1. KAPITEL

Es war einer dieser ganz bestimmten Tage, an denen nichts, aber auch gar nichts richtig lief. Shelly Hansen sagte sich, dass sie heute Morgen die Zeichen hätte beachten sollen. Sie war über das Schuhband ihrer hohen, dunkelblauen Basketballschuhe gestolpert, als sie vom Parkplatz in ihr kleines Büro gehastet war. Dabei hatte sie sich ein Loch in das Knie ihrer brandneuen Hose gerissen und war nicht besonders würdevoll in das Gebäude gehumpelt. Von da an war der Tag immer schlechter verlaufen.

Als sie am Abend in ihr Apartment zurückkehrte, war sie in einer üblen Stimmung. Und es hätte ihr zu ihrem Glück gerade noch gefehlt, dass ihre Mutter unangemeldet hereingeplatzt käme, einen Mann im Schlepptau und strahlend verkündend, endlich den geeigneten Partner für sie gefunden zu haben.

Das war genau das, was sie von ihrer lieben, süßen und verzweifelten Mutter hätte erwarten können. Sie, Shelly, war achtundzwanzig, und ihre Mutter hielt die Tatsache, dass sie immer noch ledig war, für außerordentlich besorgniserregend.

Dabei spielte es keine Rolle, dass ihre Tochter mit ihrem Leben, so wie es war, zufrieden war. Sie beachtete auch nicht, dass die Tochter weder an einer Ehe noch an Kindern interessiert war, wenigstens noch nicht. Nicht in absehbarer Zeit.

Im Moment war Shelly vollkommen mit ihrem Beruf beschäftigt. Sie war sehr stolz auf ihre Arbeit als Videoproduzentin. Ihre Videos, die der Entspannung dienten, zeigten Bilder vom Meer, von Bergen, einem Feuer im Kamin, im Hintergrund spielte klassische Musik. Und sie verkauften sich gut. Ihr Video, das dazu diente, Katzen in Abwesenheit ihrer Herrchen oder Frauchen zu entspannen, hatte kürzlich sogar die Aufmerksamkeit eines der größeren Händler erregt, und sie fing langsam an zu glauben, entdeckt zu werden.

Das waren die guten Nachrichten. Dass ihre Mutter versuchte, sie zu verheiraten, war die schlechte.

Shelly warf ihren mexikanischen Tragebeutel und ihr gestreiftes Jackett auf das Sofa, ging in die Küche und stöberte suchend in ihrem Gefrierschrank. Sie hatte das Schnellgericht gerade in die Mikrowelle gestellt, als es an der Tür klingelte.

Ihre Mutter! So, wie der Tag gelaufen war, musste es einfach ihre Mutter sein. Shelly unterdrückte ein Stöhnen und beschloss, höflich, aber nachdrücklich zu sein, freundlich und entschlossen. Und wenn ihre Mutter das Gespräch wieder auf einen Ehemann brächte, würde sie einfach das Thema wechseln.

Aber nicht Faith Hansen stand vor der Tür, sondern Elvira Livingstone, die Verwalterin des Apartmenthauses, Elvira war eine warmherzige, liebenswerte, aber leider auch unersättlich neugierige, ältere Lady.

„Guten Abend, Dear.“ Elvira trug schwere goldene Ohrringe und ein weites, strahlend gelbes Hauskleid. Die Hände hatte sie schützend um ein großes Paket gelegt. „Der Postbote hat das vorbeigebracht und mich gebeten, es Ihnen zu geben.“

„Das ist für mich?“ Vielleicht war der Tag ja doch noch nicht ganz verdorben.

Elvira nickte, hielt das Paket aber immer noch fest, als wolle sie es nicht hergeben, bis sie alle wichtigen Informationen erhalten hatte. „Der Absender ist aus Kalifornien. Kennen Sie jemanden mit Namen Millicent Bannister?“

„Tante Milly?“ Shelly hatte schon seit Jahren nichts mehr von der Großtante ihrer Mutter gehört.

„Das Paket ist sogar versichert.“ Elvira spreizte die Finger, gerade weit genug, dass sie den Aufkleber noch einmal prüfen konnte.

Shelly hielt ihr die Arme ausgestreckt hin, um das Paket in Empfang zu nehmen, ohne Erfolg,

„Ich musste dafür unterschreiben. Und es ist ein Brief beigefügt.“

Shelly hatte den Eindruck, dass sie nur dann ihr Paket bekommen würde, wenn sie es Elvira zuerst öffnen ließ. „Ich weiß die Mühe zu schätzen, die Sie meinetwegen auf sich genommen haben“, sagte sie, packte mit festem Griff das Paket und entriss es Elvira förmlich. „Vielen Dank.“

Die Miene der älteren Lady verriet deren Enttäuschung, als Shelly langsam die Tür schloss. Aber nach einem derart frustrierenden Tag war Shelly nicht in der Stimmung auf Gesellschaft, schon gar nicht auf die der sicherlich gut meinenden, aber nervtötenden Elvira Livingstone.

Shelly seufzte. Das hatte sie nun davon, eine Wohnung mit „Charakter“ gemietet zu haben. Nach den ersten Startschwierigkeiten hätte sie es sich leisten können, in einem modernen Hochhaus mit Sauna und Swimmingpool in einer vermögenden Yuppiegegend zu leben. Stattdessen hatte sie sich für diesen zweistöckigen Ziegelbau im Herzen von Seattle entschieden. Die Heizungen zischten in perfekter Abstimmung mit den Wasserrohren, die quietschten und ächzten. Aber Shelly liebte den Böden aus Holz, die hohen Decken und die eleganten Kristallleuchter und die Fenster, von denen man einen wundervollen Blick auf die Elliott Bay hatte. Sie konnte gut ohne Sauna und die anderen Annehmlichkeiten leben, selbst wenn sie dafür in Kauf nehmen musste, sich gelegentlich mit einer Lady wie Elvira Livingstone auseinandersetzen zu müssen.

Shelly trug das Paket in die Küche und legte es auf den Tisch. Vorsichtig begann sie, das braune Packpapier zu entwickeln.

Die Schachtel darunter war ziemlich alt, und die Pappe schwerer und fester als die, die gewöhnlich von Geschäften benutzt wurde. Behutsam entfernte Shelly den Deckel. Sie sah auf eine dicke Schicht von weichem Papier, das um ein Kleid gewickelt war. Sie schob das Papier beiseite und hob das Kleid sorgfältig aus der Schachtel. Überrascht stieß sie die Luft aus.

Es war nicht irgendein Kleid. Es war ein langes weißes Hochzeitskleid, ein wundervoll genähtes Hochzeitskleid aus Satin und Spitze. Sicherlich ist es Tante Millys Hochzeitskleid gewesen, dachte Shelly. Aber das konnte doch nicht möglich sein … nein, es war unmöglich.

Beunruhigt legte sie das Kleid wieder zusammen und in die Schachtel zurück. Sie griff nach dem beigefügten Brief, und ihre Hände zitterten, während sie den Umschlag öffnete.

Meine liebste Shelly, ich hoffe, dass Du diesen Brief bei bester Gesundheit erhältst. Ich habe in den letzten Tagen häufig an Dich gedacht. Bestimmt ist Mr Donahue daran schuld. Aber es könnte auch Ophra gewesen sein. Wie Du sicher schon vermutet hast, sehe ich mir sehr häufig diese Talkshows im Fernsehen an. John würde das zwar missbilligt haben, aber er ist ja nun schon seit acht Jahren tot. Natürlich würde ich sie mir auch ansehen, wenn er noch am Leben wäre. John hat missbilligen können, was er wollte, es hat ihm kein bisschen genützt. Das hat es nie getan. Aber er wusste das und hat mich trotzdem geliebt.

Ich kann mir vorstellen, dass Du Dich fragst, warum ich Dir mein Hochzeitskleid schicke. Ja, es ist tatsächlich mein berühmtes Brautkleid. Vermutlich hat Dich sein Anblick in Angst und Schrecken versetzt, und Du fragst Dich, warum ich es Dir geschickt habe. Ich zweifle nicht daran, dass Dir seine Geschichte vertraut ist. Jeder in unserer Familie kennt sie seit Jahren. Bestimmt ist Dein erster Impuls, es zu verbrennen.

Wenn ich es richtig bedenke, trägt wohl doch Donahue die Schuld. Er hatte neulich eine Show, in der er Haustiere als liebevolle Begleiter von älteren Menschen vorgestellt hat. Der Mann, den er interviewt hat, hatte einen niedlichen Scotchterrierwelpen mitgebracht, und in diesem Moment habe ich mich wieder an die alte schottische Schneiderin erinnert. Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich wieder aufwachte, liefen im Fernsehen gerade die Sechs-Uhr-Nachrichten.

Im Schlaf habe ich jedenfalls von Dir geträumt. Und es war kein gewöhnlicher Traum. Ich habe Dich ganz klar vor mir gesehen. Du standest neben einem großen jungen Mann, und Deine blauen Augen schienen zu strahlen. Du wirktest sehr glücklich und sehr verliebt. Aber was mich verblüfft hat, war das Hochzeitskleid, das Du getragen hast. Es war meins.

Es war das gleiche Kleid, das diese alte Schottin vor so langer Zeit für mich genäht hat. Ich hatte das Gefühl, mir habe jemand eine Botschaft geschickt, und dass es besser wäre, wenn ich sie nicht einfach ignorieren würde. Und Du solltest das auch nicht tun! Du bist dabei, das größte Abenteuer Deines Lebens zu erleben, Darling. Halt mich auf dem Laufenden!

Glaub mir, Shelly, ich weiß, was Du jetzt denkst. Ich erinnere mich noch genau an meine eigenen Gedanken, als mir die schottische Schneiderin damals das fertige Hochzeitskleid gegeben hat. Eine Ehe war das Letzte, an das ich damals dachte! Ich hatte einen Beruf, und damals war es selten, dass Frauen das College besuchten, ganz zu schweigen davon, dass sie ihr Jurastudium abschlossen.

Wir beide sind uns sehr ähnlich, Shelly. Wir schätzen unsere Unabhängigkeit. Und der Mann, der uns heiraten soll, muss schon etwas Besonderes sein. Und Du, meine süße, liebe Nichte, wirst diesem besonderen Mann ebenso begegnen, wie ich ihn getroffen habe.

Mit ganzer Liebe

Deine Tante Milly

P.S. Du bist erst der zweite Mensch, der dieses Hochzeitskleid trägt.

Mit immer noch zitternden Händen faltete Shelly den Brief zusammen und schob ihn wieder in den Umschlag. Ihr Herz schlug heftig, und sie hatte Schweißperlen auf der Stirn.

In diesem Moment klingelte das Telefon, und Shelly griff mechanisch nach dem Hörer. Dabei hatte sie gar keine Lust, mit irgendjemandem zu reden.

„Hallo.“ Erst als sie sich meldete, kam ihr in den Sinn, dass der Anrufer möglicherweise ihre Mutter sein könnte mit dem bewussten Mann im Schlepptau. Doch jeder Mann, den ihre Mutter ihr vorstellen würde, würde diesen Albtraum nur noch drückender machen.

„Shelly, hier ist Jill. Geht es dir gut? Du klingst ein wenig seltsam.“

„Jill!“ Shelly war so erleichtert, dass ihr die Knie zitterten. „Gut, dass du es bist!“

„Was ist los?“

Womit sollte sie anfangen? „Meine Tante Milly hat mir ein Hochzeitskleid geschickt, und es ist gerade angekommen. Ich weiß, dass das nichts Ungewöhnliches zu sein scheint, es sei denn, du würdest die Familiensaga über meine Tante und meinen Onkel John kennen.“

„Die kenne ich nicht.“

„Natürlich nicht, sonst wüsstest du, was ich gerade durchmache“, erwiderte Shelly scharf. Sofort tat es ihr leid, ihre beste Freundin so gereizt behandelt zu haben. Mühsam versuchte sie sich zusammenzunehmen und begann zu erklären. „Das Hochzeitskleid, das mir gerade per Post zugestellt worden ist, ist das, das sich seit vierzig Jahren im Besitz meiner Familie befindet. Der Grund dafür ist, dass es so gut wie sicher ist, dass ich es irgendwann einmal tragen werde.“

„Ich wusste nicht einmal, dass du dich mit irgendjemand Bestimmtem triffst“, warf Jill leicht gekränkt ein.

„Ich werde ja auch nicht heiraten, noch lange nicht. Wenn jemand das wissen müsste, dann du.“

„Dann will deine Tante einfach nur, dass du es trägst, wenn es so weit ist.“

„Es gibt noch eine Tatsache, die du nicht weißt!“ Shelly schrie fast. „Meine Tante Milly ist eigentlich die Tante meiner Mutter und nur ein paar Jahre jünger als meine Großmutter. Sie ist kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Anwältin geworden und hat hart dafür kämpfen müssen ihren Abschluss zu bekommen. Dann hat sie sich entschieden, Karriere zu machen.“

„Mit anderen Worten, sie hat vorgehabt, niemals zu heiraten.“

„Genau das.“

„Aber offenbar hat sie es dann doch getan.“

„Ja, und die Geschichte, wie es passiert ist, ist seit Jahren Familiengeschichte. Tante Milly hat all ihre Kleider anfertigen lassen. Und irgendwann hat sie einen besonders schönen weißen Stoff zu einer schottischen Frau gebracht, die den Ruf hatte, die beste Schneiderin im Umkreis zu sein. Milly brauchte ein Abendkleid für einen formellen Anlass, der natürlich mit ihrem Beruf zusammenhing. Die Frau nahm Millys Maße und versicherte ihr, das Kleid würde in einer Woche fertig sein.“

„Und?“, drängte Jill sie, als Shelly stockte.

Der Teil der Geschichte, der jetzt kam, missfiel Shelly am meisten. „Und … als Milly zurückkehrte, um das Kleid abzuholen, war es nicht das Kleid, das sie bestellt hatte. Die schottische Schneiderin erklärte daraufhin, sie habe das ‚zweite Gesicht‘.“

„Die Frau war Hellseherin?“

„Jedenfalls hat sie das behauptet.“ Shelly holte tief Luft.

„Sie erzählte meiner Tante, eine Vision gehabt zu haben, als sie anfing, das Kleid zu nähen. Und zwar eine ganz klare Vision, die meine Tante beträfe. Und anscheinend hatte dieses Bild ihr gezeigt, dass Milly heiraten würde. Die Frau war so sehr davon überzeugt, dass sie ihr statt eines einfachen Abendkleides ein elegantes Hochzeitskleid genäht hatte, mit weißem Satin, Spitze und bestickten Perlen.“

„Die Geschichte klingt wundervoll, Shelly“, sagte Jill und seufzte auf.

„Das Kleid ist ja auch wundervoll, aber verstehst du denn nicht …?“

„Was soll ich verstehen?“

Shelly hätte vor Frustration beinahe aufgestöhnt. „Die Frau hat darauf beharrt, dass meine Tante Milly, die sich nur ihrem Beruf hingegeben hatte, innerhalb eines Jahres heiraten würde. Und bis ins kleinste Detail ist es genau so eingetroffen, wie die Schneiderin es vorausgesagt hatte.“

Jill seufzte erneut. „Das ist die romantischste Geschichte, die ich jemals gehört habe.“

„Das ist keine romantische Geschichte“, erklärte Shelly streitlustig. „Das ist das Schicksal, das in das Leben eines Menschen eingreift. Das Leben ist manchmal eben seltsam. Ich weiß, dass es komisch klingt, aber ich bin mit dieser Geschichte aufgewachsen. Es scheint so, als habe meine Tante in dieser Angelegenheit überhaupt keine Wahl gehabt.“

„Und nun hat sie dir das Hochzeitskleid geschickt?“

„Ja“, erwiderte Shelly elend. „Verstehst du nun, warum ich aufgeregt bin?“

„Ehrlich gesagt, nein. Nun komm schon, Shelly, es ist nichts weiter als ein altes Kleid. Du übertreibst. Du klingst so, als wäre es dir bestimmt, den nächsten Mann zu heiraten, dem du begegnest.“

„Woher wusstest du das?“, fragte Shelly erstickt. „Was wusste ich?“

„Das ist genau das, was Tante Milly passiert ist. Es ist ein Teil der Geschichte. Sie hat versucht, das Kleid zurückzuweisen, aber die Schneiderin wollte es nicht nehmen. Sie wollte auch keine Bezahlung dafür. Und als meine Tante das Geschäft verlassen hat, hatte sie Probleme mit dem Wagen und brauchte einen Mechaniker. Dieser Mechaniker war mein Onkel John. Und Tante Milly hat ihn geheiratet. Sie hat den ersten Mann geheiratet, den sie getroffen hat, genau, wie die Schneiderin es vorausgesagt hatte.“

„Shelly, das heißt nicht, dass auch du den nächsten Mann heiraten wirst, den du triffst“, stellte Jill ruhig fest. Viel zu ruhig, wie Shelly fand. Vielleicht erkannte Jill ja eine Krise nicht, selbst wenn sie direkt davor stand. Sie redeten hier über ihre, Shelly Hansens, Bestimmung. Über Vorherbestimmung. Über Schicksal. Gut, möglicherweise war sie ein bisschen, aber nur ein kleines bisschen melodramatisch, aber wer würde ihr das vorwerfen können, wo sie doch einen so furchtbaren Tag gehabt hatte?

„Tante Milly hat ganz geradeheraus gesagt, dass ich bald heiraten werde. Und der Familienlegende nach müsste ich den ersten Mann heiraten, den ich treffe, nachdem ich das Kleid erhalten habe.“

„Das mit dem Kleid ist nur ein Zufall“, versicherte Jill ihr. „Deine Tante hätte deinen Onkel sicher auch dann geheiratet, wenn sie das Kleid nicht gehabt hätte. Es wäre auch so passiert. Und vergiss nicht, dass deine Tante mittlerweile eine ältere Lady ist“, fuhr Jill beruhigend fort. „Ich kenne eine wundervolle ältere Lady, die alle paar Wochen in die Apotheke kommt und mir versichert, dass ich bald heiraten werde. Ich lächele dann nur, nicke und führe ihr Rezept aus. Sie meint es ja nur gut, und ich bin sicher, dass deine Tante Milly ebenfalls die besten Absichten hat. Sie will nur, dass du ebenso glücklich wirst, wie sie es mit deinem Onkel gewesen ist. Aber ich glaube, es ist ein Fehler, irgendeine ihrer Vorhersagen ernst zu nehmen.“

Shelly atmete laut aus. Jill hatte recht. Tante Milly war ein Schatz, der das Glück ihrer Großnichte am Herzen lag. Sie hatte selbst eine lange, glückliche Ehe erlebt und wollte dasselbe für sie. Aber sie, Shelly, hatte einen Beruf und ganz bestimmte Ziele, und keines von ihnen schloss ein, einen Fremden zu treffen und ihn zu heiraten.

Die Geschichte von Tante Millys Hochzeitskleid gehörte sozusagen zum Familienschatz, und sie hatte sie zum ersten Mal als Kind gehört und sie geliebt. In ihrer kindlichen Romantik hatte sie einen festen Platz neben den Märchen von Aschenputtel und Dornröschen eingenommen. Damals hatte sie Wahrheit und Fantasie kaum voneinander trennen können. Doch jetzt war sie erwachsen, und sie würde weder ihr Herz noch ihr Leben von so etwas Seltsamem, wie einem magischen Kleid oder einer Legende bestimmen lassen.

„Du hast vollkommen recht“, verkündete sie mit Nachdruck. „Die ganze Sache ist einfach lächerlich. Nur weil das Hochzeitskleid Tante Milly vor fünfzig Jahren mit einem Mann zusammengebracht hat, muss es das nicht auch bei mir bewirken, gleichgültig, was sie behauptet.“

„Ein Glück, dass du endlich vernünftig wirst.“

„Sie hat sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, mich nach meiner Meinung zu fragen, bevor sie mir dieses sogenannte magische Hochzeitskleid geschickt hat. Ich will jetzt noch nicht heiraten, also werde ich das Kleid nicht brauchen. Es ist zwar eine nette Geste, aber vollkommen überflüssig.“

„Genau.“

„Ich bin nicht daran interessiert, eine Vision abzugeben. Ich glaube nicht an diese Art Magie.“

„Ich auch nicht“, unterstützte Jill sie.

Shelly fühlte sich sehr erleichtert und seufzte auf. Die Verspannung in ihrem Nacken löste sich langsam. Jill war wie immer eine große Hilfe mit ihrer praktischen Sicht der Dinge, und Tante Milly war und blieb eine wundervolle ältere Lady. Aber die Geschichte war nichts weiter als eine schöne Familiensage, und es wäre lächerlich, sie ernst zu nehmen.

„Wollen wir uns morgen treffen?“, schlug Jill vor. „Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen.“

„Das würde mir gut passen“, meinte Shelly sofort. Obwohl sie seit dem College gute Freundinnen waren, war es im Moment schwierig für sie, sich bei der Hektik in ihrem Berufsleben zu verabreden. „Wann und wo?“

„Wie wäre es mit dem Einkaufszentrum? Das wäre das Einfachste für mich, weil ich morgen dort arbeiten muss. Ich könnte kurz vor zwölf Uhr mittags eine Pause machen.“

„Gut. Dann treffen wir uns um zwölf bei ‚Patrick’s‘.“ Lunch mit Jill war genau das Gegenmittel, was sie nach diesem schrecklichen Tag brauchte. Aber was hatte sie auch von einem Freitag, dem Dreizehnten erwarten können?

Am nächsten Tag verschlief Shelly und blieb dann auch noch auf dem Weg zum Einkaufszentrum in einem Verkehrsstau stecken. Sie hasste es, sich zu verspäten, aber es passierte ihr immer wieder.

Auf dem überfüllten Parkplatz, der das Einkaufszentrum umgab, war kaum noch eine Lücke zu finden, und nachdem sie endlich eine entdeckt hatte und aus dem Auto war, ging sie hastig zum nächsten Eingang. ‚Patrick’s‘ war ein gemütliches, angenehmes Restaurant im oberen Stockwerk und zur Lunchzeit gewöhnlich sehr gut besucht, denn das Essen dort schmeckte ausgezeichnet. Shelly hatte schon oft dort gegessen. Sie liebte vor allem die Shrimps mit Salat.

Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihr, dass es bereits nach zwölf war. Jill wartete bestimmt schon auf sie, und sie eilte zur Rolltreppe. Es war Wochenende und das Einkaufszentrum gedrängt voll. Nur mühsam gelang es Shelly, sich einen Weg durch die Menge der Menschen zu bahnen.

Sie wusste nicht genau, ob die Vorfreude auf die Shrimps mit Salat sie abgelenkt hatte, jedenfalls verlor sie in dem Moment, da sie ihren Fuß auf die unterste Stufe der Rolltreppe setzte, das Gleichgewicht.

Sie schrie erschrocken auf und ruderte mit den Armen, um nicht hinzufallen. Doch vergeblich. Sie fand keinen Halt und fiel nach hinten.

Shelly landete in den Armen eines Mannes, und das überrumpelte sie ebenso, wie überhaupt, das Gleichgewicht verloren zu haben. Ungläubig drehte sie sich herum, um ihrem Retter zu danken. Doch das erwies sich als Fehler. Ihre Aktion überraschte den Mann, und bevor er es verhindern konnte, fielen sie beide zu Boden. Erneut erwartete Shelly, sich wehzutun. Doch stattdessen fühlte sie den kräftigen, aber dennoch behutsamen Griff von zwei Armen um ihre Taille, die sie schützten. Er hatte es geschafft, den Sturz – zumindest für sie – abzufangen. Shelly lag ausgestreckt über ihm und schaute in das Gesicht des attraktivsten Mannes, den sie jemals gesehen hatte. Ihr Herz schlug heftig, sie hielt den Atem an und versteifte sich.

Einen Moment lang sprach keiner von ihnen ein Wort. Bevor Shelly etwas sagen konnte, hatte sich rings um sie bereits eine Menge Schaulustiger gebildet. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, sagte sie schließlich mit schwacher und atemloser Stimme. „Es tut mir so leid …“

„Mir geht es gut. Was ist mit Ihnen?“

„Gut, glaube ich.“

Ihre Brüste drückten sich an einen muskulösen Oberkörper, ihre Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Shellys langes Haar war vornübergefallen und umrahmte sein Gesicht. Er duftete nach Minze und irgendeiner frischen Seife. Neugierig betrachtete Shelly seine Gesichtszüge. Sie konnte deutlich die kleinen Lachfalten in den Winkeln seiner saphirblauen Augen sehen, und ebenso klar bemerkte sie die feinen Kerben um seinen Mund. Er hatte eine klassische gerade Nase, und seine Lippen waren voll und sinnlich. Zumindest die Unterlippe. Shelly brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass dieser Mann sehr männlich war. Ohne zu zögern, erwiderte er ihren Blick, als stünde er wie sie unter dem Bann dieses Momentes.

Weder der Mann noch Shelly bewegten sich, und obwohl Shelly davon überzeugt war, dass dieses atemberaubende Gefühl in ihr von dem Sturz herrührte, gelang es ihr einfach nicht, wieder normal zu atmen. „Sind Sie verletzt, Miss?“

Zögernd schaute Shelly zu dem Kaufhauswächter hoch, der neben ihr stand. „Nein, ich … ich glaube nicht.“

„Sir?“

„Alles in Ordnung.“

Der Griff seiner Arme, die sie so sicher gehalten hatten, lockerte sich.

„Würden Sie sich einen Moment hierhersetzen?“ Der Wächter deutete auf eine Bank. „Der Krankenwagen ist unterwegs.“

„Ein Krankenwagen? Aber ich habe Ihnen doch gerade gesagt, dass ich nicht verletzt bin“, bemerkte Shelly. Der Wächter half ihr auf die Füße. Ihre Beine zitterten und sie atmete ein wenig hastig, aber ansonsten war sie unverletzt.

„Es ist wirklich nicht nötig, Officer“, stimmte der Mann, der mit ihr gefallen war, ihrem Protest zu.

„Das ist unser Kundendienst.“ Der Wächter hakte die Daumen in seinen breiten Ledergürtel und wippte auf den Fußballen vor und zurück. „Wir lassen jeden unserer Kunden, der hier einen Unfall hatte, sofort auf unsere Kosten untersuchen.“

„Wenn Sie befürchten, dass wir eine Anzeige machen könnten …“

„Ich habe diese Regeln nicht aufgestellt“, unterbrach der Wächter Shellys Retter. „Ich sorge nur dafür, dass sie befolgt werden. Wenn Sie sich nun bitte hierhersetzen würden?“ Er zeigte auf eine kleine Bank. „Die Sanitäter müssen jede Sekunde eintreffen.“

„Ich habe aber keine Zeit, darauf zu warten!“, rief Shelly. „Ich bin verabredet.“ Himmel, wie sollte sie Jill diese Verspätung nur erklären? Dass oben an dem Geländer der Rolltreppe eine Traube von Menschen stand und neugierig heruntersah, würde es ihr auch nicht erleichtern, möglichst schnell zu ihr zu kommen.

„Ich habe ebenfalls eine Verabredung“, meinte der Mann und sah auf seine Uhr.

Der Wächter beachtete ihre Proteste nicht, holte ein kleines Notizheft aus seiner Hemdtasche und öffnete es. „Ihre Namen, bitte.“

„Shelly Hansen.“

„Mark Brady.“

Er notierte die Namen und eine kurze Beschreibung des Zwischenfalls.

„Ich muss doch wohl nicht auch noch mit ins Krankenhaus, oder?“, wollte Shelly wissen. „Das kommt darauf an.“

Die ganze Sache war einfach lächerlich. Es ging ihr gut. Sie war zwar ein wenig zittrig, zugegeben, aber nicht verletzt. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ihrem Retter noch gar nicht gedankt hatte. Sein Name war Mark Brady, wenn sie das eben richtig gehört hatte.

„Das alles tut mir schrecklich leid“, sagte sie. „Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, dass Sie mich gerettet haben.“

„Vielleicht passen Sie das nächste Mal jetzt ja besser auf.“ Mark sah erneut auf seine Uhr.

„Das werde ich. Aber ich schlage vor, dass Sie mich einfach fallen lassen, sollte es noch einmal passieren.“ Die Verzögerung war auch für sie unangenehm, aber das war kein Grund, derart gereizt zu sein. Sie schaute auf ihren Retter und schüttelte leicht den Kopf. Der Mann sah aus, als sei er direkt vom Fließband für leitende Angestellte gekommen. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit Krawatte und ein bluten weißes Hemd mit goldenen Manschettenknöpfen. Er war so originell wie gekochter Brei. Und hatte genauso viel Charme.

Während Shelly ihn musterte, bemerkte sie, dass er sie ebenfalls prüfend betrachtete. Offensichtlich war auch er nicht gerade beeindruckt von ihr. Dabei war ihr Sweatshirt leuchtend Orange, und die Jeans saßen hauteng. Ihre Basketballschuhe waren schwarz, und die Socken, die man noch ein wenig sah, hatten haargenau den Ton ihres Sweatshirts. Shelly reckte das Kinn und warf ihr Haar zurück. Eine Flut von Locken fiel um ihre Schultern. Mark Bradys Miene verriet deutlich sein Missfallen.

Die breiten Eingangstüren der Halle öffneten sich, und die Sanitäter des Hauses kamen herein. Sekunden später war auch die Ambulanz mit zwei weiteren Sanitätern da. Shelly war irritiert, dass ein derart unbedeutender Anlass eine derart große Aufmerksamkeit bewirkte.

Ein Sanitäter kniete sich vor sie hin, während der andere sich um Mark kümmerte. Bevor sie verstand, was vorging, hatte der Mann ihr den Schuh ausgezogen und prüfte ihren Knöchel. Mark wurde ebenfalls untersucht. Der Sanitäter presste ein Stethoskop auf sein Herz. Mark schien diese Prozedur kein bisschen mehr zu schätzen als sie.

Erst als er aufstand, bemerkte sie, wie groß er war. Bestimmt weit über eins achtzig. Das passt gut zu meinen fast eins siebzig, dachte Shelly spontan.

Doch dann traf dieser Gedanke sie wie ein Schlag in den Magen. Was für ein Blödsinn! Tante Milly hatte zwar geschrieben, dass sie sie neben einem großen, jungen Mann hatte stehen sehen, und sicher, Mark Brady war groß, sehr groß sogar, größer als alle Männer, die sie jemals kennengelernt hatte. Aber Tante Milly hatte auch etwas über ihre, Shellys, blaue Augen geschrieben, und sie hatte keine blauen Augen! Ihre Augen waren braun, haselnussbraun! Dafür hatte Mark allerdings blaue Augen, und zwar von genau dem lebhaften Blau, das nahezu alle Frauen einfach hinreißend fanden. Blödsinn? Shelly konnte ihre erste Reaktion auf ihn nicht vergessen. Sie hatte sich von ihm angezogen gefühlt, und zwar sehr angezogen. Und es war schon lange her, dass ein Mann sie dermaßen interessiert hatte. Jedenfalls, bis er aufgestanden war. Da hatte ein kurzer Blick genügt, um ihr klarzumachen, dass sie nichts gemeinsam hatten. Mark Brady hatte sicherlich nicht ein einziges Kleidungsstück, das nicht schwarz, blau oder braun war. Offensichtlich hatte der Mann keinerlei Fantasie. Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke, und sie schaute beunruhigt auf seine Hand. Aber sie konnte keinen Ehering entdecken. Sie schloss die Augen und sank mit einem Stöhnen gegen die Lehne der Bank.

„Miss?“ Der Sanitäter betrachtete sie aufmerksam.

„Entschuldigen Sie.“ Sie richtete sich schnell wieder auf und zog dann ungeduldig an Marks Anzugjackett. Aber er unterhielt sich gerade mit dem anderen Sanitäter und drehte sich nicht einmal zu ihr um. „Verzeihen Sie!“, sprach sie ihn laut an.

„Ja?“ Er drehte sich um und sah sie unwillig an.

Sie hatte jetzt zwar seine Aufmerksamkeit erregt, wusste aber nun nicht mehr, wie sie weiterreden sollte. „Vielleicht kommt Ihnen diese Frage albern vor, aber … ähm, sind Sie verheiratet?“

„Nein.“ Marks Miene verriet sein Befremden.

„Oh nein!“ Shelly stöhnte auf. „Das hatte ich befürchtet.“

„Wie bitte?“

„Aber Sie haben doch bestimmt eine feste Freundin, nicht wahr? Ich meine, Sie sind schließlich ein großer, gut aussehender Mann. Es muss doch jemand Wichtigen in Ihrem Leben geben. Irgendjemand? Bitte denken Sie nach. Es gibt sicher jemanden.“ Sie merkte, dass sie immer verzweifelter gesprochen hatte, aber sie konnte nichts dagegen tun. Tante Millys Brief ging ihr nicht aus dem Sinn. Da nützte auch die ganze Logik nichts, mit der sie und Jill gestern Abend geredet hatten.

Sowohl der Sanitäter als auch Mark schauten sie unverwandt an.

„Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch mit ins Krankenhaus kommen und mit dem Arzt reden wollen?“, fragte der Sanitäter freundlich.

Shelly nickte. „Das bin ich“, sagte sie abwesend. „Wovon leben Sie, Mr Brady?“

„Ich bin Wirtschaftsprüfer“, gab er zurück und sah sie missmutig an.

„Ein Buchhalter!“, flüsterte sie. Das hätte sie sich denken können, so seriös und würdevoll, wie er aussah. Und genauso langweilig. Er war der Typ Mann, der gewiss noch nie etwas von Entspannungsvideos für Hauskatzen gehört hatte. Und vermutlich würde er auch nicht daran interessiert sein, mit ihnen zu handeln.

Tante Milly konnte einfach nicht Mark und sie in ihrem Traum gesehen haben. Nicht Mark Brady. Sie und er passten unmöglich zusammen. Eine Beziehung zwischen ihnen würde keine fünf Minuten dauern! Sie musste verrückt sein, auch nur daran zu denken. Aber Jill hatte sie ja gewarnt, Tante Millys Vorhersagen ernst zu nehmen.

„Kann ich gehen?“, fragte sie den Sanitäter. „Ich habe nicht einmal eine Schramme.“

„Ja, aber Sie müssen hier unterzeichnen.“

Shelly tat es, ohne den Zettel durchzulesen. Doch Mark las prüfend jeden einzelnen Satz. Natürlich tat er das! „Ähm, Mr Brady …“ Sie zögerte, und Mark schaute sie an. „Vielen Dank“, sagte sie einfach. „Keine Ursache.“

Sie zögerte immer noch wegzugehen. „Möchten Sie noch etwas?“

Wie sollte sie es ihm nur sagen? Doch gleichgültig, wie, sie musste es tun. „Fühlen Sie sich bitte jetzt nicht angegriffen. Sie sind … wirklich ein toller Mann, aber … Ich möchte nur, dass Sie wissen, dass ich im Moment nicht an einer Hochzeit interessiert bin.“