Warum klatschte Monikas Mutter ihrer kleinen Tochter aus nichtigem Anlass den nassen Aufnehmer um die Ohren? Weshalb benutzten Sonjas Eltern so häufig den Rohrstock? Was veranlasste Detlevs Mutter, die Mahlzeiten ihres Sohnes mit einem Wecker zu kontrollieren, und – wenn die Suppe nicht in der vorgeschriebenen Zeit ausgelöffelt war – auf seinem Po so manchen Kochlöffel zu zerbrechen?
»Eltern schlagen ihre Kinder, weil sie sie lieben und nur so glauben, sie vor Gefahren schützen zu können.« Diese verblüffende Antwort bekam ich von der US-amerikanischen Psychologin und Bindungsforscherin Patricia Crittenden, einer international gefragten Expertin zum Thema Gewalt in der Familie, auf deren Thesen ich noch ausführlich eingehen werde. Viele der anderen Experten, die ich um Erklärungen bat, führten die Wutausbrüche, die regelrechten Prügelexzesse und Misshandlungen von Kindern durch die Eltern in den 50er und 60er Jahren auf zwei Ursachen zurück:
Zum einen benannten sie die Schrecknisse des »Dritten Reiches,« die Brutalität des Krieges, die Bombennächte, Hungersnöte, Fluchtentbehrungen und eigenen Gewalterfahrungen, die diese Eltern schwer traumatisiert hatten und sie ihren Frust und ihre Wut an den Kindern ausagieren ließen. Zum anderen führten die Experten den brutalen Umgang der damaligen Elterngeneration mit ihren Kindern darauf zurück, dass sie selbst in ihren Familien meist schwer gezüchtigt worden waren. Dass sie gar kein anderes Erziehungskonzept kannten, als die schon seit Generationen erprobte körperliche Gewalt gegenüber ihrem Nachwuchs.
Prügelnde Eltern bauten dadurch, dass sie ihren Kindern mit Gewalt begegneten, Stress ab. Sie versuchten es nach Ansicht des Traumatherapeuten Arne Hofmann jedenfalls. Wenn sie selbst zu Hause geprügelt worden sind, so erklärte er mir, »dann klinkt in bestimmten Situationen die Vernunft bei vielen Leuten aus. Wir nennen das Impulskontrollstörung. Die Leute fangen auf eine nicht vernünftige, irrationale Weise an, die Muster, die sie zum Teil selbst erlebt haben, nachzuvollziehen. Das sind ganz, ganz häufig unglückliche, tragische Konstellationen.« Seiner Erfahrung nach gibt es nur eine sehr kleine Gruppe tatsächlich sadistisch veranlagter Menschen, die Lust und Spaß daran haben, jemanden zu quälen. »Die meisten der Menschen, die schlagen, tun das aus Verzweiflung, weil sie den Stress nicht regulieren können, weil sie unter Druck kommen, weil sie psychisch dem nicht standhalten können.«
Will man mehr über die damaligen Väter wissen, die zu Hause ein so eisernes Regiment führten, dann fragt man am besten bei Sabine Bode nach. Die Kölner Autorin hatte sich zunächst in ihren Büchern mit den sogenannten »Kriegskindern« befasst. Nun ist im August 2011 bei Klett-Cotta ihr neuestes Buch mit dem Titel »Nachkriegskinder – Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter« erschienen. Darin beschreibt sie das Leben ehemaliger Wehrmachtssoldaten und Kriegsgefangener, also das der Väter der hier beschriebenen Kinder.
»Diese Männer hatten acht, neun oder zehn Jahre überhaupt keinen eigenen Willen gehabt. Sich nicht frei entscheiden können. Sich immer unterordnen oder einfügen müssen«, so Sabine Bode in einem Interview mit mir für dieses Buch. Manche kamen weit nach Kriegsende erschöpft und ausgelaugt zurück in die zerstörten Städte, zu Frauen, die während ihrer Abwesenheit selbstständig ihr Leben gemeistert hatten. Und von denen erwartet wurde, dass sie widerspruchslos zurück an Heim und Herd kehrten, dem Vater den Platz als Familienoberhaupt wieder frei machten. Ein Wechsel, der an sich schon genug Zündstoff für Zank und Streit, für Frust und Enttäuschung bot.
Paare, die eigentlich ausreichend damit beschäftigt gewesen wären, sich in einer neuen Zeit, einem neuen Leben zurechtzufinden, wurden zu Eltern. »Kriegseltern«, wie Sabine Bode sie in ihrem Buch »Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« bezeichnet. Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz nennt diese Eltern »eine schweigende Kriegsgeneration«, die sehr wohl erkannte, »dass es falsch gewesen war, wie sie sich verhalten hatten. Aber sie wollten nicht darüber reden. Weil sie nicht in der Lage waren, über sich selbst zu reden.« Vor allem die Männer schwiegen beharrlich über das, was sie im Krieg erlebt, was sie dabei gefühlt hatten. Sprachen mit niemandem über ihre Enttäuschungen und Verletzungen. »Das tat man nicht. Erwachsene redeten nicht mit Kindern über ihre Gefühle«, erklärte mir Sabine Bode. Wenn über den Krieg gesprochen wurde, gaben die Männer nur Anekdotisches, Lustiges darüber preis, wie sie es als »Schütze Anton dem Feind gezeigt hatten. Aber hallo! Ha, ha, ha!«
Vor dem Hintergrund dessen, was diese Eltern erlebt hatten, konnten sie die Lebendigkeit und Spontaneität ihrer Kinder nicht gut aushalten. Es war, so Bode, vor allem für die Männer »schwierig zu sehen, wie ihre Kinder sich frei entwickelten. Wenn sie plötzlich sahen, meine Güte, so hätte ich werden können, wenn ich in einer anderen Zeit gelebt hätte. Wenn ich dem Krieg hätte entgehen können. Aber die wurden nun mal mit zwanzig da rein geworfen in diesen Krieg und konnten nicht mehr abhauen.« Vom Kopf her, meint Bode, hatte sich so ein Vater sicherlich vorgenommen, mein Kind soll es besser, soll eine glückliche Kindheit haben. Vom Gefühl her konnte er das nicht aushalten. Konnte dem Kind die Freiheit, die Leichtigkeit nicht gönnen. »Das ist alles verdammt schwierig gewesen. Und da ist viel Frust entstanden. Und da ist auch viel Distanz entstanden zu den Kindern.«
Die Lebendigkeit dieser Kinder war deshalb für viele dieser Väter eine regelrechte Provokation, musste daher sozusagen ›im Keim‹ erstickt werden. Eine der Möglichkeiten, dies zu tun, war eine gehörige Tracht Prügel. Die hatte Tradition. Sie war schlichtweg der einfachste Weg, Kinder ruhig zu stellen. Sabine Bode glaubt gar nicht, dass es so etwas wie eine logische Fortsetzung der Gewalttätigkeit im Krieg hin zur Gewalttätigkeit den Kindern gegenüber gab. Das mag hin und wieder vorgekommen sein, schließt sie nicht aus. Aber eigentlich sieht sie ein ganz anderes Problem, das sie an einem Beispiel verdeutlicht:
»Ich sehe einen Vater, der in der Gefangenschaft war, und der so furchtbar gehungert hat, dass er immer wieder erzählt, sie hätten dort einmal eine Pflaume gekriegt und sich dann gestritten, wer kriegt das Fruchtfleisch und wer kriegt den Kern. Und natürlich war der Kern das Begehrtere, weil man da solange drauf rumlutschen konnte. In dieser Familie passierte folgendes: Die Tochter war ein leicht zu lenkendes Kind, ganz brav, lieb. Aber das Kind mäkelte am Essen. Und in regelmäßigen Abständen rastete der Vater aus, griff zum Stock und prügelte sie durch.«
Das Kind hat nicht gewusst, warum ihr Vater so wütend wurde. Dem Vater war dies womöglich auch nicht klar. Und erst als Sabine Bode im Gespräch mit dieser längst erwachsenen Frau erfuhr, dass der Vater immer nur beim Essen derart in Zorn geriet, stellte sie den Zusammenhang mit der Kriegsgefangenschaft her, wies die Tochter darauf hin, dass sie ihr zuvor erzählt habe, wie klapperdürr der Vater aus der Gefangenschaft gekommen sei und wie er sich mit einem Mithäftling um eine Pflaume gestritten hatte. Erst da sah die Tochter zwischen ihrer Mäkelei ums Essen und dem ausrastenden Vater einen Zusammenhang. Erst da wurde klar, dass der Vater offenbar an einer Art Hungertrauma litt, nicht aushalten konnte, wenn seine Tochter Essen zurückwies. Durch diese Traumatisierung war es für den Vater extrem bedrohlich mit anzusehen, wenn im Essen herumgestochert wurde. »Wer weiß, was er alles angestellt hat, um nicht zu verhungern«, fragt sich der Kölner Psychotherapeut Martin Stokowy, dem ich dieses Beispiel schilderte. »Wem hat er was weggenommen? Was hat er für einen einzigen Bissen alles tun müssen? Und nun will er seine Tochter genau vor einer solchen Gefahr schützen, prügelt sie durch und durch und kann nicht aufhören.«
Für Traumatherapeut Arne Hofmann besteht schon ein direkter Zusammenhang zwischen Kriegserlebnissen und dem späteren Verhalten der Heimkehrer ihren Familien, ihren Kindern gegenüber. Die damals aus Krieg oder Gefangenschaft zurückgekehrten Soldaten waren als 18-, 20- oder 30-Jährige in die Wehrmacht eingezogen worden. Zuvor hatten sie gelernt, dass man sich im Zusammenleben mit anderen verständigen muss, freundlich sein sollte, dass soziales Verhalten gefragt war. Dann plötzlich lernten sie die Brutalität eines Vernichtungskrieges kennen. »Die sind zurückgekommen und haben eigentlich nur gewusst, man muss sich durchsetzen, man muss Gewalt anwenden, um überhaupt zu überleben.«
An ihre neue Umgebung in dem sich demokratisierenden Westdeutschland konnten sich die Kriegsheimkehrer nur schwer anpassen. In dem Film »Das Wunder von Bern« werden diese Schwierigkeiten an einem simplen Beispiel sehr plastisch dargestellt. Der kleine Sohn liebt sein Kaninchen über alles, der Vater schlachtet es. »Dieser Vater«, so Traumatherapeut Hofmann, »ist noch immer geprägt von einer Durchsetzungsmentalität, während sein kleiner Sohn eine Beziehung zu einem Kaninchen aufgebaut hat. Der Vater schlachtet nun dieses Kaninchen brutal. Einfach, weil es ums Überleben geht, da muss was gegessen werden und zack, ist das Kaninchen weg. Ob das Kind eine Beziehung zu dem Kaninchen aufgebaut hat, spielt überhaupt keine Rolle.« Psychotherapeut Stokowy glaubt freilich, dass der Vater dies aus reiner Fürsorglichkeit dem Sohn gegenüber tat. Um eine Lektion an ihn weiterzugeben, die er selbst bitter lernen musste: »Sohn, binde dich nicht zu eng an Lebewesen, bleib auf Abstand, schütze dich vor Verlusten.«
Für Hofmann ist dies jedenfalls eine Ur-Szene, um die Elterngeneration der 50er und 60er Jahre überhaupt zu verstehen. »Wir wissen heute, dass Soldaten, die aus Afghanistan und aus Irak zurückkehren, ganz häufig häusliche Gewalt verüben,« erklärte mir Hofmann. »Dass es enorm viele Scheidungen und Trennungen gibt, weil die Frauen sagen, ich kenne diesen Mann nicht, der da zurückgekommen ist. Das ist nicht der Mann, den ich geheiratet habe. Und ich vermute, in den 50er Jahren ist mit der Rückkehr der Gefangenen was ganz Ähnliches passiert. Natürlich war das Ideal damals, man trennt sich nicht. Aber es gab große Entfremdungen. Viele der Anpassungsleistungen an die neue Zeit hatten die Frauen ja schon vollbracht, während ihre Männer in Kriegsgefangenschaft waren. Ich denke in der Situation war sicher sehr viel Druck und Verzweiflung da. Und das führt«, so erläuterte mir Hofmann, »bei vielen Menschen unweigerlich zu Gewaltausbrüchen.«
In dieser Atmosphäre des unterdrückten Zorns, des Vertuschens und Verschweigens wurden Ehen geschlossen, Kinder geboren. Eltern hätten gar nicht überleben können, hätten keine Energie mehr für Wiederaufbau und ein neues Leben gehabt, wenn sie sich der Verzweiflung und dem Kummer über das Verlorene und das Erlebte hingegeben hätten. Grund genug wäre da gewesen. Doch es half alles nichts. Der Schutt musste weggeräumt, Häuser gebaut, Essen und Kleidung besorgt werden. Um dies zu bewerkstelligen, konnte man nicht ständig an die Vergangenheit denken. Deshalb, so der Psychotherapeut Hartmut Radebold, lautete denn auch die Devise in den Nachkriegsjahren: »Bagatellisieren, Abschwächen und [bewusst] Vergessen und Verdrängen«. Mit dieser Haltung richtete sich das neu entstehende Westdeutschland seiner Meinung nach »in einer manchmal pathologischen Normalität ein«.21
In fast allen gesellschaftlichen Bereichen hatten unselige Kontinuitäten die Nazizeit überlebt. Die Altvorderen mit dem braunen Parteibuch standen nach wie vor in Arbeit und Brot, bestimmten das Klima in der aufkeimenden Demokratie. Egal, ob sie lediglich Handlanger der NS-Vernichtungspolitik gewesen waren oder an vorderster Front die Ermordung von Millionen Menschen mitgestaltet hatten – bis auf wenige Ausnahmen kamen sie nach und nach wieder zurück auf ihre alten Plätze oder machten ungehindert Karriere in der neuen Republik.
Allein in Nordrhein-Westfalen waren etwa 75 Prozent der Richter und fast 90 Prozent aller nach 1945 wieder amtierenden Staatsanwälte zuvor NSDAP-Mitglieder gewesen. Keiner der unter den Nazis wirkenden »furchtbaren Juristen« ist jemals für das Unrecht, das er gesprochen hatte, zur Rechenschaft gezogen worden. Auch bei der Polizei war es keineswegs zu einem personellen Austausch gekommen. Bis in die 1970er und 1980er Jahre hinein waren dort noch Beamte tätig, die den im Osten zur Judenermordung eingesetzten Polizei-Bataillonen angehört hatten oder bei der Gestapo tätig gewesen waren. Sie alle bildeten Nachwuchs aus, übermittelten ihnen ihr Gedankengut.22
Nach der Befreiung gab es in der neuen westdeutschen Demokratie einfach zu wenig unbescholtene Fachkräfte jeglicher Couleur, die das zerstörte Land wieder hätten aufbauen können. Die in ihre Heimat zurückgekehrten Emigranten wollte niemand an seiner Seite haben. Sie galten als trouble-shooter, als Menschen, die Ärger machen würden, und führten schon durch ihre bloße Existenz den im Lande Gebliebenen ständig vor Augen, dass die sich mit den Nazis arrangiert wenn nicht gar verbrüdert hatten. So zog man es vor, auf das Personal zurückzugreifen, das schon den Nazis gedient hatte. Setzte die fragwürdige Kompetenz ein, die das sogenannte »Dritte Reich« mitgestaltet hatte. Sie alle prägten das Klima der neuen Republik, verhinderten eine wirkliche Erneuerung, einen echten Umbruch, ein Abrücken von der Vergangenheit. Sie alle drückten der neuen Zeit ihren alten Stempel auf.
Zwischen Eltern, die sich mit all dem nur schwer zurechtfanden, und Kindern, für die das Neue selbstverständlich war, entstand eine große emotionale Kluft. Die Therapeutin Bettina Alberti erklärt sie in ihrem Buch »Seelische Trümmer« durch die »scheinbar unüberbrückbare Erfahrung des Erlebens und des Nicht-Erlebens des Krieges. Im Versuch, die Kinder vor den Schrecken des Zweiten Weltkrieges durch Schweigen zu schützen. Im Versuch, gegenüber Nachkommen in Täterfamilien Wahrheiten zu verschleiern und zu verleugnen. In der kollektiven emotionalen Unerreichbarkeit der Elterngeneration als Folge ihrer Kriegserfahrung. In den verinnerlichten nationalsozialistischen Erziehungsprinzipien, die eine physische und emotionale Distanz zwischen Eltern und Kindern installierten.«
Eine Botschaft, die in den 50er und 60er Jahren sozusagen unausgesprochen weitergegeben wurde, war die »Verleugnung«. Mit der Last ihrer Vergangenheit musste die damalige Elterngeneration allein zurechtkommen. Die Umgebung verdrängte ebenso wie sie. Keiner bot sich als Ansprechpartner an. Jeder hatte genug mit sich selbst zu tun. Alle waren vorsichtig. Welche Rolle hatte der Nachbar seinerzeit gespielt? War er Nazi gewesen? Oder hatten ihn die Nazis verfolgt, würde er nun Vorwürfe erheben? Wusste er um die dunklen Flecken in der eigenen Vergangenheit? Würde er den Vater, der in der Partei gewesen war, verpfeifen, das Verhalten des Onkels öffentlich anprangern, der in der Reichspogromnacht Steine auf jüdische Geschäfte geworfen hatte? Eine ganze Gesellschaft ging auf brüchigem Eis. Man wusste nicht so recht, wie die neue Demokratie mit den Altlasten umgehen würde. Verhielt sich abwartend. Wollte ja nicht auffallen. Am besten, so dachten viele, man tue einfach mal so, als sei nichts gewesen, sei nichts passiert.
Dennoch wurde von diesen, so durch und durch mit sich selbst beschäftigten Eltern erwartet, ihren Kindern mit Empathie zu begegnen, ihnen, so Therapeutin Alberti, »emotionale Sicherheit, seelische Nähe und ein Bindungsangebot zu geben, das sie selbst nur unzureichend erfahren hatten. Mangelnde Impulskontrolle aufgrund traumatischer Erfahrungen führte zu aggressiven Aufladungen in deutschen Elternhäusern der Nachkriegszeit, was in Verbindung mit der damals üblichen Gewalt in der Erziehung fatalerweise eine gesellschaftliche Legitimation fand. Und ein bis heute sichtbares überbewertetes Konsumverhalten kann verstanden werden als Ausdruck eines emotionalen Hungers, der anders keine Antwort zu finden scheint.«
Diesen emotionalen Hunger, entstanden aus einem nie gestillten emotionalen Mangel, empfanden viele der damaligen Kinder. Ihre Eltern funktionierten nach außen hin gut, die Mütter schmierten ihnen die Frühstücksbrote, kochten das Mittagessen, wuschen die Kleidung. Die Väter brachten das Geld nach Hause. Das alles klappte meistens. Doch die Kluft zwischen der neuen Kindergeneration und den durch ihre Erfahrungen teils schwer traumatisierten Eltern war unüberbrückbar. Eine gemeinsame Sprache wurde einfach nicht gefunden.
Dörte von Westernhagen hat sich in ihrem Buch »Die Kinder der Täter. Das Dritte Reich und die Generation danach« aus den Informationen, die sie im Lauf der Jahre zusammengetragen hat, folgendes Bild über »die Entstehung der paranoiden Beziehungsform zwischen den Generationen gemacht: […] Das Bestreben der Eltern, sich in einem Panzer künstlicher Stärke gegen die eigene Schwäche, quälende Schuld und peinigende Schamgefühle zu verschanzen, lähmte ihre Trauerreaktion, machte sie starr, selbstgerecht und unlebendig. Für die Kinder hieß das, an bestimmten Punkten immer wieder zurückgewiesen zu werden, das Gefühl, die Eltern nie richtig zu erreichen, ihnen nie richtig zu genügen. Ärger, Enttäuschung, Wut und Zorn darüber durften die Kinder jedoch auch nicht ausdrücken.« Die Autorin von Westernhagen vermutet deshalb, dass in vielen Angehörigen der zweiten Generation auf diese Weise das Gefühl entstand, von den Eltern niemals warm ans Herz genommen worden zu sein, sich niemals in einem wirklichen körperlichen und emotionalen Dialog mit ihnen befunden zu haben.
Therapeut Hofmann geht davon aus, dass jemand, der durch Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges traumatisiert wurde – egal ob an der Front oder in den bombardierten Städten – seine Wahrnehmung und seine Feinfühligkeit gegenüber der Umgebung verändert. »Bei den Soldaten im Kriegsfeld nennt man das Verrohung.« So ein Mensch verliert laut Hofmann ein Stück weit das Gefühl für andere. Bestätigt wurde dies durch Untersuchungen bei Gefängnisinsassen, von denen etwa die Hälfte Gewalterfahrungen in der Kindheit gemacht hatten. Die später wegen Körperverletzungen oder anderer Gewalttaten einsitzenden Häftlinge können so etwas wie Empathie nicht mehr empfinden, sich nicht mehr in einen anderen Menschen hineinversetzen, erspüren, was der gerade leidet. Inzwischen weiß man, erklärt Hofmann, »dass im Therapieverlauf mit einem solchen Täter eines der wichtigsten Anzeichen für eine Besserung seine sich wieder bildende, ansteigende Empathiefähigkeit ist.«
Bezogen auf das Verhalten der Kriegseltern aus den 50er und 60er Jahren bedeutet das, so erklärte mir Hofmann: »Viele Eltern haben damals überhaupt nicht wahrgenommen, was sie ihren Kindern antaten. Denen fehlte die Empathiefähigkeit. Hinzu kam noch, dass das Sozialsystem sagte, Schlagen von Kindern ist normal, mach das mal. Genauso normal, wie es in Deutschland eine Zeit lang normal war, Juden zu verschleppen und umzubringen oder Sinti und Roma umzubringen. Das war so normalisiert in der Bevölkerung, dass das keine große Rolle gespielt hat. Ebenso wenig wie das Prügeln von Kindern.«
Psychotherapeut Martin Stokowy zeigte sich im Interview mit mir davon überzeugt, dass die Generation, die in den 50er und 60er Jahren Eltern wurde, nach allem, was sie erlebt hatte, »massiv traumatisiert war. Einmal, weil viele von ihnen entweder noch in den letzten Kriegstagen als Kanonenfutter benutzt wurden. Dann, weil sie verschüttet, verfolgt, bedrängt, bedroht, misshandelt oder vergewaltigt worden sind. Außerdem, weil sie die ganze Zerstörung, dieses ganze Entsetzen mitbekommen haben. Aber auch, weil sie in der einen oder anderen Weise entweder Mittäter waren oder weggeguckt haben oder von ihren Eltern dasselbe wussten.« Eine ganze Generation stand damals unter dem Generalverdacht, im günstigsten Fall kollaboriert zu haben. »An diesen Generalverdacht gewöhnst du dich irgendwann mal. So lebst du dann mit so einer Schuld.«
Die Beispiele machen deutlich, unter welchem Druck die damalige Gesellschaft stand. Wie sehr gestrebt und gebaggert wurde. Wie fleißig man damit beschäftigt war, das Vergangene zu begraben, wie groß die Angst vor etwas Neuem, Unbekanntem war. Kein Wunder, dass das schwächste Glied in dieser Kette, das Kind, Zorn und Frust abbekam. Und darauf getrimmt wurde, so anpassungsfähig wie nur möglich zu werden. Es musste einfach gehorchen, dachten sich die damaligen Eltern. Was denn sonst? Etwas anderes kannten sie nicht. Wer weiß, wie die neue Zeit verlaufen würde. Rebellion, Ungehorsam, Zorn gegen die Obrigkeit – dies alles hatten sie nicht gelernt, konnten es deshalb auch nicht an ihre Kinder weitergeben. Und so verwundert es nicht, dass laut Umfragen aus der damaligen Zeit »Gehorsam« als Erziehungsziel in den 50er und 60er Jahren weitaus mehr Zustimmung in der Bevölkerung fand als das Erziehungsziel »Freiheit«.
So heftig wurden Kinder in vielen deutschen Nachkriegsfamilien misshandelt, wurde ihnen Gehorsam und Benehmen eingebläut, dass sich im Jahr 1953 in Hamburg eine Gruppe engagierter Pädagogen und Kinderfreunde aus Protest hiergegen zusammenschloss und den noch heute existierenden »Kinderschutzbund« ins Leben rief. Die Gründe für diesen Schritt wurden in einer späteren Jubiläumsbroschüre erklärt: »Es war die Zeit, in der die Deutschen die Wirren des Zweiten Weltkrieges zu überwinden suchten, eine enorme Wohnungsnot beklagten, über die Hälfte aller Familien unvollständig war und besonders unter den Kindern immer noch große Verunsicherung und Elend herrschte.« Lebensumstände, die einen erheblichen »Missbrauch der elterlichen Sorge« nach sich zogen. Dieser Missbrauch äußerte sich in übermäßiger Züchtigung der Kinder bis hin zu deren körperlicher und seelischer Misshandlung und Vernachlässigung in Pflege, Aufsicht und Erziehung. Als Mittel gegen Gewalt und Pflichtverletzungen gegenüber Kindern sollte deshalb, nach Ansicht der Kinderschutzgründer, eine harte Bestrafung der Täter eingeführt werden.