11.
An diesem Abend guckte ich mir den ersten der neuen Narnia-Filme zu Hause auf dem Computer an.
Ich guckte ihn mir nicht alleine an. Ich sah ihn zusammen mit Celia und ihrem Baby. Wobei das Baby den Film mehr oder weniger verschlief.
Ich hatte mein Versprechen, Celia beim Baby-Baden zu helfen, völlig vergessen, und als es mir einfiel, bekam ich ein schrecklich schlechtes Gewissen. Weshalb wir erst das Baby badeten und anschließend Kartoffelchips aßen und den Film sahen. Celia war etwas verwundert über meine plötzliche Anhänglichkeit, aber sie freute sich darüber.
Celia war einfach, viel einfacher als Menschen wie Finns Mutter mit ihren ständigen Fragezeichen oder als Lotta, bei der ich nie wusste, was hinter ihrer Stirn vorging, auch wenn sie gerade so tat, als wäre sie eine Pflanze. Und das Baby war ein einfaches Baby, es wurde gern gebadet und schrie, wenn es hungrig war, und es sah mich mit seinen großen blauen Babyaugen beim Baden eine halbe Minute lang an, ansonsten hielt es sie fest geschlossen, was ich dieser Welt gegenüber vernünftig fand. Celia hatte es nach dem Baden in einen weiteren weißen Strampelanzug und ein weißes Hemdchen gesteckt, und es sah unglaublich frisch und neu und sauber aus.
»Hat die kleine Marie nur weiße Sachen?«, fragte ich verwundert.
»Naja«, sagte Celia. »Da waren diese ganzen Handtücher aus der Klinik, die die mir geschenkt haben. Was soll denn ein Mensch mit so vielen Handtüchern? Ich hab dann die Sachen daraus genäht. Und aus ein paar alten T-Shirts von mir. Das ging ganz gut. Ich hab eine Nähmaschine.«
»Alle Achtung«, sagte ich. »Ich könnte keine Babysachen nähen.«
Und da strahlte Celia, weil sie etwas konnte, das ich nicht konnte, aber sie fügte schnell noch hinzu: »Ich kann’s auch nicht, wissen Sie, ich hab’s nur einfach gemacht.«
Und dann lag die kleine Marie in ihren weißen Handtuchsachen bei uns auf dem alten Sofa, auf einem der Felle dort, und über den Bildschirm des Computers liefen die Narnia-Kinder in ihren schön altmodisch englischen Sachen durch schön altmodisch englischen Schnee.
»Erinnern Sie sich gerne an die Zeit, als David ein Baby war?«, fragte Celia in einer Filmpause, die entstand, weil die DVD einen Kratzer hatte und das Bild stehen blieb.
Ich nickte. »Doch, schon. Babys sind so … hilflos. Und man kann ihnen eine Menge helfen. Ich meine, sie lassen sich helfen. Das ist schön.«
»Ja, das ist schön«, sagte Celia und lächelte ihr Baby an, das auf dem Sofa eingeschlafen war, ein weißes Frotteebaby auf einem schwarzen Schaffell zwischen bunten Kissen.
Und ich dachte an die Babysachen, die ich für David gekauft hatte, und wie viel Spaß es mir gemacht hatte, all diese winzig kleinen Dinge für ihn auszusuchen, ehe er selbst hatte bestimmen können, was er anziehen wollte, zum Beispiel einen gestreiften Pullover, der später verschwand.
Damals hatte es in der Stadt einen kleinen Laden gegeben, der Babysachen verkaufte, die einmal etwas anderes gewesen waren, alte Kleider, Hosen, Pullover. Die Frau, die die Sachen nähte, hatte nur die schönsten alten Kleider ausgesucht, und die Sachen waren bunt und hübsch gewesen und verdammt teuer. Mir war es egal gewesen, aber als ich jetzt daran dachte, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so viel Geld für winzige Hosen und Pullover ausgegeben hatte, die nur wenige Monate lang getragen worden waren. Irgendwo mussten sie noch sein, eingemottet in einer Kiste …
Während der Film weiterlief, fragte ich mich, ob ich sie finden und Celia geben könnte und ob ich das wollte.
Dann hing die DVD zum zweiten Mal, und wir machten wieder eine Pause, und mir fiel ein, dass ich Celia etwas fragen musste.
»Ich habe nachgedacht«, sagte ich, »über René … Ich weiß nicht, wie gut Sie ihn kennen … sicher besser als ich. Ich glaube, es wäre besser für ihn, wenn er von hier wegginge.«
Celia nickte. »Die ärgern ihn immer«, sagte sie. »Eine Weile haben sie’s nicht mehr getan, weil David die Fotos gemacht hat, aber jetzt tun sie es wieder.«
»Ja, und ich habe vielleicht Arbeit für René«, sagte ich. »Ich kenne ein Café, in der Stadt, ich kenne es ziemlich gut, ich habe da mal nachgefragt … um dort zu arbeiten, muss man keinen Schulabschluss haben oder irgendwas. Sie nehmen sogar nur Leute ohne Schulabschluss. Solche wie René. Meinen Sie, das würde ihm gefallen? Ich will ihn nicht fragen, wenn er vielleicht sowieso nicht will?«
»Er will ganz bestimmt«, sagte Celia. »Wenn da Menschen sind, die sich um ihn kümmern. Nette Menschen. Er kann nicht so gut alleine sein. Ich … ich würde auch gerne irgendwo arbeiten«, fügte sie hinzu. »Ich würde gerne …« Sie sah mich an, zweifelnd. »Wenn ich könnte, würde ich gerne was lernen. Was Richtiges, nicht nur so in einem Projekt für Leute wie René. Ich würde gern einen richtigen Beruf lernen. Aber dafür bin ich wohl zu dusselig.«
»Nein«, sagte ich.
»Nein?« Sie sah mich an, erstaunt, ihre Augen groß vor Hoffnung, und das gab mir einen Stich.
»Ich find so viele Sachen schwierig, wissen Sie. Lesen und Schreiben. In der Schule hatte man das ja alles, aber keiner hatte Zeit, das richtig zu erklären, es war immer alles zu schnell …«
»Wie das Erklären in der Klinik.«
Sie nickte. »Genau so. Alle haben’s immer eilig. Wenn eine kommt wie ich, haben’s immer alle eilig, was anderes zu machen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ist eben so.«
»Nein«, sagte ich entschlossen, weil es so furchtbar klang. Sie hatte natürlich recht. Ich hätte es, unter normalen Umständen, auch eilig gehabt, ich hätte unter normalen Umständen nie mit ihr ein Baby gebadet und mit ihr einen Film gesehen, ich hätte etwas Freundlich-Nichtssagendes von mir gegeben und die Tür vor ihrer Nase zugemacht, und dann wäre ich in mein Atelier gegangen. Aber die Umstände waren nicht normal. Sie würden nie wieder normal sein. David lag in der Klinik, in einem Bett so weiß wie der Schnee in Narnia. So weiß wie die Handtuch-Babykleider der kleinen Marie.
»Wir könnten zusammen lesen und schreiben«, sagte ich, zögernd. »Langsam, meine ich. So langsam, dass Sie alles verstehen. Und … es gibt vielleicht einen Beruf, den Sie ganz gut lernen könnten.«
»Ja?«, fragte Celia. »Was denn?«
»Nähen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Nähen lernen geht bei mir nicht.«
»Warum nicht?«
»Nähen kann ich doch schon«, sagte Celia, völlig ohne jede Ironie.
Ich lachte. »Ja, das können Sie. Aber wenn man eine Lehre macht, dann steht auch auf dem Papier, dass man es kann, und Papiere scheinen nun mal irgendwie wichtig zu sein. Dann könnten Sie irgendwo arbeiten, als Schneiderin … wenn die kleine Marie größer ist.«
Und ich dachte an die Frau, die Babysachen aus alten Kleidern gemacht hatte. Es war natürlich neun Jahre her. Aber vielleicht gab es den Laden noch. Ich würde nachsehen.
»Für eine Lehre müsste man wahrscheinlich weg von hier«, fügte ich hinzu. »In die Stadt ziehen. Ich weiß nicht, ob Sie das wollen.«
»Oh ja«, sagte Celia, ohne zu zögern. »Ich möchte gerne weg. Mit dem Baby natürlich.«
»Natürlich.«
»Es ist nämlich so, sie zeigen jetzt nicht mehr auf mich wegen dem Vater, die denken ja, der ist gestorben, David hat das allen erzählt. Aber jetzt ist was anderes. Wissen Sie, warum ich immer die Rollos alle runtermache? Damit keiner sieht, wann ich da bin. Die klingeln ja immer bei mir …« Sie sah das Baby an. » … bei uns, und die denken, ich mach das Geschäft von meiner Mutter weiter.« Ich sagte nicht: Das haben Sie mir schon erzählt. Ich nickte nur und ließ sie weiterreden. »Auch die Männer aus den anderen Dörfern, die kommen und glauben, das ist so, und wenn ich denn sage, nein, denn versuchen sie mich zu überreden, weil es gibt da keine andere glaub ich, nicht in der Nähe. Nicht, dass ich das machen würde, nein, aber manchmal hab ich schon Angst, dass mal einer nicht wieder geht und … Sie wissen schon.«
»Ich weiß schon«, sagte ich. »Ja, also, wenn Sie möchten, erkundige ich mich mal. Wie das alles geht, mit so einer Lehre.«
Celia nahm meine Hände und drückte sie, es war mir ein bisschen peinlich. »Sie sind wie David«, sagte sie. »Sie sind nett.«
Und ich wollte aufspringen und »nein!« schreien, »nein, ich bin überhaupt nicht wie David! Ich bin überhaupt nicht nett! Ich versuche nur, Dinge wiedergutzumachen, die ich vermasselt habe, ich bin alles andere als nett …«
Aber dann klickte ich nur die DVD weiter, übersprang den kaputten Teil des Films, und Aslan, der weise Löwe, schlich weiter über die Leinwand und half den vier Kindern, seine Welt zu retten. Es war ein schöner Film, aber belanglos. Ich hatte das Buch mit mehr Tiefe in Erinnerung, mehr christlichem Gedankengut, irgendwie. Aslan als Gott, so wie David es gesagt hatte. Hier ging es mehr um die technische Umsetzung, hübsche rote Zelte im Kriegslager, grausliche Dämonengestalten als Diener der Hexe und am Ende eine schöne animierte Schlacht.
»Was denken Sie über diesen Löwen?«, fragte ich am Ende Celia. »David hat über ihn nachgedacht, glaube ich …«
»Er hat sehr schönes weiches Fell«, sagte Celia. »Aber sein Name ist schwierig zu merken.«
Sie war schon in der Tür, das noch immer schlafende Baby im Arm, als sie sagte: »Der Löwe war tot, oder? Der Löwe in dem Film. Er ist zu den Bösen gegangen, von selber, und die haben ihn umgebracht. Er war tot, und dann ist er wiedergekommen. Dann hat er wieder gelebt.«
Ich nickte. Als die Tür sich hinter ihr schloss, fragte ich mich, ob es das gewesen war. Aslan war gestorben und wiedergekommen. Gab er mir Hoffnung darauf, dass David unversehrt wieder erwachen würde? Aber David konnte schließlich nicht vorausgesehen haben, dass er einen Unfall haben würde. Er hatte sich nach einem Aslan gesehnt, der ihm in seinem Kampf für das Gute half, das war alles. Das reichte ja.
Ich fütterte den Hund, ging nach oben und malte dem Gott in der Mitte des Triptychons ein Löwengesicht.
Mitten in der Nacht wachte ich auf und konnte nicht wieder einschlafen. Der goldene Filmlöwe hatte sich in meine Träume geschlichen, und auf seinem Rücken hatte David gesessen, mein Prinz mit dem goldenen Haar. Sie hatten die Stufen der steinernen Treppe zwischen den animierten Ungeheuern gemeinsam überwunden, freiwillig im Lager der Feinde … und David hatte wieder Finns dunkle Sachen getragen, eins mit der filmischen Nacht.
Die Betthälfte neben mir war sehr leer, so leer, als wäre die Leere ein Gegenstand, der sich ausbreitete und mir den Platz zum Schlafen wegnahm. Ich fragte mich, ob ich Claas vermisste.
Einen Moment lang dachte ich an die Zeit, in der wir verliebt gewesen waren. Es hatte durchs Dach von Claas’ billigem Zimmer geregnet, und alles war einfach erschienen. Wir waren morgens nebeneinander aufgewacht, ohne zu wissen, wie wir das Dach flicken würden, aber unter der Decke hatten wir anderes zu tun, schon morgens, ehe Claas in die Klinik ging. Ich weiß nicht, wo die Mauer damals war. Fort. Winzig. Unwichtig. Aber das alles war sehr, sehr lange her.
Nein, sagte ich mir, ich vermisste Claas nicht, nicht den Claas, der er jetzt war, den zu vernünftigen Claas, dessen Leben nur noch aus medizinischen Fachbegriffen bestand.
Wonach ich mich sehnte, war nicht Claas, sondern ein menschlicher Körper neben mir im Bett. Ein warmer, atmender, freundlicher Körper.
Ich schlüpfte in meinen Bademantel und schlich hinüber in Davids Zimmer, wo neben der Schreibmaschine die braune Ledermappe lag, aufgeschlagen bei Eintrag Nummer elf.
Und ich fand das System – es war wieder die Verschiebung um fünfzehn Stellen, jeder Code wiederholte sich irgendwann. Ich brauchte keine Schreibmaschine. Ich nahm die Mappe und einen Bleistift mit nach unten in die Küche, wo noch die Schale mit dem Rest der Kartoffelchips stand.
Daneben lag ein vergessenes Babystrickjäckchen, pink, rührend in seiner Hässlichkeit.
Beinahe fand ich es traurig, dass Celia weggehen würde. Und gleichzeitig sang es in mir, wenn ich daran dachte, wie sie meine Hände gedrückt hatte. Es gab Lösungen. Für alles. Um sie zu finden, brauchte ich nur eines zu tun: sie suchen.
Auch David schien das gedacht zu haben, denn im April hatte er geschrieben:
Werkstattbericht – Eintrag 11
21. 4. 2011
Alles kommt in Ordnung.
Wie schön dieser Satz aussieht, auch in der anderen Schrift! Es ist ein altmodischer Satz, und ich mag ihn: Alles kommt in Ordnung.
Im letzten Monat habe ich so viele Probleme gelöst, dass mein Kopf davon schwirrt. Es würde Äonen dauern, alles haarklein zu erzählen, daher mache ich eine Liste:
Frau Hemke – das Geld. Es ist da. Ich habe Claas einfach doch gefragt. Und er hat gesagt, schenken wird er es mir nicht, aber leihen. Ich werde später sicher ein berühmter Forscher oder etwas Ähnliches, hat er gesagt, vielleicht auch nur ein hyperintelligenter Müllmann, man weiß nie. Aber in jedem Fall werde ich Geld verdienen, und dann kann ich es ja zurückzahlen. Wir können also den amulanten Pflegedienst für Frau Hemke bezahlen. Ich muss das aber erst mit ihrem Sohn klären, und der ist offenbar verreist. Wenn er wiederkommt, gehe ich sofort hin. Vorher sage ich Frau Hemke noch nichts, damit es eine Überraschung ist.
Herr Wenter – der Arzt. Herr Wenter muss nicht zum Arzt, es ist ganz einfach: Der Arzt kommt zu ihm. Auf diese Idee hat mich auch Claas gebracht, jedoch nur dadurch, dass es Claas gibt. Ich habe ihn (Claas) (den Arzt) zu Herrn Wenter gebracht. Und Claas hat gesagt, er ist kein Röntgengerät, und eigentlich auch Herzarzt, aber so, wie er das sieht, geht es Herrn Wenter ziemlich mies. Und so, wie er das sieht, muss man ihn schnell in ein Krankenhaus bringen. Und so, wie er das sieht, hat Herr Wenter entweder einen Lungentumor oder TB, was Tuberkulose heißt und fast nicht mehr vorhanden ist in Deutschland, aber eben doch, vor allem in Polen, wo Herr Wenter auch mal ab und zu war. Und wenn er den Tumor hätte, wäre er wohl eher schon tot. Weil er aber noch lebt, hat Herr Wenter dann doch gesagt, okay, er geht ins Krankenhaus, und da ist er jetzt, und ich habe mit ihm telefoniert, er kriegt jetzt Medizien gegen die TB, was ihn nervt, aber sonst wäre er hopsgegangen, sagt er, und da sind die Ärzte wohl das geringere Übel. Er hat allerdings immer noch nicht begriffen, woher er das seltsame Abo für Groschenromane gehabt hat, er hat sie alle sorgfältig gestapelt und neben der Eingangstür aufbewahrt, gelesen hat er sie nicht.
Na ja.
Lottas Familie – in der Galerie, wo Lovis ihre Bilder ausstellt, suchen die eine Putzfrau, das habe ich gesehen, als ich neulich mit Lovis da war, und ich werde da anrufen und ihnen sagen, dass ich eine weiß, dann hätte Lottas Mama Arbeit. Das wäre immerhin ein Anfang.
Außerdem werde ich von jetzt an mit Lotta lernen, damit sie in der Schule ganz gut wird und später einen prima Abschluss hat und etwas Richtiges wird, womit man viel Geld verdient.
Celia – ich habe jetzt den Brief geschickt, dass ihr Verlobter leider tot ist. Keiner zeigt mehr mit bösen Fingern auf sie, sondern alle gucken sehr mitleidend, wenn sie vorbeikommt.
René – die Fotos helfen immer noch, sie schmeißen bisher keine Sachen mehr auf ihn.
Der Penner – der wollte nicht in Rosekasts Mülltonne wohnen, als ich ihn das gefragt habe, hat er zum ersten Mal nein gesagt. Er wird also wohnen bleiben, wo er wohnt, zwischen den Mülltonnen, und ab und zu bringe ich ihm etwas Nettes vorbei.
Jarsen – der braucht Ablenkung von seiner Frau, die nicht mehr da ist. Lotta und ich finden, er muss einfach endlich etwas Sinnvolles tun. Seinen Lebensunterhalt verdienen braucht er ja nicht. Deshalb könnte er sich mit dem Bauern zusammenschließen und ihm helfen, Land für die Kühe zu kaufen und sie frei rumrennen zu lassen. Jarsen müsste dann Geld in die Sache stecken, aber er könnte auch die Milch für umsonst für sich bekommen, und er würde nicht mehr an die Frau denken. Wenn er doch noch so viel an sie denkt, machen wir auf die Milchpackungen ein Bild von ihm, so dass seine Frau – wenn sie so eine Milchpackung kauft – sieht, dass er ganz viel Gutes tut und dann beeindruckt ist und also doch zu ihm zurückgeht.
Die einsame Spaziergängerin, die zu viel liebt – für die haben wir eine Kontaktanzeige in der Zeitung geschrieben, viel schöner, als sie selbst je eine schreiben könnte. Der Mann bei der Zeitung, dem wir sie übers Telefon durchgegeben haben, hat direkt geweint vor Rührung. Obwohl Lotta glaubt, ich hätte mich verhört und er hätte gelacht, aber da irrt sie sich bestimmt.
Der Hund – der muss wohl doch bei uns bleiben, bis auf weiteres.
An dieser Liste sieht man, dass noch nicht alles gelöst, jedoch für jedes Problem eine Lösung vorhanden ist, die teilweise noch ausgeführt werden muss. Es ist ein wunderbares Gefühl, eine solche ausgefüllte Liste vor sich zu haben.
Ich war gestern bei Rosekast, um ihm von allen Lösungen zu erzählen, und er hat auf seiner Bank gesessen und gelächelt. »Das Paradies ist also ganz nah?«, hat er gefragt. Irgendwie klang es, als könnte er das nicht glauben.
»Ist es das denn nicht?«, habe ich gefragt.
»Ich bin nicht hier«, hat er gesagt, »um Antworten zu geben.«
Aber da war etwas hinter seinem immer ruhigen Gesicht, hinter seinem Lächeln, was mich beunruhigt hat. Und in seinem Wohnzimmer sah es schon wieder aus, als hätte eine Wildschweineherde dort gewütet. Es hat lange gedauert, aufzuräumen, obwohl Lotta mir geholfen hat. Jemand hatte auch das Gemüsebeet zertrampelt, leider. Und eine der Wände von Rosekasts Haus wird immer schiefer; sie neigt sich nach innen, und ich fürchte, ihre Lehmziegel halten nicht mehr lange.
»Wenn ich eines Tages nicht mehr da bin«, sagte Rosekast, ehe wir gingen, »wohin wirst du dann gehen, David, wenn du jemanden zum Reden brauchst?«
»Dann werde ich längst erwachsen sein«, sagte ich, »denn so lange sind Sie noch da. Und wer erwachsen ist, braucht vielleicht keinen mehr zum Reden.«
Aber glauben tue ich das nicht.
Ach was. Ich möchte jetzt nicht über kaputtgehende Häuser und über Gemüsebeete nachdenken. Ich möchte denken: Alles kommt in Ordnung. Ganz bald.
Und dann kann ich endlich wieder andere Dinge tun, als mich um die Leute im Dorf und ihre Probleme zu kümmern.
Liste der Dinge, die ich tun werde:
-
ruhig schlafen, ohne über Probleme nachzudenken
-
Fußball spielen und dabei auch aufpassen, so dass sie mich wieder als Torwart nehmen
-
Peter oder Finn besuchen oder sie mich
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Mathe machen, was ich ehrlich gesagt ganz interessant finde (statt unverständliche Bücher zu lesen. Die Bücher brauche ich nämlich dann erst mal nicht mehr, weil ich darin ja nach einer besseren Lösung gesucht habe, aber jetzt ist alles – so gut wie – gelöst.)
-
Listen machen, die absolut überhaupt nichts mit dem Paradies zu tun haben.
-
Einfach nur zusehen, wie sich alles verändert. Denn wenn meine Theorie von der Murmel und der schiefen Ebene stimmt – und sie stimmt –, dann kippt die schiefe Ebene, sobald ich all die Lösungen auf der oberen Liste umgesetzt habe. Dann rollt die Murmel auf der anderen Seite herunter, und das bedeutet, dass sich die Welt ganz von selbst in ein PARADIES AUF ERDEN verwandelt. Ich bin gespannt, was wohl alles passiert.
Ob die Leute einfach ganz allgemein netter zueinander sein werden? Oder ob spezielle Sachen passieren? Ob es weniger schlechtes Wetter gibt? Und mehr Geld insgesamt? Und mehr Stunden am Tag? Das hört sich nicht an, als könnte man daran glauben. Aber früher haben die Leute auch nicht geglaubt, dass die Erde rund ist. Das Paradies wird einfach etwas sehr Neues sein, an das man sich erst gewöhnen muss. Ich werde keinem sagen, dass Lotta und ich es gemacht haben.
Es reicht, wenn wir beide das wissen.
Mit diesem Satz endete Eintrag 11, denn oben auf der nächsten Seite stand »Eintrag 12«.
Ich schlug die Mappe zu und merkte, dass ich Tränen in den Augen hatte, dumme Tränen, denn der letzte Satz von Eintrag 11war überhaupt nicht traurig. Und aus Rührung über etwas zu heulen ist sicherlich dumm.
Aber ich war alleine zu Hause, da war kein vernünftiger Claas, der mich fragen konnte, warum ich heulte, und dem ich hätte antworten müssen, und so beschloss ich, einfach weiterzuheulen.
Ich stand auf und ging zur Verandatür und sah hinaus in die Dunkelheit, und ich dachte an alles, worüber ich noch heulen konnte, außer Davids Geschichte und seinem Unfall, weil mir einfach nach Heulen zumute war.
Ich heulte, weil Samstags Familie tot war und weil Finns Mutter in Fragenzeichensätzen sprach, ich heulte, weil die Marie sich aufgehängt hatte und weil ich es nicht geschafft hatte, eine Ehe zu führen, die auf irgendeiner Basis funktionierte, und weil ich mich als kleines Mädchen in einem Spielplatzhäuschen versteckt hatte, um mit meiner geometrisch gemalten Grau-Weiß-Welt allein zu sein, und weil der schwere Duft der Maiblüten, der durch die Ritzen ins Haus drang, zum Heulen schön war, und wegen der kitschigen Enden sämtlicher Hollywoodfilme, die ich je gesehen hatte, von Romeo und Julia bis Titanic.
Schließlich ging ich in die laue Nacht des Gartens hinaus, barfuß, im Bademantel, weil dort sowieso niemand war, der mich sehen konnte. Außer vielleicht Lotta, aber die war mich inzwischen gewohnt. Ich ging über das taunasse Gras, sah die schwarzen wolligen Klumpen, die ein Stück weiter im Stehen schliefen, und dachte »kümmere dich um die Schafe.« Um die Schafe brauchte sich bis zum Winter niemand zu kümmern, die Schafe kümmerten sich um sich selbst.
Wenn Claas gehofft hätte, dass es nur für ein paar Tage oder Wochen wäre, hätte er nichts über die Schafe gesagt.
»Das ist gut«, flüsterte ich. »Er weiß, dass es endgültig ist. Nur David und ich werden im Herbst hier sein, er kann mir helfen, ihren Unterstand winterfest zu machen …«
Aber es war Claas gewesen, dem er von der Paradieswerkstatt erzählt hatte. Claas, der ihm das Geld für Frau Hemke versprochen hatte, ehe ich überhaupt von Frau Hemkes Existenz wusste. Claas, der dafür gesorgt hatte, dass Herr Wenter endlich in die Klinik ging.
»Und Claas«, wisperte ich, »der auf der Autobahn angehalten hat, um David aussteigen zu lassen. In Finns Sachen.« Ich verstand immer noch nichts, gar nichts.
Eine Nachtigall sang, oder vielleicht war es ein Sprosser, Claas hatte immer auf dem Unterschied bestanden, den ich sowieso nicht hörte. Ich beschloss, dass es eine Nachtigall war, denn »Nachtigall« klingt viel romantischer, obwohl Claas gesagt hätte, es ginge dabei nicht um Romantik, es ging um Korrektheit. Ich folgte ihrem Gesang; sie sang nicht im Garten, sie sang jenseits der Mauer zur Rechten: der Friedhofsmauer.
Es gab ein kleines Törchen dort, das man nicht abschließen konnte, und ich ging hindurch und fand die Nachtigall in einem verblühten Fliederbusch. Sie flog nicht fort, als ich näher kam, sie saß einfach da, als schwarzer Schattenriss vor einem hellen Mondhimmel, und sang unablässig weiter, ihr Gesang passte zur Süße der Luft und zu meiner kitschigen Melancholie.
Ich würde mit David herkommen, dachte ich, ich würde mit ihm zusammen nachts spazieren gehen, oder, wenn er im Rollstuhl saß, ihn von mir aus schieben, denn diese Art von Nacht war die beste Umgebung zum Reden. Wie viel wir reden würden, wenn er wieder da wäre! Über alles und alles und alles.
Ich dachte, dass ich auch gerne mit Thorsten Samstag durch diese Nacht gegangen wäre, und dass ich möglicherweise in Thorsten Samstag verliebt war, und dass das sich sehr kindisch anfühlte.
Ich verließ die Nachtigall und ging langsam an der Reihe der Gräber entlang. Die meisten waren alt, manche uralt, so alt, dass niemand sich mehr an die erinnerte, die darin lagen. Ich fand, zu meinem Erstaunen, zwei ganz neue.
Eines war das Grab der Marie. War sie demnach Christin gewesen? Getauft? Gerade die Marie? Im Mondlicht las ich voller Staunen, dass sie einen Nachnamen besessen hatte, Marie Lena Wilde. Maria Magdalena. Wie nah war die Bibel? Die Wege des Herrn sind unergründlich. Der einzig wahre Satz der Christenheit, dachte ich bitter.
Das zweite neue Grab befand sich direkt daneben und stammte vom Oktober letzten Jahres. Der Name auf dem Stein sagte mir nichts. Hubert Trebelow, gestorben 72-jährig. Ruhe in Frieden, was genauso gut war wie gar kein Spruch, bedeutungslos. Ich hatte noch nie von einem Hubert Trebelow im Dorf gehört, aber das hieß nichts. Und auf einmal erinnerte ich mich an den Beginn der Paradieswerkstatt, an den obdachlosen Prinzen Siddharta und daran, wie David und Lotta so wie er einem alten, einem kranken und einem toten Menschen begegnet waren. Sie waren jemandem begegnet, der zu einer Beerdigung ging. Und ich hatte mich darüber gewundert, dass David nie erwähnt hatte, wer da beerdigt worden war. War es unwichtig gewesen? Aber nichts war für David unwichtig. Waren Lotta und er in Wirklichkeit damals umgekehrt und ebenfalls zu dieser Beerdigung gegangen, aus reiner Neugier, und erst später in den Wald? Das wäre es, was ich als Kind getan hätte, dachte ich. Ich schüttelte den Kopf, Hubert Trebelow passte nicht ins Bild, er kam nirgends vor, nicht einmal seine Abwesenheit kam vor in Davids Projektbericht. Seltsam.
Schließlich ging ich weiter an den Reihen von Grabsteinen entlang – wie viele dieser Menschen hatten daran geglaubt, in einem Paradies zu erwachen, nachdem sie die Augen in diesem Leben zum letzten Mal geschlossen hatten? Wie viele hatten gezweifelt, wie viele waren verzweifelt am Leben und am Tod? Ich fragte mich, was ich glauben würde, im Moment meines Todes, irgendwann. Vermutlich, dachte ich, werde ich versuchen, trotz meines lebenslangen Unglaubens ganz schnell noch an etwas zu glauben, damit das Sterben nicht so trostlos ist.
An ein Paradies aus grauen Kästchen.
Auf einmal fror ich. Ich würde zurückgehen, mir einen heißen Tee kochen und weiterlesen. Es sah ganz danach aus, als wäre der zwölfte Eintrag der letzte in Davids geheimer Mappe.
Ich zog mir einen Pullover und eine Hose über und setzte mich mit der Mappe aufs Sofa im Wohnzimmer, vor mir auf dem Boden eine jener Teetassen, in denen man einen Hund hätte baden können. Ich merkte erst, als ich die Ärmel des Pullovers hochschob, dass es nicht mein Pullover war, sondern einer von Claas. Aber in dem Moment, in dem ich das merkte, bemerkte ich noch etwas anderes.
»Eintrag 12« stand in ganz normaler Schrift oben auf der nächsten Seite. Da war kein Code, keine Verschlüsselung. Warum war mir das eben nicht aufgefallen?
Ich ließ meine Augen über die Seite gleiten und stellte voller Erstaunen fest, dass der ganze Eintrag 12 unverschlüsselt geschrieben war, genau wie Eintrag 1. Ich hätte ihn die ganze Zeit über lesen können, ich hätte nur bis ganz nach hinten blättern müssen.
Für ein Datum hatte David diesmal keine Zeit oder keine Nerven gehabt.
Die ersten Sätze lauteten:
»Alles ist ganz anders, als ich dachte. Ich habe, um genau zu sein, völlig falsch gedacht. Lächerlich falsch. Wir fuhren nach Berlin …«
Der Hund landete neben mir auf dem Sofa, aber ich beachtete ihn nicht. Ich vergaß ihn in dem Moment, in dem er sich ein Nest in den Kissen machte. Ich vergaß den Pullover. Ich vergaß das Sofa. Ich saß wieder mit David im Auto, ich erinnerte mich genau, es hatte geregnet und Claas hatte über die Scheibenwischer geflucht, die nicht richtig funktionierten …
Eintrag 12
Wir fuhren nach Berlin.
Ich saß hinten neben dem Gepäck; wir hatten Gepäck, weil wir für eine Nacht bleiben würden, Lovis hatte ein Treffen mit jemandem von einem Theater, für den sie ein abstraktes, grau-weißes Bühnenbild machte und mit dem sie eine Menge Sachen besprechen musste. Ich fragte mich, wie es wohl mit Lovis wäre, wenn das Paradies fertig war. Ob sie dann ab und zu die komischen Dinge für mich malen könnte, die ich mir manchmal vorstellte. Und ich fragte mich, wie es mit Claas werden würde und ob er häufiger da sein könnte und ob der Grund, aus dem er häufig nicht da ist, dann nicht mehr existieren würde. Dieses Problem, das mit Claas, das hatte ich nie auf die Liste geschrieben, denn das konnte ich nicht lösen. Es würde sich selbst lösen, im Paradies – als ich auf der Rückbank des Autos saß und alle anderen Probleme so gut wie gelöst hatte, war ich mir sicher.
Und dann fuhren wir nach Berlin hinein; es regnete immer noch, und es war eine Menge Verkehr auf den Straßen. Wir hielten an einer roten Ampel, und ein Mann kam angerannt und goss etwas wie Seife aus einer Flasche auf unsere Scheibe und holte einen Putzlumpen heraus, mitten im Regen, und fing an, die Scheibe zu putzen. Der Mann trug ein sehr altes schwarzes Regencape, das bei näherem Hinsehen kein Regencape war, sondern eine sehr große Tüte, in die er ein Loch für den Kopf geschnitten hatte. Seine Haare waren nassgeregnet wie eine Badekappe und die Bewegungen seiner dünnen Arme merkwürdig ausfahrend und eckig. Er putzte unsere Scheibe so schnell, dass keiner von uns überhaupt dazu kam, irgendetwas zu sagen. Die Scheibe war hinterher eigentlich nicht sauberer, sondern dreckiger, weil der Mann mit dem Seifenlappen die toten Mücken der letzten Tage zu seltsamen Schlieren verschmiert hatte, aber er klopfte ans Fenster und hielt seine Hand auf und machte irgendwelche Zeichen, und Claas fluchte wieder und gab ihm das Eurostück, das vorne griffbereit liegt, falls man es in einen Einkaufswagen stecken muss.
Dann fuhren wir weiter.
»Dass sie das jetzt auch in Berlin machen, was«, sagte Claas. »Ich kenne das nur aus Südamerika.«
»Immerhin besser, als wenn sie gar nichts machen«, sagte Lovis, »und nur betteln.«
»Na ja«, sagte Claas, »ich würde ihnen lieber Geld dafür geben, dass sie meine Scheibe in Ruhe lassen. Ich kann jetzt nur noch raten, wo wir hinfahren.«
Sie?
Ich drehte mich in meinem Sitz um und ließ meinen Blick durch den Regen wandern, durch die autoverstopften Straßen, durch die nasse Großstadtwelt. Und da sah ich sie.
Die ersten waren wie der Mann in der Nähe dieser einen Ampel unterwegs und putzten Autoscheiben, aber da waren mehr. Sie existierten nur vereinzelt im Menschengedränge, aber auf einmal war es, als leuchteten sie mir entgegen. Sie saßen vor Bäckereifenstern und auf Bürgersteigen, sie knieten auf Kissen und streckten den Passanten leere Pappbecher entgegen, sie durchsuchten Mülleimer, sie tranken Bier aus Flaschen in Supermarkteingängen und warteten an anderen Ampeln, warteten auf ein grünes Licht, auf besseres Wetter, auf jemanden, der niemals kam.
Die Unglücklichen. Die Elenden. Die Bettler und die Trinker, die Obdachlosen und die Schuhlosen, die Klumpfüßler und Irrblickenden. Je länger ich hinsah, je weiter wir fuhren, desto mehr wurden es. Es waren nicht nur die Armen. Ich sah auch andere unglückliche Menschen; ich sah einen Rollstuhlfahrer mit einer schweren Geldbörse, dem ein livrierter Hotelboy aus einem teuren Auto half. Ich sah einen Blinden in einem makellosen Anzug, dem der Anzug nicht half, zu sehen. Ich sah einen Mann mit Narben im Gesicht, ich sah eine sehr dünne Frau in einem Seidenkleid und Stöckelschuhen, deren gehetztes, verhärmtes Gesicht mich mehr erschreckte als tausend verwahrloste, dreckige Trainingsanzüge.
Sie waren überall.
Keine Liste konnte sie fassen, keine Ledermappe war dick genug, um ihre Geschichten und ihre privaten Höllen darin abzuheften. Nicht einmal Claas’ alte schwarze Schreibmaschine, dachte ich, hat genug Buchstaben, um dies niederzuschreiben. Warum nicht? Warum konnte man nicht allen helfen? Warum konnte man die Behinderten nicht enthindern und die Blinden sehend machen wie Jesus in der Bibel?
Ich hatte nicht weit genug gedacht. Ich hatte einfach nicht daran gedacht, dass die Welt größer war als unser Dorf und dass es da draußen noch mehr Ungerechtigkeit und Unglück gab. Den Penner vor der Schule hatte ich noch bemerkt, aber schon dort, bei der Schule, hatte ich aufgehört, weiter nach Unglück zu suchen.
Ich kam mir unbeschreiblich dumm vor.
Bis wir bei unserem Hotel waren, hatte ich neun Leute in Rollstühlen, siebenundzwanzig Penner und ungefähr zweihundert Leute mit gehetzten, unglücklichen Gesichtern gesehen, neununddreißig Kinder, die zu dünne Kleider trugen trotz des kühlen Regens, drei Blinde, zweiundvierzig Bettler und eine überfahrene Katze.
Ich stieg aus dem Auto und brachte meinen Rucksack ins Hotelzimmer wie in Trance. Ich folgte Claas und Lovis zu der Bühnenbildbesprechung, ohne wirklich mitzubekommen, was besprochen wurde, ich aß mit ihnen in einem hübschen Straßencafé zu Mittag, ohne zu schmecken, was ich aß. Und es ging die ganze Zeit über weiter. Ich sah mehr und mehr und immer mehr unglückliche Menschen, überall, wo wir hinkamen, gab es neue Sorten von Unglück, und niemals, dachte ich, ließe sich von einer einzigen Person wie mir genügend Geld, Zeit und Liebe umverteilen, um das zu ändern.
Als Lovis einem Bettler, an dem wir vorbeikamen, Geld in seinen leeren Pappbecher legte, lachte ich beinahe, weil der Effekt so vernichtend gering war.
Am Abend gingen Lovis und Claas mit den Leuten vom Theater essen, aber ich sagte, ich hätte Kopfschmerzen und würde im Hotel bleiben. Lovis sah mich besorgt an und fragte, was los sei, ich hätte den ganzen Tag über ja fast kein Wort gesagt. Ich schüttelte nur den Kopf. »Bin vielleicht krank«, murmelte ich. »Werd mich ins Bett legen.«
Und als Claas die Tür hinter sich schloss, fragte ich mich, ob das das Erwachsene war, was er nicht gesagt hatte, als ich ihm von der Paradieswerkstatt erzählt hatte. Ob er mich daran erinnert hätte, dass es mehr gab als unser Dorf. Ich war so blind gewesen, blinder als die Blinden mit ihren Blindenhunden, unbeschreiblich unglaublich blind.
Ich warf mich auf das Hotelbett, mit dem Gesicht nach unten, und atmete lange in die Matratze und versuchte, ruhig zu werden. Ich wollte etwas zerschlagen, einen ganzen Schrank voll Geschirr, aber in dem Hotelzimmer gab es nur ein paar Plastik-Zahnputzbecher, und die zerbrachen nicht mal, als ich sie auf den Badezimmerfußboden schmiss. Es endete damit, dass ich mit den Fäusten auf den Hotelschreibtisch hämmerte, was nach einer Weile wenigstens weh tat.
Hatte Lotta es gewusst? Hatte Lotta die ganze Zeit über gewusst, wie lächerlich unsere Werkstatt war? Ich glaube nicht. Ich glaube, Lotta denkt noch viel weniger weit als ich. Und die Theorie mit der schiefen Ebene und der Murmel hat sie ohnehin nie ganz verstanden. Ich nahm den Hotelkugelschreiber und malte auf das Hotelnotizpapier neben dem Telefon einen schrägen Strich, eine Ebene, die über einem Kugelschreiberkringel lag wie eine Wippe. Ganz links malte ich eine sehr kleine Murmel darauf. Sie war nicht schwer, ich hatte mich getäuscht. Die schiefe Ebene war nur länger. Sie war so lang, dass das Notizpapier nicht ausreichte, um sie aufzumalen, sie ging einmal um die ganze Erde. Wir hatten die Murmel in die richtige Richtung geschoben, aber ein so verschwindend winziges Stück, dass sich die Ebene kaum bewegt hatte. Es war unmöglich, die Fünfzig-Prozent-Marke zu erreichen. Unmöglich, die Ebene zum Kippen zu bringen.
Unmöglich, das Paradies zu erschaffen.
Deshalb hatte dieser moderne Philosoph es nicht getan und keiner seiner Kollegen. Sie hatten es gewusst.
Ich rief Rosekast vom Hoteltelefon an und hoffte, dass er sein Telefon nicht zwischen der Unordnung im Wohnzimmer verlegt hatte.
»Hier … hier ist David«, sagte ich. Meine Stimme klang wie der Regen, der immer noch gegen die Hotelfenster schlug. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nach Berlin fahre … mit meinen Eltern. Rosekast … wo sind Sie?«
»Ich sitze auf unserer Bank«, sagte Rosekast, »wie immer. Und weißt du, was ich sehe, David?«
»Das Meer«, antwortete ich, doch dann dachte ich zum allerersten Mal darüber nach. »Nein. Nein, natürlich nicht«, sagte ich. »Das kommt geographisch nicht hin. Es ist ein See.«
Wir schwiegen eine Weile durch die Telefonleitung. »Ich habe es verstanden«, sagte ich schließlich. »Es war immer ein See … Ich dachte die ganze Zeit über, wir betrachten das Ganze. Dabei haben wir nur einen Teil betrachtet. Einen verschwindend geringen Teil.«
»Und was bedeutet das?«, fragte Rosekast, dessen Aufgabe es nur war, die richtigen Fragen zu stellen.
»Man kann das Paradies auf Erden nicht erschaffen«, sagte ich. »Ich kann es nicht. Wir können es nicht. Nicht allein.«
»Mein armer David«, sagte Rosekast. Zum ersten Mal sprach er zu mir wie ein Erwachsener zu einem Kind, nicht wie ein Denker zu einem anderen Denker. Und ich war ihm beinahe dankbar dafür. »Mein armer David. Goliath ist nicht nur größer. Goliath ist die ganze Welt. David … das Gemüse, das ihr im Herbst gepflanzt habt … ein paar von den Sachen kommen wieder, trotz der Wildschweine.«
Als könnte mich Gemüse trösten, dachte ich. »Gut«, sagte ich.
»Komm her«, sagte Rosekast. »Komm her und lass uns reden.«
»Ja«, sagte ich. »Bald.«
Ich legte auf und sehnte mich nach der Bank. Vor dem Fenster war nur Berlin, und ich wusste, ich würde noch mehr unglückliche Menschen zwischen den glücklichen sehen, wenn ich mich aus dem Fenster beugte. Dabei ist Berlin keine besonders unglückliche Stadt, glaube ich. Es gab mehr Städte und mehr Unglück. Ich machte den Hotelfernseher an, und darin gab es noch mehr Unglück, es kamen Nachrichten, und in dem Flachbildschirm explodierten Granaten und starben Menschen im Krieg, wirkliche Menschen, keine Schauspieler, sie starben wirkliche Tode, zu Tausenden, zu Millionen, und andere Menschen flohen und wurden in Flüchtlingslager gepfercht, und wieder andere Menschen verhungerten oder erfroren, es gab kein Ende des Unglücks, die ganze Welt bestand aus Unglück. Es war unendlich und daher unvorstellbar wie das Nirwana.
Und wie im Nirwana gab es kein höheres Wesen in diesem Ozean aus Unglück, keinen weisen goldmähnigen Löwen, keinen Gott.
Aber es muss einen Gott geben.
Ich habe darüber nachgedacht, an dem Abend im Hotelzimmer, während ich ganz alleine im Bett lag. Allein aus der Notwendigkeit heraus muss es einen Gott geben. Keinen weisen alten Mann mit Bart, sondern eine andere Sorte von Gott, eine philosophisch erklärbare Sorte von Gott … etwas, das vielleicht gar nicht Gott heißt, aber Gott ist. Es muss ihn geben, weil ich einen Gott brauche, um das Unglück zu besiegen.
Erstens.
Zweitens gibt es noch einen Grund dafür, dass es entgegen meiner früheren Annahmen einen Gott gibt. Nämlich den, dass Glück existiert. Es gibt glückliche Menschen. Es gibt schöne Dinge. Es gibt, würde Lotta sagen, Schokolade. Er muss existieren.
Wie kann man das zusammenbringen – es kann keinen guten Gott geben, weil es Unglück gibt, und es muss einen guten Gott geben, weil es Glück gibt?
Die Frage lautet:
Wenn es einen guten Gott gibt, weshalb lässt er dann das Unglück zu?
Lovis hat mich am nächsten Morgen gefragt, ob ich geweint hätte, weil meine Augen rot waren. Ich habe gesagt, das kommt vom Nachdenken, aber ich konnte ihr nicht sagen, worüber ich nachgedacht hatte, es ging einfach nicht.
Wir sind dann zurückgefahren, durch Straßen aus Unglück, und ich habe die Augen zugemacht, weil sie zu sehr brannten vom Nachdenken.
Einen Tag später, und das war gestern, gleich nach der Schule, war ich mit Lotta bei Rosekast.
Er saß auf der Bank wie immer und sah auf das Wasser hinaus, das kein Meer war, sondern ein See.
Er hatte auf uns gewartet.
Ich erklärte ihm meine Gedanken, während Lotta Kaugummi kaute und zuhörte und vermutlich nichts verstand. Ich erklärte so rasch, dass ich mich verhedderte und immer wieder der Länge nach in mein eigenes Gedankengerüst fiel, aber Rosekast verstand mich trotzdem.
»Ich habe«, sagte ich, »eine Theorie entwickelt. Sie heißt Die Theorie von der dualen Natur Gottes.«
Falls Sie das nicht wissen: Es gibt eine Theorie von der dualen Natur des Lichts. Die ist von Einstein. Sie besagt, das habe ich gelesen, dass das Licht erstens Welle ist und zweitens Teilchen. Als Welle ist es nur Bewegung, und als Teilchen ist es aus Teilchen. Das kann man nicht verstehen.
Es kommt auf den Betrachter an, nehme ich an, und auf das Licht.
Bei Gott ist es ähnlich.
Gott ist erstens in den Menschen. Er ist die Summe von allem Guten in allen Menschen. Jedenfalls könnte man diese Summe so nennen: Gott.
Zweitens ist Gott der alte Mann mit dem Bart. Den haben die Menschen sich ausgedacht, weil sie sich die Summe von allem Guten nicht vorstellen können.
Als ich mit meiner Theorie so weit gekommen war, ließ Lotta eine Kaugummiblase platzen und sammelte die Stücke von ihrem Gesicht. »Das«, sagte sie, »verstehe ich nicht. Wie kann Gott zwei Sachen sein?«
»Das ist jetzt egal«, sagte ich, denn ich wollte Rosekast dringend endlich meine Frage stellen.
»Wenn es etwas wie einen guten Gott gibt«, fragte ich, »in den Menschen oder außerhalb, warum lässt er dann das Unglück zu?«
»Das ist die Theodizeefrage«, antwortete Rosekast, »eine der ältesten Fragen auf der Welt.«
»Und die Antwort?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass Rosekast nicht da war, um zu antworten.
»Die Antwort«, sagte Rosekast, »ist einfach.«
»Er WAR da und hat sich die Schokolade ausgedacht«, sagte Lotta, die vielleicht mehr versteht, als sie sich selber zutraut. »Oder er hat gemacht, dass sich die Menschen die Schokolade ausdenken. Aber jetzt …«
»Jetzt ist er NICHT MEHR da«, sagte ich. »Er hat die Menschen verlassen. Weil sie Steine werfen und Kriege machen und …«
»Ja«, sagte Rosekast. »Gott ist nicht mehr da.«
»Er ist … irgendwie … verschüttet«, sagte ich. »Das Gute in den Menschen ist verschüttet. Aber wir brauchen es!« Und an dieser Stelle sprang ich auf. »Wir brauchen das Gute! Wir brauchen Gott, wenn wir das Paradies auf Erden erschaffen wollen!«
Lotta sah zu mir auf. »Also?«, fragte sie und schob die Kaugummistücke wieder in den Mund.
»Jemand«, sagte ich, »muss ihn zurückholen.«
Dies war der letzte Satz der Mappe. Es gab keinen weiteren Satz, kein weiteres Wort, keine weitere Seite, nichts.
Ich saß lange da, den Kopf in die Hände gestützt, und dachte an Berlin, und daran, wie einsam und unglücklich David in dem Hotelzimmer gewesen war. Und ich, ich war nicht da gewesen, um ihn zu trösten. Wie gerne hätte ich alles geändert, im Nachhinein. Wie gerne hätte ich ihn in die Arme genommen und ihm gesagt, dass er die Welt nicht retten konnte und dass er sie nicht retten musste, dass es immer Unglück geben würde und Ungerechtigkeit, Gewalt und Tod, und dass es wunderbar war, was er getan hatte, nicht nichtssagend und zu wenig, sondern wunderbar und unglaublich viel, und wie sehr es half, wenigstens etwas zu tun, und …
Und dass es keinen Gott gab? Hätte es ihm geholfen, wenn ich das gesagt hätte?
Ich verfluchte in meinem tiefsten Inneren die Religionswerkstatt der Montessorischule, mit der alles angefangen hatte. Aber natürlich war es nicht die Schuld der Werkstatt oder der Schule, dass David sich in den Kopf gesetzt hatte, die Welt zu retten. Zweiunddreißig andere Kinder hatten die gleiche Werkstatt gehabt und nicht versucht, die Welt zu retten. Wessen Schuld also war es? Meine, weil ich nicht genug mit ihm gesprochen hatte? Die von Claas? Oder die von Rosekast?
»Was hast du nur getan?«, flüsterte ich. »David, was hast du am zweiten Mai vorgehabt? Bist du losgegangen, um Gott zurückzuholen? Aber wie bist du darauf gekommen, dass Gott ausgerechnet in Rostock zu finden ist? Oder wolltest du weiter, viel weiter als Rostock, war die A 20 nur der Beginn? Wohin wolltest du? Wohin?«
Er hatte auf seiner letzten Postkarte an Frau Hemke geschrieben, dass er eine Lösung für alles gefunden hatte und dass er vielleicht eine Weile fort wäre. Verreist. Aber ein silberner BMW hatte seine Reise zu Gott beendet, ehe sie hatte beginnen können.
Ich schlief mit der Mappe im Arm auf dem Sofa ein, ohne eine Antwort auf meine Frage zu finden.
Schließlich wachte ich auf, weil das Telefon klingelte. Ich fand es in einer Ritze zwischen den Kissen. Draußen war es bereits hell. Die Wanduhr zeigte kurz nach sieben Uhr früh.
»Lovis«, sagte Thorsten. »Kommst du heute?«
Es war schön, seine Stimme zu hören. Aber da war etwas in der Stimme, was mich beunruhigte.
»Sicher«, antwortete ich schlaftrunken. »Ich komme doch jeden Tag.«
»Ich bin selbst eben erst in die Klinik gekommen«, sagte Thorsten. »Davids Lunge hat sich verschlimmert. Er ist ateminsuffizient geworden, nachts. Sie haben ihn intubiert. Es ist in Ordnung jetzt, er braucht nicht mehr selbst zu atmen, die Maschine nimmt ihm die Arbeit ab und entlastet ihn. Vorübergehend natürlich. Das ist gut für seinen Körper, er … er braucht wohl noch mehr Ruhe, um sich zu erholen.«
»Ich bin auf dem Weg«, sagte ich.
Als ich ins Auto steigen wollte, stand Lotta daneben.
»Hallo«, sagte ich.
»Bis wohin hast du gelesen?«, fragte Lotta. »Du hattest nachts Licht, ich habe das gesehen, die halbe Nacht.«
»Wo warst du denn? In unserem Garten? In der Weide?«
»Bis wohin hast du gelesen?«
Ich seufzte. »Lotta. Ich muss los. David geht es nicht gut, glaube ich. Es wird natürlich besser, es ist nur … komm mit.«
Lotta sah mich an und überlegte einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. »Lieber nicht«, sagte sie. »Du willst nicht, dass ich mitkomme. Bis wohin hast du gelesen?«
»Bis zum Ende«, sagte ich und stieg ins Auto. Sie hatte recht. Ich wollte nicht, dass sie mitkam. Ich fühlte mich schlecht deswegen, aber ich wollte allein sein im Auto, ich wollte allein sein mit David und seiner Theodizeefrage, und Lotta würde mir ohnehin nicht helfen, Antworten zu finden.
Ich fragte sie nicht noch ein zweites Mal, ob sie mitwollte. Ich startete den Motor und fuhr los.
Im Rückspiegel sah ich, dass Lotta dem Auto nachblickte. Sie winkte nicht. Sie schüttelte den Kopf. Sehr entschieden. Als wäre ihr Kopfschütteln Teil eines Gesprächs, das wir nicht gehabt hatten. Neben ihr saß der Hund, ich hatte ihn ganz vergessen. Lotta und er passten zusammen, sie würden sich umeinander kümmern, während ich fort war.
Ich komme wieder, dachte ich. Es ist wie damals, Lotta, weißt du, als David in den Wald gegangen ist, um alleine nachzudenken. Er ist wiedergekommen, und ich komme auch wieder. Warte auf mich.
Aber Lottas Kopfschütteln verfolgte mich. Was bedeutete es? Bezog sich ihr »Nein« auf meine Antwort, ich hätte bis zu Ende gelesen?
Aber es gab keinen Eintrag mehr.
Am Ortsausgang stand René. Neben ihm stand Celia mit ihrem Kinderwagen. Vielleicht hatte sie ihm von dem Café in der Stadt erzählt oder erzählte gerade davon. Er grinste sehr breit, als er mir winkte, fröhlich breit. Ich merkte, dass ich lächelte, als ich auf die Schnellstraße abbog.
Ich hasste das Beatmungsgerät gleich, als ich es sah, dieses riesige, klobige Stück Technik neben Davids Bett – und gleichzeitig wusste ich, dass ich dankbar sein musste für seine Existenz. Davids Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßiger als zuvor, die Maschine half ihm, pumpte sauerstoffreiche Luft in seine Lungen und sorgte dafür, dass die verbrauchte ausgeatmet wurde, ohne dass er sich anstrengen musste. Die Atemmaske bedeckte sein Kindergesicht beinahe ganz, nur die geschlossenen Augen und die paar rötlichen Haarsträhnen waren zwischen der Maske und dem Kopfverband zu sehen. Die grüne EKG-Linie lief unverändert über den Bildschirm.
Ich hatte mich an den Einmalmundschutz und den Papierkittel gewöhnt, den ich tragen musste, beinahe bemerkte ich sie nicht mehr. Ich zog mir einen Stuhl heran und erzählte David von Celia, von ihrem Baby, das wir gebadet hatten, und von dem Café, in dem René arbeiten und darauf stolz sein würde.
Und zum ersten Mal fragte ich mich, was wäre, wenn es immer so weiterginge. Wenn ich jeden Tag neben diesem Bett sitzen würde, nicht Wochen, sondern Monate, Jahre, im Sommer und im Winter. Ich schwor mir, selbst dann jeden Tag zu kommen, David von allem zu erzählen, was draußen vor sich ging, von den Jahreszeiten, dem Schnee, der auf unsere Straße fiel, den Spaziergängen, die ich mit dem Hund machte, und all den Leuten, denen er geholfen hatte und denen nun ich half.
Samstag kam erst gegen Mittag.
»Tut mir leid«, sagte er, »es ist die Hölle los auf der Station heute. Wir haben drei Neuaufnahmen, und ein Frühchen, das sehr lange hier lag, ist gegangen …«
»Gegangen? Wohin gegangen?«, fragte ich. Samstag guckte weg.
»Es ist gestorben«, sagte ich.
»Dein Mann war hier«, sagte Samstag. »Heute Nacht. Mein Kollege hat es mir erzählt. Er war wohl dabei, als sie die Entscheidung getroffen haben, ihn zu intubieren.«
»Er war dagegen«, sagte ich. »Das weißt du. Sie mussten ihn intubieren, weil ich nie zugestimmt hätte, dass sie es bleiben lassen. Wenn es … wenn es nach Claas gegangen wäre, wäre David jetzt …« Ich konnte nicht »tot« sagen, das Wort schien unheimlich schwierig auszusprechen, so als hätte es fünfundzwanzig Silben, und ich wusste, dass meine Zunge sich in einer der Silben verheddern würde.
»Du urteilst sehr hart über Claas«, sagte Thorsten.
»Warum nennst du ihn überhaupt Claas?«, fragte ich. »Kennt ihr euch irgendwie?«
»Wir haben mal zusammengearbeitet. Im letzten Jahr vor dem Facharzt. Es ist … sehr lange her.«
»Das war, als ich Claas kennengelernt habe«, sagte ich. »Ja. Es ist sehr lang her.«
Ich fragte mich, was passiert wäre, wenn ich damals im Wald beim Malen nicht Claas begegnet wäre, sondern Thorsten. Wenn es Thorsten gewesen wäre, den ich geheiratet hätte. Dann wäre David vielleicht nicht David gewesen, es hätte diesen David mit dieser speziellen Kombination seiner Gene nie gegeben, diesen merkwürdigen, zu intelligenten und gleichzeitig zu naiven Jungen, Prinz Goldhaar aus dem alten Pfarrhaus, ich hätte ihn nie geliebt, diesen Jungen, weil er ja nie existiert hätte, und er wäre auch nie auf einer Autobahn überfahren worden. Und Thorstens eigene Kinder hätte es auch nie gegeben – diese Gedankenfolge war wirklich zu abstrus. Die Dinge ließen sich nicht rückgängig machen.
»Er war so verzweifelt, am Ende«, sagte ich. »Obwohl er natürlich nicht wusste, dass es das Ende war. Er dachte, es wäre das Ende seiner Paradieswerkstatt, und dann stellte er fest, dass es so viel mehr Unglück in der Welt … Er hatte einfach vergessen, dass die Welt außerhalb unseres Dorfes existiert, ist das nicht merkwürdig? Und er hatte beschlossen, Gott zurückzuholen.«
»Keine schlechte Idee«, sagte Thorsten. »Man könnte einen brauchen hier.«
»Thorsten … ich habe mir vorgestellt, was ist, wenn David nicht aufwacht … ich meine, eine lange Zeit nicht … Er wacht doch auf? Ich meine – bald?«
»Thorsten?«, rief eine der Schwestern im Flur, und Thorsten zuckte entschuldigend die Schultern. Er streifte mich leicht, als er an mir vorbei durch die Tür ging, und die Berührung fühlte sich zufällig an, aber sehr tröstlich. Ich wünschte, er hätte mich noch einmal in den Arm genommen.
»Ich muss … bleibst du noch eine Weile? Ich habe um fünf Schluss, praktisch gesehen natürlich erst um sieben …«
Sein braunes Auge sagte: Bitte bleib bis dahin. Sein blaues Auge sagte: Geh besser vorher.
»Ich bleibe«, sagte ich.
Und ich blieb. Ich hielt Davids Hand und dachte über Gott nach und über Lotta und den vielleicht-nicht-letzten Eintrag in der Mappe, und ich blieb. Ich erzählte David sein Leben und blieb, ich erzählte ihm, wie ich seinen Vater kennengelernt hatte und wie wir ins alte Pfarrhaus gezogen waren und wie wir sieben Jahre lang auf ihn gewartet hatten. Und wie er unter unseren erstaunten Augen zu einem kleinen Jungen herangewachsen war, der so ganz anders war als andere kleine Jungen, und wie er aufwachen würde, bald schon, und nach Hause käme, um ein ungewöhnlicher Jugendlicher und später ein ungewöhnlicher Erwachsener zu werden, ich erzählte ihm von seinen eigenen Kindern, die irgendwann im Pfarrhaus spielen würden, und von ihrer Großmutter Lovis, die sich alle Zeit der Welt für diese Enkelkinder nehmen würde und der sie immer alles erzählen könnten, auch wenn sie zum Beispiel seltsame Projekte zur Errettung der Welt durchführten.
Um vier Uhr nachmittags war ich zu hungrig, um länger neben Davids Bett zu sitzen, also ging ich hinunter in die klinikeigene Cafeteria und aß dort ein belegtes Brötchen, das schmeckte, als wäre es in der Wäscherei der Klinik aus gestärkten Laken gefertigt und anschließend gründlich desinfiziert worden.
Ich ging alle Informationen noch einmal durch, die ich über Davids Verschwinden besaß. Bei den Postkarten an Frau Hemke blieb ich stehen. Sie hatte gesagt, er hätte sie gezwungen, ihren Koffer zu packen … er hätte auf dem Bett gesessen und gelesen … und sie hätte ihm das Buch geschenkt, weil er sagte, er könnte es brauchen. Was für ein Buch war das gewesen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Frau Hemke viele Bücher besessen hatte. Ein Buch über Gartenbau vielleicht? Oder ein Kochbuch? Aber besaßen alte Leute, die ihren Garten und ihre Kochtöpfe in- und auswendig kannten, Bücher über das Gärtnern und Kochen?
Es kam mir abstrus vor, aber ich rief die Auskunft an und verlangte die Nummer des Seniorenheims Friedensstift.
»Frau Hemke«, sagte ich. »Hier ist Davids Mutter.«
»Ach Gott«, sagte Frau Hemke. »Ist ihm etwas passiert?«
»Er … hatte einen Unfall … Aber das wissen Sie doch.«
»Natürlich weiß ich das«, sagte Frau Hemke ungeduldig. »Ich meine, ist etwas Neues passiert?«
»Nein«, sagte ich und verschwieg die Intubation. »Und … ich hole Sie bald nach Hause, wirklich bald, es ist fast alles geklärt …« Das war eine Lüge. Ich hatte über allen anderen Dingen vergessen, mit ihrem Sohn zu sprechen. Ich würde es tun. Morgen. »Bitte … mir ist gerade etwas eingefallen … Was war das für ein Buch, das Sie David geschenkt haben? In dem er gelesen hat, als Sie Ihren Koffer gepackt haben?«
»Oh, das«, sagte Frau Hemke. »Die Bibel. Eine kleine Ausgabe, Dünndruck. Sehr praktisch, hat er gesagt … um sie in der Tasche zu tragen.«
Natürlich. Ich hätte es wissen müssen. »Ich habe sie nirgends gefunden«, sagte ich. »Können Sie sich vorstellen, dass er sie immer bei sich hatte?«
»Bei David kann ich mir alles vorstellen«, sagte Frau Hemke. »Grüßen Sie ihn von mir.«
»Das tue ich«, sagte ich und legte auf.
Die Bibel.
War Rosekast weniger ein Philosoph als ein merkwürdiger religiöser Fanatiker, der David irgendwie auf Umwegen ins Christentum geschleust hatte? Ein neunjähriger Junge, dachte ich, der mit der Bibel in der Tasche herumläuft, ist nicht nur seltsam, sondern unheimlich.
Ich wollte zurückgehen und ihn geradeheraus fragen, wach auf, wach auf, wach auf – was war das für eine Geschichte mit dir und Rosekast und der Philosophie und diesem, wie nennen sie ihn, Gott?
Ich war auf dem Weg zur Treppe, da sah ich, wie jemand die Halle durchquerte und ebenfalls auf die Treppe zuging, ohne mich zu sehen. Claas. Ich blieb stehen wie erstarrt. Er hatte mich nicht bemerkt, er stieg die Stufen mit seinen langen Beinen hinauf, er ging zügig, aber er rannte nicht, da war immer noch die Claas-eigene, kühle Ruhe in jedem seiner Schritte, die ich einmal geliebt hatte und die ich jetzt so hasste.
»Claas!«, rief ich, leise, er hörte mich nicht. Ich rief kein zweites Mal. Ich blieb stehen.
Ich musste ihn tausend Dinge fragen und konnte es nicht. Ich setzte mich wieder auf den Cafeteria-Stuhl. Ich wartete, dass er zurückkäme. Eine Stunde lang. Dann stand ich zum zweiten Mal auf, um zu David zu gehen. Um an seinem Bett mit Claas zu sprechen.
Doch meine Füße, feige Verräter, trugen mich zum Ausgang, und ich fand mich in der Innenstadt von Rostock wieder. In den Blumenkästen blühten Blumen, durch die Einkaufsstraße flatterten die Möwen und die Tauben, am Figurenbrunnen spielten Kinder, jüngere Kinder als David. Die Innenstadt von Rostock ist übersichtlich, ich lief sie mehrfach ab, ehe ich mich in ein Café setzte, das noch offen hatte. Ich kehrte erst zur Klinik zurück, als der Frühlingstag sein Licht verlor und ich ziemlich sicher war, dass Claas nicht mehr bei David saß.
Er saß nicht dort. David wartete allein auf mich, noch immer intubiert, noch immer still, und ich, noch immer oder eigentlich wieder in Grün, hielt wieder oder eigentlich noch immer seine Hand. Obwohl es eigentlich war, als hielte er die meine. Er war immer so viel stärker gewesen als ich. Halt mich fest, David, halt mich fest, damit ich nicht verlorengehe.
So schlief ich ein, vornübergebeugt, den Kopf auf der Kante seines Bettes.
Als ich aufwachte, war es draußen nicht mehr dämmerig, sondern dunkel. Die Nachtbeleuchtung der Station verbreitete zusammen mit den Geräten ein seltsames grünliches Kunstlicht, ein Licht wie in einem Science-Fiction-Film. Thorsten Samstag fiel mir ein. Er hatte längst Dienstschluss gehabt. Ich sah mich um, nur zur Sicherheit, doch der zweite Stuhl im Raum war leer. Das Beatmungsgerät pumpte zuverlässig und eintönig Luft aus und in Davids träumende Gestalt.
Ich streckte mich, und dabei fiel etwas aus meiner Hand, das jemand mir im Schlaf zwischen die Finger gesteckt haben musste. Ein Zettel. Ich hob ihn auf und las ihn im Licht der schmalen Neonröhre über dem Kopfende des Bettes.
Lovis.
Ich war hier und wollte dich wecken. Du hast zu fest geschlafen.
Wenn du immer noch irgendwo hingehen und reden willst, hol mich ab. Ich wohne schräg gegenüber der Klinik, du musst an dem Haus vorbei auf dem Weg in die Stadt.
Thorsten.
Auf der Rückseite des Zettels war ein rasch hingekritzelter Lageplan mit Straße und Hausnummer.
Keine Telefonnummer. Ich musste selbst entscheiden, ob ich hinging oder nicht, ich konnte ihn nicht anrufen und sagen, lass uns lieber da und da in der Stadt treffen, oder was meinst du, lohnt es sich noch oder bist du inzwischen zu müde? Es war kurz vor zehn.
»David«, flüsterte ich, »soll ich noch bei ihm klingeln? Was meinst du?«
Aber David war, genau wie Rosekast, nicht hier, um Antworten zu geben.
Das Haus war nicht schwer zu finden. Thorstens Wohnung befand sich ganz oben, unter dem Dach. Er sagte nichts durch die Sprechanlage, drückte nur den Summer und ließ mich hinein. Es gab keinen Fahrstuhl.
Als er oben die Tür öffnete, sah ich hinter ihm einen Flur, der kaum breiter war als er selbst.
»Eine kleinere Wohnung konntest du nicht finden?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf, das blaue Auge lächelte, das braune nicht. »Um ehrlich zu sein, ich habe danach gesucht. Das ist die kleinste Wohnung in der ganzen Stadt.«
»Das Gegenteil eines Einfamilienhauses in einer netten Neubausiedlung«, sagte ich und dachte an Finns Eltern.
»Ja, das Gegenteil. Ich habe das Haus verkauft.«
»Oh«, sagte ich. »So … meinte ich es nicht. Ich wusste nicht …«
»Natürlich nicht. Willst du kurz reinkommen? Ich ziehe mir nur eben eine Jacke über.«
Er hielt ein Schnapsglas in der Hand und schien zu überlegen, wo er es abstellen sollte, denn es gab im Flur nichts außer ein paar Garderobenhaken.
»Whiskey?«, fragte ich und nickte zu dem Glas hin. »Wasser«, sagte Thorsten und hielt mir das Glas entgegen, damit ich daran riechen konnte. »Um Kopfschmerztabletten zu schlucken.«
Ich trat zwei Schritte in den schmalen Flur hinein, während er das Glas auf den Fußboden stellte und seine Jacke vom Haken nahm. Ich sah sein Haar an, das zerzaust war wie immer, und spürte den kindischen Wunsch, es zu berühren.
»Ich … ich möchte dir immer noch sehr viele Dinge erzählen«, sagte ich, »weil ich sie irgendwem erzählen muss, ich meine, nicht dass du irgendjemand wärst, ich meine … aber bevor wir irgendwo hingehen, ich meine, bevor ich erzähle … könntest du mich noch einmal in den Arm nehmen wie in der Klinik, nur ganz kurz? Ich weiß, es ist eine dumme Bitte …«
Thorsten sagte nichts. Er ließ die Jacke fallen, die er in der Hand gehabt hatte, und zog mich an sich und hielt mich sehr fest. Etwas länger als ganz kurz. Er roch nach Klinik und nach Kaffee, ähnlich wie Claas und doch völlig anders. Der Pullover, an dem meine Wange lag, war kein Wollpullover wie bei Claas, sondern ein Ding aus reinem Kunststoff, billig, praktisch, belanglos und doch irgendwie freundlich. Ich fädelte meine Arme etwas ungeschickt unter seinen durch, um die Umarmung zu erwidern, um sie noch ein wenig länger dauern zu lassen, ehe wir irgendwo hingingen, wo wir uns nicht mehr umarmen konnten, weil andere Menschen dort waren, die es falsch verstehen konnten, wenn sich zwei Leute umarmten.
Wir gingen nirgendwo hin. Die einzigen Menschen hier waren wir, und wir verstanden beide alles richtig, wir verstanden unsere Umarmung in dem Moment, in dem wir losließen.
Thorstens Lippen waren ungewohnt auf meinen, wie der Pullover waren sie erstaunlich weich, der Kuss etwas, in das man hineinsinken konnte wie in ein zu weiches Bett, aus dem man möglicherweise nie wieder aufstehen kann. Wir küssten uns sehr lange in dem schmalen Flur, und ich weiß nicht, ob wir versehentlich an den Lichtschalter kamen oder absichtlich oder ob die Glühbirne durchbrannte, das zu helle Flurlicht erlosch in jedem Fall, und das war gut, weil ich mir im Dunkeln wieder einbilden konnte, ich wäre jemand anderer oder gar nicht vorhanden, wie in der Kneipe.
Ich wand mich aus meiner Jacke und aus meinem T-Shirt, hörte den weichen Stoff von Thorstens Pullover rascheln und spürte nackte Haut auf meiner Haut, warm auf kalt, wir umarmten uns noch einmal, wir pressten unsere Körper so eng aneinander, dass es schmerzte, und dann war keine Zeit mehr für Umarmungen. Keiner von uns sagte etwas. Thorsten zog mich an der Hand mit sich, aus dem Flur in ein sehr kleines Schlafzimmer, auf ein schmales, hartes Bett, die Art Bett, die man von Jugendherbergen kennt, voller harter Kanten, nicht dazu gemacht, länger darin zu bleiben als unbedingt notwendig. Das einzige Licht im Raum stammte von der Straßenbeleuchtung, ein künstliches, kaltes Licht ähnlich dem in der Klinik, nur schwächer und weniger grün. Es gab keine Vorhänge, nur ein Rollo, und Thorsten ließ es hinunter, um das Licht auszuschließen. Alles, was im Zimmer übrig blieb, waren die absolute Dunkelheit und unsere Körper, die auf dem schmalen Bett Schutz beieinander suchten. Es gab keinen Raum für Zärtlichkeiten, nicht auf dem Bett und nicht in unseren Leben und nicht in dieser Nacht. Irgendwo lag David in einem anderen Bett und schlief und träumte vielleicht – wovon? Ich sah sein entrücktes Gesicht vor mir, als ich mich in der bilderlosen Schwärze an Thorsten presste. Und dann das Gesicht des wachen David, in einem Berliner Hotel, ein Gesicht mit geröteten Augen, übernächtigt.
Warum kann man die Behinderten nicht enthindern?
Davids Verzweiflung wurde meine Verzweiflung wurde Thorstens Verzweiflung wurde die Verzweiflung der ganzen Welt. Die Verzweiflung des Gottes, der fortgegangen war und die Menschheit alleingelassen hatte in ihrer Verzweiflung. Und in dieser Verzweiflung verschmolzen wir auf dem schmalen Bett zu einem Klumpen aus Fleisch und Blut und Schweiß, etwas Unästhetischem, Notwendigem, Dringlichem, Drängendem, niemals Zufriedenem, etwas wie die Gestalten auf den Bildern von Francis Bacon. Etwas, das sich aneinander, ineinander festkrallte, um nicht den Halt in der Realität zu verlieren.
Wir taten uns gegenseitig weh und wollten es so.
Das Bettlaken war der Asphalt einer Autobahn. Ich roch verbranntes Gummi und glühendes Metall, ausgelaufenes Benzin, Teer, Blut. Der Moment dauerte ewig und war sehr kurz, und es war eine merkwürdige Art von Sex ohne wirklichen Lustgewinn, ohne Höhepunkt auf meiner Seite, aber darum ging es nicht.
Und dann lagen wir in der Dunkelheit, dicht nebeneinander, und versuchten, zu Atem zu kommen.
»Ich … bin etwas außer Übung«, sagte Thorsten leise, in einem nicht geglückten Versuch, die Tiefe der Dunkelheit leichter zu machen, ironischer. »Das letzte Mal, dass ich das getan habe, war … vor fünf Jahren.«
Ich tastete nach seiner Hand und drückte sie ganz fest. »Mit deiner Frau?«, wisperte ich.
»Ja«, sagte er. »Damals war es etwas anderes.« Und dann, nach einer Weile: »Er ist losgegangen, um Gott zurückzuholen?«
Da lehnte ich mein Gesicht an seinen Hals und erzählte ihm all die Dinge, die ich loswerden musste, und er hörte mir lange zu. Es war seltsam, denn die Mauer, meine unsichtbare Mauer, war die ganze Zeit über da. Und dennoch war alles in Ordnung und musste so sein, wie es war. Bis ich begriff. Er hatte auch eine Mauer, eine eigene. Wir waren uns nahe, ohne dass es jemals die Möglichkeit geben konnte, sich wirklich nahe zu sein.
»Erzähl du«, sagte ich schließlich. »Erzähl du von deinen Kindern.«
Thorsten stand auf und machte das Licht an, und da sah ich, dass der Raum voller Fotos war. Sie bedeckten alle Wände, sie bedeckten sogar die Decke, Fotos von einem kleinen Jungen und einem kleinen Mädchen, die über Wiesen rannten, die Geburtstage feierten, die schlafend in Betten lagen, die am Strand spielten, mit ihrer Mutter oder ihrem Vater oder allein, Fotos aus neun Jahren, von Tausenden von Tagen, von Trillionen von Minuten, undenkbar vielen Atemzügen und Herzschlägen. Es gab keinen Raum zwischen den Fotos, sie stießen aneinander und waren übereinandergeklebt, sie schienen ineinander hinein- und auseinander herauszuwachsen, da war kein einziger Quadratzentimeter freie Wand. Ich lag lange da und betrachtete sie, während Thorsten auf der Bettkante saß und sie ebenfalls betrachtete.
»Warum tust du das?«, flüsterte ich schließlich. »Du siehst sie jeden Abend und jeden Morgen an, und natürlich träumst du dann … Warum quälst du dich?«
»Es gibt niemand anderen«, antwortete er mit einem Lächeln, »den ich quälen könnte.«
Und ich dachte an David und Frau Hemke und daran, wie er gesagt hatte, wenn es weh tut, weiß man wenigstens, dass man noch lebt.
»Damals«, sagte Thorsten, »als das passiert ist. Damals wollte ich ihnen nach. Sterben. Ich kenne die Warnowtalbrücke gut, vor der Davids Unfall passiert ist. Damals gab es dort noch kein Netz. Ich habe lange dagestanden und nach unten gesehen, den Autos zugesehen, die vorbeifuhren. Ich konnte es nicht. Ich hatte nicht den Mut.«
»Gott sei Dank«, sagte ich und wusste nicht einmal, ob ich es meinte.
»Mach du alles anders, ja?«, sagte Thorsten. »Werd wieder glücklich. David kommt zurück.«
Wir zogen uns an und gingen in die Küche, die nicht größer war als der Platz, der im Lager der Klinik zwischen den Inkubatoren und Windeln verblieb, und Thorsten machte Kaffee. Wir redeten nicht mehr. Ehe ich ging, umarmten wir uns noch einmal. Es fühlte sich an wie ein letztes Mal.
Und dann stand ich auf der Straße.
Ich ging zurück zur Klinik, um noch eine Weile bei David zu sitzen. Schwester Erika war da, sie nickte mir nur zu, sie hatte sich an mich gewöhnt wie an einen Teil der Einrichtung.
»Da ist ein letzter Eintrag, nicht wahr?«, flüsterte ich David zu. »Ein dreizehnter Bericht. Wo ist er David? Wo? Was ist am Ende passiert? Wenn ich es herausfinde, wachst du auf, ist es nicht so? Du wartest darauf, dass ich dich endlich ganz verstehe.«
Auf dem Weg nach Hause schlief ich auf der Autobahn zweimal beinahe ein. Ich war zu erschöpft, um über Thorsten nachzudenken oder darüber, was zwischen uns geschehen war und was es bedeutete.
Der Morgen dämmerte, als ich in die Pflasterstraße mit der Kirche einbog.
In der Einfahrt am Ende der Straße stand ein schwarzer Jeep. Ein dunkles, großes Auto, schoss es mir durch den Kopf. Vor der Haustür des alten Pfarrhauses, auf den alten, schiefen Stufen zwischen den beiden Kastanienbäumen saß ein Mann in einer Windjacke und mit einem Bartanflug.
Es war Jarsen.
Er stand auf, als er meinen Wagen kommen sah. Ich hatte nie bemerkt, dass seine Nase leicht schief war.
»Frau Berek«, sagte er, als ich vor ihm stand. »Ich … ich war … ich habe … David im Auto mitgenommen, am zweiten Mai. Ich hätte viel früher kommen sollen.«
»Ja«, sagte ich, und in diesem Moment fühlte ich nichts außer einer großen, allumfassenden Müdigkeit. Es ist nicht nur die Müdigkeit der letzten Nacht, dachte ich, es ist die Müdigkeit, die zu viele Listen mit zu vielen Menschen mit zu vielen zu lösenden Problemen hinterlassen haben. Dieselbe Müdigkeit, die David gefühlt hatte. »Ja. Das hätten Sie.«