in die Horde eingedrungen, hast dich Khulan selbst im Einzelkampf gestellt und ihn getötet.«

»Einzelkampf.« Ein leises Lächeln schlich sich auf Caines Lippen. »Das ist ein wenig übertrieben. Ich habe mich während der Schlacht von hinten angeschlichen und ihn erstochen. Der alte Bastard war zäher, als ich dachte. Er hat mir mit diesem Morgenstern, den er als Zepter rumschleppte, den Arm gebrochen. Das spüre ich immer noch jedes Mal, wenn es regnet.« Der warme Stolz, der sich in seine Stimme schlich, hatte nur am Rande mit Ma’elKoths Lob zu tun. Das letzte Gefecht bei Ceraeno galt allgemein als Caines größtes Abenteuer.

Ma’elKoth zuckte die Schultern. »Solche Details sind belanglos. Bei dieser speziellen Begebenheit hast du das Imperium fraglos im Alleingang gerettet. Du bist tatsächlich, wenn ich Berichte und Gerüchte aus dem ganzen Kontinent zusammentrage, nahezu ständig in die eine oder andere große Tat verwickelt …«

Seine Stimme schmeichelte tödlich sanft, eine Garrotte aus Seide, die sich um Caines Hals legte. »Und Ich frage Mich, wie kann es sein, dass ein Mensch so unnachgiebig bedeutend ist. Merkwürdig, oder nicht?«

Das liegt daran, dass das Studio mich dorthin schickt, wo die Action ist, entschied er und fand keine bessere Erklärung. Ihm wurde schmerzlich bewusst, wie trügerisch das Terrain war, auf dem das Gespräch sich bewegte. Angenehme Schmeichelei wich mit einem Mal hungrigem Treibsand.

Wie viel wusste Ma’elKoth wirklich über diese Aktiri, die er so gnadenlos jagte?

»Nun hat Mir eine Entität des Äußeren anvertraut, dass du der einzige Mensch bist, der Simon Jester fangen kann. Ich habe die ganze letzte Nacht mit dem Versuch zugebracht, herauszufinden, weshalb das so ist. Während du geschlafen hast, habe Ich dich jedem Test unterzogen, der Mir zur Verfügung steht.«

Caines Mund wurde vollkommen trocken. »Und?«

»Ich fand nichts. Was für eine Macht auch immer dich in den Mittelpunkt der Ereignisse rückt, sie ist nicht magischer Natur. Die einzige Besonderheit, auf die Ich gestoßen bin, betrifft die Farbe deiner Schale – sie ist schwarz, weißt du, und überhaupt nicht zu deuten. Das erklärt unter Umständen einige deiner Erfolge gegen Thaumaturgen – Ich weiß, dass du seinerzeit eine ganze Reihe von Adepten getötet hast – und andere Kreaturen, die Magick einsetzen. Es verschafft dir einen erheblichen Vorteil, wenn deine Emotionen und Intentionen sich nicht deuten lassen.«

»Manchmal«, bestätigte Caine und stieß den Atem langsam aus.

»Aber das ist wohl kaum einzigartig, höchstens selten. Da Mir die Möglichkeiten fehlen, Meine Neugier zu befriedigen, bin Ich zu einer anderen Methode übergegangen: Ich frage dich direkt.«

»Weil Ihr annehmt, dass ich es weiß.«

Ma’elKoth nickte ernst. »In der Tat. Ich hoffe, dem ist so. Frustration empfinde Ich als unerträglich. In Meiner Frustration hätte Ich dich letzte Nacht sogar fast getötet.«

Caine blinzelte. »Aha?«, fragte er dünn.

»Es ist ein Spruch. Eine besondere Kraft. Ich habe stark in Betracht gezogen, dir das Leben zu nehmen, damit Ich einige der Erinnerungen deines scheidenden Geistes aufnehmen kann.«

»Das, äh«, sagte Caine vorsichtig, »wirkt ein bisschen extrem …«

»Nun ja.« Ma’elKoth lachte trocken. »Dass Ich durchschaue, wie du Simon Jester erwischen kannst, hätte Mir nicht viel geholfen, wenn Ich nicht länger auf dich zurückgreifen könnte, um die Tat auszuführen.«

»Ich nehme an, ich begreife immer noch nicht, wieso Ihr, äh, diesen Typen nicht selbst finden könnt.«

»Es ist ein Spruch des Verbergens, den Simon Jester gewirkt hat, und er hält nach wie vor an. Ich konnte zwar seine Wirkungsweise analysieren, aber Ich vermag ihm nichts entgegenzusetzen – noch nicht, möglicherweise auch nie. Die Entität des Äußeren hat Mir verraten, dass der Spruch mühelos gebrochen wird, sobald Ich einmal Hand an denjenigen lege, der ihn gewirkt hat. Er wirkt direkt auf den Verstand ein und zersplittert die einzelnen Wissensfragmente, die Ich über ihn besitze. Das verhindert, dass Ich eines mit dem anderen verbinde oder überhaupt herausfinde, dass eine solche Verbindung möglich ist. Äußerst ärgerlich, dass Ich aller Voraussicht nach längst weiß, wer dieser Simon Jester ist, und schlicht daran gehindert werde, den Namen mit einem Gesicht zu verbinden.«

Ach du heilige Scheiße! Es war kein inspiriertes Aufblitzen, sondern eher ein langsames Dämmern: Caine gelangte zu der Erkenntnis, dass die Antwort auf Ma’elKoths letzte Frage die gleiche war wie die Antwort auf die Frage zuvor.

Es liegt daran, dass ich ein Akteur bin.

Hier schweifte bei allen der Blick in die Ferne, sobald man Simon Jester oder Pallas Ril erwähnte – der Grund, weshalb es ihm nicht so ging, lag darin, dass in seinem Herzen, seinem Verstand, seinen wertvollen Träumen vom Glück kein Simon Jester existierte. Keine Pallas Ril. Es gab nur Shanna. Er liebte nicht die Abstraktion, nicht ihre Scarlet-Pimpernel-Nummer; er liebte auch nicht die Figur, die Persona von Pallas Ril, sondern Shanna. Es war immer nur Shanna gewesen.

Würde immer Shanna bleiben, bis in alle Ewigkeit.

Er hatte keine passende Antwort für Ma’elKoth parat, selbst wenn er es gewollt hätte. Die Konditionierung des Studios konnte seine Stimme abwürgen, ihn sogar töten, ehe die Wahrheit über seine Lippen drang. Und je näher Ma’elKoth der Antwort auf seine Fragen kam, desto näher kam er auch der Wahrheit von Caine.

Einer Wahrheit, die in diesem Fall tödlich war.

Ich werde hier sterben. Früher oder später wird er erkennen, was vor sich geht, was ich in Wahrheit bin, und dann wird er mich töten.

Und selbst wenn er es nicht tut, habe ich mich vertraglich verpflichtet, ihn auszuschalten. Sobald ich den Versuch unternehme, wird er mich auspusten wie eine Kerze.

Der Tod war, wie die Sonne, etwas, das nicht einmal Caine allzu beharrlich anstarren konnte – er fragte sich flüchtig, ob Creele und Toa-Phelathon und seine zahllosen anderen Opfer auf ihn warten würden, verdrängte den Gedanken aber.

Das Beste, worauf ich hoffen kann, ist Shanna lebendig zur Erde zurückzubringen. Gewinnen oder verlieren, leben oder sterben. Das alles ist völlig egal, solange es ihr gut geht.

»Was ist?«, fragte Ma’elKoth, der sich vorbeugte und Caines Gesicht musterte. »Du bist zu einer Erkenntnis gelangt, so viel steht fest. Berichte Mir davon. Sofort.«

»Ich bin«, sagte Caine, »zu der Erkenntnis gelangt, dass ich nicht länger höflich zu Euch sein muss.«

»Aha?« Ma’elKoth wirkte eher amüsiert als beleidigt.

Caine zuckte die Schultern und schenkte dem Imperator ein zynisches, schiefes Lächeln. »Wenn Ihr mich nicht brauchen würdet, um Simon Jester für Euch zu fangen, wäre ich ohnehin schon tot. Das habt Ihr selbst gesagt. Ich glaube, es ist dumm, mir Sorgen darüber zu machen, wie ich mich weiterhin gut mit Euch stelle.«

Ein Teil der Erheiterung zog sich langsam aus dem Blick des Imperators zurück, und sein Grollen klang leicht bedrohlich.

»Dumm?«

»Seid vernünftig. Nehmt die Fakten hin und lasst mich die Sache durchziehen.«

»Vernünftig, in der Tat«, schnurrte Ma’elKoth. Er stützte die Ellbogen auf der Tischplatte ab und schob die Finger vor seinem Gesicht zusammen. »›Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an, der unvernünftige besteht auf der Notwendigkeit, die Welt an seine Bedürfnisse anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab.‹«

Das stammt von George Bernard Shaw!, stellte Caine wie vom Donner gerührt fest. Dieses spezielle Zitat war ein Favorit von Duncan – wo mochte Ma’elKoth auf das Zitat eines irdischen Schriftstellers gestoßen sein? Noch dazu eines verbotenen …

»Wisst Ihr«, sagte er vorsichtig, »mein Vater hat das früher immer zu mir gesagt.«

»Ich weiß.« Ma’elKoths Lächeln zog auf wie die Dämmerung. »Du hast diesen Satz schon einmal vor Mir zitiert, und Ich vergesse niemals etwas.«

Jetzt reicht es langsam mit dieser Scheiße! »In Ordnung, ich gebe auf.«

»Hä?«

Caine schüttelte verärgert den Kopf. »Ich habe mir Mühe gegeben, um herauszufinden, woher ich Euch kenne. Ich meine, ich kenne Euren Ruf, aus dem Flachlandkrieg und dem Erbfolgekrieg, und ich habe gesehen, was Ihr hier in Ankhana getan habt, aber ich habe immer noch das Gefühl, dass wir uns bereits einmal begegnet sind, dass ich Euch kenne. Euer Auftreten, vor allem die Art, wie Ihr sprecht, die Art, wie jeder zweite Satz eine hochtrabende Aussage über das Wesen der Wirklichkeit oder etwas in der Art ist – ich weiß, dass wir uns kennen, irgendwoher, aber ich soll verdammt sein, wenn es mir einfiele. Und ich soll verdammt sein, wenn ich verstehe, wie ich die Begegnung mit einem über drei Schritt großen, 340 Pfund schweren Adepten vergessen konnte, der dem feuchten Traum eines jeden Bildhauers entspricht.«

»Mm, Schmeicheleien.« Caine konnte die Vibration von Ma’elKoths Lachen in der Brust spüren. »Wir kennen einander, Caine. Man könnte sagen, du hast Mich in Meinem früheren Leben getroffen. Schon einmal habe Ich dich angeheuert, um einen Auftrag für Mich auszuführen.«

»Wirklich?«

»In der Tat. Und wir haben einige Zeit sehr eng zusammengearbeitet. Es war vor, oh, sieben Jahren, glaube Ich, kurz vor dem Flachlandkrieg. Ich habe dich angeheuert, um die Krone zu bergen, die einst Dal’kannith von den Tausend Händen gehörte.«

Caine starrte mit offenem Mund. »Ihr veralbert mich.«

Der Imperator schüttelte selbstgefällig den Kopf. »Keineswegs. Du kennst Mich als Hannto von Ptreia und, wie Ich glaube, bei Meinem wenig schmeichelhaften Spitznamen: ›Die Sense‹.«

»Hannto …«, hauchte Caine ungläubig. »Ihr seid Hannto die Sense?«

Der Mann, der Caine angeheuert hatte, um Dal’kanniths Krone zu stehlen, war ein Thaumaturg gewesen, das ja; ein rattengesichtiges, kleines Wiesel mit pickliger Haut, geschätzt zehn Jahre älter als Caine. Hannto gehörte zu den versierten Köpfen, aber nicht zu den herausragenden. Er hatte sich auf Nekromantie spezialisiert, um sein Hobby zu finanzieren: das Sammeln von Reliquien etlicher historischer Gestalten. Bei der Krone handelte es sich um die einzige verbliebene Reliquie des legendären lipkanischen Kriegsherrn Dal’kannith, der später zur Personifikation ihres Kriegsgottes geworden war. Seit Jhereths Revolte mehr als 300 Jahre zuvor war sie verschollen gewesen, bis Hannto einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort erhalten hatte. Aber Hannto … Er war im Grunde ein Nichts gewesen. Caine hätte ihn mit einer Hand auseinanderbrechen können – aufgrund seines Körperbaus nannte man ihn die Sense, aber das spielte wenig schmeichelhaft auf seine eingefallene Brust und den krummen Rücken an.

Und Ma’elKoth war, nun ja … eben Ma’elKoth.

»Ich bin nicht«, sagte der Imperator, »Hannto die Sense. Ich war Hannto die Sense, vor ein paar Jahren. Nun bin Ich Ma’elKoth. Imperator von Ankhana, Schild des Prorithun, Löwe der weißen Öde und so weiter und so fort.«

»Ich kann es nicht glauben …«

Der Imperator grinste und erfreute sich offensichtlich an Caines Ehrfurcht. »Was ist daran so schwer zu glauben? Mit der Macht der Krone – und einigem anderen Krimskrams, den Ich im Lauf der Jahre angeschafft habe – konnte Ich Mich verwandeln.« Er streckte sich wie ein schläfriger Löwe. »Ich habe Mich zu dem Menschen gemacht, der Ich immer sein wollte. Ist das denn so merkwürdig? Hast du, Caine, nicht dasselbe getan?«

»Möglich«, räumte Caine zögernd ein, »aber bei mir fielen die Ergebnisse nicht so, äh, spektakulär aus.«

»Du bist zu bescheiden. Deine Beschaffung der Krone ist übrigens der vierte jener entscheidenden Wendepunkte in der Geschichte des Imperiums, von denen Ich gesprochen habe. Und der wichtigste, wenn Ich das so sagen darf.«

Caine musterte Ma’elKoth weiter mit zusammengekniffenen Augen, um einen Blick auf den jammernden, neurotischen, kleinen Nekromanten zu erhaschen, den er gekannt hatte, irgendwo in diesem Berg aus felsenfester Selbstsicherheit.

»Was seid Ihr? Ich meine, was seid Ihr wirklich?«

Ma’elKoth breitete die Hände aus. »Das, was du vor dir siehst. Ich habe keine Geheimnisse, Caine. Kannst du dasselbe von dir behaupten?«

Darauf gab es keine ungefährliche Antwort. Caine starrte schweigend in die Luft. Nach einem Augenblick seufzte Ma’elKoth und stemmte sich hoch.

»Bist du fertig mit dem Essen?«

Der Teller vor ihm stand beinahe unberührt da. Caine zuckte die Schultern. »Ich nehme an, ich habe keinen großen Appetit.«

»Schön. Folg Mir.«

Ma’elKoth trat zur Tür. Caine tupfte sich rasch die Mundwinkel ab und wischte sich verstohlen mit der Serviette über den kalten Schweiß, der seine Stirn befeuchtete. Zumindest habe ich es geschafft, das Thema zu wechseln.

Er zerknüllte die Serviette und schleuderte sie auf seinen Teller. Dann stand er auf, um dem Imperator zu folgen.

4

Die große Halle des Colhari-Palastes erwies sich als riesig. Ein titanischer, hallender Saal mit Marmorböden und Kalksinterwänden. Caine erinnerte sich, wie er vor beinahe zehn Jahren auf diesem Weg zum Eichenthron emporgeschritten war.

Tel-Alcontaur, der ältere Bruder von Toa-Phelathon, hatte Caine als Dank für seine Heldentaten gegen die Horde von Khulan bei Ceraeno eine Baronie angeboten. Das Studio war nicht daran interessiert, dass sich sein aufstrebender Star auf einer abgelegenen Länderei auf Overworld niederließ, und darüber hinaus galt es für monastische Bürger als Tradition, Titel und Orden von weltlichen Monarchen abzulehnen. Deshalb war Caine hergekommen, um das Angebot des alten Königs respektvoll zurückzuweisen. Eine zeremonielle, formale Absage.

Er wusste noch, wie leer sich die Halle damals angefühlt hatte, obwohl sie beinahe Schulter an Schulter mit Adligen, Würdenträgern, Offizieren und bedeutenden Bürgern aller Art vollgepackt gewesen war. Die aufstrebenden, schillernden Deckenbögen warfen jedes Geräusch in hohlen Echos zurück und sorgten dafür, dass der Raum leblos wirkte, wie überfüllt er auch sein mochte.

Der Eichenthron, auf dem Ma’elKoth nun Platz nahm, stand unverändert auf einem breiten, rechteckigen Podest, 27 hohe Stufen über dem weitläufigen Boden der Halle. Schmale Wandbehänge mit der rauchigen Patina aus dem Staub und Lampenruß vergangener Zeitalter hingen zwischen den Strebebögen, aber damit erschöpften sich die Übereinstimmungen mit der Halle aus Caines Erinnerungen.

Ma’elKoth hatte hier einiges verändert.

Das staubige Licht aus den Südfenstern verschwand im Magmaglühen von zwölf bronzenen Kohlebecken, jedes davon breit genug, dass sich ein groß gewachsener Mensch darin hätte ausstrecken können. Kohlen ähnlich wie die unter dem Kessel im niederen Ballsaal brannten, sonderten Licht und Hitze, aber keinen Rauch ab. Sie schienen sich zwar nicht selbst zu verzehren, aber ihre Helligkeit fiel nicht so stetig aus wie die einer Lampe; stattdessen flackerte und pulsierte das Feuer, bis die Schatten, die es warf, die Illusion erzeugten, lebendig und zielstrebig zu sein.

In der Mitte der Halle hatte man eine gigantische Plattform errichtet, ganze acht Meter hoch und mit mehreren 100 Metern Seitenlänge. Sie war so großzügig mit goldenem und kastanienbraunem Stoff verkleidet, dass man damit einen ganzen Palast hätte ausstatten können.

Über alldem ragte eine Statue von Ma’elKoth auf, unbekleidet, in Bronze gegossen.

Der glänzende Nackte aus Bronze stand mit in die Hüften gestemmten Armen und gespreizten Beinen in machtvoller und herrschaftlicher Haltung da. Sein Schritt befand sich etwa einen Meter über dem Bodenniveau der Plattform. Nicht der kleinste Hauch von Grünspan trübte den Glanz der mächtigen Muskulatur und der Ausdruck auf seinem Gesicht kündete von vollkommener Gutmütigkeit und Wärme. Von diesem Winkel aus konnte Caine erkennen, dass die Statue zweiseitig angelegt war. Es gab ein weiteres Gesicht, das nach hinten über die Plattform starrte.

Caine nickte in sich hinein. Er fasste das doppelte Gesicht der Statue als warnendes Omen auf.

Zwischen den Beinen der Statue befand sich eine kurze, schräge Rutsche, ebenfalls aus Bronze, die von der Plattform aus in ein seichtes Becken neben den Stufen zum Thron führte. Auf der gegenüberliegenden Seite konnte Caine den Schatten eines herkulischen Penis ausmachen. Auf dieser Seite gab es lediglich eine angeschwollene Falte im Schritt, die wohl eine Vagina andeuten sollte.

Er fand, dass sich das Ganze zunehmend merkwürdig entwickelte.

Caine saß in einem winzigen Alkoven mit Vorhang direkt hinter dem Thron. In diesem Alkoven gab es zwei Stühle. Auf einem davon drückte er das Auge an ein kleines Guckloch in der Wand hinter Ma’elKoths Rücken. Ma’elKoth hatte ihn hergebracht und erklärt, dass er nicht beabsichtigte, auf das Vergnügen von Caines Gesellschaft zu verzichten, nur weil die Stunde gekommen war, in der er für gewöhnlich Audienz hielt.

Daher saß Caine da und beobachtete, wie Delegation um Delegation aus dem ganzen Imperium in die große Halle gescheucht wurde. Aus jeder Gruppe trat ein Sprecher vor und stieg die Stufen zum Thron empor, um ein Bittgesuch vorzutragen. Ma’elKoth hörte zu und nickte, im Anschluss winkte er die Delegationen zur Plattform. Darunter entledigten sie sich dann ihrer Kleidung.

Eine Reihe nackter Männer und Frauen, vom ärmlichen Knappen bis hin zu Herzögen des Imperiums, erklomm die Stufen zum Podest. Dort schlossen sie sich der zunehmend größeren Menge zitternder, unbekleideter Männer und Frauen jeden Alters an, die warteten und zusahen – verständlicherweise ein wenig nervös –, während Ma’elKoth sich jenen widmete, die nach ihnen kamen.

Die ganze Zeit über kommentierte Ma’elKoth Caine zuliebe halblaut das Geschehen, sprach von diesem Baron oder jenem Ritter und den Schwierigkeiten in ihren Ländereien, früheren politischen Verbindungen, gegenwärtigen Ambitionen und wie Ma’elKoth sie in sein Großes Werk zu integrieren gedachte. Manchmal schweifte die Unterhaltung weit ab, aber sie kehrte jedes Mal zu Ma’elKoth, seinen Errungenschaften und Plänen zurück.

Caine vermutete, dass Ma’elKoth ihn hier festhielt und in alles einweihte, weil Caine den Menschen gekannt hatte, der er einst gewesen war. Daher konnte er seine Errungenschaften stärker würdigen als jeder andere. Das dem zugrunde liegende Verlangen nach Anerkennung mochte seine einzige verbliebene menschliche Schwäche sein.

Caine entschied langsam – und mit Unbehagen –, dass er Ma’elKoth irgendwie mochte. In seiner Mühelosigkeit und grenzenlosen Sicherheit schwang etwas unglaublich Attraktives mit. Die Arroganz dieses Herrschers wurde so vollständig von Macht gestützt, dass sie dadurch beinahe zur Tugend wurde. Wann immer Caine zuließ, dass er für einen Moment vergaß, weshalb er hier war und was er zwangsläufig tun musste, schwand seine Beklemmung. Er fühlte sich zu diesem Mann hingezogen; nicht im Sinne von Freundschaft, sondern eher so, wie sich manche Leute vom Meer angezogen fühlen, andere dagegen von den Bergen.

Wie konnte er jemanden nicht mögen, der so offensichtliche Freude daran hatte, am Leben zu sein und sich zu verwirklichen?

»Ich habe die Krone natürlich zerstört«, sagte Ma’elKoth gerade. »Sie war nur ein Schlüssel, um das Tor zu öffnen, das die Macht zurückhielt, die nun in Meinen Händen liegt, und Ich erkannte keinen Sinn darin, einem anderen den Zugriff auf diese Macht zu gestatten. Und Ich konnte diese Macht nutzen« – er strich mit den Händen über seine Roben, als wolle er Voilà! sagen –, »um Mich nach jedem Abbild neu zu erschaffen, für das Ich Mich entschied. Erst schuf Ich Mich schön – wenn du dich erinnerst, wie Hannto aussah, kannst du die Gründe sicher nachvollziehen. Danach verlieh Ich mir Brillanz, einen Intellekt, der an das Allwissende grenzte. Als Nächstes gönnte Ich Mir eine andere Form von Macht: beinahe grenzenlosen Reichtum. Später wurde Ich der Imperator von Ankhana: politische Macht, wahre Autorität. Aber Ich bin noch nicht fertig.«

»Nicht?«, staunte Caine. »Was plant Ihr denn als Zugabe? Ein Gott zu werden?«

»Ganz genau.«

Und gerade traf die nächste Delegation der freien Bauern von Kaarn ein. Sie war 1000 Meilen gereist, um den Imperator zu bitten, die Dürre zu beenden, die ihre Felder verbrannte. Ma’elKoth gab sein Wort und stimmte zu, dann schickte er die Männer zur Plattform.

Als sie mit steifer Würde unter dem Fahnenstoff verschwanden, flüsterte Caine: »Das ist ein ziemlich großes Versprechen.«

Ma’elKoth antwortete mit seinem ansteckenden herkulischen Lachen. »Und Ich werde es halten. Was wäre Ich für ein hundsmiserabler Gott, wenn Ich nicht einmal Regen machen könnte?«

»Das ist ein Scherz, richtig?«

»Hmm. Wer weiß …«

Er verbrachte einen Augenblick damit, einen Grenzstreit zwischen zwei kirischanischen Baronen beizulegen. Er stellte es geschickt an, soweit Caine das beurteilen konnte – beide Barone wirkten zufrieden, als sie sich unter den Fahnenstoff an der Plattform bückten. Dann kam Ma’elKoth auf das entscheidende Thema zu sprechen.

»Ironischerweise sind es die Aktiri gewesen, die Mich dazu inspiriert haben.«

Caine war froh, dass er hinter der Wand saß und Ma’elKoth ihn nicht sah. Er schluckte und festigte seine Stimme, bevor er leichthin fragte: »Die Aktiri? Seid Ihr nicht etwas alt, um an Aktiri zu glauben?«

»Hm, Caine, wenn du gesehen hättest, was Ich gesehen habe …«

»Ich dachte«, sagte er vorsichtig, »nun, um die Wahrheit zu sagen, ich dachte, diese ganze Jagd auf Aktiri sei nichts als eine Finte, um Eure politischen Rivalen aus dem Weg zu räumen.«

»Und so ist es zunächst auch gewesen. Ich bin immerhin ein Tyrann: Ich halte den Thron ohne rechtmäßigen Anspruch auf die Nachfolge. Ich bin eigentlich einer aus dem gemeinen Volk.«

Er setzte sich wieder auf den Eichenthron und blickte düster auf seine Untertanen. »Trotz Meiner Fähigkeiten und Meiner Beliebtheit bei den Bürgern hat sich der Adel seit dem Tag Meiner Machtergreifung gegen Mich gestellt. Prangert man den ein oder anderen Grafen oder Baron als Aktir an, zerstört man nicht nur die Glaubwürdigkeit seiner Opposition, sondern es verleiht Mir auch eine vollkommen begründete Rechtfertigung, ihn töten zu lassen. Und, ja, Ich dachte selbst, dass die Aktiri nicht mehr sind als Geschichten, zweckdienliche Phantome, um die Züge Meiner Feinde in Schatten zu hüllen.

Bis sie versucht haben, Mich zu ermorden.

Acht Männer mit Waffen, wie sie kein Mensch je erblickt hat, die Kugeln ähnlich wie Schleudersteine spuckten, in stetem Strom wie Regenwasser aus dem Maul eines Wasserspeiers. Sie haben Mich mitten in den Hallen meines Palastes angegriffen. 26 Mitglieder Meines Hofstaats kamen bei jenem Angriff ums Leben, nur sieben davon Garderitter und nur drei weitere im Rang des Schildträgers; der Rest von ihnen war unbewaffnet. Diener, Männer und Frauen, und drei Pagen, kaum mehr als Kinder.«

Caine zuckte in seinem Wandversteck zusammen. Acht Männer mit Sturmgewehren … Kollberg, du bist ein echter Held.

»Sechs von ihnen habe Ich lebend gefangen. Drei sind im Theater der Wahrheit gestorben, unter der Obhut von Meister Arkadeil; und dort habe Ich viel über die Aktiri erfahren. Sie sind so menschlich, wie du es bist, Caine, so menschlich, wie Ich es einst gewesen bin. Irgendein Bannzauber ihrer Meister raubt ihnen den Atem, wenn sie versuchen, von ihrer Welt zu berichten, aber Ich habe trotzdem viel von ihnen erfahren, und noch mehr von den anderen dreien, die ich mit eigenen Händen getötet habe.«

Viel erfahren? Caine kannte die Grenzen der Studiokonditionierung sehr gut, das erstickende Gefühl einer Hand an der Kehle, wenn man auch nur einen vorsichtigen Anlauf wagte, hier auf Overworld Englisch zu sprechen. Das Studio behauptete, es sei einem Akteur unmöglich, sich oder andere als Akteure bloßzustellen, ganz gleich, wie sehr man sie nötigte – sie starben eher, falls man sie unter Zwang über die Belastbarkeitsgrenze ihres Schweigens brachte.

»Es war jener Zauber, von dem wir gesprochen haben, der, den Ich beinahe auf dich gewirkt hätte, Caine«, fuhr Ma’elKoth fort, als habe er Caines Gedankengang verfolgt. »Ich habe ihn bei Experimenten an einer Reihe von Feinden des Imperiums entwickelt und verfeinert. Wenn Ich Mich in der Trance der Gedankensicht befinde und diesen Zauber aufrechterhalte, kann Ich die vergehende Essenz der Erinnerung eines Menschen einfangen – seine Seele, wenn es dir wichtig ist, es so zu bezeichnen –, sobald in seinem Körper nicht mehr genug Leben ist, um sie dort zu halten. Auf diesem Weg habe Ich viel über ihre Welt erfahren.«

Eine eiskalte Hand strich über Caines Wirbelsäule. Ich bin einer der berühmtesten Menschen jener Welt.

»Dort befindet sich die Menschheit im Aufwind. Ihnen gehört die Welt und sie kennen lediglich halb in Vergessenheit geratene Legenden von den Subhumanen. Sie sprechen alle eine einzige Sprache und verfügen über Magick, die deine Vorstellungskraft in den Ruin triebe, Caine, sollte Ich einen Versuch wagen, dir davon zu berichten. Du hieltest Mich sicher für wahnsinnig.«

Er hielt inne, sein Blick irrte in die Ferne, während er die Wunder dieser fremden Welt umriss. »Und ich habe in ihren Erinnerungen nach dem Grund für den Erfolg der Menschheit gesucht, warum dort so viel aus ihr geworden ist, während wir so wenig vollbracht haben. Ich glaube, dass ich ihn gefunden habe.«

Caine hustete sich in die Hand, um den Hals freizubekommen. »Aha?«

»Es sind unsere Götter, Caine. Die Götter, die uns beherrschen, sie halten uns zurück. Auch wenn sie von der unmittelbaren Einmischung in menschliche Angelegenheiten durch das Abkommen von Pirichanthe abgehalten werden, streiten und kämpfen sie doch weiterhin durch ihre Priester und Jünger. Sie entzünden einen endlosen Konflikt, verschwenden Kräfte, die dazu genutzt werden sollten, die Rasse zu verteidigen. Die Aktiri jedoch – vor mehr als 4000 Jahren hat eine kleine Bande Wüstenräuber auf ihrer Welt eine verblüffende Idee hervorgebracht. Sie haben entschieden, dass ihr Gott der einzige echte Gott ist; alle anderen erklärten sie kurzerhand zu Produkten der Einbildung oder Dämonen, die ihre Jünger überlistet haben.

Nach 2000 Jahren wurden die Jünger dieses Einen Gottes missionarisch, aber nicht in unserem Sinn; sie haben Leute nicht einfach davon überzeugt, dass es ihnen größere Freude und mehr Glück bringt, ihrem Gott zu folgen. Vielmehr ließen sie nicht zu, dass andere Götter verehrt werden. Häufig ermordeten sie die Priester und ihre Jünger und zerstörten die Tempel der konkurrierenden Glaubensrichtungen. Mit der Zeit führten ihre Taktiken zum Erfolg. Das Außergewöhnliche ist, keiner dieser Aktiri war sich sicher, dass es diesen Gott je gegeben hat! Verstehst du? Wenn sich so viel mit einem Gott erreichen lässt, der womöglich nichts als ein Konzept des Geistes ist, wie viel mächtiger wäre wohl das Konzept eines einzigen Gottes, der präsent ist, der potent ist, der jede Menschenseele vereinen kann, sich gegen die Bedrohungen zu erheben, denen wir uns alle gegenübersehen? Ich bin dieser Gott, Caine. Ich bin zu diesem Gott geworden, damit Ich die menschliche Rasse vor der Ausrottung bewahren kann.«

Ich weiß nicht, ob du nicht ganz sauber bist oder ich, dachte Caine, denn ich nehme dir das fast ab. Er sagte: »Wow.«

»Wow, in der Tat.«

»Entschuldigt Ihr eine impertinente Frage?«

»Das habe Ich bereits. Etliche Male.«

Caine wertete das als Ja. »Seid Ihr ein Gott geworden, weil Ihr die Rasse retten wollt, oder wollt Ihr die Rasse retten, weil es Euch einen Vorwand liefert, ein Gott zu werden?«

Ma’elKoths Lachen dröhnte hinaus durch die riesige Halle, was ihm ein erschrockenes Zusammenzucken der Menge und eines Großteils der Wachen einbrachte.

»Das, mein lieber Caine, ist ein wesentlicher Bestandteil des Grundes, weshalb Ich deine Gesellschaft so schätze. Ich habe selbst über die Frage nachgedacht, von Zeit zu Zeit. Ich habe entschieden, dass die Antwort irrelevant ist.«

Die nächsten Bittsteller kamen mit deutlichem Widerstreben die Stufen herauf, und das war kein Wunder: Soweit sie sehen konnten, hatte Ma’elKoth in den letzten Minuten leise in sich hineingemurmelt und gerade eben laut über einen Witz gelacht, den er sich selbst erzählt hatte.

Das war seinem Ruf in Sachen geistiger Gesundheit nicht gerade förderlich.

Er handelte ihre Bitte rasch und geschickt ab und als sie sich über die Treppe zurückzogen, fuhr er fort: »Und vielleicht ist die größte Bedrohung, der sich die Menschheit heute gegenübersieht, jene durch die besagten Aktiri.«

»Ich, äh …«, sagte Caine. »Das ist, hm, meint Ihr nicht, dass das ein wenig übertrieben ist?«

Ma’elKoth wandte sein riesiges Löwenhaupt, um Caines Blick durch das Guckloch zu erwidern, und in seinen Augen brannte rechtschaffener Zorn, mit einem Hass, so leidenschaftlich, dass Caine ihn in den Eingeweiden spürte.

»Du kannst dir ja nicht vorstellen, wie böse diese Kreaturen sind. Sie sind tödliche Feinde der Menschheit und ganz besonders von Mir. Verrate Mir – nenn Mir eine Vermutung, weshalb sie hierherkommen, weshalb sie Mein Volk töten und Mir nach dem Leben trachten, weshalb sie unsere Frauen vergewaltigen und unsere Kinder abschlachten. Versuch es.«

Caine stellte fest, dass ihm seine Stimme nicht gehorchte. Seine Eingeweide klumpten sich zusammen.

»Es ist Unterhaltung, Caine. Sie sind schlimmer als Dämonen – selbst die Entitäten des Äußeren, die den Menschen auflauern, tun das, um zu fressen, um sich von unserem Schrecken und unserer Verzweiflung zu nähren. Die Aktiri tun es, um sich ihre Mußestunden zu vertreiben. Aus reinem Vergnügen

Die Abscheu in Ma’elKoths Stimme traf Caine wie ein Schlag. »Wenn das nicht böse ist, weiß Ich nicht, was es sonst sein soll.«

Caine hustete feucht und fand seine Stimme wieder. »Nun, es scheint, ich meine, Ihr lasst es klingen, als seien sie in Wahrheit irgendwelche … irgendwelche Gladiatoren.«

»Gladiatoren schlachten keine Kinder ab. Gladiatoren ermorden keine Könige. Und selbst Gladiatoren finde Ich widerlich. Derartigen Zeitvertreib habe Ich aus dem Imperium verbannt.«

In der großen Halle unten kam es zu einer Störung, einem Murmeln im nackten Gewimmel auf der Plattform und bei den wenigen verbliebenen Delegationen vor dem Thron. Eine Tür war aufgeworfen worden und mit laut auf dem Marmorboden knallenden Stiefelabsätzen marschierte Berne auf Ma’elKoth zu.

Ein großes, taubengraues Pflaster breitete über seiner Nase die Flügel aus und violett verfärbte Blutergüsse verdunkelten beide Augen. Für einen Moment wurde es Caine bei dem Anblick ganz warm ums Herz.

»Wenn man vom Bösen spricht«, sagte er hastig, dankbar für die Gelegenheit, das Thema zu wechseln, »hier kommt Euer jüngster Graf.«

Berne drängte die wartenden Delegierten mit der Schulter zur Seite und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Er fiel vor dem Thron auf ein Knie und sprach mit leiser Dringlichkeit. »Ma’elKoth, es tut mir leid, ich weiß, ich hätte vor einer Stunde hier sein sollen, aber …«

Ma’elKoth schenkte ihm ein nachgiebiges Lächeln. »Du bist nicht zu spät für das Ritual, Mein Junge. Was gibt es Neues?«

»Ich habe die Aktiri gefunden«, sagte Berne atemlos. Caine musterte ihn durch das Guckloch, während er Ma’elKoth davon berichtete. Seine Quelle hatte das Versteck der Flüchtigen ermittelt – ein verlassenes Lagerhaus im Gewerbedistrikt – und die Katzen hatten das Gebäude umstellt. Bisher warteten sie ab und beobachteten, weil sie sich nicht in Bewegung setzen wollten, bevor sie sicher sein konnten, dass ihnen Simon Jester ins Netz ging.

Aber Shanna ist bereits im Zwinger, dachte Caine. Zumindest hoffe ich das. Wenn sie in die Falle läuft, glaube ich nicht, dass ich rechtzeitig hier rauskomme, um sie zu retten.

Und, etwas verspätet: Wer zum Teufel ist überhaupt diese ›Quelle‹?

Während er Berne beobachtete, stellte er fest, dass er zumindest für den Augenblick kein brennendes Bedürfnis verspürte, hinaus auf das Podium zu stürmen und den Kerl totzuschlagen. Vielleicht machte es ihn weniger unbesonnen, wenn er vom Studio getrennt war und nicht den akuten Druck spürte, andere zu unterhalten. Oder es war eine plötzliche Unsicherheit, eine unvertraute Furcht, ihm womöglich gar nicht gewachsen zu sein.

Der Hass jedoch – der brannte heiß wie eh und je.

Als Berne seine Geschichte abschloss, wich die Nachgiebigkeit aus Ma’elKoths Miene und seine Stimme wurde väterlich maßregelnd. »Du hast ein Versprechen gebrochen, Berne.«

»Hä?« Er wirkte überrascht und verwirrt, aber sein Gesicht hellte sich auf und er berührte das Pflaster auf der gebrochenen Nase entschuldigend mit der Hand. Er senkte den Blick und verschränkte die Hände vor dem Schritt wie ein reuiger Schuljunge. »Ich weiß. Ich weiß, dass ich es versprochen habe, Ma’elKoth, aber …«

»Aber was?«

»Als er mich so angegangen ist … ich habe die Beherrschung verloren, Ma’elKoth, das ist alles. Aber ich habe ihn nicht richtig verletzt.«

Das glaubst du. Caines ganze Schulterpartie schmerzte an den Stellen, wo Bernes übernatürlich starke Hand ihn gepackt hatte, bis hinab in den angeschlagenen Knochen.

»Du wirst Caine mit Respekt und Ehrerbietung behandeln, während er in Meinen Diensten steht. Du wirst es bereuen, wenn Ich dich noch einmal daran erinnern muss.«

»Es tut mir leid, Ma’elKoth. Es tut mir aufrichtig leid.«

»Du wirst dich außerdem entschuldigen.«

»Ma’elKoth …«

Das Kinn des Imperators hob sich einen Zentimeter und Bernes Protest erstarb, noch bevor er das Licht der Welt erblickt hatte.

Er senkte den Kopf. »Ich, äh, ich habe gehört, Ihr habt ihn erwischt …«

»In der Tat. Eigentlich beobachtet er dich sogar in diesem Augenblick.« Ma’elKoth neigte den Kopf eine Winzigkeit nach links, zum Guckloch hin. Bernes Blick folgte der Geste und begegnete dem von Caine. Seine Lippen zogen sich von den Zähnen zurück.

»Er ist …« Blut kroch Bernes Hals hinauf. »Potzfick! Ihr habt ihn auf meinen Stuhl gesetzt?« Er würgte den Satz zu einem kehligen Flüstern ab.

»Hey ho, Waschbärjunge«, rief Caine mit mildem Spott.

Die Blutergüsse um Bernes Augen verdunkelten sich, als ihm eine tiefere Röte ins Gesicht stieg. Adern schwollen an den Seiten des Halses an.

»Caine, das war kindisch und deiner unwürdig«, mahnte Ma’elKoth. »Berne, du wirst dich entschuldigen.«

»Aber …«

»Jetzt.«

Berne schaffte es kaum, die Worte durch zusammengebissene Zähne hervorzustoßen. »Ich entschuldige mich, Caine.«

Caine grinste ihn an, obwohl Berne sein Gesicht nicht deutlich erkennen konnte. »Ich nehme die Entschuldigung an.«

»Caine, du unterliegst einer ebensolchen Einschränkung. Respekt und Ehrerbietung, während ihr beide in Meinen Diensten steht.«

»Klar, warum nicht? Ich werde ja nicht ewig in Euren Diensten stehen.«

»Das, lieber Junge, ist noch zu klären. Berne, nimm deinen Platz an der Rutsche ein. Ich werde das Ritual in Kürze einleiten.«

»Ma’elKoth …«

»Geh.«

Berne wandte sich rasch um und schritt die Stufen hinab. Caine sah ihm nach und sagte dann: »Ich verstehe nicht, wozu Ihr diesen kranken Wichser braucht. Er ist nur mit Müh und Not ein Mensch.«

»Einige würden das Gleiche von dir behaupten, Caine.« Ma’elKoth machte eine wegwerfende Geste. »Ich habe ihn zum Hohepriester der Kirche des Ma’elKoth ernannt, vor allem, weil er effizient ist. Er wird alles tun, was Ich von ihm verlange. Selbst wenn es darum ginge, seine eigene Mutter für Mich zu töten.«

»Ach ja? Glaubt Ihr, er hatte eine Mutter?«

Ma’elKoth lachte leise. »Komm schon, Caine. Ich gebe zu: Er war nicht Meine erste Wahl. Das warst du.«

»Hä?«

»Oh ja. Ich hatte gehofft, Ich könnte dich persönlich aufspüren. Der Zauber der Anziehung, den ich kürzlich auf dich gewirkt habe, nimmt viel zu viel von meiner begrenzten Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch. Berne hat sich als akzeptabler Ersatz erwiesen. Seit der Sache mit der Krone bin Ich äußerst beeindruckt von deiner Verlässlichkeit und Findigkeit – von deiner Rücksichtslosigkeit ganz zu schweigen. Ich hoffe selbst jetzt, Caine, dass du Mein vertrautester Gefährte wirst. Du kannst inzwischen immerhin kaum mehr die Erhebung in den Adelsstand ablehnen. Ich wage zu behaupten, nach gestern Nacht werden die Monasterien keinen Anspruch mehr auf deine Treue erheben können.«

Das wäre eine sehr schlechte Idee.

»Dann wollt Ihr mir also Bernes Stelle überlassen, hm?«, fragte er in dem Versuch, das Thema zu wechseln und dennoch so zu klingen, als ob er ernsthaft über das Angebot nachdachte. »Gewissermaßen habt Ihr das ja schon getan. Er jagt Simon Jester, richtig?«

»Oh, du wirst das nicht für ihn übernehmen, Caine. Ich will, dass ihr unabhängig voneinander vorgeht. Ich habe festgestellt, dass zwei Agenten, die getrennt auf das gleiche Ziel hinarbeiten – sogar darum konkurrieren –, dieses Ziel meist deutlich schneller und zuverlässiger erreichen.«

»Ja, so ähnlich wie bei …« Caines Stimme stockte. Wie bei mir und Berne in ›Wettlauf um die Krone von Dal’kannith‹, schloss er stumm.

»Ihr habt immer auf diese Weise gearbeitet, nicht?«

»Das klang nicht nach einer Frage.«

Caine schluckte seinen Zorn hinunter. »War es auch nicht. Ihr habt das schon einmal mit mir gemacht. Bei der Krone«, schloss er gleichmütig. »Er hat für Euch gearbeitet, nicht wahr, er hat die ganze Zeit für Euch gearbeitet … Ihr habt Berne gleichzeitig mit mir angeheuert.«

»Mmm, das nicht. Ich habe ihn angeheuert, nachdem euer anfänglicher Versuch gescheitert ist.«

»Wisst Ihr, was er getan hat? Wisst Ihr, was mir dieser Schweine fickende Scheißhaufen von einem Bastard angetan hat?«

»Ich weiß, was Ihr euch gegenseitig angetan habt.«

»Aber Ihr habt die Krone bekommen und das ist alles, was Euch wichtig war.«

»Exakt. Ich weiß, dass du das schlimm findest, Caine, aber Ich weiß auch, dass du, wärst du in Meiner Lage gewesen, genau dasselbe getan hättest. Was ist letzten Endes wichtiger – die Macht an sich oder die Methode, mit der man sie erlangt?«

Ma’elKoth lächelte nachgiebig. »Das war eine rhetorische Frage, Mein lieber Junge. Nun sei still. Ich habe nur noch drei Delegationen zu empfangen und dann werde Ich das Ritual beginnen.«

»Was ist das für ein Ritual?«

»Das wirst du sehen. Sie bringen Mir größere Geschenke als nur Tribute oder Steuern und das Ritual ist Meine Art, sie anzunehmen. Still jetzt.«

Um die drei Delegationen kümmerte er sich geschickt, gerecht und in Eile, und als sie ihre Kleider unter der Plattform abgelegt und sich der nervösen Menge oben angeschlossen hatten, gab Ma’elKoth ein Zeichen, einen trägen Wink zum Hauptmann der Garderitter. Der Hauptmann salutierte, dann wandte er sich um und gab einen knappen Befehl an seinen Trupp weiter. Einige von ihnen stiegen auf die Plattform, um die Ansammlung nackter Körper zu einem groben Rechteck zusammenzuscheuchen, während die anderen eine kleinere Tür öffneten und weitere unbekleidete Männer und Frauen hereinführten.

Caine nahm an, dass dieses Ritual, worum auch immer es sich genau handelte, ein festgelegtes Minimum an Teilnehmern erforderte: Diese Neuankömmlinge wirkten, als könnten sie durchaus auch unfreiwillig hier sein – nichts weiter als verschreckte Bewohner der Stadt, die man in den Palast verschleppt hatte, um die Reihen aufzufüllen. Die Echos in der Halle wurden lauter, als sie gleichzeitig die Ritter und die wartenden Delegationen weiter oben mit Fragen bestürmten, was zum Teufel hier eigentlich vorging.

Ma’elKoth stand auf und das Gebrabbel wurde von Furcht gesäumt. Er hob die Arme.

Stille senkte sich herab wie eine Bombe.

Eine elektrische Spannung baute sich auf. Ein gelbliches, atemberaubendes Schimmern hing in der Luft, ähnlich wie das Licht vor einem Sommergewitter.

In diese Stille, in diese Spannung hinein, begann Ma’elKoth zu sprechen.

Seine Stimme brandete hinaus wie Donner – passend zu den Blitzen, die aus seinen Augen schossen. Er sprach in langen, volltönenden Sätzen, die gleichzeitig im Takt und unvorhersehbar blieben; ein stetig ansteigender Rhythmus wie der Choralgesang der Elfen, ein langer Vers an die Liebe, die Brüderschaft, den Herd und die Familie, dessen Takt sich an Caines Herzschlag anzugleichen schien. Die mitreißende rhythmische Kraft fegte die einzelnen Worte beiseite. Caine konnte der Botschaft nicht folgen, zumindest nicht genau. Sie huschte über die Oberfläche seines Verstands, aber sie rührte Bilder tief in ihm an: den warmen Schoß seiner Mutter unter ihm, die süße Heiserkeit ihrer Stimme, während sie ihm aus einem Buch vorlas, das aufgeschlagen vor Augen lag, die noch nichts damit anzufangen wussten; die trockene Stärke der Hand seines Vaters auf seinem Arm, während er panisch auf seinem ersten Fahrrad um Balance kämpfte. Unerwartet stellte er fest, dass Tränen um das, was er hinter sich gelassen hatte, in seinen Augen brannten. Sie galten genauso der unglaublichen Verheißung dessen, was möglicherweise vor ihm lag.

Ma’elKoths erhobene Arme schaukelten, zunächst sanft wie Eichenzweige in einer auffrischenden Brise, dann fegten sie durch die Luft wie die Schwingen eines Adlers, der majestätisch hinauf in den grenzenlosen Himmel glitt. Erst wandte er sich in die eine Richtung, dann in eine andere. Im Anschluss veränderte er seine Position und Caine blieb die Luft weg.

Der Imperator begann unfassbarerweise zu tanzen.

Zur sparsam hallenden Melodie seiner eigenen Stimme tanzte Ma’elKoth: eine langsame und mächtige Eurythmie von unmöglicher Anmut, eine Bewegung mit der unsichtbaren Eleganz eines Kabuki-Dämons.

Caine wusste genug über Magick, um eine gute Vorstellung davon zu haben, was vorging; mit Mühen riss er seinen Blick von Ma’elKoth los. Er schaffte es, wie er annahm, nur, weil das Ritual sich nicht auf ihn richtete, sondern auf die Menge auf der Plattform. Die Wächter unten wandten ihre Gesichter bewusst ab, wie ihm auffiel. Die Menge auf der Plattform wankte ehrfürchtig mit offen stehendem Mund, perfekt abgestimmt auf das unwiderstehliche Wogen von Ma’elKoths Tanz. Ein kollektives Stöhnen setzte ein, unbewusst, tiefe und mächtige Akkorde, die den Kontrapunkt zu seiner dröhnenden Stimme setzten.

Ma’elKoths Gesten wurden ausschweifender, die Schritte weiträumiger. Seine Stimme war mit weiterhin anschwellender Energie aufgeladen, bis sie surrte wie ein Dynamo, alles baute sich zu einem erschütternden Höhepunkt auf – und genauso abrupt endete das Spektakel.

In der betäubenden Stille ging der Takt weiter, ein knapp unter der Wahrnehmung des Gehörs liegendes jambisches Grollen. Caine schloss die Augen und filterte das Rauschen des Blutes in seinem Ohr heraus. Er horchte: a’fum, a’fum, a’fum …

Atem.

Der Atem mehrerer Hundert Leute auf der Plattform, die in perfektem Gleichklang seufzten.

Als Caine die Augen öffnete, blickte Ma’elKoth ihn über eine riesige Schulter hinweg an. Die Lippen des Imperators verzogen sich zu einem trockenen, schiefen Lächeln und ein Augenlid senkte sich zu einem listigen Zwinkern.

Es verging eine gewisse Zeit, bis Caine einfiel, normal weiterzuatmen.

Ma’elKoth wandte sich erneut an die Masse der Nackten, die mit offenem Mund in verklärter Vorfreude warteten.

»Dies sind die Worte, die ihr sagen sollt, wenn ihr eure Seelen für immer an Meine bindet:

Hiermit, mit dem Blut meines Herzens, werde ich zum Kind von Ma’elKoth getauft.

Ich diene dem Traum von Einer Menschheit mit meinem ganzen Herzen.

Ich verschreibe den Dienst meines Körpers und meines ewigen Geistes der Gerechtigkeit von Ma’elKoth, dem Wahren und Lebendigen Gott, dem Allmächtigen Vater.

Durch diesen Übergang in ein neues Leben bin ich wiedergeboren.

Ich bin wiedergeboren ohne Makel oder Treuepflicht außer zur Heiligen Kirche.

Ich verkünde jetzt und auf ewig, dass es keinen Gott außer Ma’elKoth gibt, und ich bin sein lebendes Kind.«

Die Wächter auf der Plattform teilten winzige goldene Becher in der Menge aus, die von den Leuten mechanisch entgegengenommen wurden. Die geraden Henkel der Becher waren zu Klingen geschärft und damit öffnete jedes der zukünftigen Kinder von Ma’elKoth eine Ader im linken Handgelenk und fing das träge, heller werdende Blut auf, als es über ihre Hände lief.

Und schon bald zogen die Wächter einen Mann aus der Masse. An seinem Gelenk war kein Blut. Ma’elKoth nickte, als habe er damit gerechnet, und gab ihnen einen Wink, damit sie ihn nach vorne brachten.

»Du hast kein Blut dargeboten«, mahnte er. »Wirst du nicht schwören?«

Der Mann hatte den rasierten Kopf eines Priesters und die Haltung eines Kriegers. Er stand nackt und furchtlos da, ließ sich nicht einmal dazu herab, sich gegen den Griff der Wächter zur Wehr zu setzen.

»Mein Herr und Imperator«, erwiderte er, »ich diene Rudukirisch-Sturmgott und das seit meinem Benennungstag. Keine Macht kann mich dazu verleiten, Ihn zu leugnen, und Sein Blick soll jenen den Tod durch Blitzschlag bescheren, die mir ein Leid zufügen wollen.«

»Ja, ja, ja«, versetzte Ma’elKoth gereizt. Er schielte über die Schulter auf Caine und murmelte: »Das passiert von Zeit zu Zeit, wenn ein zufälliger Schwung dabei ist. Gewissermaßen ist es sogar zweckdienlich.«

Er wandte sich zur Plattform und sprach mit dem üblichen Hall in der Stimme: »Ich kann deine Zurückhaltung nachvollziehen, aber ich billige sie nicht. Du sollst getötet werden.«

Der Priester rief einige Worte in einem kirischanischen Dialekt, den Caine nicht beherrschte, und ein Donnerschlag ertönte draußen, während es drinnen zu einem gleißenden Lichtblitz kam. Als Caines Sicht sich klärte, glänzte der kirischanische Priester in einer fantastischen barocken Rüstung und mit beiden Händen hielt er einen Kriegshammer mit einem Griff, der nur ein kurzes Stück kleiner war als er selbst.

Die Garderitter, die seine Arme fixiert hatten, lagen ausgestreckt auf der Plattform und von ihren Rüstungen stieg Rauch auf.

Der Priester glühte vor Macht – einer knisternden Aura aus blauweißen Blitzen, die sich zu einer rotierenden, schlangenhaften Peitsche aus Elektrizität nach außen streckten und rötliche Schatten auf die Gesichter der gebannten Menge warfen.

»Nun erfahrt, was es bedeutet, den Donnergott zu erzürnen!«

»Ja, ja«, sagte Ma’elKoth und klang beflissen. »Mach schon.«

Der Priester streckte den Hammer zum Thron aus und der Blitz zuckte nach vorn. Ma’elKoth verzichtete auf jede Bewegung oder Geste, um sich zu verteidigen, legte keinen Schutzzauber um sich. Der Blitz brannte ein rauchendes Loch in die Brust von Ma’elKoths Robe. Das Gewand selbst fing mit mehr als rein natürlicher Intensität Feuer. Selbst durch das kleine Guckloch spürte Caine, wie ihm die Hitze in den Augen brannte, als die Robe um den Imperator herum in Flammen aufging.

Dann war sie verbrannt und inmitten ihrer Asche stand Ma’elKoth mit bloßer Brust und barfuß. Er trug lediglich lederne Kniehosen, um seine Sittsamkeit zu wahren.

Er hatte nicht einmal geblinzelt.

Sehnen schwollen auf dem Unterarm an, als er die offene Hand zur Decke hob und sie sofort wieder schloss, als wolle er sich von ganz oben Macht holen. Er stieß seine Faust in Richtung des Priesters zu seinen Füßen, als schwinge er eine unsichtbare Peitsche.

Der Priester hob den Kriegshammer, um den Schlag abzuwehren, und sein Blitzschild leuchtete hell auf, als sein Gott ihn verteidigte. All seine priesterliche Macht, seine fromme Ergebenheit, sein Mut und die Liebe seines Gottes machten keinen Unterschied: Als die Kraft, die Ma’elKoth heraufbeschworen hatte, ihn traf, explodierte der Kriegshammer als Symbol seines Glaubens wie eine zu früh gezündete Handgranate.

Blut spritzte aus dem zerfetzten Stumpf seines Handgelenks und die Splitter des Hammers bohrten sich in die Haut des Mannes wie Schrapnell. Garderitter umringten ihn und zerrten ihn auf die andere Seite der Statue.

»Dein Mut verschafft dir diese Ehre«, dröhnte Ma’elKoth. »Du sollst den Weg für die Gläubigen ebnen.«

Aus der stilisierten Vagina der Statue begann Blut zu tropfen und Caine erhaschte einen Blick auf die Beine des Priesters, als die Ritter ihn umdrehten. Sie schienen ihn kopfüber in den Bauch der Statue zu stopfen – es musste dort irgendein Kanal durch den Torso der Statue freigelegt worden sein und das Blut stammte offenbar vom Priester. Die Beine gerieten außer Sicht und Caine hörte ein gedämpftes Stöhnen. Dann kamen der Kopf und die Schultern des Priesters nach unten aus der Vagina der Statue und hielten dort inne, wo man ihn hängen ließ, während ihm das eigene Blut übers Gesicht lief und auf die Rutsche aus Bronze tropfte.

Ein großer, breitschultriger Mann im dunkelbraunen Gewand einer ankhanischen Hebamme trat unter der Plattform hervor. In seiner Hand lag ein kurzes, gerades Schwert mit breiter, einseitiger Klinge und auf seinem Gesicht ein Lächeln sexuell geladener Vorfreude.

Es war natürlich Berne.

Der Priester bemerkte ihn und rief: »Ich bekenne mich zur Macht von Rudukirisch! Ich bekenne mich …«

Der silberne Bogen von Bernes Hackmesser kappte seinen Schrei. Die Klinge fuhr ihm in den Hals, fetzte durch die Wirbel und trat auf der anderen Seite des Körpers aus. Berne säuberte die Klinge mit einem einzigen, geübten Schlenker des Handgelenks vom Blut, während der Kopf des Priesters, den Mund noch immer weit geöffnet, in einem roten Sprühregen zur Seite torkelte und in das Becken rollte. Sein Herz pumpte wild, ließ aus den sauber durchtrennten Arterien einen scharlachroten Strahl spritzen und es schien endlos zu dauern, bis dieser Springbrunnen zu einem Tröpfeln versiegte. Was immer den Körper dort festhielt, ließ ihn los. Er glitt über die vor Blut glitschende Bahn hinab und landete schlaff im Becken.

Und all das hatte sich die gebannte Menge auf der Plattform schweigend angesehen.

Nun wurden sie von den Rittern in eine Schlange an der Seite der Statue gescheucht und alle folgten sie willig dem Pfad des Priesters, hielten kurz inne, um sich die kleinen Becher mit ihrem eigenen Blut über den Kopf zu gießen, den Eid zu intonieren und mit dem Kopf voran in den Bauch der Statue zu gleiten und durch ihre Vagina hinaus, die Rutsche hinab und in das Becken, aus dem sie weitere Wachen wegführten, um ihnen das Blut abzuwaschen und die Handgelenke zu verbinden.

Hin und wieder, ohne Grund und ohne eine für Caine erkennbare Vorwarnung, blieb einer von ihnen stecken, mit dem Kopf nach unten. Bernes Klinge blitzte auf und ein weiterer Kopf und Körper erreichten das Becken voneinander getrennt. Die zuckenden Körper blieben als makabre Polsterung für die Lebenden zurück, die ihnen folgten.

Ma’elKoth trat vom Aschehaufen seiner ehemaligen Roben weg und setzte sich zurück auf den Eichenthron. »Nun, was meinst du dazu?« Er seufzte nachdenklich.

Caine war vom endlosen Strom der Männer und Frauen hypnotisiert, den die Rutsche ausspie. »Es ist, äh, schon recht grausig, oder?«

»Wie jede Geburt«, erwiderte Ma’elKoth.

»Wie entscheidet Ihr, wer lebt und wer stirbt, dort unten? Wer entscheidet, wer festgehalten und einen Kopf kürzer gemacht wird?«

»Jeder entscheidet es für sich«, sagte Ma’elKoth und jetzt breitete sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.

»Was meint Ihr damit?«

»Ich werde es dir nicht verraten.«

»Hä?«

»Ich habe es ganz deutlich gesagt. Es ist nicht an dir, das zu wissen, noch nicht. Wenn du es überlebst, wirst du es verstehen.«

»Wenn ich es überlebe? Ich soll da durchgehen?«

Ma’elKoth antwortete mit einem Lächeln.

»Wie wirst du deine Suche nach Simon Jester angehen?«, fragte er nachdenklich. »Ich bin sicher, du hast darüber bereits nachgedacht.«

»Ein wenig«, sagte Caine. Er hatte stundenlang mit Grübeleien zu diesem Thema verbracht und war auf einen Plan gekommen, der gleichermaßen einfach wie elegant schien, perfekt zu seinem Charakter passte und, wie er hoffte, waghalsig genug ausfiel, um unwiderstehlich zu wirken. »Ich will Eure Gefangenen aus dem Zwinger befreien.«

»Aha?«

»Einer von Simon Jesters Komplizen, die Berne gefangen genommen hat, ist zufällig ein Bekannter von mir: ein unbedeutender Adept namens Lamorak. Ihr bringt mich in den Zwinger und ich befreie ihn und den anderen Gefangenen. Das sollte ausreichen, um mich in Simon Jesters Nähe zu bringen.«

»Woher hast du das gewusst? Dass dieser Lamorak sich in unserem Gewahrsam befindet?«

»Ihr seid nicht der Einzige, der Quellen hat«, orakelte Caine und hoffte, dass Ma’elKoth nicht auf eine konkretere Antwort drängte.

Ma’elKoths Gedanken bewegten sich in anderen Bahnen. »Ich sehe Schwierigkeiten voraus. Ist das nicht irgendwie extrem? Wird Lamorak nicht argwöhnisch, wenn er aus heiterem Himmel gerettet wird? Steht ihr beiden euch so nahe, dass er glauben wird, du hättest dein Leben für ihn aufs Spiel gesetzt?«

»Oh, er wird es glauben, bestimmt.« Nicht, dass es eine Rolle spielt, wenn es anders ist. »Wir stehen uns nah genug. Und ich werde ihn geradeheraus wissen lassen, dass ich es tue, um in die Nähe von Simon Jester zu gelangen.«

»Und wozu?«

Caine warf einen Blick hinab auf das andauernde Ritual. Berne hatte gerade einmal mehr jemanden geschickt geköpft.

»Um eine gute Gelegenheit zu bekommen, Berne zu erledigen.«

»Hmm«, sagte Ma’elKoth und dachte darüber nach. »Hm, Ich glaube, Ich verstehe.«

»Lamorak ist Bernes Gefangener, richtig? Diese ganze Aktion gegen Simon Jester ist Bernes Baby. Es wäre äußerst blamabel, wenn er befreit wird und mich an Simon Jesters Seite bringt. Das ist der perfekte Ort, um eine Falle zu stellen, mit der ich Berne aus der Reserve locken und ihn töten kann.«

Ma’elKoth lachte leise. »Und es wird maßgeblich zu deinem legendären Werdegang beitragen. Niemand ist je aus dem imperialen Zwinger entkommen. Wenn es überhaupt einen lebenden Menschen gibt, dem das Volk so etwas zutraut, dann bist du das.«

»Niemand wird im Traum daran denken, dass ich für Euch arbeite. Herrje, beinahe jeder in der Stadt weiß, dass ein Haftbefehl gegen mich besteht. Lasst einfach durchsickern, dass ich Toa-Sytell und den Augen entkommen bin.«

»Wirst du für Mich arbeiten?«

Eine kalte Hand griff nach Caines Brust. »Natürlich. Was soll das denn heißen? Nach allem, was geschehen ist, traut Ihr mir nicht?«

»Ich erinnere Mich …«, sinnierte Ma’elKoth. »Ich erinnere Mich an einen Caine, der jemanden lieber umgebracht hätte, als ihn anzulügen.«

»Umbringen ist einfacher«, antwortete Caine mit sprödem Lachen, dem er einen herzlichen Anstrich verlieh. »Man tut es, es ist erledigt, es ist vorbei. Eine Lüge ist wie ein Haustier – man muss sich darum kümmern oder sie wendet sich gegen dich und beißt dir in den Arsch.«

»Bist du noch dieser Caine?«

Er ließ seine Stimme so ausdruckslos klingen, wie sein hämmerndes Herz es zuließ. »Ich bin so ehrlich, wie es die Umstände gestatten.«

»Hmpf. Eine wahrhaftige Antwort ist das. Also gut. Entkleide dich.«

Etwas schien in Caines Hals festzustecken. Alles, was er herausbrachte, war: »Hä?«

»Du kannst Mir nicht mit dem Körper dienen, wenn du Mir nicht auch im Herzen dienst, Caine.«

Der Imperator wedelte träge mit der Hand hinab zur Plattform. Unten schöpften Pagen in Livree das Blut aus dem Becken in Bronzeschüsseln – dieselben Schüsseln, mit denen Caine sie im niederen Ballsaal gesehen hatte, um sie dem Ton für das Große Werk beizugeben. Ihm drehte sich der Magen um.

Was hast du denn gedacht, du Volltrottel, fauchte er sich selbst an. Wo, dachtest du, kommt das Blut her?

»Ihr erwartet von mir ernsthaft, dass ich dort hinuntergehe und meinen Hals in Reichweite von Bernes Schwert bringe?«

»Und ob. Wenn du Mir nicht vertraust, Caine, wie soll Ich dann dir vertrauen? Verpflichte dich Mir, setz dein Vertrauen auf Meine Gerechtigkeit und diene Mir jetzt. Oder verwehre Mir diese Ehre und diene Mir niemals mehr.«

Er hatte genau genommen nicht einmal eine Wahl. Im Inneren seines Schädels ertönte das Echo von Shannas Worten: Es ist ihm egal, was mit mir geschieht. Das war vielleicht seine beste, seine einzige Gelegenheit, ihr das Leben zu retten.

Es gab keinen Grund zum Zögern.

»Ja, klar«, sagte Caine. »Bringen wir’s hinter uns.«

5

Bis ins letzte Detail war die Flussbarke ebenso unehrenhaft wie ihr Kapitän: ein grauhaariger alter Säufer mit eingesunkenen roten Augen und einer ständig laufenden Nase. Aber als Pallas die Bilge der Barke inspizierte, einen dunklen, feuchten Raum, erfüllt von Urin- und Fäulnisgestank, der einem das Wasser in die Augen trieb – wie eine tote Schildkröte, die seit vier Tagen in ihrem Panzer in der Sonne briet, während eine Karawane von Katern darauf pisste –, stieß sie auf etwas, das sie zum Lächeln brachte: ein kleines, gehörntes Gesicht mit dem vertrauten schiefen Grinsen, so frisch in die schlampig geteerte Schottwand gekratzt, dass das Holz darunter immer noch hell leuchtete.

Sie reckte einen Daumen in die entsprechende Richtung. »Simon Jester«, sagte sie. »Wisst Ihr, man kann ziemlich Ärger kriegen, wenn man diese Flagge hisst.«

Der Kapitän wischte sich mit dem verschmierten Handrücken die Nase ab. »Ist nicht zu sagen, dass man mich dafür verantwortlich machen kann. Die Mannschaft für diesen Kahn heuere ich immer nur auf Zeit an, wisst Ihr? Ist nicht zu sagen, wer wohl die kleine Fratze da gezeichnet hat.«

»Ich nehme an, es gibt eine Menge Sachen, die nicht zu sagen sind«, stocherte Pallas nach.

Der Kapitän zuckte die Schultern. »Ich weiß mich zu benehmen, wenn Ihr das meint.«

»Ich wette, es ist auch nicht zu sagen, warum dieses Bild schon ein paar Wochen alt und immer noch sichtbar ist.«

»Die Wette verliert Ihr, Mädel«, knurrte der Kapitän. »Vor mehr als 15 Jahren, als für uns beide noch bessere Zeiten herrschten, hatte ich Baron Thilliow als Passagier an Bord, den von Oklian, und seine ganze Familie. Ein guter Mann, kein verdammter Aktir, ganz gleich, was der Imperator behauptet. Nichts gegen den Imperator; ich nehme an, irgendwelche Leute tischen ihm einen Haufen Lügen auf und bringen gute Menschen vor die Axt. Mir wäre es lieber, wenn Simon Jester sie rausbringt, als sie tot zu sehen. Und das« – er griff nach oben und berührte die grobe, kleine Schnitzerei – »soll mich nur daran erinnern, das ist alles. Es hat eigentlich nichts zu bedeuten.«

Pallas streckte eine Hand aus und ein glänzender Goldroyal erschien zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. Sie schüttelte das Handgelenk, und ein weiterer tauchte auf. Noch ein Schütteln, noch eine Münze. Sie funkelten im stetigen Lampenlicht wie die Sonne.

Mit der ersten hatte sie seine Aufmerksamkeit bekommen. Als die dritte auftauchte, konnte er gerade noch den Sabber zurückhalten.

»Die könnt Ihr für Vorräte nehmen: 40 Leute, eine Woche lang. Kauft nicht alles an einem Ort. Nehmt den Rest, um die Mannschaft aufzustocken. Was dann noch übrig ist, behaltet für Eure Mühen.«

»Ich, äh …«

Handgelenk. Nun waren es vier. »Diese bezaubernde kleine Familie hat Verwandtschaft flussabwärts. 40 an der Zahl. Einen für jeden meiner Freunde, der in Eurer Bilge dorthin reist, vorausgesetzt, sie kommen sicher und gesund nach Tinnara hinab, und ein paar als Bonus. Eine Vergütung für außergewöhnliche Dienste.«

Er wischte sich wild übers Gesicht, bis das Fett und der Schmutz auf seinem Handrücken mit Schnodder verschmiert waren. »Das ist, äh, das ist eine heikle Aufgabe. Vielleicht würde ein wenig mehr vorab, äh, meine Nerven beruhigen …?«

»Ihr werdet mir vertrauen müssen«, meinte sie mit einem raschen Kopfschütteln. »Wir werden einander vertrauen müssen. Wenn ich nicht mit dem Gold herausrücke, werden in Tinnara 40 Menschen herumstreunen, die jedem Offizier der Augen oder der Armee einen oder zwei Nobel wert sind.«

»Aber 40 Royal «, murmelte er. »Da könnte ich meine alte Dame wirklich aufpolieren und wieder eine richtige Mannschaft anheuern …«

»Dann ist es also abgemacht.« Sie überreichte ihm die vier Royal.

»So ist es«, sagte er und folgte ihr die Leiter hinauf ins warme, nachmittägliche Sonnenlicht. »Gebt mir zwei Tage für das Rekrutieren der Mannschaft und die Besorgung der Vorräte. Bringt Eure Freunde am zweiten Tag am späten Nachmittag her – bis Sonnenuntergang sind wir dann am besten schon ein paar Meilen stromabwärts.« Er begleitete sie zum Steg und hielt ihr einen Arm hin, um ihr die Rampe hinaufzuhelfen.

»Und Ihr«, murmelte er leise, zögernd, mit einem verstohlenen Blick auf die geschäftigen Kais, um sicherzugehen, dass sich niemand in Hörweite aufhielt, »arbeitet Ihr echt für den Jester? Ist er echt, Ihr wisst schon, echt echt?«

»Ja«, bestätigte sie. »Ja, er ist echt echt.«

»Will er wirklich Ma’elKoth stürzen, wie sie sagen?«

»Nein. Nein, darum geht es ihm überhaupt nicht.« Sie wurde ernst. »Er will lediglich ein paar Leben retten. Diese Leute sind keine Aktiri, Kapitän. Es sind normale Menschen, unschuldige Menschen, die aus dem Imperium fliehen müssen, weil man sie sonst tötet. Man wird sie töten, weil Ma’elKoth sie nicht mag.«

»Nun, dann …« Er ließ ihren Arm los und blickte auf das Deck unter seinen Füßen, spuckte in das träge, braune Wasser des Großen Chambaygen. »Nun dann: Macht für den Jester. Und Macht für Euch, meine Dame.«

Pallas zwang sich zu einem kleinen Lächeln und berührte ihn an der Schulter. »Wir danken Euch beide. Haltet in zwei Tagen nach mir Ausschau.«

Sie entfernte sich entlang der Hafenanlagen, lief an den Stahlwerken und langen Reihen der Lagerhäuser vorbei, die Bootslieferungen aus dem ganzen Imperium entgegennahmen.

Das sollte einfach werden. Auf der Schale des Kapitäns hatte sie keinen Verrat aufflackern sehen und obwohl sie noch nie versucht hatte, so viele Tokali auf einmal wegzuschaffen, verspürte sie eine gewisse Zuversicht.

Dieser Spruch von Konnos war so unglaublich nützlich. Sie konnte alle 36 Tokali in die Bilge packen und den ganzen Haufen mit einem Tarnzauber versehen. Jeder argwöhnische Imperiale, sogar ein Adept, bekam dann nur dreckiges Wasser und schwarz geteertes Holz zu Gesicht und das Ewige Vergessen verhinderte, dass dieser hypothetisch argwöhnische Adept jeglichen Sog, den er spüren mochte, mit der möglichen Präsenz eines Tarnzaubers in Verbindung brachte. Damit das funktionierte, musste sie allerdings den ganzen Weg bis zur Küste mitfahren, um sie an den Zollstationen am Fluss vorbeizubringen, aber das störte sie nicht.

Sie konnte die Ruhe brauchen.

In diesem Augenblick war das Wichtigste, dass sie es schaffen konnte, dass sie ganz allein dafür sorgen konnte, dass sie sicher aus dem Imperium kamen, und diese gierigen Bastarde daheim in der Programmplanung des Studios konnten sie mal am Arsch lecken.

Und wenn sie nach diesem Abenteuer auf die Erde zurückkehrte, würde sie mit Hari eine ernsthafte Unterhaltung führen, dass er sich künftig aus ihrem Leben fernzuhalten hatte. Sie hätte sich niemals von ihm dazu überreden lassen sollen, die Scheidung nicht zu beantragen – diese Trennung war dämlich. Sie tat keinem von ihnen gut, zögerte den Schmerz nur hinaus, weiter nichts: ihre persönliche kleine Impro-Variante des Lingchi. Sie hätte auf ihre Instinkte vertrauen und einen klaren Schlussstrich ziehen sollen, genauso abrupt, wie man ein Pflaster von der Haut abriss.

Oder ein Glied amputierte.

Und so fühlte es sich wirklich an. Ein stechender Schmerz, den sie tief unten im Bauch spürte. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, wie er sie ansah, wenn sie daran dachte, wie sie ihm den Laufpass geben und weiter stromabwärts reisen würde: Phantomschmerz. Es hatte einmal einen Teil von ihr gegeben, der sie an Haris Leben gebunden hatte, doch der existierte nicht länger. Bei den Stichen, die sie immer noch regelmäßig spürte, handelte es sich nur um die psychologischen Wiedergänger der Amputation.

Und es lag zum Teil an Hari, dass es ihr so leichtfiel, rücksichtslos mit dem König der Zinken umzugehen: Majestät gehörte zu Caines engsten Freunden. Er gab einen ziemlich guten Ersatz ab, wenn sie nicht unmittelbar auf Caine zurückschießen konnte.

Im Lauf der Zeit, die sie sich inzwischen seiner bediente, hatte sie jedoch ein wachsendes Gefühl der Abscheu überrumpelt. Sie ertappte sich wiederholt bei dem Gedanken, dass dieser Mann letztlich nichts als ein Schläger mit einem guten Trick war, ein Herumtreiber von der Straße, wie es auch Hari einst gewesen war – aber Hari hatte sich zu etwas Größerem entwickelt, das gestand sie ihm durchaus zu. Hari oder Caine, keiner von beiden ließ jemanden so mit sich umspringen, wie sie mit dem König der Zinken umgesprungen war – Caine wäre ihr im selben Augenblick an die Kehle gegangen, in dem er einen Blick auf den Kristall mit dem Freundschaftszauber erhaschte.

Andererseits war sie nicht blind gegenüber ihren eigenen Schwächen. Sie wusste, dass ein Teil ihrer Abscheu gegenüber Majestät daher rührte, dass sie vor sich selbst rechtfertigen musste, ihn so brutal auszunutzen. Aber trotzdem …

Caine war auf merkwürdige Weise zuverlässig, er hing stur an seinem Selbstrespekt, wie unangebracht er auch sein mochte. Integrität war kein Wort, das einem in den Sinn kam, wenn man an Majestät dachte – der Mann glich eher einem Wiesel auf zwei Beinen. Nützlich, notwendig sogar, aber trotzdem ein Wiesel.

Während die Dämmerung durch das tiefer werdende Blau des Himmels herabschwebte, begab sie sich zu dem Lagerhaus, unter dem sie die Tokali versteckt hielt. Ihre Gedanken waren nicht bei den Massen, die sich um sie herum verdichteten, da die Sperrstunde nahte und Bewohner jeder Couleur aus der Altstadt über die Brücken strömten. Sie beschäftigte sich vielmehr mit der melancholischen Erkenntnis, dass sie weiterhin jeden Mann, dem sie begegnete, mit Hari verglich.

Traurig schüttelte sie den Kopf über diesen sentimentalen Unsinn und marschierte in die länger werdenden Schatten der Nebenstraßen des Gewerbedistrikts.

Sie listete zum millionsten Mal alle Gründe auf, weshalb es mit ihnen beiden nicht mehr funktionierte, führte sich die Summe ihrer Kämpfe, Eifersüchteleien und argwöhnischen Anwandlungen vor Augen. Sie hätten gar nicht erst heiraten dürfen. Als Liebhaber waren sie unschlagbar. Ihre Affäre war leidenschaftlich, stürmisch, unvorhersehbar und aufregend gewesen – aber alles, was sie zu großartigen Liebhabern werden ließ, machte sie beschissen als Mann und Frau.

Gegensätze ziehen sich an, aber Ähnlichkeiten verbinden.

Sie bewegten sich zum Beispiel an den entgegengesetzten Polen der Akteurskunst. Sie war überhaupt erst Akteurin geworden, weil ihr auf Overworld die Art von Macht winkte, die ihr im unbarmherzig rigiden Gesellschaftssystem der Erde in ihrer Händler-Unterkaste auf ewig versagt blieb: die Macht, Leuten zu helfen, wirklich etwas im Leben von anderen zu bewegen, etwas zum Positiven zu verändern. Sie konnte wahrhaft behaupten, dass ihre Karriere geholfen hatte, Overworld zu einem besseren Ort zu machen, und darauf war sie zu Recht stolz.

Caine, andererseits, kam wegen des Blutes her.

Sie rettete Leben, er nahm sie.

Und seine Abenteuer verkauften sich dreimal so gut wie ihre.

In ihren aufrichtigen Momenten gestand sie sich ein, dass das Teil des Problems war. Sie war nicht stolz darauf, aber sie konnte es auch nicht leugnen.

Sie seufzte und konzentrierte sich darauf, ihre Aufmerksamkeit zurück auf die bevorstehenden Probleme zu richten. Sie konnte sich später noch mit Caine beschäftigen, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Es waren die Müdigkeit, die endlosen Stunden der Flucht, des Versteckspielens und Kämpfens, die es ihr beinahe unmöglich machten, mit ihrem Verstand bei der Sache zu bleiben. Aber jetzt, da sie sich dem Schlupfloch näherte, in dem sie die Tokali untergebracht hatte, konnte ein Versagen ihrer Konzentration fatale Folgen haben.

Die Tokali versteckten sich unter dem verfaulenden, trügerischen Boden eines ausgebrannten Lagerhauses. Es stand in einem Block mit weiteren Hallen, die sich in einem ähnlichen Zustand des Verfalls befanden. Trockene Flecken hier und da – wo schräge Überreste der verbrannten Dächer an robusten Mauern lehnten, um den Regen abzuhalten – boten für eine Reihe von Familien und Hausbesetzern eine Zuflucht.

Sie hatte hier keine Wachen aufgestellt, die das Versteck ausplaudern konnten, auch kein Zeichen hinterlassen. Der trockene, höhlenartige Keller stellte bereits die dritte Fluchtstation dar; sie hatte ihn mithilfe der Zwillinge, Talanns und Lamoraks vorbereitet, Sigel an den Wänden und Türen verzaubert, um Spähinstrumente und andere vergleichbare Magick abzulenken. Majestät persönlich hatte ihr in Verkleidung geholfen, Vorräte hineinzuschaffen. Obwohl er körperliche Arbeit verabscheute, sorgte ihr Freundschaftszauber dafür, dass er ohne Murren arbeitete und lieber gestorben wäre, als diesen Ort zu verraten. Pallas glaubte fest, dass niemand mehr lebte, der von der Existenz dieser Zuflucht wusste.

Der Eingang war in einer ehemaligen Schreibstube im Inneren verborgen – um dahin zu gelangen, musste man sich durch einen Irrgarten aus eingestürzten Mauern und trügerisch durchgefaulten Bodenbrettern schlängeln. Im letzten Moment wandte sie sich ab, anstatt hineinzugehen, schlenderte an der verkokelten Fassade vorbei, als hänge sie ihren Gedanken nach.

Etwas stimmte nicht.

Das Rinnsal der Tagelöhner, die nach Hause unterwegs waren, floss stetig wie eh und je, nicht mehr und nicht weniger als sonst. Ein Blick auf Gesichter und Kleidung lieferte Pallas keinen Anhaltspunkt für ihre abrupte Nervosität, aber sie vertraute auf ihre Nerven, ihre Instinkte – sie waren alles, was noch blieb, um ihr Leben zu retten.

Sie fand ein stabil wirkendes Stück Wand, um sich beiläufig dagegenzulehnen, und musterte die Straße. Was stimmt nicht an diesem Bild?

Es gab keinen Rauch.

Die Hausbesetzer … Es waren insbesondere zwei Familien, eine auf der anderen Straßenseite, wo sich einst ein Getreidelager befunden hatte, und eine weiter unten in einer ehemaligen Schmiede. Jetzt und hier, bei Dämmerung, hätten beide ihre kleinen, geschützten Feuer entfacht haben sollen, um die paar Abfälle zu erhitzen, die sie fürs Abendessen erbettelt hatten. Die sporadischen, fast täglichen Regenfälle, die Ankhana im Spätherbst heimsuchten, hatten alle auffindbaren Holzabfälle feucht werden lassen – aber es war kein Rauch zu sehen.

Vielleicht irrte sie sich. Sie mochten einfach nur in eine trockenere und windgeschütztere Zuflucht umgezogen sein.

Oder: Sie lagen irgendwo gefesselt, tot sogar, während sich neben sie Graue Katzen kauerten, die Pallas durch in der Hitze des Feuers aufgeplatzte Ritzen in den ausgeborgten Wänden beobachteten.

Nicht umsonst nannten sie sich Katzen. Sie konnten schon seit Stunden hier sein, langsam in Stellung pirschen, unverwandt nach jeglichem Hinweis auf Bewegung rund um das Mauseloch Ausschau halten, in dem sich die Tokali drängten. Aber sie konnten nicht wissen, dass beide Familien bei Dämmerung kochten.

Sie setzte sich in Bewegung, schlenderte weiter, bis der Turm des Colhari-Palastes durch eine Lücke in einer einfallenden Mauer in Sicht kam. Sie atmete sich in die Gedankensicht und das verdrillte Gitter des Flux erfüllte ihr Sichtfeld, während es langsam von den trüben Schalen der vorüberkommenden Stadtbewohner aufgewirbelt wurde. Sie nahm keinen Strahl aus kanalisiertem Flux aus dem Palast wahr, aber das garantierte noch lange nicht, dass sie sich in Sicherheit befand. Die Katzen an sich griffen sie nicht auf Sicht an, da sie keine Ahnung hatten, wer sie war, aber wenn Berne sie begleitete …

Die Imperialen wussten, dass Simon Jester ein Thaumaturg war – das bewies bereits der Spruch, der ihre Suche vereitelte. Wenn sie ihm eine Falle stellen wollten, würden Berne und Ma’elKoth ihren Kanal nicht offenhalten; damit hätten sie schließlich für jeden Adepten in der Gedankensicht sozusagen eine Fanfare geblasen und eine Fahne geschwenkt.

Aber Berne, er hatte eigene Gründe, sich unabhängig von der Jagd nach Simon Jester auf sie zu stürzen. Wenn er hier war, wenn er in einem dieser Gebäude auf der Lauer lag, bereit zum Angriff, und er sie auf der Straße bemerkte und wiedererkannte, trieben seine Habgier, sein Blutdurst, nach einer Möglichkeit, sie oder Caine zu verletzen, ihn vermutlich dazu, sich …

Und da war es: Aus dem Turm des Colhari-Palastes schnellte jene Achse aus scharlachroter Macht unmittelbar ins Dasein.

Sie hatte nur noch Sekunden zu leben.

Umzingelt. Allein. Die Untertanen hätten ihr geholfen, wäre ihnen bewusst gewesen, dass sie in Gefahr schwebte, aber hier gab es weit und breit keine Untertanen.

Allein, aber nicht hilflos.

Wäre Caine hier gewesen, hätte er Sunzi zitiert: »Kämpfe in hoffnungslosem Gelände.«

Aus einer Tasche an der Brust zog ihre Hand ein liebevoll geschnitztes Miniaturmodell ihrer selbst: eine winzige Hand aus demselben glitzernden Quarz, den sie für ihre Schildzauber nutzte.

Die Linien der Macht darauf leuchteten und sprachen zu ihrem Geist.

Die Achse aus kanalisiertem Flux verlief schnurgerade wie ein Laserstrahl vom Palast zu dem zusammenbrechenden Lagerhaus auf der anderen Straßenseite: Berne hatte keine Möglichkeit, sich vor ihr zu verbergen.

Die Linien, die in die Hand aus Quarz eingeprägt waren, breiteten sich aus wie ein Netz, drehten sich wie ein Wasserwirbel, ein riesiger Mahlstrom aus Flux, der ihre Haut vor Macht schimmern ließ. Ganz gleich, wie viel Energie Berne von Ma’elKoth channelte, er war selbst kein Thaumaturg: Ohne Gedankensicht konnte er keinesfalls erkennen, in welchen Schwierigkeiten er gerade steckte.

Auf ihren Lippen lag ein wildes Grinsen, das Berne sicher erkannt hätte. Sie streckte die Hand aus und ballte sie zur Faust, und die unsichtbare Macht ihres Tiki zermalmte das Gebäude wie eine Eierschale.

Es fiel mit Lawinengebrüll und einer sich ausbreitenden Wolke aus erstickendem Staub in sich zusammen. Wenn Berne sie erwischen wollte, musste er sich erst einmal freibuddeln.

Das gleichförmig klatschende Geräusch abgeschossener Armbrüste ertönte überall um sie herum, aber Pallas war bereits in Bewegung, tauchte tief in den verhüllenden Staub ein. Bolzen surrten an ihr vorbei, prallten von Pflastersteinen ab und blieben bebend im Holz stecken. Rufe und Schreie der Stadtbewohner erfüllten die Luft, als sie auseinanderstoben und um ihr Leben rannten.

Pallas rollte sich ab, kam auf die Beine und schüttelte das Handgelenk, um denselben Trick zu vollführen, den sie dem Kapitän der Flussbarke gezeigt hatte, doch statt Münzen erschienen zwischen ihren Fingern jetzt die geladenen Kastanien – eine, zwei, drei, vier.

Blut summte in ihren Ohren, und ein derbes Hochgefühl erfüllte ihre Brust. Zähne blitzten über dem triumphierenden Knurren auf, als sie eine Kastanie auslöste und zusammen mit ihrem Tiki über die Straße schnippte, direkt in das Gebäude hinein, aus dem die meisten Armbrustschüsse gekommen waren. Flammen brachen aus zertrümmerten Fenstern hervor. Die Gebäudefassade beulte sich aus und stürzte zusammen.

Das, nahm sie an, sollte genügen, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie drehte sich um und sprintete mit voller Geschwindigkeit davon, direkt auf die Stollen zu.

Kommt schon, kommt, kommt, kommt, los jetzt, ihr Bastarde, sang sie im Geiste. Ihr werdet schon alle herkommen müssen, damit ich nicht entwische.

Kommt schon!

Und sie kamen, brachen aus ihrer Deckung hervor – 15, 20, 30 Mann in Grau mit harten Augen, die sie hinter wütenden Grimassen im Trab verfolgten und langsam aufholten, weg von den Tokali und hinein in das Königreich der Zinken. Hinter ihr richtete sich das Gebäude, das sie eben zermalmt hatte, das Gebäude, das sie über Bernes Kopf hatte einstürzen lassen, in der Mitte langsam auf, ausgebeult wie ein Raupenkadaver, aus dem eine Brut Wespen schlüpfte.

Berne kam.

Sie senkte den Kopf und rannte.