12. Kapitel

ILKA BLEIBT DIE LUFT WEG

Hier ist Krach

Ilka war ein wüstes, ein aufmüpfiges Kind, das auch die Eltern nicht kleinbekamen, ein Mädchen, das viel Platz zum Leben benötigte. Den Freiraum hierfür bekam sie zu Hause nicht. Dort wurde ihr die Luft eher abgeschnürt. Deshalb brauchte sie ein Ventil, mit dessen Hilfe sie atmen konnte. Dieses Ventil waren ihre Tagebücher, denen sie zeitweilig fast täglich ihren Zorn und ihre Schmerzen anvertraute. Die sie bis heute aufbewahrt hat und auf meine Bitte hin hervorkramte. Kleine, abgegriffene, vollgekritzelte Hefte.

»Hier ist Krach« heißt es darin. Ihr Bruder hatte sie in der Eifel, wo ihre Familie ein Wochenend-Haus besaß, an dem Tag wohl dreimal so heftig verprügelt, »da ist mir die Oberlippe aufgeplatzt und es hat doll weh getan, da hab ich die Wut gekriegt und ihn voll in den Magen mit dem Ellenbogen gehauen. Ich lass mir nichts mehr gefallen, die Zeiten sind vorbei!« Den Ehekrach ihrer Eltern notierte sie an dem Tag, als die Mutter ankündigte, sie wolle sich scheiden lassen. Ein anderes Mal kritzelte sie: »Heute ist bei uns dicke Luft. Meine Eltern streiten sich wahrscheinlich über mich. Nach dem Reiten ging es los. Väterchen meinte, ich hätte alles falsch gemacht. Ich musste mein Radio abgeben …«

Zum Teil unter erschwerten Bedingungen, während des Stubenarrests und zeitweilig ohne Licht, notierte sie in ihre Tagebücher alles, was ihr widerfuhr. Sie schrieb und schrieb. Wenn sie dies oder das nicht machen würde, heißt es an einer Stelle, »säß ich schon längst unten mit sechs Wochen Reitsperre und einer Tracht Prügel, die sich gewaschen hätte. Aber so ist es bei uns halt immer, meistens bin ich die Dumme und wenn ich mich wehren will, krieg ich eins um die Löffel und Stubenarrest. Ich weiß auch nicht, woher das kommt. Wenn meine Eltern mich ordentlich und normal behandeln würden, wäre ich auch umgänglicher, aber die steigen einfach nicht dahinter.«

Ilkas Traum von Armut und Harmonie

Ihre Eltern waren wohlhabende Kaufleute. Der Vater hatte eine eigene Firma in Bochum, wo Ilka 1963 zur Welt kam. Später gehörten dem Vater Häuser, »es war immer viel Geld da.« Die Familie lebte in einer 200 Quadratmeter großen Wohnung, von der aus auch die Geschäfte geführt wurden. Die Mutter fuhr als Zweitwagen Porsche oder später einen Morris Mini, kleidete sich teuer. Die Kinder spürten deutlich, dass sie in diesem von Arbeitern geprägten Ruhrgebiet anders waren als ihre Altersgenossen. Schon allein deshalb, weil sie als einzige von einem Fahrer zur Schule gebracht wurden und weil jedes Kind ein eigenes Zimmer mit Bad hatte. Aber auch, weil in der Wohnung echte Perserteppiche lagen.

»Es gab halt die Armeleute-Schulbrote, auf denen war wenig Butter drauf oder überhaupt gar keine und nur draufgekratzte Nutella«, erinnert sich Ilka. Wie gerne hätte sie auch ein solches Nutellabrot gehabt, doch stattdessen gab es für sie nur gesunde Kost. »Schwarzbrote, oft mit Wurst und Käse und Gurkenscheiben und all dem ganzen Krempel, den man als Kind nicht ab kann. Ich hab die getauscht. Gegen die Armekinder Butterbrote. Und ich hab mir als Kind nichts sehnlicher gewünscht als arm zu sein. Ich hab ganz oft überlegt, wie das ist arm zu sein, so dass ich die Nutella aufs Brot kratzen müsste. Oder wenn ich ’nen Apfel mit meinem Bruder teilen müsste. Ich fand die Gesamtidee von arm sein total spannend.«

Denn reich sein, das erlebte Ilka ständig, machte nicht glücklich. Jedenfalls nicht ein Kind wie Ilka in einer Familie, in der sie sich ständig wehren musste. Reich sein war immer auch mit Bedingungen verknüpft. »Dieses Reichsein entschuldigte ganz viele Missstände.« Nicht solche materieller Art. Daran mangelte es nicht. Aber alles sonst, was mit reich sein verbunden war, »alles hatte ’ne Verpflichtung. Und hatte ’nen Haken. Es wurde, sobald ich angefangen habe zu nörgeln, aufgezählt: Was willst du. Wir haben doch dies und das, ein Wochenendhaus, wir haben Pferde. Du hast ein eigenes Zimmer. Du hast ein eigenes Badezimmer. Also Kind, was ist mit dir verkehrt? Wir geben dir doch alles. Und damit waren die aus dem Schneider.«

Das ständige Gefühl, überflüssig zu sein

Ilka war ein anstrengendes, überkluges Kind. Mit vier schon konnte sie lesen und schreiben, während der Bruder als Legastheniker in der Schule mit Lernschwierigkeiten aufgefallen war. Dafür bezog er immer wieder Prügel. Doch Ilka hatte häufig das Gefühl, »ich bin zu viel. Ich bin zwar zeitweise o. k., wenn es halt gerade passt, aber ansonsten bin ich einfach zu anstrengend.«

Sie war nicht nur anstrengend, sondern auch dickköpfig. Und vor allem: Sie ließ sich weder manipulieren noch unterdrücken, noch zu irgendetwas zwingen. Als sie etwa fünf Jahre alt war, sollte sie das gemähte Gras im Garten zusammenharken. »Ich habe Nein gesagt. Mache ich nicht. Das war mein erstes Nein. Und das Nein, was ich auch durchgehalten habe. Ich erinnere mich bis heute daran, dass ich das erste Mal das Gefühl hatte, wenn ich Nein sage, dann ist es Nein. Dann können sie mich prügeln und sonst was machen, aber ich mache es halt nicht.« Sie spürte damals schon, welche Kraft sie durch dieses Nein bekam. »Also ich hab das erste Mal gemerkt, ich hab Power, ich sag Nein und die rasten aus. Ich hatte Angst vor meiner eigenen Courage. Also das gleiche Gefühl, was ich auch noch heute habe, wenn ich so eine Linie überschreite.«

Die Eltern griffen zu allen Mitteln, um dieses Kind klein zu kriegen, seinen Willen zu brechen. Nur selten schlug der Vater sie mit der bloßen Hand. Meist mit Kleiderbügeln, mit Stöcken, mit Reitgerten, »weil wir ja schließlich eine Reiterfamilie waren. Mein Bruder hat irgendwann mal ’ne Zuckerdose an den Kopf gepfeffert gekriegt. Ich war dauernd Gewalt ausgesetzt. Ich bin eingesperrt worden.« Sie hat sich dagegen vehement gewehrt, mit all ihrer Kraft. »Ich habe Türen aus dem Rahmen rausgetreten. Mich haben sie mal an der Autobahn rausgeschmissen aus dem Auto. Also ich hab wirklich alles erlebt, nur weil ich immer Widerstand leistete, aber ich bereue nichts davon.«

Clever, wie sie schon als kleines Kind war, hatte sie sich ein System ausgedacht und gebaut, dass sie warnte, sobald die Eltern aus dem Geschäftsbereich in den privaten Teil der Wohnung kamen. Denn wegen der Teppiche hörte man deren Schritte schlecht. Und da Ilka ein Ass in Physik und Chemie war, verdrahtete sie »praktisch die ganze Wohnung mit einem Alarmsystem, so dass ich genau wusste, ab wann die von hinten in unseren Flur rein kamen. Scheiße! O. k.! Jetzt kommen sie. Petroleumlampe aus! Schokolade absenken! So tun als wenn man schläft. Ich hatte halt diese kleinen Drähte überall. Trittkontakte habe ich unter die Teppiche verlegt. Die haben sie nie gefunden. Die Putzfrau hat sie mal gesehen und hat dann geschmunzelt. Wusste aber auch nicht genau, was es ist. Und hat’s halt gelassen.«

Sie weigerte sich, die gleiche Luft wie ihr Vater zu atmen

Irgendwann konnte sie ihren Vater rein körperlich nicht mehr ertragen. In der Küche rührte sie nichts mehr an, das auch nur irgendwie mit ihm in Berührung gekommen war. Im Auto wollte sie die Luft nicht einatmen, die der Vater ausatmete. Was zu absurden Situationen führte. Wann immer die Familie in die Eifel fahren wollte, musste sie dies mit zwei Autos tun: Eines für Vater und Sohn, eines für Mutter und Ilka. Denn sobald alle zusammen fuhren, saß Ilka auf dem Rücksitz und hielt die Luft an. »Solange, bis ich blaue Lippen bekam und man anhalten musste.«

Ein besonderes Beispiel für die Verrohung innerhalb ihrer Familie fällt ihr ein, und noch immer spürt man ihr an, wie sehr es sie damals verletzte. »Ich habe mit meinem Bruder Tischtennis gespielt, in der Garage, und der Tischtennisball ist irgendwie weggerollt. Daraufhin sagte mein Bruder sehr aggressiv zu mir, ich solle diesen Ball suchen. Und ich fand den nicht. Ab da ging das halt volle Möhre ab. Er hat mich gezwungen den Ball zu suchen, hat mich über den Boden gezogen, bis ich diesen Ball gefunden habe. Mit nackten Beinen und halt in Shorts, im Sommer, einfach über den Teer geschleift. Mein Vater hat alles beobachtet, aber nicht eingegriffen, erst, als es so laut wurde, dass die Nachbarn sich an die Fenster gestellt und dann später die Rollladen runtergelassen haben. Ja, so war das«, sagt Ilka. Und dann fügt sie noch hinzu: »Die haben mich zum Teil so zusammengeschlagen, dass ich das Bewusstsein verloren habe. Also Schlagen war für mich so normal wie Mahlzeiten einnehmen.«

Irgendwann bekam ihr Bruder vom Vater offiziell die Erlaubnis, Ilka zu züchtigen. »Weil das meinem Vater alles zu viel wurde, mich ständig zu verprügeln.« Und davon machte der zwei Jahre Ältere reichlich Gebrauch. Doch auch der Vater ließ weiterhin seinen Frust, seine Wut an ihr aus. »Mein Vater hat einmal versucht, mich zu überfahren. Der hat mich abgesetzt bei einer Freundin. Ich bin mit Schallplatten auf dem Arm losgegangen. Und der setzt zurück und fährt mich an und mir fallen die ganzen Platten aus der Hand. Weil er wieder sauer war. Weil irgendwas nicht so war, wie es sein sollte.«

Ilkas ausgetüfteltes Überlebenstraining

Als Ilka 14 Jahre alt war, erkrankte die Mutter an Krebs, kam ins Krankenhaus. Danach ging es zu Hause »immer drastischer zu.« Zunächst wurden die Kinder in die Obhut von Verwandten gegeben. Nach dem Tod der Mutter kamen sie zurück nach Hause, zum Vater, der mit Sohn und Tochter überfordert war. Wenn er nicht mehr weiter wusste, schloss er Ilka in ihr Zimmer ein, ließ die Rollladen runter, »und wenn es ganz hart auf hart kam, wurden die Rollladengurte durchtrennt, so dass ich sie nicht mehr aufmachen konnte. Also ich saß echt da drin fest, wie im Gefängnis. Dann wurde die Sicherung rausgedreht, so dass ich auch nicht schreiben konnte.«

Ilka hatte für den Fall eines verschärften Stubenarrestes vorgesorgt, überall Dinge versteckt, die ihr in dieser Lage das Leben erleichterten. Ihr Zimmer war ein regelrechtes »survival-camp«. Für den oberflächlichen Betrachter sah es ganz normal aus. Aber hinter ihrem Bett hatte sie Lebensmittelreserven gestapelt, ein ganzes Chemielabor gebunkert, vor allem Spiritus und Petroleum. Damit konnte sie sich Lichtquellen basteln.

»Sobald die Sicherungen herausgedreht waren, ich alleine mit mir war, habe ich angefangen, Licht zu bauen und in mein Tagebuch zu schreiben. Weil ja sonst keiner da war, der sich das ganze Zeugs angehört hätte. Ich hatte auch zwischendurch immer das Gefühl, kann man das irgendjemandem überhaupt erzählen? Es war bei uns ja immer alles super. Wir sahen immer alle ganz klasse aus. Immer nett gekleidet. Immer neue Autos. Und Pferde und alles so in Ordnung.«

Kein Mensch nahm sie ernst, niemand reagierte auf ihre Klagen

Als sie vierzehn Jahre alt war, ging sie in ihrer Verzweiflung zur Polizei, zum Jugendamt. Sie schilderte dort, wie es ihr zu Hause erging. Doch nichts geschah. Nur einmal, da ließ sich tatsächlich jemand vom Jugendamt blicken. Machte vorher ordnungsgemäß einen Termin und hat dann die Wohnung besichtigt. »Als die sahen, dass ich ein eigenes Zimmer habe, meinten die, ist doch alles paletti. Das Kind spinnt. Und die Polizei hat mir klipp und klar gesagt, solange du den Kopp nicht unter dem Arm hast, kannst du hier lange stehen. Mein Vater war ja bekannt. Ein anständiger, angesehener Bürger. Da hatte ich nichts zu melden.«

Dabei sah man ihrem Körper die Misshandlungen deutlich an. Hin und wieder ging sie allein zu ihrem Kinderarzt, zeigte ihm die Wunden, sagte, sie sei von ihrem Vater geprügelt worden. Der Arzt hat sich das alles notiert. »Jedes blaue Auge, alles. Es ist nichts passiert.« Ilka hat ihrer Umgebung immer erzählt, wie es ihr zu Hause erging. So dass sie, wenn die Gewalt eskalierte, sich zu den Eltern von Freundinnen flüchten konnte. »Die zwar auch nichts gemacht haben. Die haben aber wenigstens nicht die Tür zugemacht, wenn ich da auftauchte.«

Sie fühlte sich geliebt – trotz alledem

Trotz des brutal ausgefeilten Sadismus, der in ihrer Familie herrschte, hat sich Ilka, so behauptet sie jedenfalls steif und fest, nie ungeliebt gefühlt. »Das ist ganz eigenartig.« Was ihr fehlte, war »menschliche Wärme. Zuneigung.« Sie hätte sich gewünscht, dass ihre Eltern ein bisschen versöhnlicher gewesen wären, ihr mehr verziehen hätten. Doch niemals hatte sie das Gefühl, »hey, die lieben mich nicht. Hab ich nie gehabt. Meine Kombination war eigentlich immer eher, je mehr es kracht, umso besser. Wenn’s nicht kracht, dann stimmt irgendwas nicht. Und das ist eher ein Problem. Weil, das habe ich halt mitgenommen in mein späteres Leben, in meine Beziehungen. Da musste es auch dauernd krachen. Was verdammt anstrengend ist. Du kommst aus so einer Familie raus, und danach müssen dauernd woanders die Fetzen fliegen. Weil, wenn die Fetzen nicht fliegen, spüre ich mich nicht.«

Auch heute noch ist Ilka eine Kämpferin. In ihrem Beruf als Filmemacherin. Dann, wenn sie auf Reportage ist und durch die Welt reist. So wie sie früher schon war. »Ich war als Kind immer so kriegerisch unterwegs. Die ganze Zeit.« Dabei hatte sie nie das Gefühl, irgendwie böse zu sein. Aufmüpfig ja. Aber böse, nein. »Ich hatte einfach total viel Kawumm. Das hatte ich wirklich. Und als Kind konnte ich das nicht steuern«. Vor diesem Kawumm, vor dieser überschüssigen Energie bekam sie manchmal selbst regelrecht Angst. »Doch das ist vorbei. Davor hab ich keinen Schiss mehr.«

An einem 14. Mai – da war sie gerade vierzehn Jahre alt – endete für Ilka die Zeit, in der sie sich zu Hause widerspruchslos malträtieren ließ. Zum ersten Mal wehrte sie sich. Später ist sie regelrecht auf ihren Vater losgegangen. »Weil ich hab’s einfach nicht mehr eingesehen. Verdammte Hacke! Also wirklich!« So an dem Tag, als ihr Vater von ihr verlangte, sie solle die Wohnung putzen. »Ich hatte mein Lebtag lang nicht putzen gelernt. Wir hatten doch immer eine Putzfrau. Und auf einmal sollte ich putzen. Ich hab es dann gemacht. Als ich damit fertig war, strich mein Vater mit den Fingern über die Fußleisten, um zu testen, ob da noch Staub drauf war. Und dann schmierte er mir den Dreck ins Gesicht. Da bin ich ausgerastet. Habe ihm dabei seine goldene Uhr zertrümmert. Der war total geschockt. Das wird mir heute noch vorgeworfen. Ich dachte aber in dem Moment, warum hast du das nicht schon eher gemacht? Ich hätte längst zurückschlagen sollen.«

Nach der Beerdigung ihrer an Krebs gestorbenen Mutter hat sie den Kontakt zu Vater und Bruder abgebrochen. Da war sie gerade mal fünfzehn Jahre alt und sah beide sechzehn Jahre lang nicht wieder. Sie hatte von der Mutter genügend Geld geerbt, um finanziell unabhängig zu sein und konnte sich davon eine Wohnung mieten, ihre Ausbildung bezahlen. »ich war endlich aus den Klauen dieses Vaters weg.«

So einfach geht das nicht mit dem Verabschieden

Doch der Vater ließ nicht so einfach los. Er hat weiter den Kontakt gesucht, hat ihr zum Abitur einen nagelneuen Wagen vor die Tür gestellt. Damals ging sie zur Schule und hatte gleichzeitig schon eine eigene Kneipe. »So eine Jugendkneipe mit Theater. Ich habe wahnsinnig viel ausprobiert und abgebrochen. Also ich war auf der Sportschule in Düsseldorf. Ich wäre fast Medizinerin geworden. Biologin, Zoologin, ich weiß gar nicht mehr was sonst noch, freie Kunst. Ich hab gemalt. Ich hab fotografiert. Ich habe Autos verkauft. Ich habe Zeug importiert aus fernen Landen und das verkloppt. Ich habe studiert, Theater, Film und Fernsehen.« Zu guter Letzt wurde sie Filmemacherin. Und glaubt, durch ihre Familiengeschichte ganz besondere Antennen zu anderen Menschen entwickelt zu haben. »Wobei ich nicht sagen will, dass Leute, die nicht geprügelt worden sind, keine haben. Aber ich habe wirklich andere Antennen, sobald es um Gewalt geht. Ich hab andere Antennen um zu merken, dass Leute irgendwie nicht so sind wie sie sich geben.«

Die Angst vor Enge und eingeschlossen Sein ist ihr geblieben. »Ich weiß noch genau, wie es sich anfühlt, wenn das loszugehen drohte. Wie der Ton klingt, wenn ich weggesperrt werden sollte. Diese Töne sind heute noch da. Auf sie reagiere ich super empfindlich.« Irgendwann hatte sie das Gefühl, sie könne das starke Hassgefühl ihrem Vater gegenüber nicht ewig aufrechterhalten. Neugierde kam hinzu. »Mal gucken, was passiert. Immer schön mutig. Und bin dann einfach bei ihm vorbeigefahren. Ich hab halt geklingelt. Und er hat die Tür aufgemacht. Ich fühlte mich sicher, lebte damals schon jahrelang in den USA. Als er die Tür aufmachte, hat er mich erst mal nur angestarrt, als stünde da ein Marsmännchen vor ihm. Hat mich aber sofort erkannt. Unsere erste Begegnung jedenfalls war relativ kurz und auch heftig. Mein Vater hat sehr, sehr geweint.«

Noch immer triezt ihr Vater sie

Heute übt ihr Vater eine andere Art von Gewalt auf sie aus, so empfindet sie es jedenfalls. »Er weiß, dass ich mit ihm nicht über Ausländer diskutiere. Dass ich seine Ausländerfeindlichkeit und Judenhasserei nicht teile. Aber er lässt mich damit nicht in Ruhe, drangsaliert mich durch Aussprüche wie »Scheiß-Ausländer«. Deshalb sehen wir uns nur ab und zu. Und nur dann, wenn ich es will. Er ruft nie an. Außer er will, dass ich einen Begriff für ihn google. Manchmal melde ich mich drei oder vier Monate nicht bei ihm. Manchmal ein ganzes Jahr nicht. Es vergehen auch schon mal zwei Jahre, wenn er mich richtig geärgert hat. Mit meinem Bruder ist das anders. Es gibt Zeiten, da telefonieren wir viermal täglich. Wir sind halt sehr, sehr eng. Ich mache in diesen Beziehungen sehr viele Zugeständnisse. Sehr viele Kompromisse. Mein Vater kommt jetzt gerade in eine Phase, wo er über all das Vergangene reflektiert. Mein Bruder kann das nicht, weil er alles vergessen hat. Das ist für ihn ganz schlimm. Deshalb braucht er mich, weil ich damals ja alles in mein Tagebuch geschrieben habe. Ich weiß halt was war. Und der hängt an meinen Lippen, wenn ich ihm erzähle, was früher mit ihm passiert ist. Was man mit ihm gemacht hat. Weil er sich nicht mehr erinnern kann.«

»Ich habe mit meinem Vater in den vergangenen Jahren manchmal schon sechs Stunden am Stück telefoniert. Zum Beispiel über diese Tennisballaktion in der Garage. Dann schreit mein Vater immer, was, da kannst Du dich noch dran erinnern? Du wirst dich wundern, sag ich ihm dann. Ich habe alles in meinem Tagebuch aufgeschrieben. Ich kann dir ja gerne mal ein paar Seiten nach Haus kopieren. Solche Gespräche sind heftig. Er rechtfertigt sich. Ja. Man habe ihn allein gelassen. Es seien keine Therapeuten da gewesen, die sich um so eine Familie eigentlich hätten kümmern müssen. Wo doch die Mutter krebskrank war und beide Kinder in der Pubertät. Er hätte halt nicht gewusst, wie man damit umgeht. Hilflosigkeit. Dem fällt nix dazu ein.

Außerdem hätten seine Eltern doch das Gleiche mit ihm gemacht. Die haben ihn erschreckt, in den Keller gesperrt. Meine Mutter hat erzählt, was meine Großeltern mit meinem Vater veranstaltet haben. Gruselig. Unter aller Kanone! Und mein Vater erzählt mir immer über seinen Vater. Sagt aber gleichzeitig, das willst du gar nicht wissen. Dann geht es los. Dein Opa war in der SA. Papa, das haste mir jetzt schon 100 Mal gesagt. So fucking what? Willste mich damit ärgern? Jetzt geht die ganze Judengeschichte wieder los. Ich will diese Geschichten nicht mehr hören. Sonst knall’ ich den Hörer auf. Ich hab ihm schon mal gesagt, wenn das jetzt weitergeht, ich lege den Hörer auf, dann war’s das. Ich will, dass er meine Grenzen respektiert.

Obwohl mich meine Mutter genauso geprügelt hat wie mein Vater, hat sie lange wirklich auf so einem Thron gesessen. Man redet ja ungern schlecht über Tote, aber auch das musste irgendwann sein. Sie hat gehetzt. Sie hat mir immer klar gemacht, wie scheiße mein Vater ist. Ich habe natürlich alles geglaubt, bin nur auf ihn los. Sogar an ihrer Krebserkrankung hat sie ihm die Schuld gegeben. Sie hat meinen Vater gehasst. Aber ich war es, die zu ihm gesagt hat, ich hasse dich. Du bist schuld, dass die Mama weint. Sie hat ihm nie gesagt, ich weine deinetwegen. Ich habe es ihm gesagt. Ich bin dazwischen gegangen bei Streitereien.«

Aus Ilka ist eine Frau geworden, die gut mit sich und ihrem Gefährten, einem Gecko namens »Sowieso«, leben kann. Der zwingt sie zu nichts, lässt sie los, wenn sie für ihre Auslandsreportagen durch die Welt streift. Sie ist ständig voll sprühender Ideen, strömt eine Kraft und Energie aus, bei der ihre Umgebung ab und zu nach Luft schnappen muss. Gleichzeitig reist sie manchmal monatelang allein nach Asien, nach Südamerika, spricht dann oft tagelang mit niemandem. Hält das gut aus. Ist sich selbst genug. Hat dann alles dabei, was sie zum Überleben braucht. So wie damals, als sie aus ihrem Kinderzimmer ein survival-camp machen musste.