Einstellungen
Es geht mir, wenn ich hier von »Einstellungen« spreche, um Rassismus und Antisemitismus. Nach allem, was ich an Kritiken über den Kaufmann von Venedig gelesen habe, und an Kritiken dieser Kritiken, scheint die Wissenschaft irgendwann gegen Ende des 20. Jahrhunderts beschlossen zu haben, dass der Kaufmann von Venedig kein antisemitisches Stück ist, sondern ein Stück mit antisemitischen Charakteren. »Man muss es im Kontext der Zeit beurteilen«, erklärt man uns. Shylock ist – neben Hamlet – vermutlich die am meisten analysierte Figur Shakespeares. Er ist eloquent, auch wenn sich seine Sprechweise und Sprachmelodie von allen anderen im Stück unterscheidet, und er ist geldgierig und ein Klischee, aber er ist auch ein Produkt der Unterdrückung und der Vorurteile, und er tritt wortgewaltig für sein Verlangen nach Rache ein.
Das Stück spielt zur selben Zeit, in der es geschrieben wurde (das wissen wir, weil eines von Antonios Schiffen aus Mexiko erwartet wird, sodass es nach 1492 sein muss), kurz nach Beginn der Inquisition (ebenfalls 1492), während der Ferdinand und Isabella die Juden aus Spanien vertrieben, was viele katholische Länder brav nachmachten. Der Staat Venedig widersetzte sich jedoch der Inquisition, und wenngleich die Juden dort ebenfalls verfolgt wurden, so doch in weit geringerem Maße als in anderen katholischen Staaten. Auch in diesem Fall widersetzte sich Venedig der Autorität der Kirche wie schon bei den Kreuzzügen. Juden aus Spanien, Frankreich und anderen Teilen Italiens flohen nach Venedig. Das mag der Grund sein, wieso Shylock so seltsam redet und von Portia als »Fremdling« bezeichnet wird. Im Stück wird nicht gesagt, dass er von anderswo stammt. Vielleicht wusste Shakespeare um die Lage der Flüchtlinge, vielleicht auch nicht.
Ich denke, es sollte außerdem darauf hingewiesen werden, dass Antisemitismus im englischen Theater zu Shakespeares Zeiten beim Publikum einige Erfolge feierte, angefangen mit Christopher Marlowes Stück Der Jude von Malta, das aus seinem Judenhass keinen Hehl macht, mit seiner Hauptfigur Barabbas, die mehr oder weniger die Vorlage für das Klischee des feigen, geldgeilen Fieslings darstellt (die in der englischen Literatur bis zu Dickens reicht, Fagin in Oliver Twist wird mehrfach als »der Jude« bezeichnet). Einige Jahre, nachdem der Jude von Malta 1594 die Bühne betreten hatte, wurde Rodrigo Lopez, der Arzt der Königin und Jude, auf Queen Elizabeth’ Geheiß hin verurteilt und enthauptet, weil er ihre Ermordung geplant hatte. Elizabeth war als Monarchin sehr beliebt (fast schon zwangsweise, weil sie großzügig damit umging, unliebsame Mitmenschen einen Kopf kürzer zu machen), sodass sich die Öffentlichkeit die antisemitischen Vorurteile mit dem Kaufmann von Venedig (1596–1598) gern erneut bestätigen ließ. Verglichen mit Barabbas ist Shylock, wie man sagt, »a mensch«. (Shakespeare setzte keinen Trend, sondern folgte einem. Sein König Lear basiert auf einem Stück namens King Leir. Es war seine sprachliche Genialität, nicht die Konstruktion seiner Geschichten, die sein Werk unsterblich machte.)
Im Kontext ist Shakespeares Stück sicher weniger antisemitisch als Marlowes, doch Antonio ist der Protagonist im Kaufmann, der Held, wenn man so will, und so großzügig er sich Bassanio gegenüber zeigt, auf geradezu tollkühne Weise, denkt und handelt er das ganze Stück hindurch antisemitisch, und Shakespeare deutet an, dass er es tut, weil Shylock »Wucher« betreibt – also Zinsen für sein verliehenes Geld verlangt. In jüngerer Zeit jedoch haben begabte Schauspieler und Regisseure den Shylock zu einer Hauptfigur gemacht, die Mitgefühl weckt, ohne ein Wort im Text zu ändern, und es zeigt sich, dass das sehr wohl möglich ist. Al Pacino in der Verfilmung des Kaufmanns von Venedig aus dem Jahr 2006 ist ein gutes Beispiel für einen solchen Shylock. Der Film wurde in Venedig gedreht und ist hübsch anzusehen.
Andererseits spielt Der Schelm von Venedig im Mittelalter, dreihundert Jahre vor Shakespeare, und da waren die Bedingungen ganz anders. Man verlangte von den Juden, einen gelben Hut zu tragen, und es gab strengere Kontrollen dessen, was sie mit ihrem Besitz anfangen durften. In ganz Europa wurden die Juden verfolgt. Der Hinweis auf das Verbrennen von Juden in York stimmt. Sämtliche Juden wurden 1290 aus England ausgewiesen, aus Frankreich im Jahr 1306. Oft genug wurden die Seuchen dieser Zeit den Juden angelastet, ebenso die Ernteausfälle. Außerdem beschuldigte man sie, Brunnen vergiftet zu haben, was darauf hindeutet, dass Choleraerkrankungen schon früh mit Wasser in Verbindung gebracht wurden, und doch erklärte man den Juden zum Sündenbock. Kurz gesagt war es im Mittelalter nicht leicht, jüdisch zu sein, sodass Shylock in meiner Version hartgesotten, findig und unverwüstlich sein muss oder zumindest einen Fürsprecher braucht, der dies ist.
Außerdem fand ich es interessant, einen Juden in den Kontext eines heiligen Krieges zwischen Christen und Muslimen zu stellen, bei dem es vor allem darum geht, wer Jerusalem besetzt hält. Das Vorrecht hätten selbstverständlich die Juden, Shylock nimmt an diesem Dialog jedoch nicht teil. Er versucht nur, über die Runden zu kommen und nicht den Glauben zu verlieren. Die Gegenüberstellung von Rache und Gnade im Prozess des Kaufmanns zeigt Shakespeares Versuch, den Gott des Alten Testaments mit dem des Neuen zu vergleichen. Allerdings weicht er der großen, religiösen Frage seiner Zeit vollkommen aus: dem Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten. (Elizabeth war streng protestantisch, während ihr Nachfolger, ihr Vetter James I., dem katholischen Glauben anhing, und Shakespeare musste so schreiben, dass es beiden gefiel, da Elizabeth zur Mitte seiner Karriere starb.)
War Shakespeare also Antisemit? Ich glaube nicht. Ich glaube, er schrieb für sein Publikum, genauso wie ich für meine Leser schreibe. (Interessant finde ich, dass Shylock im Verlauf des Stückes achtundzwanzigmal als »der Jude« bezeichnet wird, während man ihn nur dreimal beim Namen nennt.) Und ebenso wenig halte ich ihn für einen Rassisten, auch wenn die Rasse bei Othello sehr wohl Thema ist.
Die Person, die Othellos Hautfarbe am häufigsten erwähnt, ist Othello selbst, der sich mehrmals als »schwarz« bezeichnet und oft genug mit sehr lyrischen Worten darauf hinweist, wie rau er an Manieren und Sprache ist. Brabantio verliert wegen Othellos Herkunft förmlich den Verstand, und Jago und Rodrigo stacheln ihn am Anfang des Stückes sogar noch an, indem sie davon sprechen, dass der »schwarze Widder sein weißes Lämmchen besteigt«, um ihm vor Augen zu führen, dass ein schwarzer Mann seine Tochter vögelt.
Nachdem das Stück Venedig hinter sich gelassen hat und nach Zypern weitergezogen ist, legt sich der Rassismus, und Jago hasst Othello nur noch, weil er alles und jeden hasst. Es fiel mir schwer, Pocket nicht das Wort »Soziopath« in den Mund zu legen, wenn er von Jago spricht, und ich musste mich mit »Irrer« begnügen. Für Jago verblasst Othellos Hautfarbe im Vergleich zu den zahllosen anderen Gründen, den »Mohren« zu hassen.
Ja, es gibt rassistische Elemente in Othello, aber er ist der Held des Stücks, von hoher und reiner Moral, ein mutiger und außergewöhnlich guter Kommandant. (Selbst Jago räumt das im Stück ein, und Jago räumt nicht oft irgendetwas ein.) Im Kaufmann hat Portia den rassistischen Text. Als der Prinz von Marokko kommt, um sein Glück mit den Kästchen zu versuchen, sagt sie, er habe »das Antlitz eines Teufels«, und als wir dem Prinzen zum ersten Mal begegnen, bittet er für seine Farbe um Verzeihung und ersucht sie, über diese hinwegzusehen.
Als er geht, seufzt sie vor Erleichterung und sagt, sie hoffe, dass alle von seiner Hautfarbe sein Schicksal teilen mögen. Portia hat zwar später im Stück durchaus ein paar brillante Passagen, vor allem ihr Diskurs über die »Art der Gnade« während des Prozesses. Allerdings ist sie ein wahrer Satansbraten, auch in den »Kästchen«-Szenen, also habe ich sie dementsprechend als solchen dargestellt.
Interessanter als das Thema der Rassen ist für mich – angesichts der Tatsache, dass die Geschichte mit den Kreuzzügen zu tun hat – der Umstand, dass ein »Mohr« vermutlich aus Nordafrika stammen dürfte, einer vorwiegend muslimischen Kultur, und nun hat er das Kommando über eine Streitmacht, die möglicherweise einen Großangriff gegen die Mohammedaner führen wird. Jago erklärt uns, dass Othello kein Moslem ist, sondern Christ, aber schließlich könnte er ja auch ein heimlicher Moslem sein. Ich meine, er sieht dermaßen afrikanisch aus und hat diesen komischen Namen …
Ja, ich kenn das.
Jedenfalls glaube ich nicht, dass Shakespeare ein Rassist war, und seine Sonette 127–151 handeln von der berühmten Geliebten, die er seine »dark lady« nennt und die der Beschreibung nach afrikanischer Herkunft sein dürfte.
Entscheidend ist wohl, dass Der Schelm von Venedig keine Geschichte über Diskriminierung werden sollte, selbst wenn ausgiebig diskriminiert wird. Für mich ist es eine Geschichte über Scheinheiligkeit und Gier, Mut und Trauer, Zorn und Rache. Vor allem aber wollte ich zeigen, wie cool es wäre, einen eigenen Drachen zu haben, wovon ich schon als Fünfjähriger geträumt habe.6
Christopher Moore
San Francisco, Kalifornien
Januar 2013
6 Nein, ich hatte noch nie und will auch keinen Sex mit einem Drachen. Ich dachte nur, das könnte lustig sein.