TAG ZWEI

»Was stimmt nicht mit dir? Du wirst nicht ein einziges Mal zornig! Sogar wenn du mich anbrüllst, ist das besser als das, als dieses, dieses ruhige … Nichts.«

»Komm schon, Shanna, Herrgott noch mal. Was beweist es denn, wenn wir uns anbrüllen? Wer die lauteste Stimme hat?«

»Vielleicht würde ich einfach nur gern glauben, dass in dir eine Leidenschaft für etwas anderes außer Gewalt brennt. Vielleicht wünsche ich mir manchmal, ich wäre für dich so wichtig wie das Töten …«

»Verdammt, das ist nicht fair.«

»Fair? Du willst es fair? Ich darf dich zitieren: ›Ich glaube an Gerechtigkeit, solange ich dem Richter ein Messer an die Kehle halte.‹«

»Was hat das denn mit …«

»Alles. Es ist alles Teil des Problems. Ich schätze, ich sollte nicht erwarten, dass du das verstehst.«

1

Ein Mann, zu jung und zu hübsch, mit kunstvoll gelocktem Haar, starrt ernst von den Großbildschirmen in Häusern und Wohnungen auf der ganzen Welt.

»Für alle, die gerade erst zu uns stoßen: Hier ist Adventure Update, Ihre einzige weltweite Quelle für Studio-News rund um die Uhr. Ich bin Bronson Underwood.

Unsere Top-Story heute Vormittag: In weniger als einer Stunde wird der legendäre Caine den Transfer in die Stadt des Lebens antreten, die Hauptstadt des ankhanischen Imperiums, auf dem Nordwestkontinent von Overworld. Seine Real-Life-Frau, die prominente Pallas Ril, ist irgendwo in der Stadt verschollen. Die Zahl, die unten links in der Ecke Ihrer Screens eingeblendet wird, ist unsere genaueste Schätzung der Stunden, die noch bleiben, bis Pallas Rils Amplitudenkompatibilität versagt und sie auf Overworld phasenentkoppelt wird. Wie Sie sehen können, wird Pallas Ril in 131 Stunden sterben, und das auf grausame Weise, wenn Caine sie nicht rettet – in kaum mehr als fünfeinhalb Tagen.

Adventure Update wird diese Grafik ab sofort rund um die Uhr einblenden, solange noch ein Rest Hoffnung besteht, und wir versorgen Sie stündlich mit aktuellen Nachrichten zu Caines Fortschritten auf seiner verzweifelten Mission.

In der nächsten Stunde wiederholen wir die Aufzeichnung von LeShaun Kinnisons Interview mit Caine. So viel kann ich Ihnen schon verraten: Das ist ein ganz schöner Knaller. Aber vorab spreche ich mit unserem leitenden Spezialisten für ankhanische Angelegenheiten, Jed Clearlake.«

»Guten Morgen, Bronson.«

»Jed, was können Sie unseren Zuschauern über die gegenwärtige Lage in Ankhana sagen? Wie viel wissen wir tatsächlich?«

»Nun, Bronson, mehr, als Sie wahrscheinlich glauben. Zunächst einmal, die 131 Stunden sind lediglich ein Näherungswert. Eine Reihe von Faktoren kann die Phasen-Stabilisierungs-Leistung von …«

Und das ist erst der Anfang.

2

Der Berg aus Stein und Stahl, der das Studio von San Francisco beheimatet, ragte über der weiten Ebene aus Landeplätzen und Carports auf. Die Adler, die um den Berggipfel kreisten, waren die Limousinen und fliegenden Coupés der Opulenz und Investoren, die in einer endlosen Warteschleife am Himmel schwebten.

Das Wetter hatte sich über Nacht verändert. Die aufgehende Sonne tönte die gotischen Bogenfenster und funkelte in den Augen der Wasserspeier, die sich unter den Bögen riesiger Hochschiffstreben duckten. Hohe Granitmauern – die erste Verteidigungslinie gegen niedrigkastige Eindringlinge – umgaben das Gelände.

Vor dem mit eisernen Zähnen bewehrten Maul des riesigen Tors standen die Horden der Niedrigkastigen – die Arbeiter und Handwerker und sogar ein paar Spezialisten, die nicht zu stolz waren, sich unter die anderen zu mischen – und wälzten sich voran, stampften und strömten der breiten Straße entgegen, zurückgehalten lediglich von den eingehakten Armen der rot uniformierten Studio-Security, die sich an den Bordsteinkanten aufreihte.

Noch in dieser Stunde trat Caine höchstpersönlich durch diese Tore.

In der Cavea, der riesigen Halle mit den 5000 Firsthander-Abteilen, fummelte, bugsierte und stopfte ein Bataillon von Platzanweisern die reichen Kunden in ihre Simichairs.

In den Boxen der Abonnenten genossen die Opulenz und ihre Gäste die Delikatessen und exotischen Weine, die persönliche Servicekräfte servierten, und unterhielten sich über Caines außergewöhnlichen Auftritt auf dem Ball der Abonnenten. Es herrschte geteilte Meinung: Die meisten hielten es für einen besonders cleveren Fall von Studiotheatralik, aber eine sture Minderheit blieb dabei, dass das Ganze absolut ungeplant gewesen war – dass sich etwas Echtes ereignet hatte.

Alle waren sich jedoch einig, dass ihr Interesse dadurch aufs Höchste gesteigert worden war. Viele hatten aus lauter Vorfreude eine schlaflose Nacht verbracht und diejenigen, die geschlafen hatten, träumten meist davon, in die Haut von Caine zu schlüpfen.

Im Technikraum, der die ebenholzschwarze Zikkurat der Transferplattform der Cavea überblickte, keifte Arturo Kollberg sinnlose Befehle, kochte innerlich und brütete über seiner Demütigung am Abend zuvor, am Rande seines größten Triumphs. Er hielt das Verhalten seines Schützlings für nicht hinnehmbar. Etwas musste unternommen werden. Etwas würde unternommen werden, wenn es nach ihm ging.

Das war nichts Persönliches, versicherte er sich. Kein Anflug von Groll, kein Bedürfnis, seiner verwundeten Eitelkeit Linderung zu verschaffen. Kollberg war davon überzeugt, die Größe zu besitzen, die so etwas verhinderte. Er verstand, dass seine persönlichen Bedürfnisse den Zwängen, die seine Position mit sich brachte, untergeordnet werden mussten. Genau so hatte er sich auch stets verhalten. Die erfahrene Erniedrigung, die Beleidigung seiner Person gegenüber, die Drohung, das alles spielte keine Rolle. Darüber konnte er stumm hinwegsehen, wenn er nur wollte. Das war eine Sache zwischen dem Mann Michaelson und dem Mann Kollberg – eine persönliche Angelegenheit, die sich vergessen ließ.

Die Beleidigung gegenüber seiner Position jedoch änderte die Sache.

Das betraf das Verhältnis zwischen dem Spezialisten Michaelson und dem Administrator Kollberg. Ignorierte man diesen Konflikt, drohte man den Zusammenhalt der Zivilisation zu gefährden.

Administratoren auf der ganzen Welt hatten zwei Mottos, zwei einfache Prinzipien, von denen sie sich im Leben leiten ließen: Ehrerbietung gegenüber den Oberen, Respekt von den Unteren und: dienen.

Kinder von Administratoren lernen früh, dass jene die Wächter der Gesellschaft waren, im Grunde die Achse, um die die Welt sich drehte. Unter ihnen im Rang standen die Spezialisten, Handwerker und Arbeiter; über ihnen die Unternehmer, die Investoren und die Opulenz. Administratoren bildeten das Zentrum, den Drehpunkt, den Schwerpunkt, und ihnen fiel keine geringere Aufgabe zu als der Erhalt der Zivilisation. Administratoren empfingen die Anweisungen der Höherkastigen und setzten sie durch Anweisungen ihrerseits an die Niedrigkastigen in die Realität um. Administratoren teilten die schwindenden Ressourcen der Erde auf. Administratoren managten die Unternehmen. Administratoren schufen den Reichtum, der die Erde antrieb.

Administratoren trugen die Welt auf dem Rücken und verlangten nichts im Gegenzug.

Eine der grundlegenden Fähigkeiten eines Administrators, ein wesentlicher Bestandteil seiner Ausbildung, bestand in der Sicherung der Würde seiner Position. Die moralische Autorität eines effektiven Administrators war so immens, dass Niedrigkastige – und sogar geringere Administratoren – seinen Anweisungen folgten, ohne sie in Zweifel zu ziehen. Große Administratoren verfügten über Niedrigkastige, die bei der Ausführung ihrer Funktionen praktisch miteinander wetteiferten. Für sie gab es keine größere Belohnung als einen anerkennenden Blick und ein zackiges ›Gut gemacht!‹.

Wenn aber Fehler und Schwäche die Autorität der Administratoren aushöhlten, drohten die Niedrigkastigen mürrisch und träge zu werden – manchmal schwindelten und simulierten sie, bis es an Sabotage grenzte, bis es dem Unternehmen echten Schaden zufügte. Das war kein Mythos, keine Geistergeschichte, um Administratorenkindern einen Schrecken einzujagen. Arturo Kollberg hatte es am eigenen Leib erlebt.

Kollberg war das Ergebnis einer Mischehe. Sein Vater – ein kompetenter, wenn auch durchschnittlicher Administrator eines Krankenhauses im Mittleren Westen – hatte unterhalb des eigenen Status geheiratet und eine der Spezialistinnen, die er beaufsichtigte, zur Frau genommen. Kollbergs Mutter war Thoraxchirurgin gewesen und die anderen Administratorengören, grausam wie Kinder überall auf der Welt, hatten ihn das niemals vergessen lassen.

Kollberg verbrachte seine ganze Kindheit damit, hilflos zuzusehen, während die Eltern seiner Klassenkameraden an Status und Stellung gewannen, auf anspruchsvolle und glamouröse Posten überall auf der Welt versetzt wurden. Kollbergs verblödeter Vater hatte – schwach, wie er nun einmal gewesen war – zugelassen, dass er der Vergessenheit des Provinzkrankenhauses anheimfiel, vor allem, weil er es nie verstand, seine Niedrigkastigen auf ihre angestammten Plätze zu verweisen. Er hatte Kollbergs Mutter sogar erlaubt, weiterhin ihrer Arbeit nachzugehen – aber solange sie Spezialistenarbeit verrichtete, konnte sie nicht in die Administratorenkaste aufgestuft werden. Aus minderen Umständen zu stammen, war keine Schande, aber es galt als auf kriminelle Weise egoistisch, diese Umstände zu bevorzugen. Sie hatte weiterhin Operationen durchgeführt, blind für den Schaden, den sie der Karriere ihres Mannes und dem Leben ihres einzigen Sohnes damit zufügte.

Aber man konnte die Schuld nicht komplett in ihre Hände legen. Sein Vater hatte niemals verstanden, welche wichtige Rolle Würde und äußerer Anschein für Administratoren spielten. Mit seinem schwachen Geist und der ihm eigenen Bequemlichkeit war es ihm wichtiger gewesen, gemocht zu werden, statt respektiert. Er hatte niemals auf angemessene Respektsbekundungen bestanden. Selbst jetzt noch konnte Kollberg eine brennende Schamesröte heraufbeschwören, wenn er sich daran erinnerte, wie sein Vater seiner Mutter gestattet hatte, ihn in der Öffentlichkeit anzusprechen, ohne seinen Ehrentitel zu verwenden, wie er außerdem zugelassen hatte, dass sie ihn vor anderen Niedrigkastigen berührte.

Kollberg hatte sein Leben als Gegenentwurf zu dem seines Vaters definiert. Er hatte nie geheiratet, interessierte sich nicht für Familienangelegenheiten – ohnehin plante er nicht, je zu heiraten. Eine Frau nahm zu viel von seiner Aufmerksamkeit in Anspruch und störte die asketische Hingabe, mit der er seinen Pflichten nachging. Er bestand auf die exakt angemessene Ehrerbietung derjenigen unter ihm – und erhielt sie auch – und er brachte jenen über ihm den exakt angemessenen Grad an Respekt entgegen. Er wusste ganz genau, welchen Platz er in der Hierarchie der Realität einnahm, und er war bestens vertraut mit dem Vektor seines Lebens.

Aufwärts. Langsam und zögernd, aber stetig aufwärts.

Durch Ergebenheit und Begabung war er im Lauf seiner Karriere aufgestiegen, vom Assistenz-Fachbereichsleiter im Krankenhaus seines Vaters in dessen frühere Position. Einer der stolzesten Momente in Arturo Kollbergs Leben, eine Erinnerung, die er mehr als jede andere in Ehren hielt, war der Tag, an dem er das Büro seines Vaters betreten hatte, um ihm persönlich die Bekanntmachung des Zwangsruhestands zu überreichen. Damit hatte er unter Beweis gestellt, was ein begabter Administrator erreichen konnte, und er zeigte, dass er jede einzelne dieser Fähigkeiten mitbrachte, und das trotz seines gemischten Erbes.

Aber es war ihm nicht genug gewesen, seinen Vater zu bezwingen. Im Gesundheitswesen konnte ein ehrgeiziger Mensch nur bis zu einem gewissen Punkt aufsteigen. Nun, 20 Jahre später, gehörte er einer Elite an, von der durchschnittliche Administratoren nur träumen konnten. Er hatte jeden seiner Klassenkameraden überflügelt, mitsamt ihren Eltern, und jeden Administrator, dem er je begegnet war: Er hatte nicht nur den Vorsitz eines Studios übernommen, sondern er war der Vorsitzende des Studios schlechthin. San Francisco, das Studio, in dem alles angefangen hatte; das Studio, in dem das Gerät für den Winston-Transfer durch Jonah Winstons Handarbeit entstanden war. Dieses Studio hatte nicht nur das Wesen der Unterhaltung revolutioniert, sondern die Struktur der ganzen Gesellschaft.

Als er es übernommen hatte, befand es sich auf dem absteigenden Ast, kaum mehr als ein Wrack, ein Witz, ein endgültiges Abstellgleis für vom Peter-Prinzip eingeholte Inkompetente. Seine Kollegen hatten ernst den Kopf geschüttelt, als sie von seiner Versetzung dorthin erfuhren, und sie hatten feierlich über die Selbstzerstörung einer vielversprechenden Karriere gegackert.

Inzwischen gackerten sie nicht mehr.

San Francisco war mittlerweile das Diamant-Diadem des gesamten Studiosystems, das Flaggschiff, der prestigeträchtigste Ableger. San Francisco nahm 50 Millionen Mark im Jahr allein auf Grundlage der Wartelisten ein, die es für hoffnungsfrohe Möchtegern-Abonnenten der Top Ten seiner Stars führte.

Und wenn man von den Top-Ten-Stars von San Francisco sprach, wenn man von den Top-Ten-Stars aller Zeiten sprach, landete man unweigerlich bei Caine.

Man konnte über Burchardt sagen, was man wollte, über Story und Zhian und Mkembe, man konnte jeden Namen ins Spiel bringen, der einem in den Sinn kam: Es gab nur einen Caine. Niemals hatte es einen wie ihn gegeben, vermutlich würde es nie wieder einen wie ihn geben. Oft imitiert, nie dupliziert. Es gab eine Reihe widersprüchlicher Theorien über Caines anhaltende Popularität, die in der Regel seiner Eloquenz Anerkennung zollten, seiner merkwürdigen Kombination aus Skrupellosigkeit und Leidenschaft, seinen sonderbaren ehrenhaften Marotten; Kollberg wusste, dass es sich durchgehend um sinnfreie Rationalisierungsversuche handelte.

Mit einem Wort: Bullshit.

Es gab zwei Gründe, weshalb Caine weiterhin sowohl den Firsthand- als auch den Secondhand-Markt dominierte. Der erste: sein zähnefletschender Kampfstil mit bloßen Händen.

Mit Zaubern jonglieren, das ist eine Sache – wenn man spürt, wie die Macht der Magick durch den Körper strömt. Mit einer stählernen Klinge auf einen Gegner einhacken ist etwas anderes – etwas Intimeres, Brutaleres. Aber selbst das lässt sich nicht mit der erotischen Dynamik brechender Knochen unter bloßen Händen vergleichen, dem Klatschen von Fleisch auf Fleisch, dem plötzlich aufwogenden Überschwang, der einen erfasst, wenn der Feind jenes zarte Seufzen von sich gibt – jenes Aufkeuchen beim Erkennen der bevorstehenden Niederlage, wenn die Gesichtszüge erschlaffen und man den Tod in den Augen seines Gegenübers erkennt. Es ist das Kämpfen an sich, für das Caines Fans leben, und Caine wirft sich mit Leib und Seele in diese Kämpfe, wie ein Klippenspringer; er stürzt sich hinaus in den leeren Raum, um zu leben oder zu sterben, nur um des Sturzes willen.

Der zweite Grund: Kollberg selbst.

Kollberg hatte Caine erschaffen, hatte dessen Karriere mit jener persönlichen Aufmerksamkeit gemanagt, die Männer in der Regel nur ihren Söhnen zukommen lassen. Jeden Ort auf Overworld, von dem ein Lagebericht eintraf, der eine spannende Kulisse für eine Caine-Geschichte verhieß, suchte Caine auf. Kollberg hatte ihn sogar an Orte geschickt, an denen andere Akteure arbeiteten – selbst wenn das bedeutete, ihn mitten in ihren Handlungsstrang hineinplatzen zu lassen, um ihn anschließend zu übernehmen. Für diese Vorzugsbehandlung war Kollberg in die Kritik geraten und er war in die Kritik geraten, weil er sich beim Publikum anbiederte, die Geschichten anderer Akteure schädigte und ihre künstlerische Aussagekraft zerstörte.

Er hatte jeden Vorwurf mit einer schlichten Geste beantwortet: einem dicklichen Finger, der triumphierend auf den Reingewinn seines Studios zeigte. Selbst die weniger gefragten Akteure gaben ihren Groll auf. Immerhin kurbelte die Chance, dass Caine unerwartet in einem ihrer Abenteuer auftauchte, die Abonnementszahlen jedes einzelnen Akteurs in San Francisco an.

Aber die Tatsache, dass Caine sich gegen Kollberg gestellt hatte, ihm von Angesicht zu Angesicht getrotzt, ihn sogar bedroht hatte – das konnte er ihm nicht durchgehen lassen. Michaelson sollte man nicht einmal als richtigen Spezialisten betrachten – diese Modeerscheinung, um dem Ego von Akteuren zu schmeicheln, ging inzwischen zu weit. Spezialisten, ach was. Wenn überhaupt, sollten Akteure allerhöchstens Handwerker sein. Ihre Tätigkeit war ein simpler Austausch von Handarbeit gegen Geld. Ein wahrer Spezialist zählte zu den Mitgliedern einer Elitegesellschaft mit selbst auferlegtem Ethikkodex. Ein wahrer Spezialist ist für die Ergebnisse seiner Arbeit verantwortlich.

Kollberg lächelte grimmig in sich hinein. Nun, das könnte amüsant werden – sollte jemand Caine für seine Taten verantwortlich machen, sollte er sich je wirklich den Konsequenzen seiner Handlungen stellen müssen. Eine amüsante Vorstellung, aber eine, der er sich nicht hingeben durfte. Dafür war Caine zu wertvoll.

Und eigentlich, rief er sich in Erinnerung, hatte ihn auch nicht Caine bedroht, sondern Michaelson. Caine war derjenige, der all diesen Reichtum ins Studio getragen hatte. Caine stellte Kollbergs größten Erfolg dar.

Michaelson war derjenige, den man auf irgendeine Weise bestrafen musste.

3

Hari beendete sein Training mit einer Reihe von gedrehten Tritten auf das kopfgroße holografische Ziel, das im elektrostatischen Dunst an einem Ende des Fitnessraums der Abtei tänzelte. Rückwärtsdrehungen auf beide Seiten, Tritte mit Einhaken, Halbkreise. Hari wirbelte herum, bis ihm der Schweiß waagrecht aus dem Haar spritzte.

Er schüttelte den Kopf und merkte sich, dass er mit seiner linken Führungshand aufpassen musste. Ein Wetterumschwung hatte seine alte Schwertverletzung am rechten Oberschenkel steif werden lassen und ihn derart ausgebremst, dass nur drei von fünf seiner Rückwärtstritte auf dem schaukelnden Ziel landeten. Kein guter Trend. Er war nicht mehr der Jüngste und Schnelligkeit ließ sich nur bis zu einem gewissen Punkt mit Erfahrung ausgleichen.

Er ging direkt an den Screen, ohne sich mit einer Dusche aufzuhalten. Mit dem Handtuch wischte er den Großteil des trocknenden Schweißes ab, während er ein paar Minuten lang mit seinem Anwalt redete und sicherstellte, dass seine Angelegenheiten geregelt wurden und insbesondere die jährliche Überweisung, die er für den Unterhalt seines Vaters eingerichtet hatte, unantastbar blieb. Als das erledigt war, klickte er sich ab. Es gab niemanden mehr, mit dem er sich noch unterhalten musste.

Er legte sich das Handtuch über die Schultern und machte sich auf den Weg zum Tresorraum. In einer Viertelstunde landete die Limousine des Studios.

Es wurde höchste Zeit, Caine zu werden.

Mit dem Strom, den der Tresorraum im Keller der Abtei verbrauchte, hätte man ohne Probleme eine ganze Kleinstadt beleuchten können. Diese Kammer beherbergte ein Overworld-Normalfeld, das es ihm gestattete, Caines Garderobe und seine Waffen einzulagern, sodass er sich nie mit den unbedeutenderen Akteuren im Tresorraum des Studios umziehen musste. Die Räumlichkeit war kaum größer als ein Wandschrank: genau doppelt so groß, wie er es brauchte.

Bei geöffneter Tür starrte ihn die leere linke Seite des Tresors an. Hin und wieder gab er sich masochistischen Vorstellungen hin, in denen er sich Duplikate von Pallas’ Kostüm beschaffte, nur damit irgendetwas dort hing, anstelle dieser spöttischen Leere. Er erkannte darin die traurigen Träume eines Verzweifelten – niemals hätte er sein eigenes Kostüm dort hinhängen können, genauso wie er nach wie vor auf seiner Seite des Doppelbetts schlief.

Er zog seine Sachen hervor.

Die schwarze lederne Tunika wirkte ausgeblichen und hatte Risse – weiße Salzringe aus uraltem Schweiß lagerten sich rund um die Achselhöhlen an, die Rohlederbänder waren ausgedehnt und steif. Er legte sie auf das makellose Polster der Couch im Ankleideraum, neben die weiche, schwarze Hose, die von grob genähten Schnitten und Rissen übersät war. Der dicke, braune Faden sah auf dem Leder aus wie getrocknetes Blut. Auf den Boden stellte er ein Paar geschmeidige Stiefel mit niedrigem Schaft. Sie glichen den hohen Tennisschuhen einer anderen Ära.

Er stand nackt vor dem Ankleidespiegel an der Außenseite der Tresortür. Die flachen Muskeln auf der Brust, die Furchen am Bauch, die Sehnenbündel an Oberschenkeln und Armen, all das ragte hervor, als sei es in Stein gemeißelt. Er drehte sich leicht und kniff die Augen zusammen, betrachtete den Fettpolsteransatz unterhalb der Taille mit kritischem Ekel. Vielleicht war das die unvermeidliche Konsequenz, wenn man auf die 40 zuging – möglicherweise war er aber auch nachlässig gewesen. Sein Missfallen wurde lediglich von einem zarten Hauch Eitelkeit gefärbt und ansonsten vor allem von dem Wissen hervorgerufen, dass vier oder fünf zusätzliche Pfunde ihn am kritischen Wendepunkt zwischen Sieg und Tod auf fatale Weise ausbremsten.

Er hatte die Statur eines Mittelgewichtsboxers, ein wenig zu groß für sein Gewicht. Seine Haut war eine dunkle Landkarte aus im Zickzack verlaufenden Narben, anhand derer man die Höhepunkte von Caines Karriere nachverfolgen konnte. Hier war der aufgeworfene Kreis des Armbrustbolzens, den er sich in Ceraeno eingefangen hatte, dort die diamantförmige Narbe des Schwertes durch die Leber vor Toa-Phelathons Schlafgemach. Über dem Schlüsselbein befand sich der gezackte Axthieb, mit dem Ghular Freihammer ihn beinahe enthauptet hätte; dort auf seinem Rücken prangten die parallel verlaufenden Hiebe, die ihm in den Katzengruben von Kirisch-Nar ein Puma zugefügt hatte. Zu jeder größeren Narbe gab es eine Geschichte und auch zu einer erklecklichen Anzahl der kleineren. Nun berührte er im Spiegel jede einzelne Narbe und ließ die dazugehörigen Erlebnisse in seinen Geist strömen, um sich abermals in Erinnerung zu rufen, was ihn ausmachte.

Ich bin Caine.

Jene große Narbe, die von der rechten Hüfte bis über den Oberschenkel reichte, diejenige, die diese Tritte so langsam machte – sie stammte von Berne.

Diese Erinnerung schüttelte er ab und schlüpfte in seinen Tiefschutz – ein Ledersuspensorium, das die eingenähte Stahlschale polsterte. Er streifte die Lederhose über und holte die beiden Wurfmesser aus den Scheiden am Oberschenkel, um ihre rasiermesserscharfen Klingen an den Unterarmen zu prüfen. Er stieg in die Stiefel und strich über die kleinen Blattdolche in ihren Scheiden an den Knöcheln. Im Inneren der Tunika waren noch Scheiden für drei weitere Messer eingenäht – unter den Achseln zwei lange Kampfmesser, ein weiteres Wurfmesser fand zwischen den Schulterblättern Platz. Er verschnürte die Tunika bis zum Brustbein und gürtete sie mit einem geschmeidigen Garrottenseil mit einem Kern aus Stahldraht.

Nun schaute er noch einmal in den Spiegel, und diesmal erwiderte Caine seinen prüfenden Blick.

Ich bin stark. Ich bin unerbittlich. Ich bin unausweichlich.

Die besorgte Anspannung, die sich in seinen Eingeweiden festgesetzt hatte, löste sich langsam und ließ nach. Schmerz und Verbitterung glitten ihm über die Schultern und rollten von seinem Rücken ab. Er knurrte der kalten Freiheit, die er nun spürte, ein grimmiges Lachen entgegen. Hari Michaelsons Probleme, seine Schwächen und Unsicherheiten, sein ganzes klaustrophobisches Leben blieb hier auf der Erde zurück.

Er ließ Shannas Abbild an die Oberfläche seines Bewusstseins steigen. Wenn sie noch lebte, würde er sie retten. Wenn nicht, würde er sie rächen. Das Leben ist einfach. Das Leben ist gut.

Ich bin unbesiegbar. Ich bin die Klinge von Tyshalle.

Ich bin Caine.

4

Im Technikraum leckte sich Arturo Kollberg über die Lippen und rieb die Hände aneinander. Nicht nur war jedes Firsthander-Abteil gefüllt, er hatte auch bereits die über Nacht eingetrudelten Anfragen der Studios in New York, London, Seoul und Neu-Delhi für Simulcasts über Satellit beantwortet.

Dieses Abenteuer hatte ein Eigenleben entwickelt, noch bevor Caine das Studio überhaupt betrat. Es wurde noch größer, als er es sich erträumt hatte. Während die Techniker mit ausdrucksloser Stimme ihre Checklisten durchgingen, summte Kollberg vor sich hin und probierte im Geiste die Titel aus, die er dem Abenteuer angedeihen lassen konnte. Gegen das Imperium? Nein, zu banal. Sieben Tage in Ankhana gefiel ihm – aber das funktionierte nur, falls Pallas so lange lebte. Aus Liebe zu Pallas Ril – also das, das hörte sich doch ganz ordentlich an, auf eine altmodische, etwas überreife Art.

Das Lächeln, das damit einherging, blieb auf seinen Lippen, bis die farblose, monotone Stimme eines Technikers verkündete, dass die Satellitenverbindungen fehlerfrei funktionierten. Er richtete sich auf und begab sich in den Aufenthaltsraum.

5

In seiner Privatbox warf Unternehmer Marc Vilo einen letzten Seitenblick auf Shermaya Dole. Von den Opulenz-Doles auf Kauai. Dieser Satz wogte wärmend durch seinen Geist. Er sah allerdings nur ihren Oberkörper. Ihr Kopf verschwand bereits unter dem Induktionshelm und ihre Hüften wurden vom Privatsphärenschild der Komfortanschlüsse des Simichairs verdeckt. Er entschied, dass sie tatsächlich ungemein attraktiv war, auf ihre ganz eigene fette Art. Fast rechnete er damit, davon noch einen Happen abzubekommen, bevor sie beide seine Box verließen. Hier hatte er schon jede Menge Weiber rumgekriegt. Die Strategie versagte eigentlich nie – wenn sie Caine firsthand laufen ließen, wurden die Weiber jedes Mal geil. Ein bisschen Metzeln, ein bisschen Spritzen, und sie entschied sich womöglich tatsächlich dazu, ihn bei der Hochstufung zur Opulenz zu sponsern.

Er lächelte und zog seinen eigenen Induktionshelm nach unten.

6

Draußen gesellte sich das tiefe Brummen einer schwarzen Luftkissenlimousine, die über der Biegung der Auffahrt beidrehte, zum Murmeln des niedrigkastigen Mobs. Das Murmeln wurde lauter, näherte sich dem Höhepunkt, während die Security den Mob vom Tor abdrängte, um den Weg frei zu machen. Die Limousine senkte sich der Erde entgegen und die Menge verfiel in kollektives Seufzen. Akteure flogen meist unmittelbar zum Landeplatz des Studios, sie schlugen beinahe immer einen Bogen um die Menge und eilten direkt vom Landeplatz in den Aufenthaltsraum – so machten es eigentlich alle.

Außer Caine.

Jeder in der Menge kannte seine Geschichte: die Geschichte vom Straßenjungen aus dem Mission District. Er war einer von ihnen, glaubten sie. Einer, der nie vergaß, woher er kam. Nie ließ er seine Leute im Stich. Das trichterten ihnen die Marketingmenschen der Studios zumindest pausenlos ein. Der Chauffeur sprang vorne heraus, aber die Beifahrertür der Limousine ging auf, noch ehe er sie berühren konnte. Ein Arbeiter öffnet sich seine Tür selbst. Die Menge hielt den Atem an, als Caine ausstieg und in Sichtweite geriet.

Er stellte sich neben die Limousine, den Rücken dem Tor zugewandt, blickte über die jäh verstummte Menge hinweg. Auf seiner Stirn zeichnete sich etwas ab, das sie für Sorgenfalten hielten. Viele von ihnen stießen einander an, um die anderen darauf aufmerksam zu machen, dass auf seinem Kopf und im Bart offenkundig mehr Grau als früher zu sehen war.

Seine Reglosigkeit hielt sie gefangen und der Augenblick zog sich in die Länge, bis sogar die Coupés der letzten eintreffenden Opulenz in ihrem Sturzflug innezuhalten schienen. Dann streckte er den Rücken durch und seine Augen blitzten. Er fletschte die Zähne zu einem Lächeln, in dem weder Freude noch Heiterkeit lag.

Langsam hob er die fleckige Hand zu einer Geste, die älter war als das Kolosseum von Rom.

Die Menge rastete aus.

7

Caine schritt hinein in das klaffende Maul des Tors. Die Eisenkiefer fielen klirrend hinter ihm zu.

Bei Gottes verdammten Eiern!, ging es ihm durch den Kopf, während er sich der Haupttür näherte. Wie ich diesen Scheiß hasse.

Im Gewölbe mit dem Overworld-Normalfeld, das dem in der Abtei glich, nur wesentlich größer war, erhielt er die sechs Silbermünzen, die Caines Bargeldreserven darstellten.

Kollberg erwartete ihn im Aufenthaltsraum. Zwei Typen von der Security in roter Uniform standen an der Tür Wache. »Nettes, äh, Timing bei der Meute da draußen.«

»Ja, schön.«

»Wegen unseres, hmm, kleinen Disputs gestern Nacht – ich verstehe, dass Sie unter großem Druck stehen. Was die Abonnenten betrifft, nun, wir warten mal ab, oder? Wenn es sich nicht als, hm, Problem erweist, können wir es von mir aus komplett vergessen.«

Caine blickte auf die beiden Security-Typen, deren Gesichter von den Rauchglasvisieren ihrer Helme unkenntlich gemacht wurden. »Ja, ich kann regelrecht dabei zusehen, wie Sie’s vergessen.«

Kollberg räusperte sich nervös. »Nur einen oder zwei allerletzte Hinweise. Sie können gern ein wenig Pallas’ Verschwinden nachgehen, bevor Sie sich an Ma’elKoth ranmachen, um es gut aussehen zu lassen. Niemand darf von Ihrer eigentlichen Mission erfahren. Und, äh« – er hustete sich in die Hand – »wegen Lamorak. Wenn er nicht tot ist, beispielsweise gefangen wurde, dürfen Sie unter keinen Umständen einen Rettungsversuch unternehmen.«

»Ich bin mir sicher, Karl weiß Ihre Sorge zu schätzen.«

»Versetzen Sie sich mal in unsere Lage: Sie sind der deutlich zugkräftigere Star. Es wäre, offen gesagt, dämlich, wenn Sie sich wegen eines Mannes in Gefahr bringen, dessen Publikum seit drei Jahren abnimmt und von Anfang an nicht sonderlich groß war. Wenn Sie jedoch die Gelegenheit erhalten, seinen Gedankensender ohne, äh, übermäßiges Risiko zu bergen, tun Sie das ruhig. Wir fänden alle nur zu gern heraus, ob die Langform sich bewährt, und Sie hätten Anspruch auf einen Anteil der Verleiheinnahmen seines Cubes.«

»Das werde ich im Kopf behalten.« Er deutete auf die Uhr. »Fünf Minuten.«

»Oh, ja, nun, hm, Hals- und Beinbruch.«

Er nickte. »Worauf Sie einen lassen können.«

8

In der Cavea wurden die Lichter gedimmt und die Bergszenerie vom Testbild der Helme verblasste auf den Bildschirmen der Techniker. Ein lautloser Schatten schob sich an den Reihen der leicht geneigten Firsthander-Abteile vorbei. Die Gestalten darin wirkten durch die ausdruckslosen Keramikschilde ihrer Induktionshelme gesichtslos. Der Schatten überwand die Stufen zur Zikkurat der Transferplattform und stellte sich in ihren geometrischen Mittelpunkt. Die riesige Batterie der oberhalb davon montierten Bühnenscheinwerfer, von den Experten Sunbeams genannt, flammte auf und flutete die Plattform mit Licht.

Caine stand regungslos in der schroffen, weißen Helligkeit.

9

Zurück im Technikraum befeuchtete sich Arturo Kollberg die ohnehin schon nassen Lippen. Mein Meisterwerk, jubilierte er. »Gedankensender verbinden.«

Der Techniker strich über einen Sensor und der breite, gewölbte Screen am Ende des Technikraums erwachte zum Leben und präsentierte die ansteigenden Reihen der Firsthander-Abteile aus der Perspektive von Caine.

»Verbindung hergestellt.«

Ein weiterer Techniker runzelte die Stirn und meldete eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Adrenalin-Rückkopplungen nach dem Start der sensorischen Deprivationssequenz. Kollberg selbst passte den NeuroChem-Feed an und aktivierte mit dem Daumen den Mikrofon-Sensor.

»Opulenz und Investoren«, intonierte er. Seine Worte hallten durch die Cavea und in die auditiven Sensoren der Induktionshelme rund um die Welt, »Unternehmer, meine Damen und Herren. Ich bin Administrator Arturo Kollberg, Vorsitzender des San-Francisco-Studios. Im Namen des gesamten Studiosystems heiße ich Sie willkommen zur Geburtsstunde dieses außergewöhnlichen Abenteuers. Und jetzt – präsentiert von Vilo Intercontinental, Wir befördern die Welt für Sie – darf ich Ihnen die Klinge von Tyshalle vorstellen, die rechte Hand des Todes …«

Eine lange, bedeutungsschwangere Pause.

»Caine!«

Mit einer Hand setzte Kollberg zum Sturzflug auf den Schalter an, der die Holoansicht aus der Cavea in Tausende Induktionshelme einspeiste. Das kollektive Seufzen, das anhob, glich dem ersten Hauch eines Orkans. Kollberg schaltete das Mikrofon auf inaktiv.

»Transfer-Verbindung herstellen.«

Unter dem Studio wummerte das Kraftwerk. Techniker starrten vollkommen konzentriert auf die Anzeigen. »Hergestellt. Wir haben eine Gasse in den Stollen. Alles klar.«

»Gut. Auf sein Zeichen.« Kollberg tätschelte dem Techniker die Schulter und verließ den Technikraum, um sich zu seiner eigenen Box zu begeben.

10

Auf der Transferplattform stand Caine mit jener konzentrierten Reglosigkeit, die das Potenzial zu einem sofortigen Gewaltausbruch beinhaltete. Er behielt diese unbewegliche Pose für einen langen Atemzug bei, ehe er zu sprechen begann.

»Ich habe keine großen Worte für euch«, sagte er langsam. »Sie ist meine Frau, das ist alles. Ich werde jeden Hurensohn aufspüren, der auch nur mit dem Gedanken spielt, ihr etwas zuleide zu tun, und ich werde ihm Schmerzen zufügen, bis er stirbt wie ein Hund in der Gosse. Ich hoffe, ihr habt Spaß.«

Seine Hände ballten sich zu steinernen Fäusten. »Ich werde Spaß haben, das weiß ich.«

Er spähte zur gläsernen Blende, die sich am vorderen Ende des Technikraums weit über ihm befand.

»Ziehen wir es durch.«

11

Arturo Kollberg schmiegte den Kopf an den Gelpack seines Simichairs. Der Helm umschloss vollautomatisch seinen Kopf. Die voreingestellte Regulierung war perfekt auf seine Feldmuster abgestimmt. Er stieß einen langen Seufzer vollständiger Zufriedenheit aus, absolut überzeugt davon, das Bevorstehende zu genießen.

12

Eine Gasse nimmt um mich Gestalt an. Tageslicht. Gerüche – schwere Gewürznoten, Curry und grüne Chilis, wassergetränkte Holzkohle, Mist, fauliges Fleisch …

Links von mir steht ein von der Witterung ausgebleichter Abfallbehälter aus Holz, in dem sich Körperteile hoch auftürmen, zum Großteil menschliche, dazu ein paar von Ogrilloi oder Trollen. Von Ratten angenagte Beine, Arme mit fingerlosen Händen, Rippen- oder Beckenstücke: übrig gebliebene Abfälle aus dem Laden nebenan, dem Zombies auf Raten. Ich kenne diese Gasse, befinde mich in den Stollen, dicht an der Grenze zwischen dem Königreich der Zinken und der Visage.

Ich sollte sagen, dicht an der damaligen Grenze, als ich zuletzt in dieser Stadt gewesen bin, vor knapp zwei Jahren. Die Territorialpolitik der Stollen ist, gelinde gesagt, fließend – wenn gerade keine offenen Kleinkriege zwischen den verschiedenen Stollenbanden stattfinden, sind die hiesigen Grenzen sogar noch viel eindeutiger Fantasiegebilde als die der großen, weiten Welt. In den Stollen bringen Grenzen vor allem zum Ausdruck, wo von Straße zu Straße und Haus zu Haus Mitglieder einer bestimmten Stollenbande Geschäfte machen können, ohne von der benachbarten Bande umgebracht zu werden.

Womit sie sich eigentlich gar nicht so stark vom Rest der Welt mit ihren Staaten und Fürstentümern, Verträgen und Landvermessern unterscheiden. Hier herrscht diesbezüglich einfach ein klarer, ehrlicher Umgang, das ist alles.

Ein riesiger Hund mit hängendem Kiefer und schmutzig braunem Fell, fleckig vor Räude, schleicht zögernd auf mich zu, bleibt in der Deckung der vormittäglichen Schatten an der Wand. Ich trete höflich zurück, um ihn durchzulassen. Diese elenden Stollenköter schleppen Krankheiten mit sich herum, von denen ich noch nicht mal gehört habe. Er mustert mich mit seinem heilen Auge – das andere ist von milchigem Star durchzogen –, während er seine Möglichkeiten prüft.

In meinen Fingern kribbelt das Adrenalin. Ich balle meine Fäuste.

Das ist das Beste daran, Caine zu sein, mit Abstand das Beste: dieser beinahe erotische Ansturm von vollkommenem Selbstvertrauen, die Überzeugung, dass ich definitiv der härteste Typ im Block bin. In jedem Block.

»Willst du einen Happen von mir, Köter?«, frage ich und fletsche die Zähne. »Komm und hol ihn dir, du verwurmter Flohhaufen.«

Ich verfalle mühelos in Westerling. Die vom Studio auferlegten Blocker auf meiner Stimme hätten mich sowieso nicht mal Englisch sprechen lassen, wenn ich es gewollt hätte.

Der Hund kommt zu dem Schluss, dass ich den Ärger nicht wert bin, und trottet an mir vorbei zu einer leichteren Mahlzeit am Eimer mit den Gebrauchtteilen. Ein verflucht großer Hund, er reicht mir mit den Schultern bis an die Rippen. Die abgetrennten Arme und Beine in dem Behälter winden sich und drängen in ihrer Imitation des Lebendigen blind zur Seite, als der Hund darin herumstöbert. Ein leises Stöhnen dringt tief aus dem Haufen hervor. Da muss irgend so ein fauler Schuft einen Kopf an einem Torso gelassen haben. Oder steckt da etwa ein Lebender drin? Ein Penner, der sich wegen der Wärme des faulenden Fleisches dort hineingekuschelt hat, oder das Opfer eines der zahllosen Raubüberfälle der Stollen? Ich lache leise und zucke die Schultern.

Zeit für die Arbeit.

Ich spaziere aus der Gasse auf das Zentrum des Königreichs der Zinken zu, in den Basar, der den uralten Steinhaufen des Messingstadions umgibt. Die Sonne ist hier heller – von satterem Gelb – und der Himmel von tieferem Blau; die Wolken sind voller und weißer, und in der Brise, die sie dahintreibt, schwingt ein zarter Hauch von Grün und Wachstum mit. Es ist ein schöner Tag. Ich rieche kaum was von der Scheiße, die in die aufgewühlte Schlammpampe eingetrampelt ist, die hier als Straße durchgeht, und die Fliegen, die als blau schimmernde Gewitterwolken über den verstreuten Abfallhaufen schwärmen, funkeln wie Edelsteine.

Ich bahne mir einen Weg zwischen Handkarren und Zeltbuden, lehne lächelnd dampfende Flussforellen-Häppchen und Netze mit Früchten ab, die geschickt zur Schau gestellt werden, um die Wurmgänge und Schimmelflecken zu verbergen. Ich ignoriere Verkäufer von Talismanen und Amuletten, gehe Teppichhändlern und Kesselflickern aus dem Weg. Das ist mein Land. Ich habe diese Stadt und die umliegenden Provinzen in den ersten zehn Jahren meiner Karriere beackert.

Ich bin heimgekehrt.

Hier und da sehe ich das Simon-Jester-Graffito an den Wänden, ganz ähnlich, wie es in dem Buch beschrieben wurde, aus dem Shanna sich bedient hat: ein Oval als Gesicht, ein stilisiertes Paar Teufelshörner und eine einzelne gekrümmte Linie, die sein schiefes Grinsen symbolisiert.

Keiner der Bettler wirkt vertraut und ich sehe keine Ritter; wo zum Teufel stecken die alle? Ich stoppe an einem Stand, der halb vom aufragenden, angekokelten Kalksteinrund der Stadionmauer überschattet wird.

Der schwitzende Verkäufer beugt sich über den Griff eines Bratspießes, auf dem Lammhaxen über einer Schicht aus rotschwarzen Kohlen brutzeln. »Haxe vom Lamm, heißes Lamm«, ruft er niedergeschlagen. »Heute Morgen frisch, ohne Würmer. Haxe vom Lamm.«

»Hey, Schlot«, grüße ich. »Du siehst heute Morgen irgendwie fertig aus. Stimmt was nicht?«

Er sieht mich an, und die Röte, die ihm die Hitze ins Gesicht treibt, verschwindet. Es dauert einen Augenblick, dann fällt ihm wieder ein, dass er ein Lächeln aufsetzen könnte, aber es ist nicht von Dauer.

»Caine?« Seine Stimme quietscht leicht. »Ich weiß da gar nix drüber, Caine. Das schwör ich bei meinen Eiern, gar nix!«

Ich greife in die Bude und schnappe mir beiläufig einen der auskühlenden Schenkel, die von den Zeltleinen hängen. »Du weißt gar nix über was?«

Er beugt sich zu mir und senkt die Stimme. »Spiel hier nicht mit mir, Caine … Meine Frau ist krank, weißt du, und mein Junge – Terl, erinnerst du dich? –, der ist zu den Mistkäfern gegangen, könnte tot sein, ich weiß es nicht.« Inzwischen zittert er, mustert verstohlen meine ausdruckslosen Augen. »Ich kann jetzt nicht noch mehr Ärger brauchen, in Ordnung? Ich kenn dich nicht, hab dich nicht gesehen, in Ordnung? Geh einfach weiter.«

»Na«, sage ich tonlos. »Du bist ja mal freundlich.«

»Bitte, Caine, ich schwöre …« Schwitzend beäugt er die unbeirrte Menge um uns herum. »Wenn sie dich erwischen, will ich nicht, dass du glaubst, ich hätte dich aufgegeben.«

»Erwischen?« Aha. Ich beiße einen Happen vom Lamm ab. Es ist zäh wie ein alter Stiefel. Ich kaue darauf herum, um mir Zeit zum Überlegen zu verschaffen. Bevor ich schlucken kann, spüre ich, wie hinter meiner linken Schulter jemand zu nah an mich herantritt.

»Schwierigkeiten, Schlot?«, fragt eine Stimme. »Macht dir dieser Kerl etwa zu schaffen?«

Schlot schüttelt mit aufgerissenen Augen den Kopf. Ich begutachte den Neuankömmling inzwischen aus dem Augenwinkel: schwarze abgewetzte Stiefel, rote Baumwollhose, der untere Rand eines schwarz gefärbten, knielangen Kettenhemdes und eine vernarbte, aber jung wirkende Hand, die auf dem Griff eines Breitschwerts in der Scheide ruht. Ein Ritter der Zinken. Endlich. Sein Partner kann nicht weit sein – sie sind immer im Doppelpack unterwegs.

Ich schiebe das Lamm mit der Zunge in eine Backe und sage: »Ich vertreib mir nur die Zeit. Nicht gleich angepisst sein.«

Der Ritter stößt ein grunzendes Lachen aus. »Das ist ja mal ’ne ganz neue Antwort, Schnuckelchen. Ich werde eine Impertinenzsteuer erheben müssen. Fünf Nobel. Bar auf die Hand.«

Ich zwinkere Schlot zu, wirbele herum, als ob ich mit dem Faustrücken zuschlagen will. Der Lammschenkel erwischt den Ritter hinter dem Ohr und lässt ihn zusammenklappen. Ich stoße ihm die Keule in die Nase; Blut schießt heraus und er richtet sich auf, nur um sofort umzukippen und der Länge nach in den Schlamm zu fallen. Schlot keucht auf und geht hinter dem Rost in Deckung und der dichte Verkehr der Passanten wird zu einer neugierigen Menge.

Ich beiße noch einmal vom Lamm ab, während der Ritter den Kopf schüttelt und aufstehen will. Sein Blut ist dem Geschmack nur zuträglich.

»Ich sag dir was, mein großer Bursche.« Ich rede ganz freundlich mit ihm. »Verlange nichts, was du nicht eintreiben kannst. Das lässt dich sonst schlecht dastehen. Du verlierst den Respekt der Meute.«

Sein Partner stürzt durch die gackernden Zuschauer auf uns zu. Ich lächle und winke ihm und er steckt sein Schwert in die Scheide.

»Tut mir leid, Caine. Ist ein Neuling. Verstehst du doch.«

»Kein Problem. Tommie, stimmt’s? Genau, vom Untergrund. Wie läuft das Geschäft?«

Er grinst und freut sich, dass ich mich an ihn erinnere. »Ja, Scheiße, mir geht’s gut. Du weißt, dass du gefragt bist?«

»Ich hab da was läuten hören. Wie viel?«

»200. In Gold.«

Ich schlucke das zweite Stück Lamm nur unter Schwierigkeiten. »Ganz schöne Summe.«

Der Neuling rappelt sich auf und greift nach seinem Schwert. Tommie verpasst ihm einen Schlag auf das bereits anschwellende Ohr. »Schluss damit, du Pfeife. Das hier ist Caine, ja? Er ist ein Ehrenbaron der Zinken. Selbst wenn du es überlebst, in seiner Gegenwart das Schwert zu ziehen, was ich bezweifle, wird Seine Majestät deine Eier zum Frühstück verspeisen.«

Der Neuling gelangt zu dem Schluss, dass seine Hände Besseres zu tun haben.

»Wenn wir schon dabei sind«, sage ich, »ich muss mich mit dem König unterhalten.«

Tommie sieht mich an. Sein Blick ist plötzlich abwesend. »Der ist grad beschäftigt.«

»Es geht um Leben oder Tod, Tommie.«

Er starrt in die Ferne, während er sich verschiedene Reaktionen ausmalt und den Zorn des Königs wegen der Unterbrechung gegen die Schuld aufwiegt, von der er womöglich glaubt, sie noch bei mir begleichen zu müssen. Er trifft schnell eine Entscheidung.

»In Ordnung. Folg mir.«

»Hey, Schlot? Es ist alles vorbei«, sage ich. Er steckt den Kopf hinter dem Grill hervor und ich werfe ihm einen meiner Silbernobel zu. Ich bin kein Dieb. »Dein Lamm ist übrigens Mist. Behalt das Wechselgeld.«

Er blinzelt. »Äh, danke … denk ich mal.«

Tommie geht voran, umrundet das Stadion. Der Neuling folgt uns und klatscht sich dabei ein verkrustetes Taschentuch an die Nase. Wir marschieren aus dem Basar in die schmalen, gekrümmten Gassen, die den Stollen ihren Namen verleihen. Ich erhasche nur hin und wieder einen Blick auf die Sonne, aber die brauche ich auch gar nicht, um zu wissen, in welche Richtung wir unterwegs sind: zum Dreiländereck des Königreichs, der Visage und des Rattenlochs.

Das echte Geschäft der Stollen findet im Herzen des Reviers einer jeden Bande statt; die Grenzen sind zu gefährlich, zu anfällig für plötzliche tödliche Unfälle und beiläufige Brandstiftung. Jede Grenze besteht aus mindestens ein paar Blocks Niemandsland, manchmal fünf oder sechs, deren unglückliche Bewohner in der Regel gezwungen sind, beide Seiten zu bezahlen. Die Dreifach-Grenzen – es gibt vier davon; das Königreich der Zinken hält den Mittelpunkt der Stollen rund um das Stadion – sind die elendsten Flecken der untersten Schublade des Abschaums im ärmsten Teil von Ankhana. Den einzigen Unterschlupf bietet häufig das Gerippe einer ausgebrannten Mietskaserne. Viele der Bewohner schlafen auf der Straße.

Mir gefällt es hier. Es erinnert mich an zu Hause.

Tommie bleibt vier Schritte vom sonnendurchfluteten Ausgang der Gasse entfernt stehen, der wir inzwischen für ein paar Minuten gefolgt sind. »Weiter als bis hierher kann ich nicht gehen.« Er nickt hinaus zur Grenze, deutet dann auf seine Kettenrüstung, schwarz gefärbt mit den silbernen Rändern der Ritter der Zinken. »Der Neuling und ich, wir tragen Uniform. Seine Majestät hat heute da draußen ein Spiel laufen und wir versauen sonst den Köder.«

Ich nicke verständnisvoll. »Wo ist er?«

»Von hier aus kann man ihn nicht sehen. Du kennst doch die Gasse zwischen dem Schuftenden Toten und der Stelle, wo Gilblings Huren früher standen?«

»Früher?« Nostalgiewehen überkommen mich – ich habe bei Gilbling einige glückliche Stunden verbracht. »Was ist mit Gilbling passiert?«

»Sie hat zu viele Ratten verköstigt«, antwortet Tommie schulterzuckend. »Hat bei ihr gebrannt.«

So ist das Leben in der Großstadt. »Also gut«, sage ich. »Ich werde Seiner Majestät ausrichten, dass du dich gut um mich gekümmert hast.«

»Du bist in Ordnung, Baron. Danke.« Tommie stößt seinen Frischlingspartner grob mit dem Ellbogen an und schenkt ihm einen Blick, der zu signalisieren scheint: Mach schon, du Idiot.

Der Frischling zieht Blut die Nase rauf und murmelt: »Danke, äh, dass du mich nicht getötet hast, Cai… äh, Baron.«

»Ein Vergnügen.«

Ich lasse sie stehen und trete hinaus ins Sonnenlicht.

Die Gebäude, die früher mitten auf dieser Grenze standen, sind zu langsam ansteigenden Hügeln aus Schutt niedergebrannt, wodurch eine weithin offene Fläche voller Wind und Sonne entstanden ist. An ein paar Stellen rund um die platzähnliche Lichtung lungern Ratten in ihren Kackfarben herum: braun und gelb. Das ist nicht weiter ungewöhnlich: Es ist immerhin ihre Grenze. Ein paar vorbeischlurfende Leute auf der Straße könnten auch Ratten sein, inkognito.

Der Durchgangsverkehr ist beträchtlich: Männer mit spitzen Stöcken treiben zusammengebundene Kolonnen von Zombies aus den Schuftenden Toten an, im Umkreis einiger Blocks das einzige florierende Geschäft. Ich nehme an, die Inhaber wollen dicht an der Vorratsquelle sitzen. Die Zombies mit der gräulich-ledernen Haut und den verschleierten Augen stören mich nicht weiter. Unsere Drohnen sind im Grunde schlimmer. Bei den Zombies kann man den verschütteten Funken des Lebens – Intelligenz, Willen, was auch immer – nämlich nicht erkennen, der die Drohnen auf so tragische Weise unheimlich macht.

Keine Spur von den Untertanen, auch wenn man das nie ganz genau sagen kann. Jeder von diesen sonnenbadenden Gammlern, jeder Saufbruder in der Gasse oder Rith-Raucher mit schläfrigem Blick auf dieser Veranda, jeder von denen könnte schließlich ein Untertan der Zinken sein. Ich kann nicht davon ausgehen, dass ich sie erkenne; immerhin bin ich schon eine ganze Weile nicht mehr in Ankhana gewesen.

Die Gasse, zu der Tommie mich geschickt hat, ist voll mit Müll – Essensreste, verrottende Klamotten, Bruchstücke kaputter Möbel – und Ratten, der vierbeinigen Variante. Auf einem fadenscheinigen Lumpenbett liegt ein Aussätziger. Aus seinen offenen Wunden sickert blutiger Eiter in zerlumpte Strähnen eines vergilbten grauen Barts. Ich kneife die Augen zusammen.

»Scheiße, Caine«, flucht er, »runter von der Straße. Du stichst raus wie ein verschissenes Furunkel an meinem Arsch.«

»Hey, Majestät«, grüße ich, während ich beiläufig in die Gasse wandere. »Wie läuft das Geschäft?«

Im zerklüfteten Gesicht des Königs der Zinken tut sich ein uneingeschränkt erfreutes Grinsen auf und ich erwidere es. Er ist so was wie mein bester Freund auf Overworld. Auf jeder Welt. »Caine, du elender Hurensohn! Wie hast du mich gefunden?«

Ich buddle mich hinter seinem Lumpenhaufen ein und lasse mich nieder, den Rücken an die Wand gelehnt. »Dein Junge, Tommie, hat mich rübergeschickt. Er ist ein guter Mann. Hey, das sind ja mal ein paar Mordsgeschwüre.«

»Gefallen sie dir? Kannst sie haben. Lampenöl mit Kerzenwachs und Brotteig, halb geronnenes Hühnerblut mit Weidenrinde, damit es nicht fest wird, und etwas Kiefernharz, damit alles zusammenhält. Sieht gut aus, aber stinkt verteufelt. Was verschlägt dich nach Ankhana, du olle Kackbratze? Wen bringst du diesmal um?«

Ich schüttelte den Kopf und werfe ihm einen ernsten Blick zu. »Diesmal ist es was Persönliches. Ich suche nach …«

»Du weißt, dass ein imperialer Haftbefehl auf dich ausgestellt ist?«

»Ja, sicher, hab ich schon gehört. Hör mal, ich muss Pallas Ril finden.«

Er runzelt die Stirn. »Pallas?«, fragt er langsam, dann hellt sich seine Miene plötzlich auf. »Hey, schau hin, gleich ist die Katze aus dem Sack.« Er wedelt mit einer lumpenumwickelten Hand zum Platz hin.

»Majestät, es ist wichtig«, fange ich an, aber mein Blick folgt seiner Geste rechtzeitig, um zu sehen, wie ein nicht angeketteter Zombie zu einer der herumlungernden Ratten auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes schlurft. Die Ratte steht auf, um den Zombie mit einem Tritt aus dem Weg zu befördern, und der Zombie bewegt sich mit einem Mal deutlich schneller, als sich Zombies eigentlich bewegen können.

Er packt die Ratte und zieht sie zu sich heran, macht einen Schritt in den Eingang der Gasse wie ein Freier mit seiner Lieblingshure. Als er sie loslässt, prangt unter dem Zwerchfell der Ratte ein Blutfleck, der sich rasch vergrößert. Sie fällt auf die Knie und kippt dann nach vorn aufs Gesicht.

Eine sehr professionelle Arbeit: Wenn man mit dem ersten Stich gleich das Herz anständig aufschlitzt, gibt es kein unordentliches Gespritze, und der Schlag in den Magen, der mit dem Stich einhergeht, treibt die Luft aus der Lunge. Er ist tot, lange bevor er genug Luft bekommt, um zu schreien. Als der Zombie wegschlurft, tritt ein anderer Mann in den Farben der Ratten nach draußen und übernimmt die Stelle der toten Ratte.

»Geschmeidig, hä?« Majestät kichert und legt sich eine Hand ans Ohr. »Ich hör keinen Alarm. Haben sie alle erwischt.«

Ich nicke. »Worum geht’s hier?«

Er lächelt. »Ich habe den Wink bekommen, dass Thervin Anschwärz sich in diesem Mietshaus auf der anderen Straßenseite mit einem gewissen Hauptmann der Augen des Königs trifft.«

»Du knöpfst ihn dir vor?« Thervin Anschwärz ist der Rattenkönig, der Anführer des nordwestlichen Rivalen des Königreichs der Zinken. Ich kenne ihn. Ich kann ihn nicht leiden. »Hey, wenn ich schon mal da bin, kann ich ihn vielleicht für dich übernehmen?«

»Danke«, sagt Majestät mit einem Grinsen, »aber diesmal nicht. Ich will im Augenblick keinen Krieg mit den Ratten – und außerdem müsstest du diesen Hauptmann der Augen auch umbringen und diese Sorte Ärger braucht keiner. Aber, weißt du, ich will auch nicht, dass Thervin mit den Augen in die Kiste steigt. Die Ratten waren in letzter Zeit ohnehin viel zu ungestüm – wenn sie sich irgendwie imperiale Unterstützung organisieren, sind sie gar nicht mehr zu bändigen. Statt ihn zu töten, werd ich ihm also eine nette Botschaft schicken – seine drei Handlanger.«

Drei tote Männer gelten als nette Botschaft. Bei solchen Rechenaufgaben komme ich auch mit.

»Das Beste daran ist«, fährt Majestät fort, »er wird nicht mal wissen, dass etwas passiert ist, bis er von dem Treffen zurückkommt. Dann werden ihm meine falschen Ratten da draußen Grüße überbringen. Er wird die Botschaft schon kapieren. ›Falls es ein nächstes Mal gibt‹, du verstehst?«

»Wer hat es dir denn gesteckt? Hast du ein Ohr bei den Augen oder bei den Ratten?«

Sein Grinsen wird selbstgefällig. »Geschäftsgeheimnis, Kumpelchen. Sagen wir einfach, es sind gute Zeiten für das Königreich, und belassen es dabei.«

Uh. Wenn die Zeiten so gut wären, würde er nicht seinen Arsch hier rausbewegen, um alles zu überwachen, aber ich lasse es unter den Tisch fallen. Weshalb sollte man sich mit einem solchen Streit stressen?

»Pallas Ril«, rufe ich ihm in Erinnerung. »Wo ist sie?«

Da wandert sein Blick in die Ferne. »Ich höre, dass sie in der Stadt ist.«

»Das höre ich auch. Deshalb bin ich hier und rede mit dir. Ich höre außerdem, dass sie ein Spielchen abzieht und auch einige der Untertanen mitspielen.«

»Das glaube ich nicht. Davon wüsste ich. Pallas und ich, wir stehen uns zwar nicht unbedingt nah, aber wenn sie bei so etwas Unterstützung benötigt, käme sie doch direkt zu mir, oder?«

»Das ist sie auch.«

Er sieht mich lange an und seine Stimme wird merklich kühler. »Du glaubst, ich verschweig dir etwas?«

Ich zucke die Schultern.

»Caine, ich sag’s dir, ich weiß lediglich, dass sie sich in der Stadt aufhält. Ich glaube, mich an einen Bericht über irgendeine Kontaktaufnahme zu erinnern – sie hat mit einem der Jungs gesprochen oder so. Nichts Ernstes.«

»Wer ist Simon Jester?«

»Der Typ, der diese armen Trauerklöße rausschmuggelt, die Ma’elKoth für Aktiri hält? Woher soll ich das wissen?«

»Du hast gestern zwei deiner Jungs ungefähr um diese Zeit unten im Gebiet der Mistkäfer am Fluss verloren. Was haben die dort getrieben?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Das ist schon das zweite Mal, dass du diese bescheuerte Frage stellst. Sie haben für Simon Jester Schmiere gestanden und das weißt du verdammt gut.«

Er richtet sich unvermittelt auf und wirft mir einen harten Blick zu. »Du arbeitest, oder nicht? Wer zahlt? Die Monasterien oder die Imperialen?«

»Majestät, ich schwöre dir, mich interessiert ausschließlich, Pallas Ril zu finden.«

»Ich habe gehört, ihr habt Schluss gemacht.«

»Geht dich das was an? Wo ist sie?«

»Aber …« Er schüttelt den Kopf und wirkt aufrichtig verwirrt. »Was hat Pallas Ril mit Simon Jester zu tun? Arbeitet sie für ihn?«

Ich sehe ihn mit zusammengekniffenen Augen an, ohne zu antworten. Er nimmt es sehr lange hin, dann starrt er auf seine Füße und kratzt sich am Kopf. »Also gut, Scheiße. Ich habe Simon Jester ein bisschen unterstützt. Diese Jungs, ja, sie haben Schmiere gestanden. Ich meine, was ist schlimm daran? Ein kleiner Stich in Ma’elKoths Arsch, das ist alles. Aber ich vermute, die Katzen haben sie sich gekrallt. Ich glaube nicht, dass jemand überlebt hat.«

»Welche ist die nächste Station auf dieser Fahrt?«

Er runzelt die Stirn. »Weiß ich nicht.«

»Wann sollte Simon Jester zum nächsten Mal Kontakt aufnehmen?«

»Keine Ahnung.« Sein Stirnrunzeln weitet sich aus. »Das sollte ich wissen.«

»Also gut, hör zu.« Ich fahre mir wütend und frustriert über den Kopf, reibe mir die Augen. »Wie bist du da überhaupt erst reingeraten? Bist du, äh, Simon Jester … persönlich begegnet? Wer ist zu dir gekommen?«

Langsam, ganz langsam, schüttelt er den Kopf, und sein Stirnrunzeln löst sich in eine Form von Ehrfurcht auf. »Ich erinnere mich nicht …«

»Das ist ein Problem.«

Sein Gesicht verschließt sich sofort zu steinharter Streitlust. »Versuch bloß nicht, das zu meinem Problem zu machen, Caine. Ich hab zu viele Leute auf der Straße, du wirst niemals …«

»Entspann dich.« Zumindest bekomme ich langsam auf die Reihe, wie dieser verdammte Zauber funktioniert. Witzig, dass er bei mir offenbar nicht wirkt. »Ich glaube dir.«

Majestät wirkt nun aufrichtig verstört und mehr als ein wenig ängstlich. »Wirst du mir verraten, was da vorgeht? Ich meine, Scheiße, Caine, das ist unheimlich! Dreh ich durch? Ich sollte diesen Scheiß wissen. Es ist irgendwas Magisches, stimmt’s? Jemand hat mich verdammt noch mal verhext, das ist passiert, glaube ich.«

»Ja.«

»Ich bin verhext? Willst du das damit sagen? Ich werde die Typen umbringen, Scheiße.«

»Nimm’s nicht persönlich.«

»Das sagst du so leicht. Niemand hängt mir Magick an, Caine. Niemand. Wissen die denn nicht, dass ich sie umbringen werde? Haben diese Schwachmaten überhaupt eine Ahnung, mit wem sie sich hier anlegen? Ich habe Abbal Paslava, den verfickten Bannknüpfer – er wird die Bastarde aufs Kreuz legen, bis ihre Schwänze in ihren Arschlöchern stecken und sie sich bei jedem Schritt selbst ficken!«

Ich hebe eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Wie steht dieser Tage die Politik mit den Visagen?«

»Nicht so gut.« Er gibt nach. »Warum?«

»Hamman hat die besten Verbindungen in den Palast. Ich muss mit ihm reden.«

»Da wirst du eine verdammt laute Stimme brauchen. Er ist seit einem Jahr tot.«

»Du verscheißerst mich! Der fette Hamman? Ich dachte, der sei unkaputtbar.«

»Ja, das dachte er auch. Niemand weiß, wer ihn ausgeschaltet hat, aber die Klugen setzen ihr Geld auf die neue Anführerin der Visagen – diese Elfenschlampe aus dem Außerweltliche Nächte in der Exotenstadt. Kierendal.«

»Die Lesbe? Heilige Scheiße.«

»Ja, schlimm genug, sich mit so einer Rillenstrieglerin rumschlagen zu müssen, aber eine Sub? Die eine Stollenbande anführt? Sie schleppt alle möglichen Subs rein – Elfen, Zwerge, Feen, alles, was du dir vorstellen kannst. Den Visagen gehört inzwischen mehr oder weniger die ganze Exotenstadt. Sie hat die komplette Einrichtung von Hammans altem Laden, dem Fröhlichen Geizhals, rüber ins Außerweltliche Nächte schaffen lassen. Es ist inzwischen die renommierteste Spielbank im ganzen Imperium. Sie nennt es Haus der Exotischen Spiele. Und sie ist keine, mit der man auf Tuchfühlung geht, ohne Scheiß. Es heißt, sie habe Hammans Zauberbuch in die Krallen bekommen, und du weißt ja, wie Elfen sind – sie haben die Scheiß-Magick erfunden. He, ist sie da irgendwie drin verwickelt? Ist diese verfickte Lesbe diejenige, die mich mit Magick belegt hat?«

»Wie sind ihre Verbindungen?«

Er zuckt die Schultern. »So gut wie die von Hamman, wahrscheinlich sogar noch besser. Er hat zum Großteil nur die Spieler gehabt. Sie kriegt die Spieler, die Süchtigen, die Perversen, die ihren Docht mal gern in einem Sub-Loch anfeuchten. Hey, du hast nicht zufällig Lust, sie für mich umzubringen? Ich zahl dir einen fürstlichen Lohn.«

Ich schüttle den Kopf. »Nicht heute. Hör zu, ich muss los. Ich melde mich.«

»Was, jetzt schon? Es ist zwei Jahre her – kannst du nicht mal ein bisschen auf den neuesten Stand kommen?«

»Tut mir leid. Meine Frist läuft ab. Und, hey, wenn ich so gefragt bin und all das – hast du einen Mantel übrig oder eine Robe mit Kapuze oder so? Etwas, das mich bis in die Exotenstadt bringt, ohne dass ich verfolgt werde?«

Er macht ein Zeichen mit dem Daumen. »Nimm meinen. Er liegt hinter diesem kaputten Schrank. Weißt du, es hilft schon, wenn du dich einfach rasierst. Ohne diesen Bart bist du gleich ein ganz anderer.«

»Das ist es ja. Manchmal muss ich einfach ich selbst sein.«

Er zuckt die Schultern. Ich hole mir den Umhang, schlüpfe hinein und schlage die Kapuze hoch, damit die Schatten mein Gesicht verstecken.

Majestät streckt die Hand aus. Ich greife danach. »Du weißt, dass mein Haus dir offen steht«, sagt er. »Komm nach dem Mirakel vorbei, jede Nacht. Du kannst bei mir wohnen.«

»Alles klar. Bis bald.«

Ich marschiere weg, pfeife wie ein simulierender Arbeiter, bis ich das Spielfeld verlassen habe; dann wird mein Gesicht schlagartig ernst und ich mache mich mit ordentlich Tempo auf den Weg. Das wird also ein klein wenig härter als gedacht. Was soll’s! Hier in Ankhana kann man unmöglich deprimiert sein.

Der sanfte Westwind bläst den Rauch und Gestank der Stollen hinter mir weg, während ich mich aus den Grenzlanden zur Visage aufmache. Die Sonne erwärmt den leichten Stoff über dem Leder auf meinem Rücken. Huren und Bettler mustern mich im Vorbeigehen, schätzen womöglich ab, ob ich für einen Diebstahl oder einen Einschüchterungsversuch gut bin, aber ich bewege mich zu schnell, habe sie hinter mir gelassen, bevor sie eine Entscheidung treffen können. Ich ignoriere sie völlig.

Der ausgebrannte Schutt einer Gebäuderuine liefert mir eine Abkürzung zur Visage, dem Bereich der Stollen, der an das richtige Ankhana grenzt und früher die Heimat von Hamman und seinen Visagen gewesen ist. Ein schmutziger Kerl in angekokelten Lumpen starrt knurrend unter einer Zeltbahn hervor, aufgespannt zwischen Pfosten, die umgekippt sind wie Maisstängel nach der Ernte. Tiefer in der Dunkelheit hinter ihm wiegt eine trübäugige Frau einen Säugling an ihrer hängenden, leeren Brust. Ich lächle und entschuldige mich schulterzuckend dafür, in ihr Heim eingedrungen zu sein, bevor ich weiterziehe.

Hier fühle ich mich wohl. Mein Herz ist leichter als an jedem anderen Ort, an dem ich mich seit meinem achten Geburtstag aufgehalten habe. Sobald Pallas gefunden ist, bleiben mir vielleicht ein paar Tage, um es zu genießen.

Die wärmende Sonne erzeugt eine leicht stechende Schweißschicht. Es juckt mich überall. Ich rieche wie eine Ziege.

Ich liebe diese Stadt.

Ich bin frei.

13

Kierendal, die erste Visage, blickte kurz von ihrem Buch auf, als das vereinbarte Klopfsignal an der Außentür ihrer Gemächer ertönte. Wuschs winzige, puppengroße Hände hörten nicht auf, die Muskelstränge in Schultern und Nacken zu kneten. »Steh nicht auf«, flötete Wuschs piepsige Stimme ihr ins Ohr. »Zakke wird sich drum kümmern.«

»Das ist bestimmt Pischu«, seufzte Kierendal. Er störte sie nie, wenn es sich nicht gerade um einen Notfall handelte.

»Sag ihm, er soll weggehen.« Wusch machte sich inzwischen nicht mehr nur mit den Fingern, sondern auch mit den Lippen an Kierendals Nacken zu schaffen und ließ ein warmes Gefühl vom Ansatz der Wirbelsäule nach oben kriechen.

»Mm, hör auf.« Kierendal griff nach hinten über die Schulter und zog die hübsche kleine Baumkrönlerin nach vorne. Wusch saß auf Kierendals Handfläche, als ob sie ein Pferd ohne Sattel ritt. Obwohl sie nicht größer war als fünf Handbreit, entsprach Wusch einem Musterbeispiel von femininer Vollkommenheit: perfekte Brüste, die niemals den Sog der Schwerkraft fürchten mussten, makellose Haut, goldenes Haar, das in einem ureigenen Licht zu leuchten schien. Sie hätte eine schöne Menschenfrau sein können, wären da nicht ihre Größe gewesen, die durchsichtigen Flügel, die sie hinter sich gefaltet hatte, und der nach hinten weisende Daumen an jedem Fuß, der es ihrer Rasse ermöglichte, auf Ästen zu sitzen. Dazu war sie ungemein charmant und sprach unglaublich intensiv auf Zuwendung an. Ihre Brustwarzen wurden unter Kierendals Blick hart. Sie wand sich auf äußerst laszive Weise und schlang die schmalen, hübschen Knöchel um Kierendals Unterarm.

»Keine Zeit zum Spielen, Süße. Das Geschäft ruft. Flieg schon – und zieh dir was an. Pischu mag kleine Frauen und wir wollen ihm doch keine Flausen in den Kopf setzen.«

»Oh, du bist unmöglich.« Wusch kicherte. Sie breitete die Flügel aus und flog in die Düsternis der inneren Kammer, lautlos wie eine Eule.

Pischu hustete am Eingang. »Janner mogelt schon wieder.«

Kierendal strich langsam und liebevoll den Menschenhautumschlag ihres riesigen Buches zu. Erst dann hob sie den Blick, um mit stahlfarbenen Augen die Anwesenheit ihres Saalchefs für die Tagesstunden im Haus der exotischen Spiele zu registrieren. Die Pupillen dieser Augen waren längs geschlitzt: die Augen eines Nachtjägers.

Pischu hustete erneut und blickte abrupt zur Seite. Kierendal lag, wie es ihrer Gewohnheit beim Lesen entsprach, nackt auf einer weitläufigen Landschaft aus aufgehäuften Seidenkissen ausgestreckt. Pischu gehörte zu den lediglich drei Visagen, denen das Betreten ihrer Gemächer gestattet war, aber dieses Privileg machte das Unbehagen des Mannes nicht kleiner. Kierendal hatte ihren Spaß daran; dieses Unbehagen verlieh den ansonsten öden Erdfarben von Pischus Schale einen hübschen zitronigen Anstrich. Wie alle von ihrer Art, dem Ersten Volk, musste sie sich niemals konzentrieren, um in die Gedankensicht zu gelangen. Sie setzte ihre Gabe wie einen ganz normalen Sinn ein, wie Riechen oder Schmecken.

Da schwere Brokatvorhänge vor die breiten Fenster gezogen waren, wurden ihre Gemächer lediglich von kunstvoll arrangierten Lampen erleuchtet, die ihr Haar aus gesponnenem Silber und ihre Haut, weiß wie Blei, mit rosaroten Lichtreflexen sprenkelten.

Sogar für eine Frau aus dem Ersten Volk, die in der Regel größer wurden als die Männer, war sie dermaßen hoch aufgeschossen und hager, dass man ihr Hüftgelenk durch die Rundung des Hinterns erkennen konnte, während sie die endlos langen Beine hinter sich ausstreckte. Sie stützte sich auf einem Ellbogen ab, um den Blick auf die Warzen ihrer kaum nennenswerten Brüste freizugeben. Die hatte sie sich heute Morgen silbern bemalt, damit sie zu ihrem aufwendig drapierten Haar passten. Dieses an Münzen erinnernde Aufblitzen fiel Pischu ins Auge und sein Gesicht nahm eine knallrote Färbung an, während der Zitronenton seiner Schale sich heftig verdunkelte.

»Wie schlimm heute?«, fragte sie mit einer Stimme, die rauchig und träge genug ausfiel, um Pischu zusammenzucken zu lassen.

»Schlimmer als sonst. Er verklebt die Würfel und stellt sich so verdammt ungeschickt dabei an! Zwei unserer … Gäste … haben es uns bereits gesteckt, und ich musste sie rauswerfen lassen, um einen Kampf zu verhindern.«

»Jemand Wichtiges?«

»Nein. Beides Verlierer, werfen wenig ab. Kein großer Schaden, aber grad ist Berne reingekommen.«

»Berne?« Ihre schmalen Lippen, die die Farbe von Kalbsleber hatten, zogen sich weit genug zurück, um die verlängerten und geschärften Fangzähne zu entblößen. Wenn dieser Irre Janner beim Mogeln erwischte …

Berne würfelte gern und war grundsätzlich ein schlechter Verlierer. Wenn er jemanden fand, dem er die Schuld daran geben konnte, rollte Janners Kopf innerhalb des einen Sekundenbruchteils auf dem Boden, den Berne benötigte, um seine Waffe zu ziehen. Und Janner war der Inhaber der Ankhanischen Mist- und Dungfahrer, einer von Kierendals einträglicheren Partnerschaften.

»Ich kümmere mich darum. Steht Berne schon unten an den Spieltischen?«

»Noch nicht, aber er wird nicht lange auf sich warten lassen. Er ist an der Kristallbar und schwatzt dort mit Gala. Er glaubt immer noch, dass er sie eines Tages umsonst kriegen wird.«

»Wenn er es schafft, wird er enttäuscht sein.« Kierendal stand auf und streckte sich. »Echte Leidenschaft kommt ihrer Technik in die Quere. Zakke?«

Ihr Steinbändiger-Page erschien sofort im Eingang, den er mit breiten Schultern und einem sauber rasierten fliehenden Kinn voll ausfüllte. Er hatte gelauscht, wie üblich – das gehörte zu seinen Aufgaben. »Ja, Kierendal?«

»Sag in der Küche Bescheid, dass ich ein spätes Frühstück will. Irgendwas Lebendiges, das gerade zur Hand ist – Austern wären in Ordnung. Und eine frische Honigwabe. Wusch wird sich mir anschließen, denke ich.« Während sie sprach, wirbelten Nebelschwaden um sie herum und verdichteten sich, legten sich wie Stoffbahnen um ihre knochigen Arme.

Zakke nickte und zählte alles an den Fingern ab, während er sich im Geiste Notizen machte. Er war ein wirklich lieber Junge, wenn auch nicht allzu helle. Und er war ungemein stark und loyal; Kierendal entschied aus einem Impuls heraus, ihm zu gestatten, sich den traditionellen Bart der Steinbändiger wachsen zu lassen, um diese unglückselige Kinnpartie zu kaschieren.

Nun stand sie reglos und gestaltete ihr Erscheinungsbild. Ein einfacher Vorgang, besonders im Augenblick – die Seite von Hammans Buch, die sie erst heute Vormittag studiert hatte, hatte ihr einen interessanten Kniff für die Verfestigung eines Fantasiezaubers geliefert. Sie öffnete ihre Schale dem Flux und zog ihn zu sich heran, wie eine geringere Frau Seide an sich ziehen mochte. Er umfing sie liebevoll, sanft umhüllend färbte er die Luft, in der sie stand, mit dünnen, durchscheinenden Pastelltönen.

Während sie mit den Händen den Nebel zur scheinbaren Festigkeit von Stoff zusammenzog, strich sie auch ihren Körper zu der Gestalt, die sie anstrebte. Im Lauf dieses Prozesses schien sich ihr aufgewickeltes Haar von selbst zu lösen und in wunderschönen Locken – nun definitiv golden – um Schultern zu fließen, die inzwischen einen Hauch von menschlicher Farbe aufwiesen und eine sanfte Rundung, die zu den Brüsten passte, welche sie zu schwellenden weiblichen Kurven massiert hatte.

Als der Prozess abgeschlossen war, wirkte sie immer noch exotisch – immer noch eindeutig vom Ersten Volk, fraglos urblütig mit ihren schräg stehenden, nunmehr violetten Augen und den betont spitz zulaufenden Ohren –, aber ihren vollen Lippen wohnte eine sanfte Unschuld inne, den goldig schimmernden Wangen eine weichere Beschaffenheit, der Hüfte eine süße Krümmung, die imstande war, das Herz jedes Mannes zu bestechen. Nun verbarg sie sich hinter einem Gesicht, das nie von nachdenklichem Stirnrunzeln berührt worden war.

Sie lächelte, als sie das Arrangement ihrer illusionären Kleidung veränderte, mit nichts als einem gedanklichen Schlenker und einer Handbewegung, die diesem Schlenker prompt Folge leistete. Die Vorstellung, nackt zwischen ihren ahnungslosen Angestellten und Kunden herumzulaufen, erheiterte sie. Noch stärker erheiterte sie, dass Pischu ihr folgen musste und ganz genau wusste, dass sie nackt war.

»Nun gut. Wollen wir sehen, ob wir Janner den Glückspilz davon überzeugen können, dass heute nicht sein Glückstag ist.«

Zakke öffnete die Tür; Pischu trat respektvoll zur Seite. Nach einem ausgesprochen kurzen Weg zwei Treppenabsätze hinab und durch einen bewachten Gang betrat Kierendal ihr Reich.

Das Haus der exotischen Spiele verbarg ein Märchenland des Lasters. Geländer aus glänzendem Messing umgaben die Gruben mit den Spieltischen. Drei breite Stufen aus leuchtendem, von purpurnen Adern durchzogenem Marmor führten wie eine Zielmarkierung rings um jede Grube. Mädchen mit gelenkigen Hüften und Jungen mit flachen Bäuchen – alle in knapper Kleidung, die ihre erstaunliche Anmut und Schönheit enthüllte – trugen Tabletts mit Cocktails und anderen Rauschmitteln über Teppiche aus rotem Pannesamt. Diese Bediensteten, menschlich und vom Ersten Volk, waren nicht weniger berauschend als das, was sich auf ihren Tabletts befand, und genauso verfügbar – in manchen Fällen sogar um einiges billiger. In fünf riesigen Kristallkerzenleuchtern brannte kein Feuer, sie sonderten stattdessen ein beruhigendes, bernsteinfarbenes Licht ab, das keine eindeutige Quelle zu besitzen schien. Selbst jetzt, weit vor Mittag, waren die Gruben zum Großteil gefüllt, mit Leibern schwitzender Männer und Frauen, die den Fall der Würfel oder das Aufdecken von Karten mit der blutunterlaufenen Konzentration verkaterter Habichte verfolgten.

Jene Kunden, die nicht mit Spielen beschäftigt waren oder damit, sich an einer der sieben Bars die Kante zu geben, konzentrierten sich auf die Vorführung. Auf der schmalen Arenabühne, die über den Spielsaal hinausragte, ließ sich eine offensichtlich menschliche Frau mit einer herrlichen Mähne aus rabenschwarzem Haar auf gut gespielte Weise von zwei männlichen Baumkrönlern befriedigen. Da diese Vorführung sich bereits ihrem Ende näherte, war sie schon nackt und schweißgebadet, bebte in gespielter Leidenschaft, während die Baumkrönler sie im verschwommenen Geflatter ihrer transparenten Flügel umschwirrten wie groß geratene Kolibris. Sie schlangen Seidenbänder um den Körper des Mädchens, fesselten und entfesselten sie, ließen geknotete Seide über die durchscheinende Reinheit ihrer Haut gleiten.

Bei dem ›Mädchen‹ handelte es sich um eine von Kierendals besten Darstellerinnen; noch in diesem Augenblick erhoben sich sowohl Männer als auch Frauen von ihren Plätzen, um Huren, die in ihrer Nähe standen, bei den Händen zu nehmen. Kierendal ließ die Vorstellung einen Augenblick auf sich wirken, lächelte in sich hinein und schüttelte den Kopf. Wenn die Gäste, die dieser Anblick so erregte, nur gewusst hätten, dass es sich in Wahrheit um eine 50-jährige Ogrillo-Fähe mit schlaffen Zitzen und fingergroßen Warzen am ganzen Körper handelte.

Genauso war der von Purpur durchzogene Marmor eigentlich abgeplatztes Kiefernholz, zu schmutzigem Braun verwittert. Das glänzende Messing war rostiges Gusseisen und die Bedienungen von Pocken entstellt und trübäugig, die meisten von ihnen abgehalfterte Exhuren.

Diese Fülle von Illusionen quirlte den Flux zu fantastischen Energiewirbeln auf, erschöpfte ihn aber nicht. Es wurde alles von einem einzelnen glänzend schwarzen Greifenstein, nicht größer als das erste Glied von Kierendals Daumen, mit Kraft versorgt – sie rief sich in Erinnerung, dass sie ihn im Laufe dieses Monats ersetzen musste.

Kierendal hielt im Eingang inne, bis sich ihre drei offen sichtbaren Wächter zu ihr gesellten – riesige Oger ohne abgefeilte Hauer in leichter Kettenrüstung, auf der das scharlachrote und messingfarbene Symbol des Hauses prangte. An den Hüften trugen sie Morgensterne, mit gefährlichen Stacheln versehen. Das gesamte offen sichtbare Sicherheitspersonal des Hauses der exotischen Spiele bestand aus Ogern oder ihren nachtaktiven Vettern, den Trollen. Sie waren allesamt dumm, aber riesig und schrecklich stark – und das sichere Wissen, dass Störenfriede nicht nur getötet, sondern auch gefressen wurden, half Kierendal ungemein dabei, ein geordnetes Geschäft zu führen. Man hatte sie bisher noch nie ausgeraubt.

Diese unbändige Drohkulisse durch die Oger ermöglichte es ihr ferner, ihre Gäste Waffen tragen zu lassen, da Streitigkeiten nur selten tödlich endeten, bevor die Oger sie auflösen konnten. Und dass die Männer ihre Schwerter behalten durften, verbesserte das Geschäft mit den Huren – Männer sind grundsätzlich ausgelassener, wenn sie ihren Stahlpenis an der Seite tragen.

Sie dehnte ihre Schale aus und zupfte am Flux, um Wirbel zu drei ihrer verdeckten Wachen zu schicken – zwei Menschen und ein Fey, die sich meisterhaft als unschuldige Gäste ausgaben. Der Fey und einer der Menschen blickten auf, als sie etwas wahrnahmen, das als ein Flüstern Kierendals in ihrem Ohr ankam. An der Kristallbar, schickte sie. Der mit dem geschlitzten Samtwams und dem Schwert auf dem Rücken ist Berne. Begebt euch in seine Nähe und bleibt dort. Sie schickte den anderen Menschen los, damit er sich hinter Janner dem Glückspilz in der Würfelgrube aufstellte.

Noch während sich ihre verdeckten Mitarbeiter näherten, stieß Berne sich vom Tresen ab, ließ für den Augenblick Gala links liegen und marschierte zur Würfelgrube. Die Scheide, die er quer über der Schulter trug und in der sich eine gerade, lange Klinge befand, klatschte ihm dabei auf den Rücken. Die Verdeckten waren zu erfahren, um sich durch einen plötzlichen Richtungswechsel zu erkennen zu geben. Aus diesem Grund beeilte sich Kierendal, als Erste an den Spieltischen einzutreffen. Die Oger stampften hinter ihr her.

Janner, dessen tiefe, schräg über die Nase verlaufende Narbe weiß auf seinem siegestrunken geröteten Gesicht leuchtete, grinste Kierendal wild an, als sie sich näherte.

»Ick ’abe einen bunderbollen Tag, Kier! Bunderboll! Kann es kaub glauben!« Aufgrund des Axthiebs, der ihn seine Nebenhöhlen gekostet hatte, klang Janner der Glückspilz ständig, als habe er einen schlimmen Schnupfen.

Kierendal passte ihre Stimme an die aristokratische Sprechweise an, die sie für den Kontakt mit den Gästen reservierte. »Natürlich, und wir sind sehr angetan von deinem Erfolg, Janner. Heute ist dein Spitzname wohlverdient. Kann ich dich vielleicht für einen Augenblick vom Tisch loseisen? Für Geschäfte von beiderseitigem Interesse …?«

»Nu’ eine Binute noch. ’abe einen Laup.«

Kierendal beobachtete mit Abscheu, wie Janner die Würfel ungeschickt verklebte. Was um alles in der Welt benutzte er dafür? Rotz?

Berne glitt die Stufen zu den Spieltischen hinab, als Janner gerade seinen Punkt machte. Ein kalter Klumpen ballte sich in Kierendals Magen zusammen. Berne bewegte sich mit der schlaksigen, bedrohlichen Anmut eines Pumas und in seinen blassen Augen stand der starre Reptilienblick eines Menschen, der aus einem Impuls heraus mordete. Seine Schale flackerte vor lauter mühsam unterdrückter Gewaltbereitschaft scharlachrot und weiß.

Er war erst vor ein paar Monaten zum Grafen ernannt worden und Kierendals Quellen hatten sie darüber unterrichtet, dass er als einer der engsten Vertrauten des neuen Imperators galt. Einige Berichte behaupteten sogar, er sei Ma’elKoths persönlicher Meuchelmörder. Man wusste, dass er die Grauen Katzen kommandierte. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, glaubte Kierendal die Geschichte, dass Berne seine Ausbildung in den Monasterien erhalten hatte – seine instinktive Balance mit dem Hauptgewicht auf dem Vorderfuß und die perfekte Körperwahrnehmung waren sowohl bestechend als auch beunruhigend. Seine Fechtkunst galt als legendär: Er trug im Kampf oder im Duell niemals eine Rüstung, sondern verließ sich zur Verteidigung allein auf seine Kunst mit dem Schwert.

Wie immer sein Werdegang in Wahrheit aussah, er zählte fraglos zu den gefährlichsten Männern des Imperiums. Es wurde überall behauptet, dass niemand einen Kampf mit ihm überlebt hatte, um ihm ein zweites Mal entgegenzutreten.

Er nickte Kierendal ausdruckslos zu, während er an einen freien Platz am Tisch glitt, die Oger quittierte er nicht einmal mit einem müden Seitenblick. Er setzte einen Stapel Royal gegen Janners nächsten Wurf.

»Spielen oder passen, Arschgesicht. Auf geht’s.«

»Aschgesischt …?« Die Farbe, die nun von Janners Hals nach oben wanderte, war dunkler als seine siegessichere Röte.

»Hat doch ’ne Ritze, oder nicht?« Berne lachte. Er war stets selbst sein bestes Publikum. »Ich sag’s dir aber, wenn mein Arsch so hässlich wäre, würd mich nie mehr jemand flachlegen – ich hätte Angst, die Hosen runterzulassen.« Inzwischen kamen die beiden Verdeckten endlich hinter ihm die Stufen herab, sehr zu Kierendals Erleichterung.

»Ach, komb schon«, lästerte Janner, ein wildes Flackern in den Augen, »benn dein Schatz dich birklisch liebt, bacht er schon eine Ausnahbe …«

Die Männer, die mit am Tisch standen, kicherten hinter vorgehaltener Hand; keiner von ihnen war so dumm, offen zu lachen. Bernes Gesichtszüge versteinerten. Er trat vom Tisch zurück, die Linke wanderte hinauf zum anderthalbhändigen Schwertgriff über der rechten Schulter. Janner ging in Angriffsposition und packte das Heft des Kurzschwerts, das er am Gürtel trug. Bernes Schale hatte sich purpurrot verfärbt – Janner könnte in einem Herzschlag tot sein.

»Meine Herren.« Kierendal machte eine ausholende Geste und trat geschmeidig zwischen sie. Nur ein kaum wahrnehmbares Flackern in Bernes Blick ließ die Tatsache erkennen, dass die beiden Verdeckten in seinem Rücken ihm inzwischen je eine Dolchspitze an die Nieren drückten.

»Berne, Janner der Glückspilz ist ein Ehrengast und außerdem ein persönlicher Freund. Ihr werdet ihn nicht in meinem Haus töten.« Berne erwiderte diese Ansage lediglich damit, die täuschenden Kurven ihres Körpers gierig mit Blicken abzutasten, von den Knien bis zum Hals, ganz langsam und absichtlich kränkend. Mm, dachte sie. So ist das also. Schon gut. Sie wandte sich an Janner.

»Was dich betrifft«, verkündete sie in ihrem vorwurfsvollsten Tonfall, »wenn du unbedingt dein Leben für nichts weiter hergeben musst, als eine Spitze an diesen Mann auszuteilen, dann stell es zumindest so witzig an, dass ich darüber lachen kann, wenn ich sie in deiner Trauerrede zitiere.«

Janner wollte protestieren. Kierendal achtete gar nicht auf ihn. Ein plötzlicher Aufruhr an der Tür zur Straße lenkte ihren Blick auf sich. Eine der neuen Visagen, eine Steinbändigerin, die sie rekrutiert hatte, nachdem sie alles übernommen und den Betrieb in die Exotenstadt verlegt hatte, war hereingeplatzt und zu dem Fey gestürmt, der in der Garderobe Dienst schob. Mit nichts weiter als einem raschen Gedanken streckte Kierendal einen Fühler ihrer Schale aus, um die seine zu berühren, bediente sich lediglich so weit aus dem Flux, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, und versetzte ihr Bewusstsein in seinen Körper, sodass sie die Steinbändigerin sehen und hören konnte. Ausdruckslos nahm er Kierendals Anwesenheit mit einem grüßenden Aufwirbeln des Flux zur Kenntnis.

Die Lippen der Steinbändigerin waren tiefrot mit Blut gefärbt, das ihr immer noch aus der vermutlich gebrochenen Nase lief. In ihrem ordentlich gestutzten Ziegenbart trockneten bereits erste Klumpen. Der Akzent aus den Zähnen der Götter war in ihrem Westerling deutlich hörbar. »… frackte mich, vo Kierendals Kemach ist, velche Tür, velches Fenster. Er vollte die Klopfzeichen … er tachte, ich bin bewusstlos, also ist er gekangen und ich bin gelaufen, ich bin gelaufen …«

»Schon gut, ist schon gut«, redete der Fey beruhigend auf sie ein, seine schlanken Hände ruhten auf ihren mächtigen Schultern. »Wer war es? Kannst du ihn beschreiben?«

Nun zahlte sich die Ausbildung der Visagen aus: Sie hatte sich das Erscheinungsbild ihres Angreifers eingeprägt, auch während er sie ausgehorcht und verprügelt hatte. »Halb und noch eine Spanne krößer als ich. Kerates schvarzes Haar, an den Schläffen krauer Ansatz. Tunkle Haut, schvarze Auken, Schnurrbart und Bart von Kinn bis Ohr. Geprochene Nase mit schräker Narbe. Und schnell. Schneller, als ich je gesehen habe. Er hat Messer, hat aber seine Fäuste genommen.«

Kierendal dachte, das klingt nach Caine, und langsam dämmerte ihr, dass es durchaus Caine sein konnte. Sie hatte von dem überraschenden Kopfgeld gehört, das vom Imperium auf ihn ausgesetzt worden war, und war davon ausgegangen, dass er in der Stadt gewesen sein musste – erst da verknüpfte sie die Gedanken miteinander, die um sie herumwirbelten.

Caine hat nach mir gefragt!

Mit einem Aufkeuchen fand sie sich in ihrem eigenen Kopf wieder. Ihre Knie fühlten sich weich an und ihre Eingeweide rebellierten. Panische Gedanken wimmerten und brabbelten betäubend vor sich hin: Wer mochte ihn angeheuert haben? Die Imperialen? Nein, die hätten die Katzen zu ihr geschickt. Die Monasterien, Caine arbeitete gewöhnlich für die Monasterien, aber sie hatte nichts getan, um ihr tödliches Missfallen auf sich zu ziehen – oder doch? Nein, es musste – ah, es war der verdammte König der Zinken! Dieser Bastard! Stand Caine nicht angeblich mit den Untertanen im Bund? Aber warum? Warum jetzt? Oder doch die Monasterien? Hatte sie ein Stückchen zu viel Wahrheit über Ma’elKoth rausgelassen?

Strenge geistige Disziplin gewann rasch die Oberhand über ihre Panik – sie hatte konkretere Probleme, um die sie sich kümmern musste. Eins nach dem anderen.

Kierendal war stolz auf ihre Fähigkeit, inmitten einer Krise geordnet denken und handeln zu können. In nicht mehr als der Zeit, die es brauchte, um tief ein- und dann langsam wieder auszuatmen, hatte sie gedanklich die Grundlagen eines Verteidigungsplans skizziert. Sie griff abermals in den Flux und stellte den Kontakt mit dem Fey an der Garderobe her.

In wenigen Minuten würde das Haus der exotischen Spiele von draußen umzingelt sein, von einer unsichtbaren Armee der Visagen in Dreiergespannen, je ein Mitglied aus jeder Gruppe entweder von den Ersten oder den Baumkrönlern, um eine rasche Verständigung zu gewährleisten. Das Pissoir auf der Straße würde von innen und außen gesichert, genauso der Schacht, der in die Kalksteinhöhlen unter der Stadt hinabführte. Auf den Dächern der umgebenden Gebäude würden Visagen verteilt stehen, um mit geladenen Armbrüsten im Anschlag nach einer klaren Schusslinie zu suchen. Jedes kampffähige Mitglied ihrer Belegschaft in der Spielhalle würde alarmiert und in jedem Gang stellten sich paarweise Wächter auf, in Sichtweite zueinander. Den Gedanken, die Gendarmerie zu alarmieren, hatte sie bereits verworfen – das Wissen, wer sie so dringend tot sehen wollte, dass er Caine dafür anheuerte, hielt sie für wichtiger als die Belohnung von 200 Royal. Der Fey an der Garderobe am anderen Ende des Raums erwiderte ihren Blick und nickte, um zu signalisieren, dass er verstanden hatte.

Sie schickte: »Nehmt ihre Geschichte, um eine aktuelle Beschreibung zu liefern. Gebt sie durch die Ränge weiter. Haltet mich auf dem Laufenden. Ich werde mich in meine Gemächer zurückziehen. Verwendet den Fünfercode, wenn ihr klopft. Jetzt aber los

Er machte sich ans Werk. Sie ließ die Verbindung verpuffen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem unmittelbaren Geschehen hier in der Grube beim Knöchelspiel zu.

Janner redete immer noch. Sie hatte keine Ahnung, was er gesagt hatte, und noch weniger interessierte es sie. Sie gab einem der Oger, die neben ihrer rechten Schulter standen, einen kleinen Fingerzeig, und er schloss eine riesige, klauenbewehrte Hand um Janners Arme und hob den sich sträubenden kleinen Mann vom Boden. »Hey! Hey …!«

»Du bist für heute fertig. Schafft ihn aus der Grube.«

Der Oger hievte Janner hoch und schleppte ihn schwerfällig die Stufen hinauf zur Hauptebene. Kierendal hielt mit ihm Schritt.

»Das kannst du nich machen!«

»Ich habe keine Zeit, dir deine verletzten Gefühle aus dem Schwanz zu massieren«, sagte sie so leise, dass Berne es nicht hörte. »Hol dir was zu trinken an der Bar. Schnapp dir was zu essen im Speisesaal. Geht auf mich. Pass nur auf, was du sagst, und halt dich von Berne fern.«

»Isch werd schon mit ihb …«

»Nein, wirst du nicht. Still jetzt.« Sie griff nach oben, fixierte sein Kinn mit ihrer erstaunlich starken Hand und grub ihm die Fingernägel in die Wangen. »Und halt dich von den Würfeltischen fern, bis du lernst, anständig zu betrügen, du dummer Scheißhaufen.« Sie wedelte mit der Hand und der Oger gab Janner mit einem Schubser frei, der ihn in Richtung Silberbar stolpern ließ.

»Kierendalll …«

Berne lehnte reglos am Rande des Knöchelspiel-Tischs, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. Die beiden Verdeckten lauerten in seinem Rücken, die Dolche pikten ihn nach wie vor in die Nieren. »Darf ich mich jetzt bewegen, Kieri? Oder steh ich hier den ganzen Tag?«

Sie machte ein kehliges Geräusch, das beinahe ein frustriertes Jaulen war. »Ich entschuldige mich, Graf Berne.« Mit einem Handwedeln befahl sie den Verdeckten, ihn freizugeben.

Er hob einmal die Schultern, als ob er eine Verspannung abschüttelte, und dann pirschte er mit dem ihm eigenen Gang eines hungrigen Pumas auf sie zu.

»Ich muss ihn umbringen, weißt du«, sagte er leichthin. »Er hat mich beleidigt und ich bin verpflichtet, es ihm heimzuzahlen. Es ist die, ähhh, Ehre des Adels. Das verstehst du doch.«

Damit wusste sie immerhin ganz genau umzugehen. Sie trat ihm einen Schritt entgegen und blickte dahinschmelzend zu ihm auf. »Bitte, mein Herr«, sagte sie, während ihre Hände auf seiner muskelbepackten Brust lagen, »ich sähe es als persönlichen Gefallen an, wenn Ihr die Sache auf sich beruhen lassen und vergessen könntet.«

Sein spöttisches Lächeln kippte in Abscheu um, während er die Arme um ihren schmalen Rücken schlang und seine Lippen gegen ihre drängte. Seine Zunge schob sich in ihren Mund, forschte mit schleimiger Beharrlichkeit, und sie wusste nur zu gut, wie sie keuchen und sich winden musste, während seine Hand sich um ihre täuschend echte Brust schloss.

Das empfand sie zwar als noch größere Beleidigung als die letzte, aber sie war in ihrem früheren Beruf einst so gut gewesen wie Berne in seinem gegenwärtigen: Er hatte keine Ahnung, wie abstoßend sie ihn fand. Als seine Hand grob nach unten zwischen ihre Beine glitt, ließ sie den tastbaren Teil ihrer illusionären Kleidung fallen. Er stellte fest, dass seine Hand sich unmittelbar an ihre Schamlippen presste, während er mit der anderen die glatte, makellose Haut ihres Rückens abtastete.

Er versteifte sich, hob den Kopf und starrte überrascht und etwas irritiert auf sie herab. Plötzlich mischte sich Lust in den Abscheu, mit dem er sie betrachtete – Abscheu und Lust schienen voneinander zu zehren, wodurch beide anwuchsen.

»Weißt du was?«, raunte er mit belegter Stimme. »Ich denke, ich mag dich doch. Ich tu dir den Gefallen, diesmal. Vergiss nur nicht, was du mir schuldest.«

Sie senkte sittsam den Kopf auf seine Schulter. »Oh, Ihr kennt doch uns Elfen« – es bereitete ihr keinerlei Gewissensbisse, den verunglimpfenden menschlichen Namen für ihr Volk zu benutzen – »wir haben ein gutes Gedächtnis. Erlaubt mir, Euch zu Eurer morgendlichen Mußezeit einzuladen. Tallin. 500 für den Grafen.«

Das Klicken der Spielsteine, als der Croupier sie über den Tisch schob, zog Bernes Blick auf sich, aber dann blickte er wieder auf sie herab. »Eine schwierige Entscheidung«, murmelte er.

»Ihr seid ausgesprochen galant. Bitte, vergnügt Euch.«

Er zuckte die Schultern. »Also ein andermal.«

»Natürlich.«

Sie wandte sich schroff ab und machte sich auf zum Personaleingang, während Berne in die Grube zurückkehrte und die Würfel anwärmte. Sie empfand durchaus das Gefühl, etwas erreicht zu haben: ein bisschen schnelle, effektive Zungenakrobatik und etwas Betatschen, damit Berne bei Laune blieb und Janner am Leben? Doppelt so teuer wäre auch noch billig gewesen.

Aber sie hatte keine Zeit, um kleine Siege zu genießen.

Ihre Oger waren ihr mit plätschernd rasselnden Kettenrüstungen dicht auf den Fersen, kaum wahrnehmbare Handzeichen lenkten vier Verdeckte und die beiden Baumkrönler-Jungs aus der Vorführung, die inzwischen Pause hatten, an ihre Seite. Sie hielt im Eingang inne und wiederholte im kurz gefassten, präzisen Tonfall einer Feya, die an Gehorsam gewöhnt war, die Befehle, die sie auch an den Fey in der Garderobe gesandt hatte.

»Was ist denn los?«, fragte einer der Verdeckten. »Wollen uns die Ratten aufmischen? Die Schlangen?«

»Schlimmer.« Sie schluckte mit schmerzhaft trockener Kehle. »Ich glaube, es ist Caine. Los jetzt.«

Im Laufschritt zerstreuten sie sich.

Sie rieb die Hände aneinander und stellte fest, dass ihre Handflächen feucht waren und ihre Finger leicht zitterten. Etwas zu trinken!, schoss es ihr durch den Kopf.

Das brauchte sie, etwas zu trinken, um ihre Nerven zu beruhigen und die aufgewühlten Gedanken zu besänftigen und dann noch mehr Zeit mit dem Studium des Buches zu verbringen. Sie marschierte hinauf zu ihren Gemächern, nahm drei Stufen auf einmal, und überlegte hektisch, ob sie Zeit hatte, einen Schildzauber aufzuladen.

Sie erreichte die Tür, klopfte leicht an, zweimal und dann noch einmal, und wartete darauf, dass Zakke die Tür öffnete.

Sie klopfte wieder, zweimal, einmal. Die aufwendig mit silbernen Einlegearbeiten verzierte Tür besaß von außen kein Schlüsselloch und sie hatte die Schutzzeichen selbst angebracht, die verhinderten, dass sie sich auf magischem Weg öffnen ließ. Dieser faule Sack schlief vermutlich, aber sie durfte keine Zeit verschwenden. Sie hämmerte mit geballter Faust an die Tür.

»Zakke, du nutzloser Wichser!« Ihr Ruf hallte durch den leeren Gang. »Wenn diese Tür nicht in zehn Sekunden offen ist, bist du ein toter Zwerg!«

Schließlich hörte sie das Knarren des Riegels, der zurückgezogen wurde. Als die Tür einen Spalt aufging, warf sie diese mit einem Stoß ihres ausgestreckten Armes ganz auf und trat in den Raum, geradewegs zu ihrer Privatbar neben dem großen, steinernen Kamin. Die schweren Brokatvorhänge waren fest zugezogen und alle Lampen gelöscht. Der stechende Geruch ausrauchender Dochte hing schwer in der Düsternis. »Du hast geschlafen, du Mistkerl! Dafür werde ich dir die Haut abziehen!«

Die zufallende Tür sperrte das letzte schwache Licht vom Gang aus. Kierendal, die beinahe blind war, bis sich ihre Augen angepasst hatten, rammte sich das Schienbein so hart an einem herumstehenden Hocker, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Sie hüpfte auf einem Bein herum, fluchte und kämpfte damit, das Gleichgewicht zu halten, während sie die pochende Stelle mit beiden Händen umfasste. »Und sorg für etwas Licht hier drinnen!«

Die einzige Antwort bestand im trockenen, schabenden Klicken des zuschnappenden Türriegels.

Sie hielt inne. Vorsichtig setzte sie den Fuß auf und belastete ihn probehalber. Unter dem dichten Rauch und dem Gestank von Lampenruß lag ein weiterer Geruch: alter Schweiß – der scharfe Ziegengeruch nach ungewaschenem Menschen.

Kierendal stand reglos, wagte nicht zu atmen.

»Zakke?«

»Der ist nicht da.«

Die Stimme klang ausdruckslos und tödlich.

Jedes Gelenk ihres Körpers verflüssigte sich zu Wasser.

Kierendal verfügte wie jeder der Ersten über eine außergewöhnliche Nachtsicht und konnte sich so still wie ein Geist bewegen, und sie befand sich in ihrem eigenen Unterschlupf. Wäre das irgendjemand anderes als Caine gewesen, hätte sie es mit ihm aufgenommen – aber er hielt sich womöglich schon seit geraumer Zeit hier drin auf, war an die Dunkelheit angepasst und sicher auf alles vorbereitet, was sie tun konnte. Und dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, stand er nicht weiter als einen langen Schritt von ihr entfernt.

»Keine tiefen Atemzüge«, mahnte er leise. »Wenn du das machst, denke ich vielleicht, du willst losschreien. Ich könnte dich töten, ehe ich merke, dass ich mich verschätzt habe.«

Sie glaubte ihm.

»Ich …«, sagte sie dünn, atmete nur hoch oben in die Brust, »… äh, du hättest mich töten können, als ich durch die Tür gekommen bin.«

»Das ist richtig.«

»Dann bin ich nicht dein Ziel.«

Die Dunkelheit antwortete nicht. Inzwischen wurden seine Umrisse sichtbar: ein dunklerer Schatten vor der Schwärze der Wand. Seine Schale ließ sich nach wie vor nicht erkennen – und diese Abwesenheit erschreckte sie. Woher sollte sie wissen, was er im Schilde führte, wenn sie seine Schale nicht deuten konnte?

Langsam wurden glitzernde Punkte erkennbar. Seine Augen.

»Ich habe …«, stotterte sie, »ich weiß, dass ich ein paar Dinge über Ma’elKoth gesagt habe, aber, aber ich habe nichts getan – nichts, für das der monastische Rat meinen Tod wollen könnte! Oder? Sag es mir, du musst es mir sagen! Ich weiß, dass der Rat Ma’elKoth unterstützt, aber, aber, sie müssen mich nicht umbringen …«

Er antwortete mit einem trockenen, hohlen Lachen. »Ich kann die An- oder Abwesenheit einer politischen Linie oder die Ansicht des Rates der Brüder weder bestätigen noch leugnen, genau so wenig wie etlicher und einzelner Mitglieder des Rates.«

»Dann ist es der König der Zinken, ja? Ich weiß, dass du mit den Untertanen im Bund …«

»Du hast hier einen schönen Laden. Jede Menge Nippes. Andenken.« Aus der Dunkelheit kam das langsame Skrrt von Stahl auf Feuerstein. Eine bernsteinfarbene Flamme wuchs aus einer Faust auf Schulterhöhe empor, warf einen roten Schatten auf ein Gesicht mit hohen Wangenknochen, das aus Eis hätte geschnitzt sein können. Die Flamme berührte das Ende einer dünnen Zigarre – aus dem Humidor auf ihrem Schreibtisch gestohlen, genauso wie der Anzünder.

Nun konnte sie seine Schale wahrnehmen: Schwarz, dunkel wie Rauch, ohne auch nur eine Farbe, die eine Deutung gestattete.

»Caine …« Kierendals heiseres Flüstern klang in ihren Ohren unangenehm nach einem Flehen um Gnade.

»Schöner Anzünder.«

»Ein Geschenk«, erwiderte sie, ein wenig ruhiger jetzt, »von Prinzregent Toa-Phelathon.«

»Ich weiß. Das steht gleich an der Seite, hier.« Er hielt die Flamme an den Docht einer Lampe auf einem kleinen Beistelltisch, drosselte das Licht anschließend zu einem blutig-glimmenden Glühen herunter. »Wir wissen beide, was mit ihm passiert ist, nicht wahr?«

Er drückte mit Daumen und Zeigefinger auf den Docht des Anzünders und die Flamme erlosch mit einem leiser werdenden Zischen.

Sie hatte den Gerüchten, dass Caine in den Anschlag auf Toa-Phelathon verwickelt gewesen war, niemals viel Glauben geschenkt. Das Ganze roch eher nach einer internen Affäre des Palastes. Nun glaubte sie es fraglos. In seinem Beisein waren Zweifel ausgeschlossen.

Er deutete auf einen Stuhl. »Setz dich.«

Sie setzte sich.

»Auf deine Hände.«

Sie steckte sich die Hände unter die Oberschenkel. »Wenn du nicht meinetwegen hier bist, was willst du dann?«

Er trat um das Sofa, nur eine Armlänge von ihr entfernt. Vor ihr ging er in die Hocke und starrte ihr in die Augen. Die Stille dehnte sich aus, bis sie sich wohlweislich davon abhalten musste, draufloszubrabbeln, nur um sie zu brechen.

Sie zwang sich dazu, seinen Blick stumm zu erwidern, musterte ihn mit jener tiefen, eingehenden Aufmerksamkeit, die damit einherging, dass sie ihr Leben auf ihre Beobachtungsfähigkeiten setzte.

Sie stellte fest, dass sie ihn unweigerlich mit Berne verglich: Beide hatten sich einen Namen und ein Vermögen damit gemacht, gegen Bezahlung Blut zu vergießen. Caine war viel schmaler, nicht so muskulös, und trug eine Reihe von Messern anstelle eines Schwertes – aber die Unterschiede gingen noch viel tiefer. Berne haftete eine gewisse Wildheit an, eine unbändige Lust und gefährliche Unvorhersehbarkeit, die zu der lockeren und entspannten schlaksigen Art passte, mit der er sich bewegte; er war auf potente, beinahe leidenschaftliche Weise zu jedem Zeitpunkt lebendig. Auch Caine verfügte über diese entspannte Grundhaltung, allerdings ohne eine Spur von Lockerheit. Stattdessen beruhte sie auf Reglosigkeit, einer meditativen Bereitschaft, die von ihm auszuströmen und den Raum mit der Kapazität zum Handeln zu füllen schien, als schwebten überall um ihn die Geister imaginärer Caines, die jede Bewegung ausführten, die dieser Raum zuließ: jeden Angriff, jede Verteidigung, jeden Sprung, jede Drehung, jede Rolle.

Er beobachtete sie bei ihrer Beobachtung, mit einer Konzentration, die ihrer gleichkam, und er war genauso von gewalttätigem Potenzial erfüllt wie eine glänzende Klinge frisch aus der Schmiede. Der Unterschied in aller Kürze: Berne war eine Wildkatze. Caine war ein Schwert.

»Bist du fertig?«, fragte er leise. »Lass dich nicht von mir unterbrechen.«

Ihr Blick huschte nach oben, um seinem zu begegnen, und sie entdeckte darin keinen Funken Humor.

»Ich suche nach Simon Jester.«

Von der Erleichterung, die sie durchströmte, fühlte sie sich beinahe genauso überfordert wie von ihrer vorherigen Panik. Sie musste sich Mühe geben, nicht laut zu lachen.

»Du und die Augen des Königs. Von den Grauen Katzen und der gesamten Gendarmerie gar nicht erst zu sprechen. Was führt dich zu dem Schluss, dass ich etwas weiß?«

Er fuhr fort, als hätte er sie nicht gehört. »Etwa um diese Zeit gestern hatten die Grauen Katzen ein Spiel in den Stollen laufen. Wie ist es durchgesickert?«

Sie leckte sich die Lippen. »Wirklich, Caine, du kannst doch nicht glauben, ich hätte Quellen innerhalb der Katzen …«

»Ich frage dich noch einmal. Ich bin kein geduldiger Mann, Kierendal.«

»Ich, äh, aber …«

Nur das hauchzarte Flüstern von Flügeln war zu hören, und Caine bewegte sich bereits.

Er gab überhaupt keine Vorwarnung, ihm stockte weder der Atem, noch spannten sich seine Muskeln im Vorfeld an. Nicht einmal sein Blick verlagerte sich. Kierendal hatte mit lückenloser Konzentration nach diesen Hinweisen Ausschau gehalten, jenen Anzeichen, die jedes Wesen vor einer gewalttätigen Handlung an den Tag legte. In einem Augenblick blieb er völlig reglos, im nächsten wirbelte er herum, seine Hände verschwammen und ein silberner Blitz sauste durch die Düsternis und traf mit einem summenden Tschunnk auf Holz.

Wusch stieß einen flötenden, verzweifelten Schmerzensschrei aus. Sie hing an den Türsturz der Eingangstür genagelt, Caines Wurfmesser steckte in einem ihrer Flügel. Die knapp einen Schritt lange Vogellanze aus nadelspitzem Stahl glitt ihr aus den Händen und klingelte schwach, als sie auf der hölzernen Türschwelle landete.

Kierendal sprang mit einem Schrei auf, der sofort von Caines Hand an ihrer Kehle abgewürgt wurde. Die dünne Zigarre, die ihm zwischen den Zähnen steckte, kam ihrem Auge gefährlich nahe, als er sie zu sich heranzog. Sie konnte nicht erkennen, was er mit der anderen Hand tat, nahm aber an, dass es etwas potenziell Tödliches sein musste.

Und seine Schale pulsierte immer noch in diesem rauchigen, nahtlosen Schwarz.

»Es fällt dir womöglich schwer, das zu glauben«, presste er durch die Zähne, »aber ich will dir nicht wehtun. Oder deiner kleinen Freundin dort. Ich will einzig und allein hören, was du über Simon Jester weißt. Das ist der einfachste Weg, wie ich aus deinem Wohnzimmer und deinem Leben verschwinde.«

Er ließ ihre Kehle los und die unsichtbare andere Hand versetzte ihr einen Stoß gleich unterhalb des Nabels, sanft, aber bestimmt, nicht hart genug, um zu schmerzen, aber mit genau der richtigen Menge Druck, um sie zusammenzufalten, damit sie sich wieder auf den Stuhl setzte.

»In Ordnung.« Sie konnte ihn nicht einmal ansehen. Ihr Blick wurde von der um sich schlagenden, weinenden Wusch angezogen, die an den Türsturz genagelt war. »In Ordnung, aber bitte, bitte hol sie als Erstes von da runter. Sie wird sich den Flügel zerschneiden – bitte, du verkrüppelst sie!«

»Hände«, sagte Caine.

Sie steckte die Hände hastig ein weiteres Mal unter die Oberschenkel. Caine musterte sie intensiv, die Lippen leicht zusammengepresst; dann stieß er durch die Nase ein Seufzen aus und drehte sich um, damit er Wusch befreien konnte.

»Wenn du mich anfasst, bring ich dich um, du Bastard«, gellte die kleine Baumkrönlerin. »Ich schneid dir die Augen raus!«

»Ja, schon gut.« Caine nahm ihren Kopf und die Schultern in eine Hand, den Hals zwischen dem ersten und zweiten Finger. Seine Hand schloss sich, um ihre Arme festzuhalten, vermied es aber, die delikaten Flügel zu berühren. Vorsichtig, sanft sogar, löste er das Messer. Kierendal erschauerte beim schwachen Quietschen von Metall in Holz, als die Klinge freikam. Wusch trat nach seinem Unterarm, immer wieder, aber er schien es überhaupt nicht zu bemerken. Blasses, rosafarbenes Blut sickerte aus dem Schlitz in ihrem Flügel.

»Eine Hand«, sagte er und hielt ihr dabei die Baumkrönlerin hin. »Halt sie unter Kontrolle.«

Erst als Wuschs beständige Wärme tatsächlich in ihrer Hand lag, glaubte sie wirklich, was Caine da tat. Dass es sich nicht nur um einen grausamen Trick handelte und er das Messer nicht deswegen aus Wuschs Flügel zog, damit er ihr den Hals brechen konnte oder um etwas noch Schlimmeres zu tun, etwas Unvorstellbares.

Sie raffte Wusch an die Brust und die Baumkrönlerin beugte den Kopf und befeuchtete Kierendals Brustwarze mit kristallklaren Tränen. »Es tut mir leid, Kier, es tut mir leid.« Sie schluckte einen Schluchzer hinunter. »Er, er ist durch das Fenster gekommen. Und Zakke, er hat Zakke getötet …«

»Still jetzt«, redete Kierendal sanft auf sie ein. »Still, alles ist gut.« Sie blickte zu Caine und ihre Augen flehten ihn an, es wahr werden zu lassen.

Er zuckte gereizt die Schultern. »Wenn sie von deinem Zwerg spricht, dann sollte es ihm ganz gut gehen, wenn er aufwacht. Er könnte ein paar Tage Kopfschmerzen haben, aber er lebt.«

Sie begegnete seinem kalten, ausdruckslosen Starren mit aufkeimender Verwunderung. Vielleicht waren jene Augen doch nicht so kalt und ausdruckslos, wie es schien. Vielleicht waren sie nur verhüllt …

»Du bist anders, als ich erwartet habe. Die Geschichten, sie klingen, als wärst du so … na ja, ziemlich …«

»Simon Jester«, rief er ihr in Erinnerung.

»Ja.« Sie strich über Wuschs lockiges Haar. »Dieses Spiel in den Stollen hatte seinen Preis: Sechs Katzen wurden getötet und noch viel mehr verwundet. Ich weiß nicht, wie viele von Simon Jesters Leuten umgekommen sind, aber die Katzen halten zwei aus seinem Gefolge gefangen.«

»Zwei?« In seinem Gesicht flammte etwas auf, ein Gefühl, das Kierendal nicht ganz zuordnen konnte, weil es keinen Sinn ergab: Es wirkte wie die wilde Hoffnung entgegen aller Hoffnung bei einem Gefangenen, der sich auf seinem Marsch zum Galgen Rettung erhofft. »Ihre Namen. Wer sind sie? Ist einer von …«

Er sagte etwas, beendete den Satz, aber sie konnte ihn nicht richtig verstehen. Ein jäher Wirbel im Flux lenkte sie ab. Ihre Gedanken schnappten zurück. »Es tut mir leid … es tut mir leid, das ist mir entgangen. Könntest du es wiederholen?«

»Pallas Ril.«

Sie runzelte die Stirn. Pallas Ril? War Pallas Ril nicht irgendeine menschliche Thaumaturgin? Was hatte sie denn mit … diesem Thema zu tun, das sie eben besprochen hatten? Erneut dieser Wirbel im Flux, der sie umwogte. Sie stellte fest, dass sie sich überhaupt nicht mehr erinnern konnte, was das Thema gewesen war.

»Ich, ich glaube, ich habe gehört, dass sie in der Stadt ist. Ist sie wichtig?«

Seine Antwort fiel so fest und unumstößlich aus wie ein Wort, das in eine Granitplatte gemeißelt war. »Ja.« Er lehnte sich vor. »Gehört sie zu den Gefangenen?«

»Welchen Gefangenen?«

Caine seufzte auf eine Art und Weise, die nahelegte, dass er um seine Beherrschung ringen musste. Kierendals Kehle verengte sich rasch in erneuter Angst. Was, wenn sie die Informationen nicht hatte, nach denen er verlangte? Was tat er dann?

Er sagte etwas anderes, und wieder entzog sich ihr der Sinn seiner Worte.

»Was?«, hakte sie mit dünner Stimme nach und zuckte zurück, um einem möglichen Schlag zuvorzukommen.

»Diese beiden Gefangenen, die die Katzen gestern in den Stollen gemacht haben, Simon Jesters Gefolgsleute. War einer von ihnen Simon Jester selbst?«

Sie schüttelte den Kopf und betete, dass er sich mit ihrem Halb-Unwissen begnügte. »Ich weiß es nicht. Ich habe lediglich gehört, dass es ein Mann und eine Frau sein sollen. Womöglich sind sie selbst nicht ganz sicher, wen sie da gefangen haben. In den Blättern wurde nichts verkündet.«

Seine Stimme spannte sich. »Wo werden sie festgehalten? Im Palast?«

»Ich glaube – im Zwinger, unter dem Gericht.«

»Kannst du mich da reinbringen?«

Sie glotzte ihn an, lehnte sich nach hinten, um vor der Flamme zurückzuweichen, die sein Gesicht von innen zu beleuchten schien. »Was?«

»Komm schon, Kierendal. Der verfluchte Hamman hat mich in den verdammten Palast gebracht; wenn du dich bei dem Quatsch nicht besser anstellst als er, würden dir die Visagen niemals folgen. Bring mich da rein.«

»Das kann ich nicht. Der Palast – das war vor langer Zeit. Jetzt haben sich die Umstände geändert. Und der Zwinger, Caine, er ist in massiven Stein gehauen. Wenn du ein paar 100 Royal hast, die man als Bestechungsgeld verteilen kann, bringe ich dich vielleicht in einer oder zwei Wochen rein. Das ist das Beste, was ich dir anbieten kann.«

Seine Augen funkelten. »Sicher kannst du es besser, wenn man dich nur richtig ermuntert.«

Sie bemühte sich um Ruhe. »Es ist nicht möglich, Caine. Niemand ist je von dort ausgebrochen. Es gibt höchstens die Möglichkeit, einen Richter zu bestechen oder die Wachen zu beeinflussen. Das dauert und es kostet.«

Sie ließ zu, dass er ihr Gesicht musterte. Sie sagte die Wahrheit und schon bald erkannte er es.

Er blickte zur Seite. Seine Enttäuschung war so greifbar, dass er ihr beinahe leidtat. Auf schleichendem Weg hatte sich ihre Beziehung verändert. Sie stellte überrascht fest, dass sie inzwischen weniger Angst verspürte – und mehr als nur ein wenig Interesse.

»Ich will nicht dein Feind sein, Kierendal«, meinte er. »Ich bin eher auf deine Hilfe angewiesen, irgendwann in naher Zukunft. Du sollst wissen, dass ich jeden Gefallen fünffach zurückzahlen kann.«

»Alles, was ich von dir will, Caine, ist eine Zusicherung, dass du mich nie mehr behelligst.«

»Ich könnte dieses Versprechen geben«, erwiderte er mit einem Schulterzucken. »Aber es wäre bedeutungslos, und wir wissen es beide. Ich möchte dir stattdessen eine Information anbieten. Jemand hoch oben in den Rängen der Untertanen der Zinken arbeitet als Informant für die Augen.«

Sie hob die Augenbrauen hoch genug, um Überraschung zu heucheln. »Oh?«

»Ja. Hier hast du noch eine: Die Untertanen unterstützen Simon Jester.«

Diesmal war ihre Überraschung nicht geheuchelt. »Also das habe ich nicht gewusst …«

»Ich denke, es war der Informant bei den Untertanen, der Simon Jester bei den Katzen verpfiffen hat. Wenn du herausfinden kannst, wer es ist, kann ich dafür sorgen, dass es sich für dich lohnt.«

Sie schnaubte. »Wieso fragst du nicht Seine Majestät den König?«

Er starrte sie an, reglos, ausdruckslos, so stumm wie eine Totenmaske.

Nun war es an ihr, wegzuschauen. Sie drückte sich Wuschs bebende Gestalt fester an die Brust. »Ich habe keinen Beweis. Ich habe nicht einmal ein richtiges Gerücht. Alles, was ich weiß, ist, dass die Augen mich, die Ratten, die Mistkäfer und die Schlangen scharf im Blick haben, aber für die Untertanen der Zinken scheinen sie vollkommen blind zu sein. Vielleicht wird dir Seine Majestät erklären, warum das so ist.«

»Ja.« Caines Stimme klang leise und rau. »Ja, vielleicht wird er das.« Einen langen Augenblick sagte er nichts mehr, dann schüttelte er den Kopf wie jemand, der die Gedanken absichtlich von einem unangenehmen Pfad abwendet. Er wies mit dem Kinn auf die taillenhohe Bronzestatue und die erloschenen Votivkerzen des Schreins in der Zimmerecke. »Was steckt dahinter für eine Geschichte?«

Kierendal zuckte mit den Achseln. »Es ist ein Schrein für Ma’elKoth. Was soll damit schon sein? Den hat doch jeder.«

»Du betest ihn an? Wie einen Gott?«

»Ich persönlich? Was ist denn das für eine Frage, Caine?«

Er nickte abwesend. »Hm, ja. Ich bin eben überrascht, dass du einen in deinem Haus hast. Ich höre, dass er sich den Subs gegenüber etwas abweisend benimmt.«

Subs, ah ja – wenn wir nicht wären, würdet ihr Menschen euch noch in Häute kleiden und den Mond anheulen, dachte sie, ließ ihm die Bemerkung aber durchgehen. Sie breitete die Hände aus und zuckte noch einmal die Achseln. »Es gibt ein Sprichwort, sicher hast du’s mal gehört: Schwimm mit dem Strom, dann kommst du voran.«

Sein Blick wanderte noch weiter in die Ferne. »Ja«, murmelte er und sagte nichts mehr.

Kierendal brach die Stille schließlich. »Wenn du wirklich Frieden zwischen uns willst, könntest du damit anfangen, mir zu verraten, wie du hier hereingekommen bist.«

»Das ist kein Geheimnis. Dein Junge – Zakke, heißt er so? – wird es dir verraten, wenn er aufwacht. Ein Fenster im zweiten Stock ist nicht sicher, wenn die Gasse, zu der es sich öffnet, schmal genug ist, dass man hinüberspringen kann. Du solltest Gitter anbringen lassen.«

»Ich habe zwei Männer in der Wohnung gegenüber.« Ihr fiel auf, was sie gesagt hatte, und ihre Augen wurden groß. »Vielleicht sollte ich sagen: hatte.«

Caine schüttelte den Kopf. »Denen geht’s gut. Dein Alarmruf hat sie aus der Wohnung gelockt. Ich habe keine Hand an sie gelegt. Sie haben mich nicht einmal zu Gesicht bekommen.«

Sie wurde sich ihrer Atmung merkwürdig bewusst. »Dann«, sagte sie sanft, »hast du das Steinbändiger-Mädchen absichtlich gehen lassen – du hast dieses Durcheinander geplant, damit du Deckung hast …«

Das Lächeln, mit dem er antwortete, wirkte so kalt wie die anderen, aber inzwischen begann Kierendal zu argwöhnen, wie viel Hitze die Ofentüren seiner Beherrschung im Inneren einschlossen. »Und du hast niemanden getötet …«

»Heute nicht. Auch wenn es nur einen Grund gibt, weshalb deine Feenfreundin noch lebt: Ich bin mit den Messern ein wenig eingerostet.«

»Du überlässt eine Menge dem Zufall, Caine.«

»Es ist besser, ungestüm als vorsichtig zu handeln, denn Fortuna ist ein Weib, und wer es bezwingen will, muss es schlagen und stoßen.« Dem Tonfall nach zitierte er damit jemanden, obwohl Kierendal keine Ahnung hatte, wer es sein mochte.

»Na, Caine«, sagte sie mit gespielter Schüchternheit, da sie eine Öffnung spürte, »soll das etwa ein Annäherungsversuch sein?«

Seine Antwort war ein verächtliches Schnauben. »Eine letzte Frage …«

»Ich kenne meinen Ruf«, sagte Kierendal und blickte ihn unter ihren unmöglich langen Wimpern an, »aber ich bin eigentlich nicht homosexuell. Mir macht es nur einfach keinen Spaß, mir fremde Objekte in den Körper rammen zu lassen. Das kannst du doch sicher nachvollziehen.« Sie streckte sich, um ihm einen Blick auf ihre aufgepumpten Brüste zu gönnen; letztlich ließ er sich womöglich ebenso leicht umgarnen wie Berne. »Es spricht nichts dagegen, dass wir zusammen Spaß haben.«

»Oh doch, eine Menge spricht dagegen. Letzte Frage: Dieses Kopfgeld, das auf mich ausgesetzt ist, du hast davon gehört. Wozu wollen sie mich? Und woher haben sie gewusst, dass ich in der Stadt bin?«

»Das ist mir selbst ein Rätsel. Die Nachricht hat sich gestern bei Sonnenuntergang in den Straßen verbreitet, mehr weiß ich nicht. Und dass sie dich lebend wollen.«

»Und was Besseres kriegst du nicht zustande?«

Sie zuckte die Schultern und begegnete ihm mit einem zynischen schiefen Lächeln. »Hey, wenn du so verzweifelt bist: Graf Berne ist gerade unten beim Knöchelspiel. Vielleicht könntest du ihn fragen.«

»Berne?«

Kierendals wachsende Sorglosigkeit verflog wie Rauch vor einem Sturm. Der schwarze und tödliche Zorn, der über Caines Züge glitt, als er diesen Namen aussprach, erschreckte sie mehr als all seine vorherigen Drohungen. Es schien, als seien all diese Geister-Caines, die die imaginäre Luft erfüllten, rascher als ein Gedanke in seinen Körper zurückgeschnellt, um ihm auf so grimmige Weise eine Präsenz zu verleihen, dass er in einem scharlachroten Glühen zu brennen schien.

»Berne ist hier? In diesem Augenblick?«

Er hob langsam die Hände vors Gesicht und starrte auf seine Finger, während sie sich zu Fäusten krümmten. In seinen Augen spiegelte sich ein rötlicher Schimmer.

»Ja, ich denke, ich werde ihn fragen. Genau das werde ich tun.«

Und noch einmal bewegte er sich ohne den Hauch einer farblichen Veränderung seiner Schale, ohne den Hinweis eines vorwegnehmenden Atemzugs. Er verschwand aus dem Raum, ein unmenschlich schneller Ansturm von Abwesenheit, wie die Dunkelheit, die sich um eine ausgelöschte Kerze schließt. Ein rasches Aufflackern von hellerem, gelbem Lampenlicht. Die Tür öffnete und schloss sich mit der Geschwindigkeit eines einzelnen Blinzelns.

Kierendal saß einen langen Augenblick ganz still da, während sie sich abmühte, zu Atem zu kommen und Wuschs Beben wegzustreicheln.

»Ich hasse ihn.« Die Stimme der Baumkrönlerin an Kierendals Brust erklang gedämpft. »Ich hoffe, dass Berne ihn umbringt!«

»Sie könnten sich gegenseitig umbringen. Und ich glaube nicht, dass die Welt durch ihr Dahinscheiden gemindert würde.«

Sanft berührte sie den rosarot umrahmten Riss in Wuschs Flügel. »Kannst du fliegen?«

Wusch hob ihr tränenüberströmtes Gesicht und rieb sich mit einer winzigen Faust über die Wange. »Ich glaube, schon. Ich glaube, ich schaff’s, Kier, aber es wird wehtun.«

»Dann flieg zu Chal. Er wird sich um deinen Flügel kümmern. Schick drei aus deinem Volk mit der Nachricht los, dass Caine hier ist: einen zur Garnison, einen zum Posten der Gendarmerie und einen zu Graf Bernes Stadthaus, um die Katzen zu holen.«

»Du lieferst ihn aus? Ich dachte …« Sie schniefte gegen weitere Tränen an. »Ich dachte, du mochtest ihn irgendwie.«

Kierendal lächelte abwesend. »Stimmt. Aber er wird sich in meiner Spielhalle zu erkennen geben und wir können die Augen des Königs doch nicht glauben lassen, dass wir einem Flüchtling Unterschlupf gewähren. Die Welt ist ohnehin gefährlich genug, auch ohne Männer wie Caine. Sobald er tot ist, werden wir besser schlafen.«

Sie blickte sich suchend im Raum um. »Außerdem hat der Hurensohn meinen Anzünder gestohlen.«

14

Arturo Kollberg wand sich nass geschwitzt in seinem Simichair. Endlich etwas Action!, dachte er, während er/Caine zwei Stockwerke nach unten schlitterte und an den überraschten Wachen im Gang vorbeisprintete. Er/Caine hatte genug Einzelheiten von dieser Zwergennutte in Erfahrung gebracht, um zu wissen, wo er abbiegen musste. Er erreichte den Personaleingang, bevor jemand auch nur etwas von seinem Kommen ahnte.

Kollbergs Herz hämmerte vor Vorfreude. Erst vier Stunden im Abenteuer und schon stand Caine vor Berne. Das mochte einen Teil der langwierigen Flaute dieses ersten Tags bis zu diesem Punkt wettmachen. Vom Studio gesponserte Testgruppen hatten ermittelt, dass durchschnittliche 1,6 tödliche Kämpfe pro Tag für ein Caine-Abenteuer das Optimum darstellten, und Caine hatte bisher noch nicht einmal groß die Fäuste fliegen lassen. Den Pagen bewusstlos schlagen, die Fee an die Wand nageln, na toll. Es besaß schon einen gewissen altmodischen Charme, eine Nutte zu verprügeln, aber das ging wohl kaum als richtiger Kampf durch. Eine Begegnung mit Berne allerdings …

Er leckte sich über die bereits feuchten Lippen und lächelte in seinen Sichtschild hinein.

Ob es nun mit Leben oder Sterben endete, in jedem Fall wurde es großartig.

15

Ich ziehe die Tür des Personaleingangs hinter mir zu und lehne mich dagegen. Im überfüllten Spielsaal scheint bisher niemand auf mich aufmerksam geworden zu sein. Eine der kleinen Blattklingen aus einer Scheide am Knöchel sollte genügen, um die Wachen auszubremsen, die hinter mir durch den Personalkorridor kommen. Ich lehne mich locker an die Tür, starre ausdruckslos hinaus in den Saal, während ich die Blattklinge neben meinem Oberschenkel in die Ritze zwischen der Tür und dem Pfosten stopfe. Mit der Handwurzel klopfe ich das Messer fest. Das gedämpfte Hämmern, das damit einhergeht, ist bei der Musik und dem Geschnatter in diesem brodelnden Raum kaum zu hören, selbst für mich nicht.

Ein verdammt gutes Geschäft zieht sie hier auf. Es ist gerade mal Mittag.

Die Würfelgrube, hat sie gesagt. Das Knöchelspiel …

Und da ist er, wärmt die Würfel mit seinem Atem an. Sein Haar schimmert im Bürstenschnitt über dem klassischen Profil. Er hat sich da wohl ein neues Schwert zugelegt – bisher hat Berne nie etwas für das Ziehen über die Schulter übrig gehabt; es ist langsam und schrecklich plump. Und was sind das für Klamotten? Ein Wams aus geschlitztem Samt und eine magentafarbene, enge Hose. Widerlich!

Die Szenarios wirbeln aus meinem Unterbewusstsein empor:

Ich gehe ganz bedächtig, grimmig wie der Tod, durch den Raum. Stille breitet sich aus, während sich stumm Köpfe wenden. Trippelnd wie Krabben kratzen die Hände der Spieler Münzen von den Tischen. Huren gehen langsam hinter den Tresen in Deckung.

Berne weiß, dass etwas im Busch ist – es wird zu schnell zu still im Saal –, aber er ist auch zu gelassen, um nachzusehen. Er tut so, als konzentriere er sich allein auf seinen Würfelwurf.

Ich halte an, fünf Schritt entfernt. »Berne. Lange her. Ich habe nach dir gesucht.« Er dreht sich nicht um, blinzelt nicht einmal; natürlich erkennt er meine Stimme.

»Ich habe darauf gewartet, dass du mich findest, Caine. Zeit für einen letzten Wurf.« Er lässt die Würfel rollen: Einserpasch.

Er zuckt die Schultern und zieht das Schwert, während ich die Fäuste hebe …

Oder:

Er merkt nicht einmal, dass ich da bin, bis er spürt, wie sich mein Arm im Würgegriff um seinen Hals schlingt. Er erstarrt, denn er weiß, ich könnte ihn töten, bevor er sich bewegt. Ich flüstere ihm ins Ohr: »Witzig, wie der Scheiß manchmal läuft, hm? Jetzt sag mir, was ich wissen will, und das Ganze wird gar nicht wehtun.« Er tut, als wisse er nicht, wovon ich rede, während seine Hand nach dem Dolch in seinem Stiefel tastet …

Oder: … was immer ich will …

Diese verschwitzten Machofantasien kann ich im Sekundentakt produzieren. Mein Verstand muss sie nicht erst fabrizieren, diese Szenen leben dort, kreisen ständig unmittelbar unter der Oberfläche wie neugierige Haie. Sie warten nur darauf, dass sich Züge über die blanken Gesichter legen, und auf Namen, die ich in den Dialog einbauen kann. Ich könnte den ganzen Tag hier stehen und Zeit schinden, indem ich mich am endlosen Abspulen von ROM-Skripten berausche, die von zu vielen Büchern, zu vielen Filmen, Theaterstücken, Abenteuern und DragonTales-Teasern in mein Gehirn eingebrannt sind – aber inzwischen verdunkelt ein riesiger Schatten die Wand zu meiner Rechten, und ich blicke zu einem Paar hervorquellender gelber Augen auf, jedes so groß wie meine Faust.

Es ist ein Oger, ein etwa drei Meter großer Oger, um genau zu sein, und er hat Schultern, die mir bei ausgestreckten Armen ungefähr von Ellbogen zu Ellbogen reichen. Er trägt ein teures Kettenhemd, eine schön bemalte Halsberge, von der man nicht mehr wahrnimmt als ein herbstliches Flüstern wie von trockenem Laub. Er kommt näher – zu nah für meinen Geschmack. Der Morgenstern in seiner Hand weist Dornen auf, so lang wie mein Mittelfinger und nicht wesentlich spitzer.

»Tut mir leid, der Herr«, rumpelt er tief in der Kehle. »Dieser Bereich ist für Mitarbeiter reserviert. Ihr müsst weitergehen.«

Sein Atem müffelt nach altem Fleisch.

»In Ordnung, bin schon weg. Hetz mich nicht.« Der Boden bebt schwach unter meinen Füßen – die Wachen stürmen wohl gerade zur Tür. Der Oger sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an, als erkenne er mein Gesicht auf einmal wieder. Eine Hand, so groß wie eine Brustplatte, senkt sich wie eine Zugbrücke auf meine Schulter.

Wachen hämmern auf die andere Seite der Personaltür hinter mir ein und ihre Rufe dringen schwach durch das Holz. Das lenkt den Blick des Ogers für den Sekundenbruchteil ab, den ich brauche, um mich unter seiner Hand wegzuducken und zu rennen, als sei der Teufel hinter mir her.

Ich könnte es zur Außentür schaffen – die goldene Freiheit der Sonne winkt nur 20 Meter weiter auf der rechten Seite …

Aber andererseits kehrt Berne mir den Rücken zu.

Ich bin recht behände, auch wenn ich sprinte, und kann den größeren Männern im Saal ausweichen. Ich bin stark genug, um die kleineren umzuwerfen und umzurennen. Ich hinterlasse eine Welle aus Rufen und Verwirrung, bin aber sozusagen mit Überschall unterwegs, schneller als das Geräusch meines Durchzugs.

Berne ist nur so weit gewarnt, dass er gerade mal beginnt, den Kopf zu drehen, bevor ich das Messinggeländer der Knöchelgrube erreiche und mich drüberwerfe wie ein Speer.

In der Luft versteife ich den Hals und spieße ihn auf. Mit der Schädeldecke erwische ich ihn seitlich am Kiefer. Meine Arme verheddern sich in seinen. Wir rollen über den Tisch und lassen Gold und Würfel in alle Richtungen davonstieben. Die anderen Spieler spritzen mit undeutlichen Überraschungsrufen auseinander und die Platte zersplittert unter uns. Bis wir von den Überresten geschlittert sind und auf den Marmorstufen auf der anderen Seite aufkommen, höre ich die Silberpfeife des Grubenchefs, die mit ihrem schrillen Alarmton sämtliche Oger im Laufschritt herbeiholt.

Ist mir egal, ich bin oben gelandet.

Es muss verfickt wehgetan haben, als die Kanten der Stufen ihm in die Wirbelsäule gekracht sind. Seine Muskeln werden ganz schlaff. Ich halte seine Beine mit meinen fest und bekomme den Unterarm unter sein Kinn, um ihm den Kopf nach hinten zu biegen, sodass ihm die Luft wegbleibt. Der Schleier vor seinen Augen klärt sich beinahe sofort, mit den Lippen formt er: Du, und das halb verhüllte Aufflackern der Angst auf seinem Gesicht spricht etwas Elementares in mir an, eine vulkanische Aufwallung vom Ansatz meiner Wirbelsäule, die mir in den Ohren donnert und meine Sicht purpurrot einfärbt.

»Kannst deinen verfickten Arsch drauf verwetten, dass ich das bin.«

Ich unterstreiche das Ganze mit einer Hammerhand, die seine perfekte Nase zertrümmert und breit über seine Wangenknochen verschmiert. Blut spritzt; es ist auf meiner Faust, auf seinem ganzen Gesicht und auf meinen Lippen. Ich kann es riechen und schmecken und es ist mir inzwischen egal, ob ich beim nächsten Atemzug krepiere, solange ich mit meinen Zähnen in seiner Kehle ins Grab gehe.

Deshalb schlage ich noch einmal auf ihn ein.

Er wehrt sich unter mir, aber ich habe ihn jetzt, und ich werde auf keinen Fall lockerlassen. Ich ramme seinen Kopf in die geschwungene Stufe, gleich noch einmal und noch einmal und noch einmal. Der von Purpuradern durchzogene Marmor ist nun künstlerisch mit Bernes hellrotem Blut bespritzt.

Aber er bleibt bei Bewusstsein und nun lächelt er zu mir auf, mit diesen verschmierten Lippen und rot gefärbten Zähnen. Ich muss mich entscheiden, ob ich ihn weiter verprügle oder ihm einfach die Kehle durchschneide. Diese Oger werden mich in etwa zehn Sekunden von ihm herunterpflücken. Die Tatsache, dass ich diese Entscheidung fällen muss, bringt mir einen Hauch von Vernunft zurück.

Etwa zu diesem Zeitpunkt erkenne ich, dass er mir seinen abgewinkelten Ellbogen seitlich in den Kopf hämmert. So, wie er daliegt, kann er keinen größeren Druck aufbauen. Er tut das hauptsächlich, um mich von seiner anderen Hand abzulenken, die über meinen Hals hinaufkriecht, damit er mir den gekrümmten Daumen ins Auge rammen kann.

Als er erneut ausholt, richte ich mich auf, außerhalb der Reichweite seines Ellbogens, und packe den Oberarm, um seinen Torso zu drehen, weshalb er mir nun den Rücken zukehrt. Sein Schwert nagle ich mit meiner Brust in der Scheide fest. Das Haar an seinem Hinterkopf ist blutverklebt von einer großen Platzwunde, die beim Aufprall auf die Kante der Stufen entstanden sein muss. Ich schlinge meine Beine um seine und wälze uns eben noch rechtzeitig mit dem Gesicht nach oben herum: Die beiden Oger, die sich soeben für ungehinderte Angriffe auf meinen Rücken in Stellung gebracht haben, senken unsicher ihre Morgensterne.

Ich schlinge den linken Arm um Bernes Gesicht, über seine Augen, um seinen Kopf zurückzubiegen, während ich mit der Rechten eines der langen Kampfmesser aus der Scheide an meinen Rippen ziehe. Ich setze die Spitze an der äußeren Drosselvene an. Jetzt könnte ich sie ihm in einer Sekunde seitlich in den Hals stoßen, ihn nach vorne aufschlitzen und damit Halsschlagadern, Drosselvenen und Luftröhre durchtrennen. Er hat keine Chance, das zu überleben, und das weiß er.

Ich flüstere ihm ins Ohr: »Sag ihnen, dass sie sich verziehen sollen.«

»Zurückweichen«, krächzt er. Er hustet einen Blutklumpen aus und seine Stimme wird stärker und sicherer. »Caine ist ein alter Freund. Wir kämpfen gar nicht richtig. Wir begrüßen uns halt so.«

»Netter Humor für einen Sterbenden«, nuschle ich. An der Brust spüre ich das kurze Anheben seiner zuckenden Schultern; es fühlt sich sorglos an. »Halt deine Hände da, wo ich sie sehen kann.«

Er streckt die Hände blind vor sich aus und wackelt mit den Fingern. »Hübsch, nicht?«

»Was ist mit Pallas Ril passiert?«

»Deiner Schlampe? Woher soll ich das wissen? Ich war mit diesem Simon-Jester-Idioten beschäftigt.«

»Berne, Berne, Berne«, flüstere ich ihm ins Ohr wie ein tadelnder Liebhaber. »Es gibt keinen Grund, mich anzulügen. Stell es dir wie eine Beichte auf dem Totenbett vor.«

Er kichert. »Dann gibt es auch keinen Grund, die Wahrheit zu sagen. Aber das tu ich trotzdem. Du bist es nicht wert, dass man dich anlügt.«

Ich glaube ihm, auch wenn ich Pallas’ Erinnerung an ihre Auseinandersetzung kenne. Ich habe mir ausgerechnet, dass die Wirkung dieses Spruchs, den sie da losgelassen hat, diese Wissensbegrenzung, mit einer gewissen Ausbreitungsgeschwindigkeit – wie zur Hölle die für magische Energie auch aussehen mag – immer weitere Kreise zieht und dabei gewissermaßen alle jüngeren Erinnerungen an Pallas willkürlich durcheinanderwirbelt. So ungefähr stelle ich mir das vor. Aber Berne und die Katzen müssen auf die eine oder andere Art mit ihr Kontakt gehabt haben, nachdem der Spruch gewirkt wurde – sie hatten sie immerhin umzingelt. Wenn er sich trotzdem an nichts erinnert, muss der Spruch nach wie vor aktiv sein. Und wenn das der Fall ist …

Pallas lebt noch. Sie könnte zwar eine der Gefangenen im Zwinger sein – aber für den Augenblick ist sie zumindest am Leben.

Dieses sichere Wissen sorgt dafür, dass sich derart warme und angenehme Gefühle aus meinem Herzen in die Welt ergießen, dass ich eine halbe Sekunde lang fast versucht bin, ihn am Leben zu lassen.

»Letzte Frage: Weshalb werde ich gesucht? Und wer hat den Augen verraten, dass ich in die Stadt komme?«

Sein Tonfall ist spöttisch. »Das sind zwei Fragen.«

Ich brauche die Antworten auf diese Fragen nicht so dringend, dass es mir die Zeit wert ist, mir weiterhin seinen Schwachsinn anzuhören, deswegen ramme ich ihm das Messer in die Kehle.

Die Messerspitze gleitet von seiner Haut ab, als sei aus seinem Fleisch Werkzeugstahl geworden.

Einfältig steche ich noch einmal an derselben Stelle zu – ich kann einfach nicht glauben, dass das nicht funktioniert. Als es wieder abgleitet, verschwende ich eine ganze Sekunde damit, wie ein Idiot dieses Messer anzustarren, das mich im Stich gelassen hat.

So langsam verstehe ich, warum er sich nicht fürchtet.

Ich glaube, ich stecke in Schwierigkeiten.

Berne kündigt mit heiterer, aber seidenweicher Stimme an: »Und jetzt kommt mein nächster Trick …«

Er greift nach hinten und umfasst mit einer Hand meine linke Schulter in einem Griff, der so zermalmend ist, dass er nicht einmal wehtut: Mein ganzer Arm wird taub. Dann schält er mich mit unwiderstehlicher Stärke von sich ab – völlig ungraziös, mit einem einzigen reibungslosen Ruck – und er kommt auf die Beine und lässt mich in der Luft baumeln.

»Ich war immer besser als du«, sagt er. »Aber jetzt bin ich der Liebling von Ma’elKoth. Er hat mich schnell, sehr viel stärker und unverwundbar gemacht. Ma’elKoth hat den Spruch speziell für mich erschaffen. Er nennt ihn Bernes Schutzschild. Na, was hältst du davon?«

Ich trete ihm ins Gesicht, ein kurzer Thai-Jab, bei dem mein Fußballen in seine gebrochene Nase kracht, aber er lacht mich aus. Mit seiner freien Hand erwischt er mich im Schritt und hebt mich trotz meines Widerstands weit hoch.

Und wirft mich über die Köpfe der Menge.

Nach oben, aus der Knöchelgrube, in einem hohen Bogen – er muss stärker als die Oger sein, die dastehen und meiner Flugbahn dümmlich hinterherstarren. Ich taumle durch die Luft, während Leute sich ducken, um mir auszuweichen.

Mein Körper kann die Landung selbst arrangieren; meine ganze Aufmerksamkeit wird von der Frage in Anspruch genommen, wie ich ihn besiegen kann.

Bis ich in eine Schar von Spielern krache und wir alle in einer überraschend sanften Landung zu Boden gehen, habe ich einige Ansätze gefunden.

Erstens: Stärke allein wird ihm ums Verrecken nicht gegen meine Messer helfen. Zweitens: Wenn diese Unverwundbarkeit so perfekt wäre, wie er mich glauben machen will, hätte ich ihm wohl kaum die Nase gebrochen.

Ich kann ihn immer noch übertrumpfen. Ich muss nur meine Taktik ändern, um die veränderte Situation zu berücksichtigen. Ich habe eine Hypothese über diese Magick aufgestellt, die ihn schützt – und wie jeder gute Wissenschaftler plane ich ein Experiment, um diese Hypothese zu bestätigen.

Die Leute, auf denen ich gelandet bin, schlagen wild um sich und lösen sich in einem Wirrwarr aus Gliedmaßen von mir, wobei sie mich ein bisschen herumschubsen. Ich bin immer noch damit beschäftigt, mich aufzurappeln, als sich die Menge teilt und Berne über das Geländer der Knöchelgrube springt. Er wischt sich die blutigen Lippen mit dem Handrücken ab und schreitet auf mich zu.

»Du hast heute richtig Glück, Caine. Ich habe versprochen …«

Die beste Gelegenheit, jemanden zu überraschen, hat man, solange derjenige noch labert. Seine Aufmerksamkeit fokussiert sich zu sehr auf das, was er als Nächstes sagen wird. Noch auf den Knien ziehe ich meine Wurfmesser über Kreuz aus den Scheiden am Oberschenkel und schleudere sie in einer fließenden Bewegung nach vorn.

Hinter einem solchen Wurf steckt keine Kraft, aber die brauche ich auch gar nicht. Das Messer aus meiner betäubten und geschwächten Linken fliegt zu hoch, zu seinem Gesicht, und er schlägt die wirbelnde Klinge gereizt zur Seite. Sie ritzt ihm allerdings nicht die Hand auf, weil er instinktiv seine persönliche Verteidigung auf diesen Bereich richtet. Die andere Klinge ist diejenige, die es mir warm um mein Mörderherz werden lässt: Sie trifft ihn ein paar Zentimeter über dem Knie am Bein, schlitzt die magentafarbene Hose auf und gräbt sich tief in die Haut darunter ein.

Es ist nur ein kleiner Schnitt, eine schmale Linie aus dicker werdenden roten Tröpfchen, ein kaum merklicher Kratzer. Er glotzt darauf hinab, ich blicke ihn an und als sein Blick zurück nach oben gleitet, registriere ich ein kaum wahrnehmbares, unsicheres Zucken in seinen Augenwinkeln.

Das entfesselt in meinem Verstand Fluten, einen Wasserfall aus Wind, als sauge Gott einen endlosen Atemzug ein, während sich das ganze Universum auf Berne, mich und die drei Meter offene Fläche verengt, die uns voneinander trennt.

Ich stehe auf.

Ich ziehe mein einziges verbliebenes Kampfmesser.

»Denn wer das Schwert nimmt, der soll durch mein Messer umkommen. Das ist eine Prophezeiung, wenn du so willst.«

Und ich kann jetzt noch etwas anderes in seinem Blick erkennen: die Ekstase. Er hat den Blutkoller.

Als ob ich in den Spiegel schaue.

Unbegreiflicherweise flucht er: »Scheiß auf Ma’elKoth.«

Er springt mich an und ich hechte ihm entgegen.

Er zieht so schnell über die Schulter, dass seine Hände gerade mal als Flackern erkennbar sind. Hier ist kein Platz für Finesse. Er hackt auf den Übergang zwischen Hals und Schulter ein. Mein Messer trifft in einer hohen Zweihand-Parade auf sein Schwert, wodurch sein Hieb über meinen Kopf hinweggeht. Das Messer summt in meiner Hand, schickt einen beunruhigenden Schock durch Arm und Schulter bis in die Zähne.

Ich führe mein Messer mit der Rechten in einem Bogen zurück, um ihm mit der Spitze über die Augen zu fahren, und verfehle ihn um eine Handbreit. Ich verlängere die Bewegung in eine abtauchende Rolle zur Seite hin. Berne vollzieht sie nach, hackt wieder nach unten, in der Luft hängt ein in den Zähnen vibrierendes Wimmern, als seine Klinge durch den Teppich und in den Boden neben meinem Kopf säbelt. Das geht so leicht, als seien die Bretter aus Weichkäse. Ich hake mich mit den Zehen an seinem Knöchel ein und trete ihm gegen das Knie. Er knickt das Bein ab, um die Wucht abzufangen, damit das Gelenk nicht bricht, aber es holt ihn auf den Boden.

Ich springe auf und nun kapiere ich, warum mein Hieb an seinen Augen vorbeiging. Mein Messer ist etwa zehn Zentimeter zu kurz, die Klinge drei Fingerbreit über der Parierstange abgeschnitten. Heller, frischer Stahl leuchtet wie Chrom an der Schnittkante.

Sein Schwert – so eine krass verdammte Scheiße, das ist ja Kosall …

Diese Erkenntnis lässt mich für einen Wimpernschlag erstarren. Das reicht ihm, um auf die Füße zu kommen. Eine geschmeidige Drehung bringt mich in Reichweite und ich winkle mein Bein für einen Seitwärtstritt an, um ihn noch mal umzuwerfen.

Da packt eine riesige, mit stumpfen Klauen versehene Hand meinen Arm von hinten und reißt mich zurück und nach oben in die Luft.

Ich lasse den nutzlosen Messerstumpf fallen und schlage verzweifelt um mich. Der Kampf mit Berne hat mich so sehr beansprucht, dass ich den Oger nicht einmal gesehen habe, der mich jetzt festhält – aber Berne hat dasselbe Problem: Zwei von ihnen haben ihn im Griff. Einer legt beide riesigen Pranken auf seinen Schwertarm, der andere hält ihn fest um die Taille gepackt.

Und ich fühle mich, als wenn ich an die Oberfläche eines Traumes treibe: Was in aller Götter Namen habe ich mir nur dabei gedacht? Hier meine Zeit zu verschwenden, mit Berne, beinahe mein Leben wegzuwerfen. Ich muss verrückt geworden sein!

Irgendwie hat mich diese wilde Blutlust ergriffen. Scheiße, das ist zum Teil der Grund, weshalb Pallas mich verlassen hat, dieses gedankenlose Dürsten nach Tod. Meister Cyrre, der Abt von Burg Garthan – vor beinahe 20 Jahren hat er mich wiederholt ermahnt, dass ich nur mit meinen Fäusten denke.

Und dieser Hurensohn hat immer noch recht.

Nun kommt Kierendal quer durch den Raum auf uns zu, das vollkommene Abbild eisiger Befehlsgewalt. »Jetzt aber genug davon«, sagt sie. »Nun werden wir, glaube ich, alle ganz ruhig warten, bis die Gendarmen eintreffen.«

Bernes Blick begegnet meinem. Er wehrt sich nicht länger. Sein sardonisches Grinsen zieht sich zu einem raschen Kussmund zusammen, ehe er mir lautlos ein ›Nächstes Mal!‹ verspricht.

Der Oger hebt mich noch höher und schüttelt mich ein bisschen. Meine Füße baumeln eine Armlänge über dem Boden, und die Bänder, die meine Schulter zusammenhalten, tun langsam weh. Mein Kopf ist jetzt allerdings geradegerückt und alles glasklar: Wenn mich die Gendarmen erwischen, spielt es keine Rolle mehr, weswegen sie ursprünglich nach mir gefahndet haben. Bis ich die Scheiße geregelt kriege, ist es für Pallas zu spät.

Der Oger schüttelt mich ein weiteres Mal, eine nicht eben sanfte Warnung. »Nichsss ausshecken«, grollt er feucht und sabbert dabei um seine Hauer. »Du weisss sson, dass es mir nichss macht, dir wehssutun.«

»Ja«, antworte ich leise. »Gleichfalls.«

Ich ziehe die Knie ruckartig vor der Brust nach oben und bäume mich auf wie ein wildes Pferd, biege peitschend den Rücken durch, sodass ich meine Füße nach hinten in den Bauch des Ogers stoßen kann. Es ist, als stampfe man auf einen Steinboden. Der Oger grunzt nicht einmal richtig, aber das war auch nicht der Teil, der wehtun sollte.

Ich stoße mich von seiner Brust ab und schwinge mich um die Achse meines Schultergelenks hinauf wie ein Fußballer, der zum Fallrückzieher ansetzt, aufwärts und kopfüber. Ich schlinge die Beine in einem Wrestling-Ankle-Lock um seinen Hals. Der Oger knurrt und dreht instinktiv den Kopf, um mir mit seinen gefährlichen Hauern die Innenseite der Oberschenkel aufzureißen. Einer durchstößt das Leder und meine Haut.

Das ist der Teil, der wehtun soll.

Ich drehe mich und stoße mit einer knackigen Speerhand an meinem Hintern vorbei, genau in den Tränenkanal in seinem Augenwinkel. Ogeraugen sind hartschalig, so ähnlich wie die einer Schlange, aber sie lassen sich genauso gut herausdrücken wie bei einem Menschen. Ich stoße mit der Hand tief hinein. Blut spritzt. Mit einem feuchten, reißenden Geräusch schaufle ich ein Auge in der Größe eines Baseballs aus seinem Kopf, während die Muskeln rundherum erschlaffen. Es baumelt vom langen, zähen Sehnerv auf eine ledrige Wange herab. Der Oger brüllt in meinen Oberschenkel und gibt meinen Arm frei, um sich die Hände vors Gesicht zu schlagen. Ich lockere den Beingriff und bäume mich erneut auf. Der Hauer des Ogers reißt sich von meinem Bein los.

Ich lande unbeholfen, bleibe aber auf den Füßen. Die Geschwindigkeit, mit der sich die heiße Feuchte auf meinem Bein ausbreitet, verrät mir, dass es mir der Oger ganz schön gegeben hat. Es ist fast witzig: Ich komme ohne Kratzer durch den Kampf mit Berne, um mir von einem verfickten Türsteher das halbe Bein rausreißen zu lassen.

Der Oger plärrt wie ein Drucklufthorn, während er versucht, sein Auge zurück in die Höhlung zu stopfen. Die Leute in der Spielhalle weichen vor mir zurück, halten sich die Ohren zu. Inzwischen wehrt sich Berne, windet sich wütend und knurrt grimmige Drohungen, aber die beiden Oger, die ihn halten, sehen nicht so aus, als ließen sie so schnell locker.

Ich betrachte Kierendal, die den Eindruck erweckt, ernsthaft darüber nachzudenken, einen Zauber zu wirken. Ich ziehe das letzte Wurfmesser zwischen meinen Schulterblättern, um es ihr zu zeigen, und sie überlegt es sich anders.

In der kurzen Stille, die eintritt, als der Oger Luft holt, erkläre ich laut: »Ich gehe. Die ersten drei Kreaturen – ob Mann, Frau oder Sub –, die mir in die Quere kommen, sind tot. Gleich hier auf diesen Steinplatten. Tot.«

Sie glauben mir. Ein Durchgang zur Tür tut sich auf. Ich sprinte mit voller Kraft dorthin, hinaus in das Sonnenlicht und die Gerüche der Stadt.

Bernes frustriertes Wutgeheul in meinem Rücken wird von den Geräuschen der Umgebung verschluckt.

Also manchmal, tja, da kommt mir diese Leidenschaft für Gewalt schon richtig gelegen.

Ein Trupp Gendarmen stapft in meine Richtung, weit entfernt auf der Moriandarstraße. Ich gehe ihnen aus dem Weg. Ich werde mich irgendwohin verziehen müssen, um diese Wunde ordentlich zu verarzten. Die Untertanen scheiden aus, zumindest für den Augenblick, bis ich herausgefunden habe, ob Kierendal mit Majestät und den Augen recht hat. Majestät ist mein Freund, aber das heißt nicht, dass ich ihm absolut vertraue.

Die Lösung ist offensichtlich. Es gibt immer noch einen Ort in Ankhana, an dem ich das Recht auf Asyl geltend machen kann. Ich muss nur lange genug leben, um dorthin zu gelangen.

Nach drei Schritten in eine günstig gelegene Gasse lehne ich mich gegen eine Schindelmauer, um den Riss in meiner Hose über der Wunde zuzuziehen und meinen Gürtel als improvisierte Kompresse zu benutzen. Das muss reichen, bis ich es nähen und einen anständigen Verband anlegen kann. Das Bein schwillt bereits an und beginnt zu pochen. Ich ahne, dass ich besser in Bewegung bleibe und mich aus der Exotenstadt absetze, bevor es steif wird. Wenn ich auf meine Spur aus linken Fußabdrücken zurückblicke, die sich in Blut abzeichnen, wird mir klar, dass ich eine bedrohliche Menge davon verliere. Ich humple stark genug, um zu befürchten, dass sich der Hauer tief in den Muskel gebohrt hat.

Weiter geht es durch die Gasse und eine ihrer Abzweigungen in eine andere krumme Straße. In der Ferne im Nordwesten jenseits der Biegung wartet ein weiterer Trupp von Gendarmen. Dieser ist in Vierergruppen ausgeschwärmt, klopft an Türen und betritt Läden. Erst jetzt wird mir klar, dass Kierendal mich verpfiffen haben muss, sobald ich ihr Gemach verlassen habe. Ich hätte es wissen sollen. Ich mache es ihr nicht zum Vorwurf – ich hätte dasselbe getan –, aber dadurch wird die Flucht aus der Exotenstadt wohl zu einem gewissen Problem.

Ich ziehe mich in die Gasse zurück und entscheide mich für eine andere Abzweigung, bahne mir einen Weg um Abfallhaufen herum. Ich finde einen einigermaßen geschützten Platz neben dem Eingang der Gasse. Von dort aus kann ich die Straße beobachten, mustere die vorbeikommenden Menschen und Elfen, die eine ähnliche Größe haben wie ich, und halte Ausschau nach jemandem, den ich überreden kann, einem Gejagten seine Kleidung zu spenden.

16

Arturo Kollberg klappte seinen Sichtschild nach oben, weg von den Augen. Während sich der Induktionshelm automatisch zurückzog, durchforstete er den Arzneimittelratgeber des Schwenkarms nach einem Beruhigungsmittel und einem Säureblocker. Seine Nerven summten wie überspannte Gitarrensaiten. Caine hatte noch immer niemanden umgebracht, obwohl diese Sache mit dem gejagten Flüchtling in der Exotenstadt vielversprechend anlief.

Caine verstand offenbar nicht, wie wichtig es war, dieses Abenteuer zu einem Erfolg zu machen. Guter Gott, es wurden Live-Feeds an Studios auf der ganzen Welt übertragen! Wenn er sich weiterhin so zurückhielt, drohte er Kollbergs Ruf zu ruinieren und damit auch seine Chance, in die Unternehmerkaste hochgestuft zu werden und letztlich Westfield Turner als Studiopräsident abzulösen.

War Caine nicht bewusst, dass Kollbergs ganze Karriere davon abhing? War es ihm egal?

Zumindest diesen Oger hätte er erledigen können. Herrgott, er hatte die arme Kreatur bereits verkrüppelt. Wie viel mehr Aufwand hätte es schon gemacht, sie abzumurksen? Leute – Opulenz – auf der ganzen Welt hatten Millionen von Mark investiert, um er zu sein, während er ein paar Leute tötete. Was in Gottes Namen hielt ihn zurück?

Kollberg stemmte sich aus dem Sessel und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er spähte kurz auf die bereits gefledderten Überreste der Snacks auf dem anderen Schwenkarm, verzog das Gesicht und beschloss, dass er genauso gut eine richtige Mahlzeit zu sich nehmen konnte, wenn er schon die Gelegenheit bekam. Er wählte den Service an und bestellte eine Ladung von dem, was sie gerade heiß und frisch auf der Platte hatten und innerhalb von fünf Minuten in seine persönliche Box liefern konnten.

Dann ging er schwerfällig in dem winzigen Raum auf und ab, während er die nächste Ausgabe von Adventure Update diktierte. Wenn er schon Caines Taten nicht kontrollierte, wollte er zumindest kontrollieren, was die Öffentlichkeit davon hielt.

17

Das ernste Gesicht auf den Wandscreens der Welt verkündet: »Nun, die Zahlen auf der Pallas-Ril-Lebensuhr von Adventure Update besagen, dass es an der Zeit ist, einen Bericht über Caines Fortschritte in Ankhana einzuholen. Ich übergebe an Jed Clearlake.«

»Danke, Bronson. Seit unserem letzten Update ist es in der Tat zu etwas Action gekommen. Ich habe Berichte über einen ergebnislosen Kampf mit – kann man das glauben? – Berne erhalten!«

»Das ist doch der Schwertkämpfer, der in Wettlauf um die Krone von Dal’kannith zwei von Caines Partnern ermordet hat.«

»Ganz genau. Diese Blutfehde läuft schon seit einer ganzen Weile. Wir haben uns nur wenige Stunden vor seinem Transfer nach Ankhana mit Caine getroffen und ihn zu Berne befragt …«

Eine schimmernde weiße Linie wischt diagonal über den Bildschirm, um Caine im Porträt vor einem neutralen, rauchverdunkelten Hintergrund zu zeigen. »Berne?« Die Aufzeichnung seiner Stimme ist eine merkwürdige Kombination aus Zynismus und heiserer Ergriffenheit. »Ja, uns verbindet eine Geschichte.« Das Gefühl, dass er auf seinem Stuhl herumrutscht, ein tiefer Atemzug, um übermächtige Erinnerungen zu sortieren, das Zögern, ehe man ein schmerzhaftes Thema anspricht – das alles trifft in einer ungemein prägnanten Pause zusammen: Caine ist ein Medienprofi und Interviews beherrscht er so gut wie jeder andere in diesem Geschäft.

»Es erwies sich als viel schwieriger, als man erwartet hatte, die Krone von Dal’kannith in die Finger zu bekommen. Mein Team – darunter Marade und Tizarre, die einzigen anderen Überlebenden aus Rückzug aus dem Boedecken, und außerdem Pallas Ril –, wir mussten zweimal umkehren, mit nichts als Wunden und Erniedrigung als Lohn. Berne, nun, der hatte ein eigenes Team und sie gelangten zu dem Schluss, dass sie am einfachsten an die Krone kamen, wenn sie sie uns wegnahmen.

Ich kehrte gerade von einer zweitägigen Erkundung in den Bergen zurück und hatte keine gute Laune – ich hatte dort oben einen Partner begraben müssen. Ich schleppte ein Paar Ogrillo-Bolzen mit Widerhaken mit mir rum, hatte sie mir mit einem Messer aus der Schulter und dem Oberschenkel gepult. Ich war erschöpft, halb erfroren und fand mein Lager leer vor: mit Ausnahme eines nicht gerade eloquenten Briefes von Berne. Er wollte, dass ich die Krone seinem Geliebten t’Gall überließ. Für jeden Tag, den ich ihn warten ließ, wollte er einen meiner Partner zu Tode foltern.

Das Problem war: Ich hatte die verdammte Krone nicht.

Ich kannte Bernes Ruf und verschwendete keine Zeit mit der Wahrheit. Stattdessen sorgte ich dafür, dass mir t’Gall in die Hände fiel, und verbrachte ein paar Stunden damit, ihn zu überzeugen, mir zu sagen, wo Berne meine Freunde gefangen hielt. T’Gall überlebte diese Erfahrung nicht. Ich griff Bernes Lager schnell und brutal genug an, um Pallas zu befreien, und wir beide kämpften uns einen Weg nach draußen frei.

Um Marade und Tizarre zu retten, kam ich nicht mehr rechtzeitig.

Jeder, der mehr Einzelheiten will, kann sich Wettlauf um die Krone von Dal’kannith ausleihen. Es war eine hässliche Geschichte.

Berne ist eine Seuche. Er lässt die Welt dahinsiechen. Sein Atem verpestet die Luft. Wenn ich die Gelegenheit bekomme, werde ich seinen Mitmenschen einen großen Gefallen tun. Er ist das Geschwür, ich bin das Skalpell.«

Der Screen blendet auf Jed Clearlakes eindringlich ernste Miene um. »Und inzwischen ist Berne – wie Sie womöglich wissen, Bronson – ein Graf des Imperiums und der eigentliche Kommandant der Grauen Katzen, der Elite-Einheit des Imperiums für Spezialeinsätze.«

»Das klingt nach einem ganz schönen Kampf, Jed.«

»Nun, Bronson, wir haben einen Ausschnitt …«

… und durch Caines Augen rutscht das Messer von der Haut ab, und noch einmal … die wirbelnde Desorientierung beim Hochheben und Werfen … und Berne springt über das Messinggeländer und wischt sich unter der gebrochenen Nase Blut vom Mund … Caines Monolog: *… wie jeder gute Wissenschaftler …* Ein Schnitt auf Bernes Oberschenkel. *Er hat den Blutkoller.*

»Denn wer das Schwert nimmt, der soll durch mein Messer umkommen. Das ist eine Prophezeiung, wenn du so willst.«

Das Bild friert ein, während ausgiebig magisch verstärkte Kraft und Reflexe erörtert werden, dann geht es um den merkwürdigen Effekt von ›Bernes Schutzschild‹ und scherzhafte Anspielungen wahlweise auf Caines beeindruckende Kühnheit oder außerordentliche Dummheit, es mit einem so eindeutig überlegenen Gegner aufzunehmen.

»Und unser letzter Bericht legt nahe, dass Caine verwundet und auf der Flucht durch die Exotenstadt ist, das subhumane Getto, zu dem auch das Rotlichtviertel von Ankhana gehört. Analysten des Studios erwarten, dass er versuchen wird, über die Ritterbrücke in die Altstadt vorzudringen und bei der monastischen Botschaft Zuflucht zu erbitten.«

»Eine interessante Wahl, Jed.«

»Nun, Bronson, Caine kann dort das Asylrecht in Anspruch nehmen, wenn man bedenkt, dass er technisch gesehen immer noch monastischer Bürger ist, wenn auch kein vereidigter Ordensbruder mehr.«

»Aber können die ihn tatsächlich vor dem Imperium beschützen?«

»Ganz viel hängt davon ab, wie stark der Druck wird, den die Ankhaner ausüben. Wie Sie wissen, hat Caine immer noch nicht herausgefunden, weshalb sie einen Haftbefehl und eine Belohnung für seine Ergreifung angeordnet haben. Aber ich unterstelle mal, dass die Ankhaner unter keinen Umständen Gewalt einsetzen, um einen Disput mit den Monasterien zu regeln. Wann immer das in der Vergangenheit versucht wurde, ging damit nur ein kurzzeitiger Erfolg einher, auf den bald eine entsetzliche Katastrophe folgte. Wie Caine-Fans sicher noch wissen, ging es bei etlichen seiner frühesten Abenteuer um die komplexen Racheakte der Monasterien gegen jene, die törichterweise unter dem einen oder anderen Vorwand ihre Souveränität verletzten. Ihr übliches Vorgehen in solchen Fällen ist ein scheinbares Nachgeben, nur um später extrem harte Strafen zu verhängen. In einem Reich wie dem Ankhanischen Imperium, in dem die Monasterien seit Jahrhunderten bestens etabliert sind, hat man diese Lektion auf die harte Tour gelernt. Ich glaube nicht, dass jemand aus der Regierung des Imperiums einen solchen Fehler begeht.«

Ein geglättetes, professionelles Kichern. »Also sind die Monastiker nicht ganz dasselbe wie, sagen wir, Franziskanermönche, die sich um Klostergärten kümmern und die Kranken heilen?«

»Nein, Bronson, da liegen Sie richtig.« Auch die Antwort wurde von einem leisen Lachen begleitet. »Obwohl die Monasterien einen ›Staat ohne Grenzen‹ bilden, was der katholischen Kirche im Europa vor 1000 Jahren nicht ganz unähnlich ist, sind sie eigentlich keine religiöse Organisation. Monasterium ist lediglich das Wort, das wir für den Westerling-Begriff Khrastikhanolyir benutzen, was man grob als Festung für die menschliche Zukunft übersetzen könnte. Die Monasterien sind vor allem Zentren des Lernens und dienen als Schulen für die Kinder des Adels und jene aus dem gemeinen Volk, die die Gebühren aufbringen können.

Die Monastiker bemühen sich, die geläufige Philosophie von der Brüderschaft der Menschen zu vermitteln, so was in der Art eben. Das klingt alles sehr friedlich, könnte man meinen, aber man muss sich in Erinnerung rufen: Sie predigen die Brüderschaft der Menschen in einer Welt, auf der nicht weniger als sieben intelligente humanoide Spezies und mehr als ein Dutzend intelligente nicht-humanoide Spezies nebeneinander existieren. Sie lehren auch eine Reihe sehr fortgeschrittener Kampfkünste und einige Monasterien sind für ihre Magick-Schulen weithin bekannt. Die Monasterien betreiben eine aggressive Politik und schrecken in keiner Weise vor dem Sturz einer Regierung zurück, die sie als Bedrohung für ihr langfristiges Ziel empfinden – nichts Geringeres als die Dominanz der menschlichen Rasse auf Overworld. Sie erinnern sich eventuell an Caines Abenteuer vor zwei oder drei Jahren: Ein Diener des Imperiums. Damals ermordete er auf Veranlassung des Rates der Brüder den Prinzregenten Toa-Phelathon …«

18

Ich lehne den Rollstuhl ab, den man mir anbietet, auch wenn sich die Oberschenkelwunde erneut geöffnet hat, als ich den Armbrustbolzen der Garnisonssoldaten beim Spurt über die Ritterbrücke ausgewichen bin. Jeder Schritt presst Blut aus meinem linken Stiefel wie aus einem Schwamm. Es ist ein irrationales Vorurteil, vermute ich, aber ich humple lieber völlig fertig hinter dem verwirrten Novizen her, der mich zur Krankenstation führt, als mich auf meinen Hintern zu setzen und meine Fortbewegung einem anderen zu überlassen.

Ich streife beim Gehen mit dem Handrücken über die üppigen Paneele an der Wand des Korridors. Das verleiht mir Halt bei den gelegentlichen Wellen des Schwindels, die mich immer häufiger heimsuchen, und es sorgt auch dafür, dass ich dicht genug an der Wand bleibe, damit mein Blut nicht den luxuriösen ch’rannthianischen Läufer befleckt, der den Boden ziert.

Ordensbrüder, Novizen und Schüler starren mich unterwegs an. Die meisten von ihnen schicken sich gerade an, zum Abendmahl in den Speisesaal zu gehen. Die Botschaft von Ankhana stellt ein gut besuchtes Spital bereit. Ein blutüberströmter Mann, der durch ihre Gänge humpelt, ist nichts Außergewöhnliches und zieht normalerweise nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich. Ich frage mich, wie viele von ihnen argwöhnen, wer ich bin …

Unten im Gewölbe der rappelvollen Krankenstation weiten sich die Pupillen des Heilbruders, als ich mich zu erkennen gebe: »Caine von Burg Garthan.«

»Meine Güte«, sagt er, die Lippen in affektierter Erschütterung geschürzt. »Oh du meine Güte. Der Botschafter muss …«

»Ich fordere Asyl. Ich bin ein Bürger der Menschheit und ein Diener der Zukunft. Ich habe weder Eid noch Gesetz gebrochen. Nach Gesetz und Sitte habe ich ein Anrecht auf Asyl.«

Der Heilbruder wirkt deutlich verstimmt. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich …«

»Kinderkacke. Ihr wisst genau, wer ich bin. Worauf wartet Ihr? Auf den gottverdammten geheimen Handschlag?«

Ich kann sein Gesicht wie eine Anzeigetafel lesen: Er will ohne die Zustimmung des Botschafters nichts unternehmen und sähe es am liebsten, dass ich einen Schlaganfall bekomme und hier und jetzt abkratze, bevor er mir eine Antwort geben muss. Aber ich habe ihm die übliche Formel genannt, und er kennt das Gesetz: Ihm bleibt überhaupt keine Wahl.

»Ihr seid willkommen, Caine von Burg Garthan«, verkündet er säuerlich. »Die Arme Eurer Brüder umfangen Euch und Ihr müsst keinen Fürsten der Welt fürchten. Ihr habt sicheres Asyl gefunden.«

»Klasse. Wer hat gerade Bereitschaft, um mir das verdammte Bein zu flicken?«

»Kampf oder Unfall?«

»Kampf. Hey!« Meine Laune hebt sich. »Heißt das, dass Ihr heute einen Khryllianer hier habt?«

Er nickt. Seine Lippen werden immer schmaler. »Er spendet für drei Tage seine Dienste, um niedere Buße zu tun. Zelle drei. Erwartet ihn meditierend.«

»Schon klar.«

Ich humple durch die Krankenstation und ertrage dabei die Blicke der kranken und gebrochenen Leute, die auf den blanken Holzbänken aufgereiht sitzen und warten, bis sie an die Reihe kommen. Ihr Hass prasselt in Stichen auf mich ein, die mir in etwa so wehtun wie, na ja, sagen wir, die plätschernden Tropfen eines Sommerregens.

Ich halte an der Kerzennische am Eingang des Korridors inne und nehme mir eine frische Kerze, die ich in einen Messinghalter mit beweglichem Schild zum Schutz vor dem Luftzug stelle. Aus der Lampe besorge ich mir eine Flamme und gehe weiter in den unbeleuchteten Gang hinein.

Die Gänge und Zellen der Monasterien auf der ganzen Welt verfügen über keine eigenen Lichtquellen, häufig nicht einmal über Fenster. Ein Ordensbruder muss immer sein eigenes Licht mitbringen – klar, oder? Er darf sich nie darauf verlassen, dass andere sich die Mühe machen, die Dunkelheit zurückzudrängen. Symbole, überall Symbole, um uns an unsere Heilige Mission zu erinnern.

Was für ein Scheiß!

Es gibt womöglich, möchte ich annehmen, ein paar Idealisten und andere leichtgläubige Naturen, die immer noch glauben, dass die Monasterien der Zukunft der Menschheit verpflichtet sind. Wir Übrigen wissen längst, dass ihre wahre Funktion das Erlangen und Ausüben von Macht ist: nackte Gewalt, auf politischen und anderen Wegen.

Im Lauf der Jahre bin ich von Zeit zu Zeit einer dieser anderen Wege gewesen. Und ich bin bei Weitem nicht der Einzige, genauso wenig wie ich der Beste oder Erfolgreichste bin – ich bin lediglich der Bekannteste.

Zelle drei erweist sich als rechteckiger Kasten, zweimal drei Meter, geschätzt zweieinhalb Meter hoch. Ich schließe die Tür hinter mir und lehne mich an die Wand, rutsche langsam daran herab, um mich auf den kühlen Kalksteinplatten niederzulassen, ohne dass mein Bein unter mir wegknickt. Ich stelle die Kerze neben mich auf den Boden und blicke zu dem wunderschön detaillierten Basrelief auf, das in die Abschlusswand der Zelle gemeißelt ist.

Von der langsam flackernden Flamme der Kerze zum Leben erweckt, blicken die Kalksteinaugen von Jhanto, unserem Gründervater, traurig auf mich herab. Seine hohlen Hände wiegen die Welt wie ein dünnschaliges Drachenei – als sei sie unendlich wertvoll und überraschend zerbrechlich.

»Es gab eine Zeit, da hast du mich auch verarscht, du Hurensohn«, sage ich leise. »Ich erinnere mich, wie es sich angefühlt hat, daran zu glauben.«

Und in der Ecke der Zelle steht die kleine Bronzestatue eines beeindruckend muskulösen Mannes mit fließendem Haar und durchdringendem Blick. Zu Füßen der Statue finden sich ein Opferteller und Kerzenstummel. Ein weiterer Schrein für Ma’elKoth, genauso wie der von Kierendal, aber dieser hier wird definitiv rege benutzt.

Dieser Mist mit den Schreinen wird mir langsam unheimlich.

Es dauert nicht lang, bis der Khryl-Priester auftaucht. Sein Tag zieht sich wohl etwas dahin; khryllianische Heilung funktioniert nur bei Verletzungen, die man im Kampf davongetragen hat. Er klappert in voller Rüstung durch die Tür – ich glaube, die Burschen schlafen sogar darin – und der Stahl seiner Brustplatte ist so unglaublich gut poliert, dass sie die Kerzenflamme wie Chrom spiegelt. Wir wechseln nur wenige Worte, damit er die Natur der Wunde versteht. Auch wenn ich ein Funkeln in seinen Augen erkenne, als ich ihm mitteile, dass sie von einem Oger-Hauer stammt, erlischt dieses Funkeln, sobald er erfährt, dass der Oger die Begegnung überlebt hat.

Er richtet sich hoch auf und streckt die Arme zum Beten weit aus. Ein Priester des Khryl kniet sich zum allerletzten Mal hin, wenn er in den Rang des Ritters erhoben wird. Sein Gesang hallt durch die winzige Zelle, ohne ein Ende zu finden.

Es wäre einfach, ihm seinen Glauben zu neiden, aber das tue ich nicht. Das wäre nämlich ein Vorurteil, das aus meinem anderen Leben herüberschwappt. Was er hat, ist kein Glaube, er verfügt vielmehr über sicheres Wissen: Er fühlt die Macht seines Gottes jedes Mal, wenn er betet. Ich halte das zerfetzte Leder meiner Hose weit auf, damit er die Hände auf meine Wunde legen kann.

Die abgerissenen Hautlappen, an den Rändern von gelben Fettkügelchen und zerrissenen Muskelfasern durchbrochen, ziehen sich langsam zusammen. Khryl ist ein Gott des Krieges, und seine Heilung ist für den Einsatz auf dem Schlachtfeld bestimmt – sie geht schnell und sicher vonstatten, ist aber brutal ungemütlich. Eine so tiefe Wunde benötigt eigentlich ein paar Monate, um ganz zu verheilen, und in der Zwischenzeit würde sie pochen, jucken und hin und wieder einen stechenden Schlag durch das ganze Bein schicken. Khryl-Heilung holt jeden Fetzen Unbehagen aus diesen Monaten und verdichtet sie zu fünf ewigen Minuten der Qual.

Unter diesem Ansturm schwindet meine Sicht. In meinen Ohren klingelt es und ich schmecke Blut. Es fühlt sich an, als habe er Schwefelsäure über meinem Schritt ausgegossen, die sich durch das Fleisch auf den Knochen hinabfrisst.

Vermutlich verliere ich mindestens einmal das Bewusstsein, wahrscheinlich sogar zweimal. Es ist schwer zu sagen – es scheint einfach kein Ende zu nehmen. Es wird immer wieder grau und still um mich, und jedes Mal, wenn ich zurückkomme, ist es noch nicht vorbei.

Als ich endgültig wieder zu Bewusstsein komme, bin ich allein in der Zelle und ich habe trübe Erinnerungen daran, dass der Priester gegangen ist. An der Innenseite meines Oberschenkels präsentiert sich eine gezackte V-Form aus frischem, rosafarbenem und gerunzeltem Narbengewebe. Ein tief sitzender Schmerz im Muskel fängt sofort an zu brennen, wenn ich ihn probeweise belaste, aber ich stehe trotzdem auf und dehne ihn langsam.

Müdigkeit versenkt ihre stählernen Haken in alle Muskeln und zieht sie Richtung Boden. Ich fühle mich, als sei ich schätzungsweise ein Jahr in einer Wüste ohne Essen und Wasser herumgeirrt. Was ich wirklich brauche, ist ein Stück Rind, eine Gallone Whisky und etwa drei Tage lang ein Bett. Aber ich habe einen ganzen Nachmittag verloren, während ich den verdammten Gendarmen aus dem Weg gegangen bin, und Shanna hat höchstens noch fünf Tage zu leben.

Die Gendarmen sind eventuell schon am Tor vorstellig geworden und wurden abgewiesen – es kann nicht allzu schwierig gewesen sein, mich zu verfolgen. Sie werden die Sache beobachten, aber es gibt Wege aus dieser Botschaft, von denen die Gendarmerie nichts weiß. Wenn ich mich schnell bewege, sollte es mir möglich sein, die Insel zu verlassen und zurück in den Stollen zu sein, ehe die Brücken zur Ausgangssperre hochgezogen werden.

Ich stoße die Tür an, und sie klappert lediglich leise.

Ich drücke fester dagegen. Sie bewegt sich ein Stück. Ich erkenne, dass sie von außen abgeschlossen ist.

»Hey!«, rufe ich und hämmere mit beiden Fäusten dagegen. »Öffnet das beschissene Teil!«

»Äh, Caine?« Der Junge auf der anderen Seite klingt etwas nervös, aus gutem Grund. Wenn ich in diesem Augenblick irgendwie in den Gang gelangen könnte, würde ich ihn totprügeln. »Ich muss Euch dort festhalten, nur für ein paar Minuten. Der Botschafter will Euch sehen – er, äh, will sicherstellen, dass Ihr nicht verschwindet, bevor er eine Gelegenheit bekommt, mit Euch zu sprechen.«

Und das macht jede weitere Diskussion überflüssig. Das Wort Botschafter lässt die volle Bandbreite seiner Befugnisse nicht anklingen; in allem, was Ankhana betrifft, ist er so etwas wie ein kleiner Papst. Der Junge da draußen kann dem Botschafter genauso wenig den Gehorsam verweigern, wie er zum verfickten Mond fliegen könnte. Diese Zelle ist nun auch im anderen Wortsinn eine Zelle.

Ich seufze und lehne die Stirn an das kühle Eichenholz der Tür. »Er hätte auch fragen können …«

»Äh, na ja … es tut mir leid …«

»Tja, was soll’s.«

Was Dartheln wohl von mir will? Es wird wahrscheinlich kein freundliches Geplauder – bei unserem letzten Treffen haben wir uns nicht gerade im Guten getrennt. Er hat sich der Entscheidung des Rates der Brüder in Sachen Toa-Phelathon entgegengestellt, war mit dem Prinzregenten gewissermaßen befreundet.

Dartheln ist jedoch ein Prinzipienreiter. Trotz seiner persönlichen Gefühle und grundsätzlichen Einwände hat er seinem Gehorsamseid höheren Rang eingeräumt: Er hat sich den Befehlen des Rates gebeugt und mir die volle Unterstützung durch die Ressourcen der Botschaft gewährt. Ohne ihn hätte ich es niemals geschafft. Ich habe sehr viel Respekt vor ihm, auch wenn er nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass dieses Gefühl nicht auf Gegenseitigkeit beruht.

Sie lassen mich nicht lange warten. Als die Tür nach außen schwingt, stehen vier Ordensbrüder davor und sie sind alle bewaffnet. Die kurzen, schulterhohen Stäbe, die sie tragen, sind ideale Nahkampfwaffen und ich wäre nicht überrascht, hätte ich festgestellt, dass mir jeder dieser Typen im Kampf ebenbürtig ist, oder zumindest nahezu. Sie nehmen mir meine beiden letzten Messer ab – das Wurfmesser vom Rücken und die kleine Blattklinge aus dem Stiefel. Ich habe ein ganz mieses Gefühl bei der Sache.

Sie führen mich durch den Flur weg vom Licht, sodass wir nicht durch den allgemeinen Empfangsraum der Krankenstation kommen. Wir gehen ein paar geschwungene Treppen nach oben und durch einen weiteren Gang, der so selten benutzt wird, dass wir Abdrücke im Staub hinterlassen – aber nur kurz, denn der nervöse und verwirrte Novize fegt mit einem Besen hinter uns her.

Sie öffnen mir einen kleinen Dienstboteneingang und nehmen mich beim Betreten des Raums in die Zange: jeweils zwei vor und hinter mir. Der Novize schließt die Tür hinter uns und vor seiner Nase – er bleibt draußen auf dem Gang.

Ich erkenne den Raum, auch wenn sich die Ausstattung verändert hat: Das ist die persönliche Schreibstube, gleich außerhalb der Gemächer des Botschafters. Statt der massiven dunklen Holzmöbel, wie sie von den Brüdern in Jhantoghenfels hergestellt werden, ist dieses Zimmer vollgestopft mit dem hellen, gewölbten, anmutigen Zeug, das die besten Handwerker von Ankhana fabrizieren. Jedes einzelne Stück glänzt wie eine Speckschwarte, üppiges Furnier ist mit durchsichtigem Lack überzogen.

Und in einer Ecke mit Kerzen, die zu seinen Knöcheln flackern, und Platten mit hoch aufgetürmten Opfergaben, befindet sich ein weiterer Schrein von Ma’elKoth.

Das einzige Möbelstück, das ich wiedererkenne, ist der klotzige, zerschrammte, alte Schreibtisch von der Art, wie ihn Exoteriker verwenden, um Manuskripte zu verfassen und zu vervielfältigen. Und der Mann, der dort sitzt und uns fünf den Rücken zukehrt, ist, obwohl er die Roben des Botschafters trägt, nicht Dartheln – Dartheln ist ein kräftiger Mann, der wohl schon auf die 70 zugeht, und er ist haarlos wie ein Ei. Dieser Kerl ist so dürr, dass er von einem festen Windstoß weggeweht werden könnte, und auf seinem Kopf sprießen üppige braune Locken. Er wirft einen Blick über die Schulter zurück, nickt vor sich hin und setzt den Federhalter ab.

»Caine. Ich hatte gehofft, dass du dich zuerst hier blicken lässt.« Sein Gesicht ist vertraut – diese Wangenknochen, die so scharf wirken, als könne man damit Käse schneiden –, aber es ist die Stimme, die meine Erinnerung weckt, auch wenn ich sie etwa 18 Jahre lang nicht gehört habe.

Ich blinzle. »Creele?«

Er nickt und gestikuliert mit dem Handgelenk zu einem der Stühle. »Schön, dich zu sehen. Setz dich.«

Ich nehme den angebotenen Platz an, mehr als nur etwas verwundert. Creele kam ein paar Jahre nach mir auf Burg Garthan. Ich war sein Tutor in Angewandten Sagenstoffen und Kleingruppen-Taktik. Nun ist er der Botschafter im Imperium.

Scheiße, bin ich schon so alt?

»Wie im Namen von Jhantos Faust bist du in deinem Alter an einen solchen Posten gekommen?«

Er lächelt dünn. »Der Rat ernennt nach Verdienst, nicht nach Lebensjahren.«

Das beantwortet die Frage nicht – oder doch. Der Creele, an den ich mich aus der Schule erinnere, war ein politisches Naturtalent, ein Meister darin, einem zu sagen, was man hören wollte, selbst damals schon. Ein manipulatives, kleines Stinktier, aber angenehme Gesellschaft, intelligent und witzig. Ich kann mich an viele Stunden erinnern, die wir lachend mit einer Flasche Wein verbracht haben, die wir uns aus den Kellern der Festung geklaut hatten.

Es fällt schwer, ihn anzuschauen – mein Gehirn versucht ihn so zu sehen, wie er mit 18 ausgesehen hat. Wir verschwenden keine Zeit mit Small Talk. Er kennt den Großteil meines Werdegangs bereits und ich habe nicht viel Interesse an seinem – die unausgesprochenen Einzelheiten dürften höchstens deprimierend vertraut wirken: dieses ganze hinterhältige politische Geschacher, das mich überhaupt erst von den Eiden weggetrieben hat. Und die vier bewaffneten Brüder sind immer noch da. Sie stehen bequem dicht hinter mir aufgereiht, was einer netten Plauderei einen gewissen Dämpfer verleiht.

Schnell kommt er zum Kern der Sache. Er dreht den Ring mit dem Siegel der Meisterschaft um den Finger in die richtige Position und schwenkt zu seinem für wichtige Angelegenheiten reservierten Tonfall um.

»Ich weiß nicht, von wem du angeheuert worden bist, und ich muss es nicht wissen. Aber dir sollte bewusst sein, dass der Rat der Brüder keine Handlung gegen Ma’elKoth oder gegen das Imperium im Allgemeinen toleriert.«

»Gegen Ma’elKoth?« Ich runzle die Stirn. Woher weiß er das? »Ich arbeite nicht. Das ist eine persönliche Angelegenheit.«

»Caine, du wirst dich vielleicht entsinnen, dass ich nicht dumm bin. Wir wissen, dass Ma’elKoth bei einigen kriminellen Elementen in den Reihen des Adels nicht sonderlich beliebt ist. Ich weiß, dass den Augen schon vorab bekannt war, dass du in Ankhana auftauchst, und sie haben mit nicht genauer benannten Vorwürfen einen Haftbefehl gegen dich ausgesprochen. Das liest sich, als sei dein Auftraggeber kompromittiert und als wüssten sie, was du vorhast. Und hier bist du nun. Also mach dir nicht die Mühe, mir etwas vorzuspielen.«

Ich zucke die Schultern. »Na gut.«

Er erweckt den Eindruck, als erwarte er, dass ich fortfahre. Ich starre ihn ausdruckslos an. Er schüttelt knapp und gereizt den Kopf und bewegt die Lippen, als habe er einen schlechten Geschmack im Mund.

»Du sollst wissen, dass wir Ma’elKoth unterstützen. Wir hätten auch bei sorgfältiger Wahl keinen besseren Nachfolger für Toa-Phelathon finden können. Er hat das gemeine Volk vereint wie kein Herrscher seit dem ehrwürdigen Dil-Phinnarthin mehr und dank ihm ist das Imperium zu einer stabilen Nation zusammengewachsen. Er hält die Subs an den Grenzen in Schach und die innerhalb der Grenzen kontrolliert er. Er hat ein Einvernehmen mit Lipke erzielt, das die beiden Reiche möglicherweise noch zu unseren Lebzeiten zusammenbringt.«

Während er spricht, flackert sein Blick ständig an mir vorbei zum Schrein in der Ecke, er wird davon angezogen wie eine Motte von der Kerze. »Ma’elKoth ist womöglich der wichtigste lebende Mensch – er könnte derjenige sein, der das endgültige Überleben unserer Spezies gewährleistet, kannst du das nachvollziehen? Es mag ihm gelingen, alle Menschenlande zusammenzuschließen; wenn wir aufhören, einander zu bekämpfen, werden die Subs niemals gegen uns bestehen. Wir glauben, dass er das schafft. Er ist das Ross, auf dem wir sitzen, und wir werden nicht zulassen, dass es unter uns niedergestreckt wird.«

»Wir?«

»Der Rat der Brüder. Der ganze Rat.«

Ich antworte mit einem verächtlichen Schnauben. Der Rat der Brüder als Ganzes kann sich nicht einmal darauf einigen, welchen Tag wir haben. »Ich sage es dir noch einmal: Meine Angelegenheiten in Ankhana sind persönlicher Natur.«

»Wenn du diesen Mann nur treffen könntest, würdest du es verstehen.« In seinen Augen blitzt messianisches Feuer – er ist ein Gläubiger. Er schiebt seine Hände in Richtung Schrein, als ließe er ihm Anbetung zuteilwerden. »Seine Präsenz ist an und für sich schon überwältigend, und die Macht seines Intellekts erst! Die Art, wie er das Imperium in die Hand genommen hat …«

»Indem er seine politischen Feinde ermordet«, raune ich und ein Ausdruck flüchtiger Befriedigung streicht über sein Gesicht, als hätte ich etwas zugegeben.

Vielleicht habe ich das sogar.

Oder ich bin einfach nur störrisch, aber das lässt sich nicht verhindern. Sein Tonfall unkritischer Verehrung macht es mir unwiderstehlich, ihn zu provozieren.

»Feinde von Ma’elKoth sind Feinde des Imperiums«, beharrt er. »Sie sind Feinde der Menschheit. Sollte er bei Verrätern Milde walten lassen? Macht ihn das zu einem besseren Imperator oder zu einem schlechteren?«

Ich lächle ihn an und zitiere: »›Wer eine friedliche Revolution unmöglich macht, macht eine gewaltsame unausweichlich.‹«

Er schaukelt auf dem Stuhl zurück. »Ich dachte mir schon, dass du diese Haltung vertrittst. Dartheln sagte beinahe dasselbe, nur mit anderen Worten.«

»Ja, nun, er ist ziemlich schlau«, erwidere ich. »Und er ist ein besserer Mann, als du es je sein wirst.«

Creele wedelt matt mit der Hand. »Er ist ein Fossil. Er sieht nicht, dass Ma’elKoth unsere Chance auf den kühnen Streich ist, auf den endgültigen Erfolg. Er fand, wir sollten bei unseren bewährten Methoden bleiben. Nun wendet er seine bewährten Methoden beim Getreideanbau in Jhantoghenfels an.«

Mir wird eindringlich bewusst, wie viel Zeit für das alles draufgeht. Ich beuge mich vor, stütze die Ellbogen auf die Knie und werfe ihm einen äußerst bedeutsamen Blick zu.

»Creele, hör zu. Ich freue mich für dich, dass du diesen Posten bekommen hast, und ich verstehe deine Sorge um Ma’elKoth. Aber wirklich, wenn alles, was ich über ihn höre, der Wahrheit entspräche, befände er sich in keiner großen Gefahr, selbst wenn er mein Ziel wäre. In Wahrheit ist es aber so, dass ich gehört habe, mein altes Mädchen sei hier in der Stadt. Sie ist wohl in Schwierigkeiten und ich will sie finden. Allein daran bin ich interessiert.«

»Du gibst mir dein Wort, dass du keine Handlungen gegen Ma’elKoth durchführen wirst, und auch nicht gegen jemanden aus seiner Regierung?«

»Creele …«

»Dein Wort.« Er hat die Befehlsstimme gut verinnerlicht. Sein Ton macht deutlich, dass es keine Manövriermasse gibt, um sich herauszuwinden.

Du hast mein Wort – das ist ein einfacher Satz, der leicht über die Lippen geht. Mein Wort ist nicht mehr als das, was ich bin, und es lässt sich ebenso leicht brechen, wie sich Menschen brechen lassen.

Aber es ist auch nicht weniger als das, was ich bin, und es ist genauso versessen aufs Überleben wie ich. Ich breite die Hände zu einem abschätzigen Schulterzucken aus. »Was hätte mein Wort schon zu bedeuten?« Eine rhetorische Frage. »Es legt mir keine Ketten um die Arme, die verhindern, dass meine Faust sich hebt.«

»Ich nehme an, da hast du recht.« Er wirkt müde, als wenn die Botschafter-Roben an seinen Schultern zerren wie Ankerketten an seinem Geist. Der Fanatismus, der in seinen Augen brannte, ist verschwunden, und sein Mund krümmt sich zynisch. »Ich nehme an, ich hätte es ohnehin tun müssen. Du machst es mir nur etwas leichter.«

Er erhebt sich wie ein alter Mann und geht zum Eingang der Gemächer. Mit einem kurzen, irgendwie bedauernden Blick über die Schulter zu mir löst er den Riegel und schwingt die Tür auf. »Danke, dass Ihr gewartet habt, Euer Gnaden. Caine ist hier.«

Sechs Männer in der blau-goldenen Gardeuniform der Augen des Königs marschieren in das Zimmer, an den Hüften tragen sie Kurzschwerter mit dazu passenden Dolchen. Als sie hereinkommen, spannen sie ihre kompakten Armbrüste mit dem Hahnenfuß-Mechanismus und laden die Stahlbolzen. Der siebte ist ein alltäglich wirkender Mann mit mausbraunem Haar, der eine modische, weinrote Samtbluse mit einem Bandelier aus leuchtend weißer Seide trägt. Er entbietet dem Schrein in der Ecke im Vorbeigehen ein Nicken, während er durch die Tür kommt. Das schmale, juwelenbesetzte Schwert, das an seinem Bandelier hängt, wirkt eher zeremoniell und von seiner Hand baumelt eine ausgebeulte Börse mit Zugband aus schwarzem Samt – zweifellos mein Kopfgeld.

»Creele«, merke ich an, »ich habe damals ein paar schlimme Sachen über dich gesagt und noch schlimmere gedacht, aber ich hätte nie geglaubt, dass du mich auslieferst.«

Er ist nicht einmal so gnädig, verlegen dreinzuschauen. »Ich hab dir doch gesagt«, erklärt er, »dass wir Ma’elKoth auf jede Weise helfen, die uns möglich ist.«

Der Mann in Seide tritt vor. »Ich bin Toa-Sytell, Herzog der öffentlichen Ordnung, und Ihr, Caine, seid mein Gefangener.«

Ich erhebe mich so schnell vom Stuhl, dass die Brüder hinter mir ihre Stäbe packen. Die Augen des Königs bilden einen verteidigenden Schild vor ihrem Herzog.

»Ich habe keine Zeit dafür.«

»Eure Zeit gehört mir«, erwidert Toa-Sytell ausdruckslos. »Ich habe mich verpflichtet, Euch zu Ma’elKoth zu bringen, und exakt das werde ich tun.«

Ich verschwende nicht einmal einen Blick an ihn – meine Augen richten sich ausschließlich auf Creele. Ich gehe zu ihm hinüber, dicht genug, um die vom Ruß verstopften Poren seiner Nase zu erkennen und die schwarze Tintenfischtinte, die im Siegel der Meisterschaft angetrocknet ist.

»Weißt du, es gibt nichts Gefährlicheres als einen Intellektuellen mit Macht«, sage ich leichthin im Plauderton, als befänden wir uns wie damals auf Burg Garthan, um bei einem guten Wein zu diskutieren. »Er kann jedes Verbrechen rationalisieren und er wird bestimmt nicht zulassen, dass ihm abstrakte Werte wie Gerechtigkeit, Treue oder Ehre in die Quere geraten.«

Creele errötet, ein wenig nur. »Ach, werd doch mal erwachsen! Du wusstest, dass das passieren kann. Wir können nicht erlauben, dass du Ma’elKoth in Gefahr bringst.«

»Scheiß auf Ma’elKoth.« Mit einem ungläubigen Lächeln zitiere ich Berne: »Es geht hier um dich und mich.«

»Caine …«

»Du hast das Asylrecht verletzt, Creele. Mir wurde Asyl gewährt und du hast mich in die Hände meiner Feinde ausgeliefert. Du kennst die Strafe. Hast du wirklich geglaubt, dass ich dich dafür nicht töte?«

Er seufzt, verächtlich beinahe. Sein Blick huscht zu den vier Brüdern und den sechs Augen des Königs. »Ich glaube kaum, dass ich in großer Gefahr schwebe, Caine, wenn du weißt, was ich …«

Mit einem Handkantenschlag auf seinen Nasenrücken schneide ich den Rest des Satzes ab. Der akute, betäubende Schock löst die Spannung seiner Glieder und lockert seine Halsmuskulatur. Ich lege die Hände auf seinen Kopf. Ein scharfer Ruck: Seine Halswirbel trennen sich mit dem Knirschen feuchten Treibholzes voneinander und bohren sich tief ins Rückenmark. Noch bevor jemand im Raum auch nur zusammenfährt, wälzt er sich bereits um sich tretend und zuckend auf dem Boden.

In die leere Stille hinein sage ich: »Und ich hatte noch geglaubt, dass ich den ganzen Tag rumkriegen könnte, ohne jemanden zu töten.«

Mit einem Aufschrei zerschellt die Lähmung der Brüder. Sie springen auf mich zu, ihre Stäbe erhoben – und halten vor den dumpf glitzernden Pyramidenspitzen der Armbrustbolzen inne, weil die Augen des Königs die Waffen plötzlich auf sie richten statt auf mich.

»Dieser Mann ist mein Gefangener«, verkündet Herzog Toa-Sytell, »und ich bin verpflichtet, ihn zu Ma’elKoth zu bringen.« Seine farblose Stimme lässt keinen Zweifel daran, dass er den Befehl zum Schießen erteilen wird. »Tretet zurück. Eine geladene Armbrust ist ein delikater Mechanismus. Wenn meine Männer nervös werden, könnte sich unabsichtlich ein Schuss lösen.«

Einer der Brüder, älter als die anderen, womöglich sogar in meinem Alter, streckt seinen Stab horizontal nach vorn wie eine Barriere. »Lasst uns keine Zeit verschwenden. Du, geh zum Heilbruder. Der Khryllianer kann das Leben des Botschafters eventuell noch retten.«

Der jüngere Bruder hetzt durch die Tür auf den Gang. Seine Schritte verhallen.

»Er wird es nicht schaffen«, sage ich.

Der ältere Bruder begegnet meinem Blick und zuckt die Schultern.

Ein, zwei Minuten stehen wir alle da und beobachten Creele beim Sterben.

In einigen meiner alten Bücher habe ich von gewissen Schlägen gelesen, die einen sofortigen Tod herbeiführen sollen – insbesondere einer auf die Nase, bei dem angeblich Knochensplitter aus den fragilen Nebenhöhlen durch einen der härtesten Knochen im ganzen menschlichen Körper, den vorderen Schädelknochen, ins Gehirn getrieben werden. Das ist eine kindische Wunschvorstellung, aber manchmal wünsche ich mir, dass es stimmt.

In Wirklichkeit gibt es so etwas wie sofortigen Tod nicht. Verschiedene Körperteile stellen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ihren Dienst ein, auf unterschiedliche Weise, sie beben und zittern, zucken oder entspannen sich bis hin zur Leblosigkeit. Wenn man das Pech hat, dabei bei Bewusstsein zu sein, muss es eine ziemlich grässliche Erfahrung sein.

Creele ist bei Bewusstsein.

Er kann nicht sprechen, denn sein Kehlkopf ist zersplittert, als ich ihm den Hals gebrochen habe, und seine Lunge füllt sich mit Blut, aber er blickt zu mir auf. In seinen Augen spiegelt sich blankes Entsetzen. Er fleht mich an, ihm zu sagen, dass das nicht passiert, nicht ihm, nicht jetzt, während er spürt, wie er herumschnellt und bebt, und dabei riecht, wie Eingeweide und Blase sich entleeren. Aber es ist zu spät und ich nähme es selbst dann nicht zurück, wenn ich könnte.

Manchmal fragen sterbende Menschen, entweder mit Worten oder mit den Augen: Warum? Warum ich? Creele fragt nicht; er kennt die Antwort: Weil ich ein altmodischer Typ bin, darum.

»Ihr seid ein außerordentlich tödlicher Mann«, meint Toa-Sytell nachdenklich. »Macht Euch keine Hoffnung, dass Ihr auch nur auf Armeslänge an mich herankommt.«

Unsere Blicke kreuzen sich und wir schätzen einander ab.

Auf seinen Lippen zeigt sich der Hauch eines Geisterlächelns und er blickt auf Creeles ruhiger werdenden Körper. »Es geschieht so selten, dass es beinahe einmalig ist, einen Menschen zu treffen, der seinem Ruf gerecht wird. Wer, meint Ihr, ist gefährlicher: der Intellektuelle« – sein Blick huscht noch einmal nach oben, um mich anzusehen – »oder der Idealist?«

»Beleidigt mich nicht. Oder ihn.«

»Hm.« Er nickt. »Dann machen wir uns auf den Weg.«

Einer der jüngeren Brüder meldet sich zu Wort, seine Stimme klingt gefasst und unerbittlich. »Ihr werdet niemals sicher sein, Caine von Burg Garthan. Es gibt keinen Ort, an dem Ihr Euch vor der monastischen Rache verstecken könnt.«

Ich blicke dem älteren Bruder in die Augen. »Er hat das Asyl verletzt. Ihr habt es gesehen.«

Er nickt.

»Und Ihr werdet die Wahrheit sprechen.«

Wieder nickt er. »Ich opfere nicht meine Ehre, indem ich für solch einen Mann lüge.«

Toa-Sytell lässt die schwarze Samtbörse neben Creeles Körper zu Boden fallen. Ein Goldroyal springt klimpernd aus der Öffnung der Börse und rollt in einem langsamen, trägen Kreis um Creeles Kopf, wobei er an den Füßen der Brüder vorbeikommt. Alle Blicke folgen ihm ausdruckslos und einen Moment lang regt sich niemand, während er klingelnd zur Ruhe kommt.

»Zumindest kann er sich eine prunkvolle Totenwache leisten …«, kommentiert Toa-Sytell mit dieser farblosen Stimme.

Er macht eine Geste und die Augen des Königs schwingen ihre Armbrüste nach oben zu einem Punkt über meinem Kopf, wo sie mich nicht umbringen werden, wenn jemand unabsichtlich den Mechanismus auslöst. Beim Gehen kann ich das lauter werdende Klappern hören, als der Heilbruder und der khryllianische Priester eintreffen, viel zu spät.

Da Creele tot ist, verfügt niemand über die Befehlsgewalt, einen Herzog des Imperiums und seine Männer aufhalten zu lassen, und daher marschieren wir geradewegs aus dem Vordereingang der Botschaft, ohne dass es zu einem Zwischenfall kommt.

Gleich außerhalb platzieren sie mich äußerst professionell auf der Straße, um mir Handfesseln und ein Fußeisen anzulegen. Die Pflastersteine sind kalt und glänzen feucht. Ich verzichte auf die Mühe, mich zu wehren. Es ist ganz offensichtlich, dass keiner von ihnen etwas dagegen hätte, mir einen Bolzen durchs Knie zu schießen, wenn ich zu irgendeinem törichten Ausfall ansetze. Toa-Sytell persönlich hilft mir beim Aufstehen und wir brechen auf.

Langsam marschieren wir über den Weg der Götter auf den Colhari-Palast zu. Der Mond geht auf und legt ein Austernschalenglühen über den nebligen Nieselregen, der mit Anbruch der Nacht in den Straßen aufgezogen ist. Die Tropfen polieren das Kopfsteinpflaster und zeichnen mir mit kühler Feuchte die Stirn. Es ist schwierig, mit der schabenden Stange der Fußeisen zwischen den Knöcheln zu laufen, und Toa-Sytell hält die Ketten, die an ihrem Ende angebracht sind, fest in der Faust. Niemand scheint etwas zu sagen zu haben.

Ich rechne mir aus, dass es etwa fifty-fifty steht, ob der Rat der Brüder als Vergeltung für Creeles Tod meinen Tod befiehlt. Scheiße, die Typen sollten mir einen Orden verleihen. Die Eide des Asyls gehören zu den heiligsten Schwüren, die ein Bruder jemals ausspricht, und ihre Verletzung wird für gewöhnlich mit dem Tod bestraft.

Aber damit suche ich nur nach einer rationalen Erklärung, denke mir eine Verteidigung vor einem imaginären monastischen Richter aus.

In Wahrheit hätte ich ihn sowieso getötet: dafür, dass er mich verraten hat, mich von Shanna ferngehalten hat, dafür gesorgt hat, dass die Henkersaxt ihrem Kopf wieder ein Stück näher rückt.

Niemand, niemand, der das tut, wird überleben.

Und der glitzernde Bogen des Dil-Phinnarthin-Tores ragt auf und glänzt silbern durch den Nebel. Der eindrucksvolle Turm des Colhari-Palastes erhebt sich dahinter. Toa-Sytell gibt sich einem wartenden Hauptmann zu erkennen. Das Tor schwingt weit auf und wir gehen auf den Bogen zu.

Hm. Nun, ich muss zumindest nicht eine Menge Zeit verschwenden, um herauszufinden, wie ich in den Palast gelange. Vielleicht lässt sich daraus …

19

»Administrator? Äh, Administrator Kollberg?« Die Stimme von Arturo Kollbergs persönlichem Sekretär drang als gedämpftes, beinahe andachtsvolles Flüstern durch den Screenlink.

Kollberg schluckte – er wusste durchaus, was dieser Tonfall vermutlich zu bedeuten hatte. Rasch fegte er die Krümel seines Abendessens vom Tisch, fuhr sich mit einer Serviette wild über den Mund und wischte die Hände so sorgfältig ab, wie es ihm möglich war. Er holte tief Luft, um sein stotterndes Herz zu beruhigen. »Ja, Gayle?«

»Administrator, auf Leitung eins, da ist Genf.«

Nachdem Caine den Palast-Bereich betreten hatte und seine Transferverbindung unterbrochen wurde, hatte Kollberg Tausende von Kleinigkeiten auf einmal erledigen müssen – von der Anweisung, den Nährtropf der Firsthander anzupassen, bis hin zu redaktionellen Entscheidungen für den Clip, der bei Adventure Update veröffentlicht wurde. Nachdem es zur Abschaltung kam, gingen alle Firsthander auf der ganzen Welt in einen automatischen SenDep-Zyklus über. Anrufe von den technischen Leitern der verbundenen Studios überall auf dem Globus hatten den Kommunikationsnexus des Studios überflutet. Die Bandbreite reichte von Neugier bis hin zu ausgewachsener Panik. Inmitten des herrschenden Chaos und der Verwirrung hatte sich Kollberg konsequent dem Drang widersetzt, sich allen Problemen auf einmal zu widmen.

Zuallererst hatte er einen Anruf beim Board of Governors des Studios in Genf getätigt.

Während er auf den Rückruf wartete, wandte er sich anderen Sachen zu. Es hatte nur eine gute Stunde gedauert, die anderen Studios zu besänftigen, Caines Firsthander in friedliche, induzierte Schlafzyklen übergehen zu lassen, ein Abendessen zu bestellen und andere unerledigte Arbeit aufzuholen. Es galt, ein paar Marketingentscheidungen für zwei von San Franciscos weniger bedeutenden Stars zu treffen und sich um die Terminplanung einer aufstrebenden Akteurin zu kümmern. Das war mehr oder weniger seine Art, sich vorzumachen, dass Aus Liebe zu Pallas Ril nicht seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte.

Aber nun klumpte sich das Abendessen in seinem Bauch zusammen und er versuchte, sich die Anspannung aus den Schultern zu schütteln. Alles für Caine, alles für Caines Erfolg. Wenn Michaelson gewusst hätte, wie hart Kollberg schuftete, was Kollberg sich alles aufbürdete, um ihn perfekt zu betreuen!

Er drückte den Knopf für Leitung Eins und auf seinem Bildschirm leuchtete das Logo von Adventures Unlimited auf: ein Ritter in Rüstung, der ein Schwert schwang und auf dem Rücken eines steigenden geflügelten Pferdes saß. Der Monitor gab keine visuelle Übertragung frei. Dazu kam es nie, wenn das Board of Governors anrief.

Die modulierte, künstlich neutrale Stimme begann ohne Einleitung: »Wir besprechen gerade Ihren Antrag auf die Vollmacht für einen Nottransfer. Es gibt einige Bedenken, die Sie für uns ausräumen sollen.«

Das Board of Governors hatte eine wechselnde Zusammensetzung von sieben bis 15 hochrangigen Opulenten, denen die Verantwortung oblag, die Politik des Studiosystems als Ganzes festzulegen. Man konnte die Entscheidungen des Boards nicht anfechten und man konnte nicht politisieren oder ein Mitglied gegen das andere ausspielen, da niemand außerhalb des Boards wirklich wusste, wer zu einem gegebenen Zeitpunkt gerade im Board saß. Der leere Bildschirm und die künstliche Stimme verhinderten, dass Kollberg auch nur eine Ahnung hatte, mit wem er sprach. Kollberg war ziemlich sicher, dass aktuell ein Saud im Board saß, außerdem ein Walton und ein Windsor, aber dieses Wissen brachte ihn nicht weiter. Es half ihm nicht dabei, die Lippen zu befeuchten oder seine Stimme unter Kontrolle zu bringen.

Rasch, beinahe atemlos, haspelte er seine vorbereitete Rede herunter. »Basierend auf Caines Erfahrung beim letzten Mal, als er den Colhari-Palast bei einer Mission betreten hat, glaube ich, dass die Vollmacht für einen Nottransfer eine angemessene Vorsichtsmaßnahme darstellt, um das Leben und die Profitabilität eines herausragenden Stars zu schützen. Tatsächlich dürften wir wegen der Trennung der Transferverbindung und des Übertragungsverlusts nicht einmal den üblichen Todessprung bei den Verkäufen seines Abenteuers …«

»Das Leben dieses Akteurs oder seine Profitabilität interessiert uns nicht sonderlich. Unsere Bedenken betreffen weitaus schwerwiegendere Aspekte.«

Kollberg blinzelte. »Ich, äh, bin mir nicht sicher, dass ich …«

»Sie haben uns persönlich versichert, Administrator, dass die Ausschaltung dieses Imperators von Ankhana unpolitisch erfolgt.«

Er schluckte und fragte vorsichtig: »Unpolitisch …?«

»Wir haben von Anfang an auf Ihr Urteil im Hinblick auf dieses jüngste Abenteuer von Pallas Ril vertraut. Verstehen Sie, welche Gefahr es beinhaltet, zuzulassen, dass eine Heldin gezeigt wird, die gezielt die Arbeit der Zivilbehörden untergräbt? Welche Gefahr es beinhaltet, ihre Fans dazu zu ermutigen, ihr zuzujubeln, während sie einer rechtmäßig gebildeten Regierung trotzt?«

»Aber, aber sie, na ja, sie rettet unschuldige Leben … Das ist doch gewiss ein akzeptables Thema für …«

»Schuld oder Unschuld ist irrelevant, Administrator. Diese Eingeborenen wurden entsprechend den Regeln ihrer Gesellschaft verurteilt und die Regierung, der Pallas Ril die Stirn bietet, ist rechtmäßig installiert. Möchten Sie etwa die Verantwortung für die Handlungen ihrer Nachahmer auf der Erde übernehmen?«

»Aber, aber, aber, ich denke doch wohl kaum …«

»Genau. Sie denken kaum. Es ist zehn Jahre her seit den Kastenaufständen, Administrator. Haben Sie nichts daraus gelernt? Haben Sie vergessen, wie brüchig das gesellschaftliche Gewebe oft ist?«

Kollberg hatte es nicht vergessen. In jenen schrecklichen Tagen hatte er sich in seiner Eigentumswohnung in den Gibraltar-Wohnanlagen verschanzt.

Ein charismatischer Akteur aus den Top Ten namens Kiel Burchardt hatte unabsichtlich die Kastenaufstände ausgelöst, während er auf Overworld predigte. Er hatte einen Priester von Tyshalle-Todesgott gespielt und die Botschaften von radikaler Freiheit und persönlicher Verantwortung, die er verkündete, um einen Bauernaufstand gegen die Raubritter von Jheled-Kaarn anzufachen, waren zu den Parolen und Slogans spontaner Unruhen in Städten auf der ganzen Welt geworden. Unzufriedene Arbeiter hatten sich gegen die oberen Kasten, die mittleren Kasten und schließlich gegen sich selbst gewandt.

Zum Glück war Burchardt von einem jener Raubritter zur Strecke gebracht worden, während er einen Angriff auf dessen Festung führte. Die schnellen Eingriffstruppen der Sozialpolizei hatten schließlich die Aufständischen zermalmt, aber die Kastenaufstände blieben dennoch eine ernüchternde Erinnerung an den hypnotisierenden Einfluss, den Akteure auf ihr Publikum ausüben konnten.

»Aber«, setzte Kollberg erneut an und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß ab, der auf seiner Oberlippe aufwallte, »aber sie ist gescheitert, sehen Sie? Und sie braucht Caine – den vollkommen unpolitischen Caine –, um sie entweder zu retten oder ihren Tod zu rächen.«

»So lautete unsere Abmachung. Aber wie erklären Sie sich dann das hier?«

Das Logo des Studios verschwand vom Bildschirm, wich dem Gesicht des monastischen Botschafters, wie man es aus Caines Perspektive sah, und Caines aufgezeichnete Stimme dröhnte aus dem Lautsprecher: »›Wer eine friedliche Revolution unmöglich macht, macht eine gewaltsame unausweichlich.‹«

Kollberg dachte, oh du meine Güte. Oh mein Gott.

Das Logo kehrte zurück. »Das war eine entschieden politische Botschaft, um nicht zu sagen: subversiv. Wir stufen sie sogar als verräterisch ein. Wissen Sie, wen er da zitiert hat?«

Er schüttelte hastig den Kopf. »Nein, nein, nein, ich habe keine Ahnung.«

»Gut.«

Kollberg blickte nach unten. Dunkle Schweißflecken tränkten seine Hose dort, wo er seine zitternden Hände abgelegt hatte. Er verschränkte die Finger ineinander und drückte, bis sie wehtaten. »Ich, äh, ich habe diese Szene firsthand laufen lassen, wissen Sie, und ich glaube nicht, dass Caine das als politisches …«

»Ist Ihnen die verderbliche Wirkung klar, wenn man es einem Akteur mit Caines Beliebtheit und Einfluss gestattet, politisch motivierte Gewalt gegen eine autoritäre Regierung zu richten? Ihm zu erlauben, in seinem Monolog den Umsturz eines Polizeistaates vor sich selbst zu rechtfertigen? Das klingt wie ein Echo der Burchardt-Sache. Falls diese Haltung auf der Erde Parallelen findet, ist das der reinste Brandbeschleuniger.«

»Aber, aber wirklich …«

»Caine schwört oft auf Tyshalle, den Gott, dessen Botschaft auch Burchardt gepredigt hat.«

Kollberg sagte nichts. Was sollte er darauf auch antworten?

»Caine hat angefangen, subversive Sozialkritik zu üben.«

»Was?«

Noch einmal veränderte sich der Bildschirm, diesmal zu der Szene vor Caines Augen, als er durch das ausgebrannte Grenzland des Königreichs der Zinken wanderte. Caines Monolog: *Unsere Drohnen sind im Grunde schlimmer. Bei den Zombies kann man den verschütteten Funken des Lebens – Intelligenz, Willen, was auch immer – nämlich nicht erkennen, der die Drohnen auf so tragische Weise unheimlich macht.*

Wieder das Logo. »Drohnen sind verurteilte Straftäter, Administrator, die cyborgisiert werden, um die Gesellschaft für ihre Verbrechen zu entschädigen. Das könnte man als Mitleidsappell auffassen, dass der Tod einem Leben als Drohne vorzuziehen ist.«

»Aber der Monolog …«

»Der Tod mag für sie das Beste sein, aber für uns ist ihr Tod nicht besser. Drohnen stützen einen gewichtigen Teil unserer Weltwirtschaft.«

»Der Monolog«, wiederholte Kollberg energischer, und in seinem Bauch rumorte es angesichts dieser Kühnheit, »ist ein reiner Bewusstseinsstrom. Er macht zum Teil Caines Erfolg und seine Wirkung als Akteur aus. Er spiegelt seine emotionalen und instinktiven Reaktionen genauso wie seine rationalen Denkprozesse wider – wenn er innehalten und die politischen Implikationen eines jeden Gedankens bedenken muss, ruiniert man damit seine Darbietung!«

»Seine Darbietung ist nicht unser Problem. Vielleicht sollte man Akteure finden, deren emotionale und vorbewusste Reaktionen einen höheren Grad an sozialer Verantwortung aufweisen.«

Es entstand eine Pause, dann fuhr die neutrale Stimme langsamer fort. »Wissen Sie, dass Duncan Michaelson, Caines Vater, seit mehr als zehn Jahren in der Stilllegungsanstalt des Buchanan-Soziallagers zu finden ist? Die Saat fällt nicht weit vom Stamm, Administrator.«

Kollbergs staubtrockene Zunge klebte am Gaumendach. Ein einzelner Schweißtropfen perlte ihm stechend ins linke Auge. Er blickte nach unten, blinzelte gegen die Tränen an, die der Schweiß auslöste, und biss sich fest auf die Zunge, um den Mund zu befeuchten, damit er wieder etwas sagen konnte. »Was erwarten Sie von mir?«

»Wir genehmigen den Nottransfer. Sie werden feststellen, dass der Notfallcode in Ihrem Technikraum der Cavea bereits aktiviert ist. Wir haben in Betracht gezogen, Caine sofort zurückzuholen, aber wir sind uns der potenziellen Profitabilität dieses Abenteuers durchaus bewusst.«

Die Stimme wurde härter. »Es wird keine weiteren Andeutungen auf Umstürze in diesem Abenteuer mehr geben, ist das klar? Wir weisen Sie persönlich an, jede Sekunde zu überwachen. Delegieren Sie alle anderen Verantwortlichkeiten. Sie werden direkt für den politischen und gesellschaftlichen Inhalt dieses Abenteuers verantwortlich gemacht. Wenn Caine Ma’elKoth tötet oder bei dem Versuch stirbt, wird es das Ergebnis einer persönlichen Vendetta sein, verstehen Sie? Es wird keine weitere Diskussion wie auch immer gearteter politischer Motive geben. Und Caines Vertrag kommt an keiner Stelle zur Sprache. Das Geschäftsmodell des Studios besteht nicht darin, Attentate zu sponsern. Wir sorgen für Unterhaltung, nicht mehr und nicht weniger. Ist das klar?«

»Ist mir klar.«

»Hier steht nicht nur Ihre Karriere auf dem Spiel, Administrator. Jede ernsthafte Übertretung dieser Direktive wird zur Untersuchung an die Sozialpolizei weitergeleitet.«

Die Kälte, die sich in seiner Brust ausbreitete, fühlte sich an, als hätte jemand einen Dolch aus Eis in sein Herz gleiten lassen. »Ich verstehe.«

Der Bildschirm schaltete sich ab.

Kollberg saß da und starrte die flache graue Dunkelheit lange, lange an. Dann zuckte er jäh zusammen wie jemand, der aus einem Albtraum aufwacht – Caine konnte womöglich bereits wieder aus dem Palast gekommen sein, konnte erneut online sein, etwas tun oder sagen oder denken, das Kollbergs Leben zerstörte.

Ruckartig kam er auf die Beine und wischte sich Krümel vom Kittel. Er strich sein bleiches Haar mit dem Schweiß von seinen Handflächen zurück und quälte sich zur Tür seiner persönlichen Box.

Michaelson hatte ihn gestern bedroht. Heute ging die Bedrohung von Caine aus. Es wurde Zeit, entschied Kollberg, dem kleinen Bastard eins auf die Finger zu geben.

Liefer mir nur einen Grund, der vor dem Board standhält, dachte er. Nur eine Ausrede. Dann siehst du schon, was du davon hast. Dann spürst du es am eigenen Leib.