3. KAPITEL
Shelly versuchte, die Tür zum Finanzamt zu öffnen, und kämpfte dabei mit der großen Schachtel auf ihren Armen, in die sie alle Rechnungen und Belege gestopft hatte, die sie für die Buchprüfung zu brauchen glaubte. Sie drückte die Schachtel mit dem Knie gegen die Wand und hatte so eine Hand frei, um nach dem Türknauf zu greifen. Das hatte sie nun davon, ihre Steuererklärung so lange hinausgezögert zu haben. Sie hatte so lange gewartet, dass sie keinen Termin mehr bei einem Steuerfachmann bekommen und sich dann selbst an ihre Steuerklärung gemacht hatte.
Als sie es endlich geschafft hatte, den Knauf zu drehen, stieß sie die Tür mit dem Fuß auf, zog ihre Schachtel an sich und ging in den Warteflur. Fast wäre sie dabei gegen einen Tisch gestoßen. Sie wich schnell aus und war überzeugt, sich eine weitere Strumpfhose ruiniert zu haben. Mit einem tiefen Seufzer stellte sie die Schachtel auf den Boden und ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen. Sie zog den Rock sorgfältig über die Knie und schaute sich dann um. In dem Flur war nur noch eine einzige Person.
Shellys Herz machte einen Satz, und dann hatte sie das Gefühl, als sei es mitten in ihrem Magen gelandet. Der Mann, der einige Stühle weiter saß, war niemand anders als Mark Brady. Der Mann, von dem sie gehofft hatte, dass sie ihm den Rest ihres Lebens aus dem Weg gehen könnte. Sie schloss unwillkürlich die Augen und riss sie dann wieder auf.
Mark blätterte gerade eine Illustrierte durch, als er zufällig in ihre Richtung schaute. Das automatische, grüßende Lächeln schwand aus seinem Gesicht, und sein Blick wurde skeptisch. Mark Brady vermutete doch wohl nicht, dass sie dieses Treffen absichtlich herbeigeführt hatte!
„Was machen Sie hier?“, wollte sie wissen.
„Das könnte ich Sie auch fragen“, gab er zurück.
„Ich bin Ihnen nicht gefolgt, wenn Sie das andeuten …“
„Hören Sie, Miss … Hansen, es interessiert mich überhaupt nicht, was Sie tun oder lassen.“ Mit diesen Worten vertiefte er sich wieder in sein Magazin, als würde er das Kleingedruckte eines Millionen-Dollar-Vertrages prüfen. „Schließlich war nicht ich derjenige, der für jeden Umstehenden unüberhörbar irgendeinen lächerlichen Unsinn darüber gesagt hat, nicht geheiratet werden zu wollen. Als wenn ich Sie darum gebeten hätte! Als wenn ich Sie überhaupt gekannt hätte!“
Shelly fühlte, wie ihr die Hitze über den Nacken ins Gesicht stieg. „Ich … ich war abgelenkt“, brachte sie die erste Entschuldigung vor, die ihr in der Eile einfiel.
„Offensichtlich.“
Er hatte von seinem Magazin nicht aufgesehen. Die nächsten Minuten verstrichen in gespanntem Schweigen. Shelly rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und sah alle Augenblicke auf die Uhr. Zum ersten Mal seit Langem war sie rechtzeitig zu einem Termin gekommen, aber wenn ihre Pünktlichkeit ihr das einbrachte, dann wollte sie lieber zu spät kommen.
„Gut, ich entschuldige mich“, sagte sie schließlich, als sie das Schweigen nicht länger ertragen konnte. „Ich habe eingesehen, dass es vollkommen lächerlich und … voreilig war.“
„Voreilig?“ Mark warf die Illustrierte auf den Tisch. „Ich wiederhole es gern, ich kenne Sie nicht einmal.“
„Das weiß ich.“
Er holte tief Luft, was ihre Aufmerksamkeit auf seine breite Brust lenkte. Wie schon bei ihrer ersten Begegnung war er wieder makellos gekleidet. Sein dunkler Anzug und die Seidenkrawatte waren zwar konventionell, aber sie fügten seinem ohnehin guten Aussehen dennoch einen Hauch von Esprit hinzu.
„Wenn jemand daran schuld ist, dann ist es Tante Milly.“
„Tante Milly?“ Er fuhr hoch.
Da sie nun schon so viel gesagt hatte, konnte sie genauso gut die ganze alberne Geschichte erzählen. „Genaugenommen liegt es mehr an dem Brautkleid als an meiner Tante, obwohl ich die beiden in meinen Gedanken nicht voneinander trennen kann. Ich lasse mich normalerweise nicht von solchen Dingen beeinflussen, aber langsam fange ich an zu glauben, dass dieses Kleid irgendetwas Übersinnliches an sich hat.“
„Übersinnlich?“
„Einen Zauber, wenn Ihnen das lieber ist.“
„Ein Zauber in einem Hochzeitskleid?“ Mark schaute sehnsüchtig auf die Tür, die zu den Zimmern der Sachbearbeiter des Finanzamtes führte, als könnte er es kaum noch abwarten, endlich aufgerufen zu werden.
„Mir ist klar, dass es verrückt klingt, aber ich fürchte ehrlich, dass meine Tante Sie in ihrem Brief beschrieben hat.“ Shelly fand es nur fair, ihm das zu sagen.
Ein Anflug von Panik trat in seine blauen Augen. „Ihre Tante hat mich in einem Brief erwähnt?“
„Nicht namentlich, natürlich, aber sie hat eine sehr klare Vorstellung von mir, wie ich in dem Hochzeitskleid da gestanden habe. Und neben mir ein großer Mann. Ich habe zwar keine blauen Augen, wie sie geschrieben hat, aber Sie, und Sie sind groß. Und die Legende sagt, dass ich nach Erhalt des Kleides den Mann heiraten würde, den ich als Nächstes träfe.“
„Und zufällig bin ich dieser Mann.“
„Ja!“ Shelly schrie es fast. „Verstehen Sie nun, warum ich so verwirrt war, als wir uns getroffen haben?“
„Noch nicht ganz“, erwiderte Mark nach einem kurzen Moment.
Wie begriffsstutzig war dieser Mann eigentlich? „Sie sind doch groß, nicht wahr? Und Sie haben blaue Augen.“
Er blätterte angelegentlich in dem Magazin und schaute sie nicht an, als er antwortete: „Ehrlich gesagt, kümmert es mich nicht, was in dem Brief steht, und genauso wenig interessiert mich das Brautkleid, das Sie erwähnt haben.“
„Natürlich interessiert es Sie nicht!“, gab Shelly verächtlich zurück. „Warum auch? Ich weiß selbst, dass das alles unglaubwürdig klingt. Und ich bin mir ebenso bewusst, dass ich überreizt reagiere. Aber auf diese Sache reagiere ich nun einmal irgendwie gefühlsmäßig. Wenn es Ihnen hilft, dann möchte ich Ihnen versichern, dass ich mit meinem Leben ganz zufrieden bin und keineswegs vorhabe, irgendjemanden zu heiraten.“ Als sie geendet hatte, holte sie tief Luft und begann nun ihrerseits, in einem Magazin zu blättern. Sie tat ihr Bestes, um Mark so gut sie möglich zu ignorieren.
Erneut legte sich Stille über den Raum, aber Schweigen hatte Shelly schon immer beunruhigt, und sie fühlte sich verpflichtet, es zu brechen. „Außerdem können Sie heilfroh sein und Ihrem Glück danken, dass ich meiner Mutter gegenüber nichts von Ihnen erwähnt habe.“
„Ihre Mutter“, sagte Mark ergeben und schaute kurz zu Shelly herüber. „Weiß sie denn, dass Ihre Tante Ihnen dieses … Kleid geschickt hat?“
„Natürlich weiß sie das!“ Shelly schlug das Magazin zu. „Sie ruft mich seitdem jeden Tag an, weil sie denkt, dass ich jede Minute jemandem Speziellen begegnen müsste.“
„Und Sie haben nicht von mir gesprochen?“
„Wie sollte ich das? Im selben Moment, in dem ich das täte, würde sie das Aufgebot bestellen.“
„Verstehe.“ Anscheinend begann er die Situation langsam amüsant zu finden, denn seine Mundwinkel verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln. „Sie glaubt also auch an die Zauberkraft dieses Kleides?“
„Unglücklicherweise ja. Aber Sie werden gleich verstehen, warum meine Mutter so wild darauf ist, mich verheiratet zu sehen.“
„Ich weiß nicht, ob ich Wert darauf lege, es zu erfahren“, fiel Mark leise ein.
Aber Shelly beachtete seinen Kommentar nicht. „Mit achtundzwanzig, also in meinem Alter, war meine Mutter bereits acht Jahre verheiratet und hatte drei Kinder. Sie ist davon überzeugt, dass ich die besten Jahre meines Lebens vergeude, und ich kann ihr nicht erklären, dass es anders ist.“
„Unter diesen Umständen bin ich tatsächlich dankbar, dass Sie mich ihr gegenüber nicht erwähnt haben.“
Shelly nickte besänftigt und sah erneut auf ihre Armbanduhr. In zehn Minuten hatte sie ihren Termin, und sie war nervös.
Schließlich war es das erste Mal, dass sie ihre Steuererklärung selbst gemacht hatte, und ihr schwante nichts Gutes.
„Ich nehme an, Sie sind wegen einer Buchprüfung hier?“, fragte Mark.
Shelly nickte und schluckte.
„Entspannen Sie sich.“
„Wie sollte ich das?“
„Haben Sie wissentlich etwas vor dem Amt verborgen? Zum Beispiel bei der Höhe Ihres Einkommens gelogen, oder Ausgaben angeführt, die Sie niemals gemacht haben?“
„Nein!“
„Dann haben Sie auch keinen Grund, sich Sorgen zu machen.“
„Habe ich nicht?“ Shelly schaute ihn an und klammerte sich begierig an seine so überzeugend vorgebrachte Äußerung. Wenn sie nicht wegen des Brautkleides Albträume gehabt hatte, dann wegen dieser Buchprüfung.
„Und geben Sie nicht freiwillig Informationen preis, nach denen Sie nicht gefragt werden.“
„Gut.“
„Haben Sie Ihre Steuererklärung selbst ausgefüllt?“
„Ja“, sagte Shelly zögernd. „Es hat am Anfang nicht so kompliziert ausgesehen, und ich habe einen Termin bei einem Steuerberater so lange herausgezögert, bis es zu spät war. Jill, meine Freundin, kann nicht glauben, dass ich es überhaupt versucht habe. Normalerweise komme ich mit Zahlen nicht so zurecht.“ Ihr fiel auf, dass sie drauflosplapperte, was sie immer tat, wenn sie nervös war. Sie zwang sich zur Ruhe, kramte ihre Steuererklärung heraus und las sie zum hundertsten Mal durch.
„Wollen Sie, dass ich Ihre Steuererklärung kurz prüfe?“
Shelly war von seiner Großzügigkeit überrascht. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Machen die bei Ihnen auch eine Buchprüfung?“
Mark lächelte und schüttelte den Kopf. „Bei einem Klienten von mir.“
„Ach so.“
Mark kam durch den Flur zu Shelly und setzte sich neben sie. Nachdem sie ihm die Kopie der Steuererklärung gereicht hatte, überflog er rasch die Zahlen.
„Ich habe alles hier bei mir“, versicherte sie ihm und deutete auf ihren Karton. „Ich habe wirklich sorgfältig darauf geachtet, alle Belege aufzubewahren.“
Er blickte auf den großen Karton. „Das ist alles von einem Jahr?“
„Nein“, gab sie zu. „Ich habe alles mitgebracht, was ich seit sechs Jahren gesammelt habe. Ich hatte das für sinnvoll gehalten.“
„Das wäre nicht nötig gewesen.“
„Ich wollte lieber auf Nummer sicher gehen. Nicht, dass ich nachher zu wenig Belege mitgenommen habe.“ Sie lächelte zurückhaltend und schaute ihm zu, wie er noch einmal prüfend auf ihre Zahlen blickte. Seine Augen schienen noch blauer zu sein, als sie sie in Erinnerung hatte. So blau wie ein Sommerhimmel. Ihr Herz schlug heftig, und obwohl sie sich bemühte, konnte sie sich von seinem Anblick nicht lösen.
Schließlich gab Mark ihr die Steuererklärung zurück. „Es sieht gut aus. Ich glaube nicht, dass Sie ein Problem haben werden.“
Shelly fühlte sich unglaublich erleichtert. Mark lächelte sie an, und bereitwillig erwiderte sie sein Lächeln. In ihrem Magen kribbelte es wieder, und obwohl sie wusste, dass sie Mark unverwandt anschaute, konnte sie sich nicht dazu bringen, wegzusehen.
Marks Miene veränderte sich plötzlich, so, als würde er sie das erste Mal ansehen, richtig ansehen. Er mag, was er sieht, dachte Shelly, als sie gebannt in seine Augen schaute. Langsam ließ er den Blick über ihr Gesicht gleiten, und ihr Puls schlug mit jeder Sekunde schneller. In ihren Gedanken tauchte wieder der Brief auf, den Tante Milly ihr geschrieben hatte, doch statt die Erinnerung an ihn wegzuschieben, fragte sie sich, ob nicht doch etwas Wahres in seinen Zeilen steckte.
Es war Mark, der den Augenkontakt abbrach. Unvermittelt stand er auf und ging zu seinem Platz zurück. „Ich glaube nicht, dass Sie sich viel Sorgen darüber machen müssen.“
„Das haben Sie mir schon gesagt.“
„Ich meinte das Brautkleid Ihrer Tante.“
„Sie meinen, ich bräuchte nicht beunruhigt zu sein?“ Wie, bitte, hatte sie das zu verstehen?
„Jedenfalls nicht meinetwegen.“
„Ich kann Ihnen nicht genau folgen …“ Wenn er auch nur ahnen würde, wie schnell ihr Herz geschlagen hatte, als sie sich in die Augen geschaut hatten, dann wäre er sicherlich nicht so zuversichtlich. „Ich bin verlobt.“
„Verlobt?“ Es kam Shelly vor, als habe ihr jemand einen Schlag in den Magen versetzt. Ihre höchste Empfindung war Wut. „Hätten Sie das nicht ein bisschen früher erwähnen können?“, fuhr sie ihn an.
„Es ist noch nicht offiziell. Janice hat sich noch nicht einmal einen Verlobungsring ausgesucht. Und wir haben über unsere Pläne auch nicht mit ihrer Familie gesprochen.“
Ihre Wut legte sich, und Shelly gab sich einen Ruck. Sie rief sich ins Gedächtnis, selbst ja auch keinerlei Interesse an einer Ehe zu haben. Was sie ja auch nicht zu haben brauchte. Denn wenn Mark mit dieser Janice zusammen war, dann war er ja auch nicht frei, um sie, Shelly, zu heiraten. Was bewies, dass es so etwas wie ein „magisches Hochzeitskleid“ nicht gab. So einfach war das. Sie stand auf und begann, hin und her zu gehen.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte Mark. „Sie sehen bleich aus.“ Sie nickte und legte die Hände an die Wangen, die sich plötzlich heiß anfühlten. „Ich bin so erleichtert“, flüsterte sie heiser. „Sie haben ja keine Vorstellung davon, wie erleichtert. Sie sind verlobt … mein Gott, ich habe das Gefühl, wie neugeboren zu sein.“
„Wie ich schon gesagt habe“, erklärte Mark reserviert, „ist es noch nicht offiziell.“
„Das macht nichts. Sie sind mit jemand anderem zusammen, und allein das zählt.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Allerdings hätten Sie es auch ein wenig früher sagen können. Damit hätten Sie mir eine Menge Angst erspart.“
„Als Sie mich neulich im Einkaufszentrum danach gefragt haben, war ich mehr darum bemüht, eine Szene zu vermeiden, als meine persönlichen Daten in aller Öffentlichkeit zu verkünden.“
„Der Vorfall tut mir leid.“
„Keine Ursache.“
Shelly setzte sich wieder auf den Stuhl und schlug die Beine übereinander. Sie schaffte es sogar, ein Magazin durchzublättern, obwohl sie kaum wahrnahm, was sie da las. Endlich öffnete der Mann vom Empfang die Tür und rief ihren Namen. Sie hatte es eilig, aus dem Zimmer zu kommen und diese dumme Geschichte zu beenden, stand hastig auf und griff sich ihre Schachtel. Doch dann blieb sie einen Moment stehen und wandte sich zu Mark um.
„Ich wünsche Ihnen und Janice viel Glück“, sagte sie förmlich.
„Danke“, gab er mit einem Lächeln zurück. „Dasselbe wünsche ich Ihnen und demjenigen, den das Hochzeitskleid für Sie als Bräutigam findet, wer auch immer das sein mag.“
Du hast allen Grund zur Freude, sagte Shelly sich am nächsten Morgen. Dann freu dich auch! Sie hatte nicht nur die Buchprüfung überstanden und durfte sogar eine Rückzahlung erwarten, sie hatte doch auch erfahren, dass Mark so gut wie verlobt war.
Eigentlich müsste sie auf der Straße einen Freudentanz aufführen und laut singen, stattdessen musste sie gegen eine seltsame Traurigkeit ankämpfen. Sie schien ihre übliche Lebenslustigkeit und Freude verloren zu haben. Dabei war heute Samstag, ihr erster freier Samstag seit Langem. Sie rief sich das belebende Gefühl und den Trost ins Gedächtnis, als sie ihren letzten Videofilm abgedreht hatte. Sie hatte einen Sturm auf dem Ozean gefilmt. Vielleicht gelang es ihr ja, etwas von diesen Eindrücken wiederzubeleben.
Shelly fuhr nach Long Beach, einem Erholungsort an der Küste Washingtons. Der Himmel war klar und fast wolkenlos, und die Sonne schien strahlend und angenehm warm. Es war ein perfekter Frühlingstag. Sie fuhr den Freeway entlang, und die Meilen vergingen wie im Flug. Ein paar Stunden später stand sie auf dem Sandstrand und ließ sich die Meeresbrise durch ihr langes Haar wehen.
Sie spazierte eine Weile herum und nahm das Meer und die Geräusche ringsherum in sich auf. Sie hörte das Kreischen der Möwen, spürte die salzige Gischt des Pazifischen Ozeans auf der Haut und roch den Duft des Windes. Auch rückwirkend war sie sehr zufrieden mit ihrem letzten Video. Schatte die Atmosphäre gut getroffen und begann, Pläne über eine ganze Serie von Meeresfilmen zu schmieden. Sie wollte den Ozean in verschiedenen Stimmungen und zu unterschiedlichen Jahreszeiten festhalten. Das wird etwas ganz Besonderes sein, dachte sie, etwas Einzigartiges.
Ziellos und gedankenverloren schlenderte sie den Strand entlang, die Hände in den Taschen ihrer Jeans vergraben und trat ab und zu mit der Spitze ihres Basketballschuhs in den Sand. Nach etwa einer Stunde ging sie langsam zur Promenade zurück und kaufte sich dort einen Hotdog und ein kaltes Getränk. Sie mietete sich dann nur so aus Spaß ein Moped und fuhr am Strand entlang. Sie genoss das Gefühl von Freiheit, das ihr die schnelle Fahrt und die Weite und Leere des Strandes und das Rauschen der Brandung gaben.
Der Wind blies ihr immer wieder das Haar ins Gesicht, bis es ihr in wilden Locken um den Kopf hing. Shelly lachte laut auf und gab Gas. Hinter dem Moped zischte der Sand hoch, und sie fühlte sich verwegen und frei, als gäbe es nichts, was sie nicht zustande bringen könnte. Es war ein wundervoller Nachmittag und doch noch ein herrlicher Tag geworden.
Doch als sie es am wenigsten erwartet hatte, hörte sie einen anderen Mopedfahrer hinter sich. Bisher war sie keinem begegnet, und seine Anwesenheit überrumpelte sie. Sie schaute rasch über die Schulter und war verblüfft, wie weit sie schon gefahren war. Der einzige andere Mensch, den sie sehen konnte, war der Fahrer dieses Mopeds, der sie nun überholte.
Zu ihrer Überraschung wendete er plötzlich und fuhr in ihre Richtung zurück. Die Sonne blendete sie etwas, und der Wind blies ihr erneut eine Locke ins Gesicht. Deshalb fuhr sie langsamer, bis sie fast stand, und beschattete die Augen.
Doch sie konnte den Fahrer erst erkennen, als er fast unmittelbar neben ihr war. Es war Mark Brady.
Shelly war so geschockt, dass sie den Motor abwürgte. Sie stemmte die Füße in den Sand, um nicht die Balance zu verlieren. Mark bremste hart ab.
„Shelly?“ Er schien gleichermaßen verwirrt zu sein und nicht glauben zu können, dass sie es war.
Shelly kniff sich in den Arm, um sicherzugehen, dass sie nicht fantasierte. Mark Brady wäre die letzte Person gewesen, die sie auf einem Moped am Strand zwei Stunden von Seattle entfernt erwartet hätte. Dieser konservative Mensch auf einem Moped! Heute jedoch trug er keinen dunklen Anzug. Und seinen Aktenkoffer hatte er auch nicht dabei. Dafür sah er in Jeans und einem Sweatshirt der Universität Washington noch attraktiver aus.
„Mark?“ Sie konnte ihr Erstaunen nicht verbergen.
„Was machen Sie hier?“ Die Feindseligkeit in seiner Stimme war ebenso unüberhörbar.
„Das Gleiche wie Sie, vermutlich“, gab sie kühl zurück. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht, aber der Wind wehte es sofort wieder zurück.
„Sie sind mir nicht zufällig gefolgt, oder doch?“ Der Blick seiner blauen Augen war voller Misstrauen.
„Ihnen gefolgt?“, wiederholte sie abweisend. Sie war selten so beleidigt worden. „Ihnen gefolgt!“ Sie startete ihr Moped und ließ den Motor aufheulen. „Darf ich Sie darauf hinweisen, dass ich zuerst am Strand war? Wenn hier jemand jemandem gefolgt ist, dann Sie ja wohl mir.“ Sie musste kurz Luft holen. „Wenn ich an unsere erste Begegnung denke, dann sind Sie der Letzte, nach dem ich Ausschau halten würde.“
Mark blickte sie finster an. „Ganz meinerseits. Und ich bin auch nicht in der Stimmung für eine weitere Geschichte über das verdammte Hochzeitskleid Ihrer Tante Martha.“
Ärgerlicherweise versetzten seine Worte ihr einen Stich. „Ich habe diesen wundervollen Nachmittag sehr genossen, bis Sie aufgetaucht sind.“
„Ich ebenfalls“, konterte Mark missmutig.
„Dann schlage ich vor, dass wir unserer Wege gehen und vergessen, uns überhaupt getroffen zu haben.“
Es sah so aus, als wollte er noch etwas sagen, aber sie hatte keine Lust, ihm zuzuhören. Sie wendete, gab Gas und fuhr davon. Obwohl sie wusste, dass es völlig unvernünftig war, war sie wütend auf Mark. Es ärgerte sie, dass sie sich gefreut hatte, ihn zu sehen. Und sie war wütend, dass er sich nicht im Geringsten darüber gefreut zu haben schien, sie zu sehen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Und über das „verdammte Hochzeitskleid“ – wie er sich ausdrückte – hatte er auch nichts mehr hören wollen. Wie ruppig von ihm! Sie sollte sich einfach nicht für einen Mann interessieren, der derart unhöflich war.
Shelly hatte es plötzlich sehr eilig, zur Promenade zurückzukommen, und stemmte die Schultern gegen den Fahrtwind. Sie hatte sowieso nicht so weit fahren wollen.
Der nasse, feste Sand lud zum rasanten Fahren ein, und Shelly hielt sich dicht am Wasser, um schneller Abstand zu Mark zu gewinnen. Nicht, dass er sie verfolgt hätte, aber sie wollte jede Möglichkeit einer weiteren unerfreulichen Begegnung vermeiden.
Eine große Welle spülte an den Strand und hinterließ eine dünne, glänzende Schicht. Shelly bemerkte es nicht, bis ihr Vorderrad durchs Wasser lief und es zu beiden Seiten hochspritzte. Dann grub es sich in den nun aufgelockerten nassen und schweren Sand. War sie eben noch rasant über den Strand gefahren, so schoss sie jetzt kopfüber über die Lenkstange ihres Mopeds nach vorn.
Mit einem heftigen Rumms landete sie im Sand. Sie war zu geschockt, um zu merken, ob sie verletzt war oder nicht.
Bevor sie sich bewegen konnte, kauerte Mark schon an ihrer Seite. „Shelly ist alles in Ordnung?“
„Ich … ich weiß nicht.“ Vorsichtig krümmte sie erst den einen Arm und dann den anderen. Sie setzte sich auf und prüfte die Beine. Auch dort spürte sie keine Schmerzen. Offensichtlich hatte sie diese Erfahrung unbeschadet überstanden.
„Sie verrückte Närrin!“, brüllte Mark jetzt los und stand auf. „Wollten Sie sich umbringen?“
„Ah …“ Sein Ausbruch verschlug ihr die Sprache, und ihr fiel keine passende Antwort ein.
„Können Sie sich vorstellen, was ich gedacht habe, als ich Sie da kopfüber durch die Luft fliegen sah?“
„Endlich erlöst?“, schlug sie vor.
Mark schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt. Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Er bückte sich, legte ihr die Arme um Rücken und Schenkel und hob sie behutsam hoch.
„Mir geht es ausgezeichnet“, protestierte sie. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, und sie wusste nicht, ob das von ihrem Sturz oder davon kam, dass Mark sie an sich gedrückt fest in den Armen hielt. Selbst als er sie nun hinunterließ und sie wieder auf den Füßen stand, hielt er sie unvermindert fest.
„Sind Sie sicher, dass Sie nicht verletzt sind?“
Shelly nickte. Sie traute ihrer Stimme nicht.
„Aber ich fürchte, mein Moped hat den Sturz nicht so gut überstanden“, murmelte sie schließlich und wies mit dem Kopf auf ihre Maschine, die umgekippt halb im Wasser lag.
„Das stimmt, es sieht wirklich nicht gut aus“, meinte Mark. Er ließ endlich seine Arme sinken und stellte das Moped wieder auf. Die Wellen hatten den Motor überspült, und das kalte Wasser war gegen den erhitzten Auspuff geschlagen. Vom Motor stieg Dampf auf.
Mark versuchte sein Bestes, um das Moped für Shelly wieder in Gang zu setzen, hatte aber keinen Erfolg. „Ich fürchte, es wird nicht mehr starten, bis der Motor nicht trocken geworden ist. Außerdem sollte ein Mechaniker überprüfen, ob nichts kaputt ist.“
Shelly strich sich das Haar aus dem Gesicht und nickte. Wohl oder übel würde sie das Moped nun schieben müssen. Nicht gerade eine kleine Leistung, wenn sie bedachte, dass sie ungefähr drei Meilen von dem Verleihgeschäft entfernt war.
„Vielen Dank, dass Sie angehalten haben“, sagte sie ein wenig steif. „Aber wie Sie sehen, bin ich nicht verletzt …“
„Was haben Sie denn jetzt vor?“, fragte Mark, als sie das Moped zu schieben begann. Es ging nur langsam, und die bullige Maschine war mit Muskelkraft wesentlich schwieriger zu bewegen, als Shelly es erwartet hatte. Sie konnte von Glück reden, wenn sie den Laden bis heute Nacht erreicht haben würde.
„Ich bringe die Maschine dorthin zurück, wo ich sie ausgeliehen habe.“
„Das ist lächerlich.“
„Haben Sie eine bessere Idee?“, fragte sie gelassen. „Ich verstehe sowieso nicht, was Sie hier überhaupt machen.“ Sie klang wesentlich ruhiger, als sie sich fühlte. „Sie sollten bei Janet sein.“
„Bei wem?“ Er versuchte, ihr das Moped wegzuziehen und es selbst zu schieben. Aber sie erlaubte es nicht.
„Ich meine die Frau, die Sie heiraten werden, erinnern Sie sich?“
„Ihr Name ist Janice, und wie ich schon sagte, ist die Verlobung noch nicht offiziell.“
„Das beantwortet aber nicht meine Frage. Sie sollten mit ihr an einem so schönen Frühlingstag wie diesem hier zusammen sein.“
Mark schaute sie finster an. „Janice konnte nicht mitkommen. Sie hatte ein wichtiges Treffen mit einem ihrer Klienten. Sie ist Anwältin. Hören Sie, seien Sie nicht so verflixt halsstarrig. Ich bin stärker als Sie. Lassen Sie mich das Moped schieben.“
Shelly zögerte. Sein Angebot war mehr als verlockend. Sie war erst ein paar Schritte gegangen, und schon tat ihr die Seite weh. Sie presste die Hand gegen die Hüfte und richtete sich auf. „Danke nein, aber dennoch, vielen Dank“, antwortete sie leise. „Außerdem heißt die Tante, die mir das Brautkleid geschickt hat, Milly, nicht Martha – wenn wir schon die Namen richtigstellen.“
Marks Miene verriet deutlich, dass er mit seiner Geduld bald am Ende war. „Gut. Ich entschuldige mich für das, was ich da vorhin gesagt habe. Ich wollte Sie nicht beleidigen.“
„Ich bin Ihnen nicht gefolgt.“
„Ich weiß, ich Ihnen aber auch nicht.“
Shelly nickte und wusste, dass sie ihm glauben konnte.
„Aber wie erklären Sie es sich dann, dass wir uns zweimal innerhalb der letzten Woche unbeabsichtigt getroffen haben?“, fragte Mark. „Dieser Zufall ist ja geradezu ein Phänomen.“
„Ich weiß, dass es seltsam klingt, aber ich fürchte, es ist das Kleid“, sagte Shelly leise. „Das Hochzeitskleid?“
„Es ist mir schrecklich peinlich. Ich benehme mich sonst wirklich nicht so, und es tut mir auch leid, vor allem, weil da ja anscheinend ein Durcheinander ist …“
„Warum?“
„Nun …, weil Sie ja mit Janice zusammen sind. Ich bin sicher, dass Sie beide ein perfektes Paar abgeben, und Sie werden sicher ein wundervolles Leben zusammenhaben.“
„Wieso kommen Sie darauf?“
Diese Frage überrumpelte sie. „Nun, weil …, haben Sie mir nicht erzählt, dass Sie sich bald offiziell verloben wollen?“
„Ja“, erwiderte Mark zurückhaltend. Shelly nickte und schob ihr Moped weiter.
Auch wenn Shelly es Mark gegenüber nicht zugeben wollte, fand sie es sehr anstrengend, das Moped zu schieben. Deshalb hielt sie wieder an, um einen Moment auszuruhen. „Hören Sie“, sagte sie ein wenig atemlos, „es ist nicht nötig, dass Sie mich begleiten. Warum fahren Sie nicht los?“
„Es ist durchaus nötig“, erwiderte Mark scharf. Ihm schien ihr Vorschlag keineswegs zu gefallen. „Ich werde Sie jetzt nicht im Stich lassen.“
„Oh, Mark, ehrlich, Sie brauchen nicht so ritterlich zu sein.“
„Mögen Sie ritterliche Männer nicht?“
„Sicher tue ich das. Aber gerade Ihre Ritterlichkeit ist einer der Gründe, warum Sie und ich niemals längere Zeit miteinander auskommen würden. Sie sind sehr nett, missverstehen Sie mich bitte nicht, aber ich brauche niemanden, der mich rettet.“
„Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt bin, aber Sie wirken sogar, als würden Sie dringend Hilfe brauchen.“ Und der Blick, den er ihr zuwarf, ließ darauf schließen, dass er auf wesentlich mehr anspielte als auf das Moped.
„Ich war dumm genug, den Motor nass werden zu lassen“, sagte sie leichthin, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. „Also werde ich auch die Konsequenzen tragen.“
Mark wartete einen Moment, als überlegte er, ob er weiter mit ihr streiten wolle. „Gut, wenn Sie so darüber denken“, meinte er schließlich, setzte sich wieder auf sein Moped und startete. Der Motor sprang derart leicht an, dass Shelly fast wütend wurde. „Ich hoffe, dass Sie nicht zu schnell müde werden.“
„Ich werde es schon schaffen“, erklärte sie und konnte es kaum glauben, dass er sie tatsächlich allein lassen wollte.
„Hoffentlich haben Sie damit recht.“ Er ließ die Maschine aufheulen.
„Sie … Sie könnten jemanden informieren“, sagte Shelly zögernd. Sie hoffte, dass der Motorradverleih jemanden mit einem Lastwagen zu ihr schicken würde.
„Ich werde sehen, was ich machen kann.“ Mark lächelte breit und fuhr dann mit Höchstgeschwindigkeit den scheinbar endlosen Strand hinunter.