Siebtes Kapitel
Im Sommer darauf wurden wir dreizehn, zuerst er, dann ich. Wir wuchsen, und es zerrte uns in den Gelenken, dass es wehtat. Mit meinen dünnen Storchenbeinen und dem spitzen Kinn erkannte ich mich in Peleus’ blank poliertem Bronzespiegel kaum wieder. Achill war noch größer als ich. Er schoss regelrecht in die Höhe, was vielleicht vom göttlichen Blut herrührte, das durch seine Adern floss.
Auch die anderen Jungen wuchsen heran. Hinter verschlossenen Türen hörte man manchmal ein unterdrücktes Stöhnen, und so mancher Schatten huschte kurz vor Sonnenaufgang zurück ins eigene Bett. In unseren Ländern war es gang und gäbe, dass sich ein Mann eine Frau nahm, noch bevor ihm ein Bart wuchs. Und man kann sich denken, wie viel früher er einem Dienstmädchen beiwohnte. Es wurde geradezu von ihm erwartet. Nur wenige Männer stiegen ins Ehebett, ohne vorher solche Erfahrungen gemacht zu haben. Wer darauf verzichten musste, war übel dran, weil er entweder zu schwach war, um sich zu behaupten, zu hässlich, um zu betören, oder zu arm, um bezahlen zu können.
An einem Fürstenhof gab es normalerweise zahlreiche adlige Frauen im Gefolge der Königin, und für einen Fürsten war es die Regel, dass er eine Frau aus gleichem Stand hatte und zudem Kebsweiber für Liebesdienste. Peleus aber hatte keine Gemahlin, und so waren fast alle Frauen, die wir im Palast sahen, Sklavinnen, entweder auf dem Markt gekauft, auf Kriegszügen geraubt oder solche, die im Palast schon zur Welt gekommen waren. Tagsüber schenkten sie Wein aus, sorgten für Ordnung und bereiteten die Mahlzeiten zu. Nachts gehörten sie den Soldaten, den Pflegejungen, Gästen des Hauses oder dem König höchstselbst. Wenn ihnen die Bäuche schwollen, musste sich niemand schämen; im Gegenteil, es war ein Gewinn: noch mehr Sklaven. Diese Zusammenkünfte waren nicht immer erzwungen, manchmal war auch gegenseitige Zuneigung im Spiel. Zumindest redeten sich das die Männer ein.
Für Achill oder auch mich wäre es ein Leichtes gewesen, das eine oder andere Mädchen ins Bett zu locken. Mit unseren dreizehn Jahren war es längst an der Zeit, vor allem für ihn, da Prinzen für ihren Appetit bekannt waren. Stattdessen aber begnügten wir uns damit, den anderen Jungen zuzusehen, wie sie die Mädchen zu umgarnen versuchten, wobei ihnen nicht selten Peleus zuvorkam, um die Hübscheste für sich zu beanspruchen. Einmal hörte ich, wie der König eines dieser Mädchen seinem Sohn anempfahl, doch Achill antwortete nur, fast schüchtern, dass er müde sei. Als wir später in unsere Schlafkammer gingen, wich er meinen Blicken aus.
Und ich? Ich war schüchtern und zurückhaltend, außer im Beisein von Achill. Ich brachte es kaum über mich, mit anderen Jungen zu reden, geschweige denn mit einem Mädchen. Als Gefährte des Prinzen hätte ich wahrscheinlich gar nicht viel sagen müssen; ein Blick oder eine Geste hätte wohl genügt. Aber so etwas fiel mir gar nicht erst ein. Die Gefühle, die mich nachts beschlichen, schienen sonderbarerweise weit entfernt zu sein von den gehorsamen Dienstmädchen, deren Gesichter oft einen dumpfen Ausdruck annahmen, wenn sie beim Weineinschenken von einem der Jungen begrabscht wurden. Damit hatte ich nichts im Sinn.
Eines Abends waren wir bis spät in die Nacht hinein in Peleus’ Kammer. Achill lag am Boden und hatte seinen Arm als Kissen unter den Kopf geschoben. Ich saß auf einem Stuhl. Nicht, dass ich vor Peleus diese förmlichere Haltung hätte einnehmen müssen. Es behagte mir einfach nicht, meine langen Beine auszustrecken.
Die Augen des alten Königs waren halb geschlossen. Er erzählte uns eine Geschichte.
»Meleager war der tapferste Krieger seiner Zeit, aber auch der stolzeste. Er verlangte immer das Beste, und weil ihn sein Volk liebte, bekam er es auch.«
Mein Blick wanderte zu Achill hinüber. Seine Finger bewegten sich kaum merklich in der Luft, so wie immer, wenn er ein neues Lied ersann. Die Geschichte über Meleager hatte er, wie mir schien, schon etliche Male gehört.
»Doch eines Tages sagte der König von Kalydon: ›Warum müssen wir so viel an Meleager abtreten? In meinem Reich gibt es noch andere verdienstvolle Männer.‹«
Achill drehte sich zur Seite, wobei sich sein Leibrock eng um seine Brust legte. Am selben Tag hatte ich gehört, wie ein Dienstmädchen einer Freundin zuflüsterte: »Mir war, als hätte mich der Prinz beim Essen angesehen.« Sie hatte hoffnungsvoll geklungen.
»Meleager hörte die Worte des Königs und erzürnte sich.«
Am Morgen war Achill aus dem Bett gesprungen. Er hatte seine Nase auf meine gedrückt und mir einen guten Morgen gewünscht. Ich erinnerte mich an seinen heißen Atem auf meiner Haut.
»Er sagte: ›Ich werde nicht länger für dich kämpfen‹, ging zurück in sein Haus und suchte Trost in den Armen seiner Frau.«
Ich spürte eine Berührung am Fuß. Es war Achill. Er grinste mich vom Boden aus an.
»Kalydon wurde von mächtigen Feinden bedrängt, und als diese hörten, dass Meleager nicht mehr für sein Land kämpfen wollte –«
Ich stupste ihn neckend mit den Zehen, worauf er mein Fußgelenk packte.
»Sie griffen an, und die Stadt Kalydon erlitt schreckliche Verluste.«
Achill zerrte so heftig an meinem Fuß, dass ich fast vom Stuhl gerutscht wäre, hätte ich mich nicht noch rechtzeitig an der Sitzfläche festgehalten.
»Daraufhin versammelte sich das Volk vor Meleager und bat ihn um Hilfe. Und – Achill, hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, Vater.«
»Nein, das tust du nicht. Du triezt unseren armen Glaukos.«
Ich versuchte den Eindruck zu erwecken, als schmollte ich, und spürte die Kühle am Fußgelenk, auf dem einen Moment zuvor noch seine Hand gelegen hatte.
»Na schön, brechen wir an dieser Stelle ab. Ich bin müde geworden. Wir werden die Geschichte ein andermal fortsetzen.«
Wir standen auf und wünschten dem alten Mann eine gute Nacht. Als wir uns zum Gehen wandten, sagte er: »Achill, du solltest mal einen Blick auf das Mädchen aus der Küche werfen, das mit den blonden Haaren. Wie ich höre, lauert sie dir auf.«
Vielleicht lag es am Feuerschein, dass Achills Gesicht plötzlich so verändert aussah.
»Mal sehen, Vater. Jetzt bin ich zu müde.«
Peleus kicherte wie über einen Scherz. »Sie könnte dich bestimmt wieder munter machen.« Er verabschiedete uns mit einer kleinen Handbewegung.
Auf dem Weg zurück in unsere Kammer musste ich einen Schritt zulegen, um mitzuhalten. Wortlos wuschen wir unsere Gesichter. Ich verspürte einen Schmerz, der mir zusetzte wie Zahnweh.
»Dieses Mädchen – gefällt es dir?«
Er wandte sich mir zu. »Wieso? Hast du etwa ein Auge auf sie geworfen?«
»Nein, nein.« Ich errötete. »Darum geht’s nicht.« Ich fühlte mich wieder so verunsichert wie in den ersten Tagen. »Ich meine, wirst du –«
Er stürzte herbei, stieß mich auf mein Lager und beugte sich über mich. »Kein Wort mehr über sie, ich bin es leid«, sagte er.
Mir wurde ganz heiß. Seine Haare fielen auf mich herab, und ich roch nur ihn. Seine Lippen schienen nur einen Fingerbreit von meinen entfernt zu sein.
Und plötzlich, wie schon am Morgen, rückte er wieder von mir ab und kehrte auf seine Seite der Kammer zurück, wo er einen letzten Schluck Wasser trank. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung.
»Gute Nacht«, sagte er.
In der Nacht beschleichen mich Bilder, Traumgespinste voller Zärtlichkeit, aus denen ich zitternd erwache. Aber die Vorstellungen bleiben und drängen sich auf, der Blick auf einen Nacken in flackerndem Feuerschein, die Wölbung einer Hüfte, glatte, kräftige Hände, die nach mir greifen. Ich kenne diese Hände, doch selbst hier, hinter meinen geschlossenen Lidern, kann ich nicht benennen, worauf ich hoffe. Bei Tag werde ich rastlos und zappelig, und wenn ich auch noch so viel laufe, singe und auf den Feldern umherziehe, lassen sich diese Bilder nicht zurückweisen. Sie kommen und nehmen kein Ende.
Es ist Sommer, einer der ersten schönen Tage. Wir sind nach dem Mittagessen an den Strand gegangen und lehnen mit dem Rücken an einem Stück Treibholz. Die Sonne steht hoch am Himmel, und ein warmer Lufthauch zieht über uns hinweg. Achill rührt sich, und sein Fuß berührt meinen. Er ist kühl und ein wenig aufgeraut vom Sand, aber noch weich vom Winter, den wir hauptsächlich im Palast verbringen. Er summt etwas vor sich hin, ein Lied, das ich ihn schon auf der Leier habe spielen hören.
Ich betrachte ihn. Sein Gesicht ist glatt, ohne jene Unreinheiten und Flecken, unter denen die anderen Jungen zu leiden haben. An ihm ist nichts, was plump, unförmig oder aus dem Gleichgewicht geraten wäre. Im Gegenteil, seine Gesichtszüge sind wie mit fester, sicherer Hand modelliert.
Er bemerkt, dass ich ihn mustere. »Was ist?«, fragt er.
»Nichts.«
Ich kann ihn riechen, das Öl, mit dem er sich die Füße einreibt, den Duft von Granatapfel und Sandelholz, das Salz von frischem Schweiß und die Hyazinthen, durch die wir gegangen sind. Und ich nehme seinen unverkennbaren Geruch wahr, den, mit dem ich schlafen gehe und aufwache. Ich kann ihn nicht beschreiben. Er ist süß, aber nicht nur das, kräftig, aber nicht zu kräftig. Ein bisschen wie Mandeln, doch das trifft es nicht ganz. Manchmal, wenn wir miteinander gerungen haben, riecht auch meine Haut so.
Er stützt sich auf einer Hand ab. Die Muskeln im Arm wölben sich, wenn er sich bewegt. Seine grünen Augen ruhen auf mir.
Mein Herz macht einen Satz, ich weiß jedoch nicht so genau, warum. Er hat mich schon tausend Mal angesehen, aber jetzt liegt etwas anderes in seinem Blick, eine Intensität, von der ich bislang nichts wusste. Mein Mund ist trocken und ich kann mich schlucken hören.
Er beobachtet mich. Es scheint, als wartete er auf etwas.
Ich rücke auf ihn zu, ein winziges Stück nur, aber es ist wie der Sprung von einer Klippe. Ich weiß selbst nicht so recht, was ich tue, und beuge mich vor. Unsere Lippen treffen aufeinander, wie dicke Hummeln, weich und rund und schwer von Pollen. Ich schmecke seinen Mund, den süßen Honig, den es zum Nachtisch gab. Mein Inneres gerät in Aufruhr, und in meinem Körper regt sich ein warmes Wonnegefühl. Mehr.
Es schockiert mich, wie schnell und heftig mein Verlangen aufkeimt. Ich schrecke zurück und sehe seinen Mund noch geöffnet, halb zum Kuss geformt. Seine Augen sind vor Verwunderung weit geöffnet.
Entsetzen packt mich. Was habe ich getan? Mir bleibt keine Zeit, mich zu entschuldigen, denn er weicht zurück und steht auf. Seine Miene ist verschlossen, undurchdringlich und entfernt. Mir bleiben die Worte, die ich zur Erklärung vorbringen will, im Halse stecken. Er wendet sich ab und rennt über den Strand davon, der schnellste Junge der Welt.
Mir wird kalt ohne ihn an meiner Seite. Meine Haut fühlt sich an wie ein gespanntes Trommelfell. Mir brennt das Gesicht, und ich weiß, dass es rot ist.
Ich flehe die Götter an: Lasst ihn mich nicht hassen.
Wie töricht, dass ich mich ausgerechnet an sie wende.
Als ich in den Pfad einbog, der zum Garten führte, stand sie plötzlich vor mir, in aller Klarheit. Ein blaues Kleid, durchnässt, wie es schien, klebte auf ihrer Haut. Die schwarzen Augen waren auf mich gerichtet, und eine gespenstisch weiße Hand griff nach mir.
»Ich hab’s gesehen«, zischte sie, und es klang, als brächen Wellen am Fels.
Ich konnte nichts sagen. Sie hielt mich an der Kehle gepackt.
»Er wird gehen.« Ihre Augen waren jetzt schwarz wie nasse Steine. »Ich hätte ihn schon längst wegschicken sollen. Untersteh dich, ihm zu folgen.«
Ich bekam keine Luft mehr, hütete mich aber, Widerstand zu leisten. Es schien, als wollte sie mir noch etwas sagen, doch sie schwieg und ließ von mir ab. Wie eine Stoffpuppe sackte ich kraftlos zu Boden.
Der Wunsch einer Mutter. In unseren Ländern gab man darauf nicht viel, doch sie war eine Göttin.
Es war schon dunkel, als ich zurückkehrte. Achill saß auf dem Bett und starrte auf seine Füße. Er hob den Kopf, fast hoffnungsvoll, als ich zur Tür hereinkam. Ich sagte nichts. Der Anblick ihrer schwarzen Augen und seiner über den Sand fliegenden Fersen ließ mich nicht mehr los. Verzeih, es war ein Fehler. Das hätte ich vielleicht gesagt, wenn sie mir nicht durch den Kopf gegangen wäre.
Ich betrat die Kammer und setzte mich auf mein Bett. Er machte eine Bewegung und schaute mich an. Äußerlich sah er seiner Mutter überhaupt nicht ähnlich, jedenfalls nicht so, wie Kinder nach einem Elternteil geraten, was sich vielleicht an der Linie des Kinns oder an den Augen zeigte. Wohl aber war es die Art, wie er sich bewegte, und seine schimmernde Haut, die etwas Göttliches hatten und mich an sie erinnerten. Was hatte ich mir eigentlich gedacht?
Obwohl mehrere Schritte von ihm entfernt, konnte ich den Seegeruch an ihm wahrnehmen.
»Ich muss morgen aufbrechen«, sagte er. Es klang fast wie ein Vorwurf.
»Oh«, sagte ich. Mehr bekam ich nicht heraus.
»Ich werde zu Cheiron gehen, um mich von ihm unterweisen zu lassen.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Er hat schon Herakles unterrichtet. Und Perseus.«
Noch nicht, hatte er zu mir gesagt. Aber seine Mutter wollte es anders.
Er stand auf und legte sein Kleid ab. Es war heiß, Hochsommer, und wir waren gewohnt, nackt zu schlafen. Das Licht beschien seinen glatten, muskulösen Bauch mit dem Flaum hellbrauner Haare, die nach unten hin dunkler wurden. Ich wendete meinen Blick ab.
Am nächsten Morgen stand er in der Dämmerung auf und zog sich an. Ich war wach, hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, tat aber so, als ob ich schliefe, und lugte heimlich durch die Wimpern. Ab und an warf er mir einen Blick zu. Im spärlichen Licht schimmerte seine Haut wie Marmor. Er warf seinen Reisesack über die Schulter und blieb noch einmal in der Tür stehen. Ich erinnere mich an diesen Moment, an seine Silhouette in dem steinernen Türbogen, die lose herabfallenden Haare, noch zerzaust vom Schlaf. Ich schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, war ich allein.