5.

Ich wusste es nicht, nein. Verdammt.

Ich schloss die Ledermappe, deren Schrift natürlich nach Eintrag 4 im alten System keinen Sinn mehr ergab. Es war spät in der Nacht; es hatte ewig gedauert, den letzten Eintrag zu entschlüsseln, bis zum Einbruch der Dunkelheit und darüber hinaus. Zwischendurch hatte ich Bratkartoffeln gemacht und mit Claas zusammen in der Küche gegessen und weiter ans Entschlüsseln gedacht.

Mein linkes Bein war eingeschlafen. Ich humpelte hinüber ins Atelier und stand eine Weile mitten im Raum, umgeben von leeren Staffeleien. An der Wand lehnte eine Abstraktion in Grau und Weiß, auf der etwas zu sehen war, das ich selbst nicht erkannte.

Und auf einmal entwickelte ich eine unheimliche Wut auf das Grau und Weiß, ich humpelte hinüber und trat dagegen, was das Bein weckte und für ein merkwürdiges elektrisches Kribbeln darin sorgte, und es war, als löste sich etwas in mir.

Ich dachte an René, dem sie vier Finger gebrochen hatten wegen eines alten Fahrrads, und ich dachte an Tielows Hund und an die Marie, die David vor Tielows Wut gerettet und mit der ich noch nie ein Wort gesprochen hatte, weil ich wohl geglaubt hatte, dass eine Dorfnutte, Entschuldigung, mit einer Künstlerin wenig gemein hat. Ich hatte sie lange nicht gesehen, vielleicht wohnte sie nicht mehr hier. Ich dachte an die alte Frau Hemke, die aus einem Hochhausfenster vielleicht gerade jetzt das nutzlose nächtliche Meer ansah, und für jeden dieser Gedanken, für jeden dieser Menschen trat ich einmal gegen das grau-weiße Bild.

»Warum«, flüsterte ich in die Nacht, »warum geschehen all diese schrecklichen Dinge? Ich habe sie nicht gesehen, ich hinter meiner blöden Mauer, aber David hat sie gesehen, und er war ganz allein damit, er hat die Dinge nie so geordnet bekommen, dass er mit mir darüber reden konnte …«

Nein, dachte ich dann. Er war nicht ganz alleine damit gewesen. Er hatte Herrn Rosekast gehabt, und Lotta. Dass er mit Rosekast gesprochen hatte, machte mich noch wütender, und ich trat ein letztes Mal nach dem Bild, von dem nicht mehr viel übrig war als ein bisschen zerknitterte Leinwand.

Es ist nicht wichtig, dachte ich, ich kann ein neues Bild malen. »Nein«, sagte ich leise. »Das kannst du nicht. Sieh es ein, Lovis. Du kannst nicht mehr malen. Du hast nicht gemalt, seit David den Unfall hatte. Vielleicht wirst du nie mehr malen.«

Ich ließ mich neben die Ruine meines Bildes auf den Fußboden fallen, erschöpft, und fragte mich, ob es die Ruine meines Lebens war und ob allgemein das Leben hauptsächlich aus Ruinen bestand.

»Warum geschehen all diese Dinge?«, wiederholte ich. »Warum werden Leute überfahren? Warum gibt es Leute, die nichts im Leben haben als Bushaltestellen und Bier? Warum kann mein Sohn mit einem verrückten alten Mann reden, aber nicht mit mir?«

Ich wollte noch mehr fragen, alle Fragen der Welt, aber in diesem Moment öffnete sich die Tür des Ateliers, und ich erschrak. Einen Moment lang erwartete ich, Davids kleine Gestalt durch diese Tür treten zu sehen, in seinem blauen Schlafanzug mit den seltsamen aufgedruckten Fossilien, deren Namen er alle im Internet nachgesehen hatte, als er den Schlafanzug von einer Tante geschenkt bekam. »Lovis?«, würde er sagen. »Was tust du da auf dem Fußboden? Ich konnte nicht schlafen … ich muss dir etwas erzählen. Hast du Zeit, oder musst du graue Kästchen malen?«

»Ja«, würde ich sagen. »Ich habe jetzt immer Zeit. Ich koche uns einen Kakao, und dann setzen wir uns in die Küche und du erzählst mir alles, ja?«

Aber es war selbstverständlich nicht David, es war Claas. Er war nackt, weil er Schlafanzüge nicht mochte, und sehr verschlafen; dass er so verschlafen war, ließ ihn noch nackter wirken. Nackt wie ein Tier ohne Fell, roh und verletzlich. Ich dachte, dass nackte Männer nicht schön sind.

»Mit wem sprichst du?«, fragte Claas verwirrt. Mit wem sprach ich? Wen hatte ich gefragt, warum all die schrecklichen Dinge geschahen?

»Gott«, sagte ich sehr leise.

»Gott?«, wiederholte Claas und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Und ich dachte an die Nächte, in denen wir uns schlaftrunken einen schreienden, wenige Wochen alten David in die Arme gedrückt hatten, damit der eine wenigstens ein paar Stunden schlafen konnte, während der andere in der Nacht draußen spazieren ging, den beim Spazierengehen-nicht-schreienden David in der Babytrage unter der Jacke. Schon damals waren die Schienen, auf denen unsere Leben abliefen, auseinandergeglitten. Kaum merklich zuerst.

Vielleicht war es Davids Geburt gewesen, die Geburt des Kindes, das wir uns so sehr und so lange gewünscht hatten. Das gemeinsame Sehnen und Träumen hatte uns zusammengeschweißt, all die Jahre, in denen wir kein Kind bekamen. David hatte uns sieben Jahre lang warten lassen, nachdem wir in dieses Haus gezogen waren. Als er da war und kein Sehnen mehr notwendig schien, war etwas zerbrochen.

»Seit wann glaubst du an Gott?«, fragte Claas. »Und – an welchen?«

Ich zuckte die Schultern. »Ich habe lange nicht mehr darüber nachgedacht«, sagte ich leise, »dass es theoretisch möglich wäre, an Gott zu glauben. David hat sich damit beschäftigt. Mit Gott oder vielmehr mit der Frage, ob es ein Paradies gibt.«

Ich hatte gedacht, Claas würde sagen: »Ach so?« oder »Hat er dir das erzählt?«.

Aber er sagte: »Ich weiß.«

»Du … du weißt das?«

Claas lehnte sich an den Türrahmen, wo das Mondlicht, das durchs Atelierfenster fiel, unwirkliche Schatten unter seine Wangenknochen malte. »Es war kurz vor Weihnachten«, sagte er. »Eigentlich sprachen wir über Herzhusten.« Er lächelte, und die Mondschatten machten sein Lächeln durchsichtig, als könnte man bis auf den Grund seiner Erinnerung sehen. Irgendwo in mir fand ich etwas wieder, ein kleines, abgebrochenes Stück der Liebe, die ich einmal gespürt hatte.

»In der Küche«, sagte Claas, »frühmorgens um sechs.« Und ich sah die Küche, frühmorgens um sechs, an einem Vorweihnachtstag. Die 24 kleinen Taschen des Adventskalenders, den ich aus Filz gemacht hatte, hingen verheißungsvoll durch den Raum gespannt.

»Er war da, als ich herunterkam«, sagte Claas. »Er saß auf der Anrichte und baumelte mit den Beinen. ›Ich wollte dich was fragen‹, sagte er. ›Kennst du dich aus mit Husten?‹

›Husten?‹, sagte ich. ›Nicht besonders. Ich bin ein Arzt für Herzen, das weißt du doch. Guten Morgen.‹

›Guten Morgen‹, sagte David. ›Ja, für Herzen, das weiß ich. Aber ich dachte, ich frage trotzdem, weil ich jemanden kenne, der schon lange Husten hat, und er will nicht zum Arzt gehen. Ich denke, er hat Angst. Ich meine, wenn du dich nur mit Herzen auskennst … Gibt es Herzhusten?‹

›Im weiteren Sinne schon‹, sagte ich und goss meinen Kaffee auf. ›Es gibt Leute, bei denen ist das Herz so kaputt, dass sich das Wasser in die Lunge zurückstaut. Weil das Herz all das Blut nicht mehr weggepumpt bekommt. Blut besteht ja zum Großteil aus Wasser …‹

›Ich weiß. Wir hatten eine Werkstatt da drüber. Die Körperwerkstatt. Also, wenn jemand immer nur hustet und hustet, und er ist schon ganz schwach vom Husten, ist das dann wohl Herzhusten?‹

›Es können tausend andere Sachen sein‹«, sagte ich. David baumelte weiter mit den Beinen. »›Jemand, der schon lange Husten hat, sollte zum Arzt gehen‹, sagte ich. ›Wer ist es denn?‹

›In der Religionswerkstatt‹, sagte David nachdenklich, ›hatten wir einen Vortrag über Jesus. Der hat alle diese Leute geheilt, ohne Medikamente … einen Blinden und einen Lahmen … auch jemanden mit Husten?‹

›Ich kenne mich in der Bibel nicht aus‹, sagte ich und trank einen Schluck Kaffee. ›Ich nehme an, der Blinde konnte hinterher wieder gehen und der Lahme wieder sehen?‹

›Andersherum‹, sagte David sehr ernst. ›Wie hat er das gemacht? Wenn man das herausfinden könnte, bräuchte man keine Ärzte.‹

›Ich glaube, Gott hat ihm geholfen‹, sagte ich. ›In diesen Geschichten jedenfalls. In Wirklichkeit …‹

› … gibt es keinen Gott‹, sagte David. Und, nach einer Weile: ›Warum feiern wir eigentlich Weihnachten, Claas, wenn es keinen Gott gibt?‹

›Weil wir uns gerne etwas schenken?‹

›Aber wer macht, dass wir uns gerne etwas schenken? Doch Gott? Oder eine Art höheres … Prinzip?

›Hm‹, sagte ich. ›Wer weiß?‹

›Das ist es nämlich‹, meinte David. ›Niemand. Niemand weiß, ob es Gott gibt. Und das ist doch komisch, wo man heute so viele andere Dinge weiß.‹

Dann sprang er von der Anrichte, wobei der Adventsstrauß mit seinen Zweigen wippte, und all seine gebastelten Stoffzwerge wippten mit.

›Wenn es Gott gibt, ist er ziemlich komisch‹, sagte David und öffnete die Verandatür. Ein Schwall kalter Winterluft schwappte herein. David schlüpfte in seine Schuhe.

›Wohin gehst du?‹, fragte ich.

›Zu den Weiden‹, sagte er. ›Ich muss in Ruhe eine Liste der Dinge machen, die ich Rosenquist über Jesus fragen muss.‹

Am liebsten wäre ich ihm nachgelaufen und hätte mich zu ihm in eine der zerbrochenen Weiden gesetzt. Aber ich habe es nicht getan.«

Claas verstummte. Ich merkte, dass er neben mir auf dem Boden des Ateliers saß, er hatte seinen Platz im Türrahmen an irgendeinem Punkt der Erzählung verlassen, ohne dass es mir aufgefallen war.

»Nicht Rosenquist«, sagte ich leise. »Rosekast.«

»Wer ist das? Sein Lehrer?«

Ich überlegte einen Moment. »Ja«, sagte ich dann. »Sein Lehrer. Und der Mann mit dem Herzhusten ist Herr Wenter. Der mit dem Kater, der immer bei uns im Garten herumstreunt …«

»Ach«, sagte Claas, und man hörte, dass er keine Ahnung hatte, von welchem Kater ich sprach. »Also ist Herr Wenter mit David befreundet? Du … weißt eine Menge Dinge über David.« Er seufzte, und sein Satz implizierte den Zusatz »im Gegensatz zu mir«.

Aber ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich. »Leider nicht. Immerhin konnte er mit dir über Gott reden. Mit mir nie. Du … hättest häufiger da sein sollen.«

»Ja«, sagte Claas. »Er hätte mich gebraucht.«

»Hätte«, wiederholte ich. »Claas. Er braucht dich immer noch.«

Claas zögerte. »Wenn er wieder gesund ist«, sagte er schließlich, »werde ich häufiger zu Hause sein.«

Etwas an seinem Tonfall gefiel mir nicht, aber ich wusste nicht, was es war.

Er stand auf und ließ mich alleine auf dem Boden des Ateliers zurück, neben einem Haufen zerrissener Leinwand mit gebrochenen Nichtfarben. Grau und Weiß.

Bleib doch, wollte ich sagen. Ich sagte es nicht.

Ich dachte wieder an Eintrag Nummer 4 und schob alles Hadern mit dem Schicksal beiseite, alle Eifersucht auf Herrn Rosekast, mit dem David gesprochen hatte. Was ich brauchte, waren Tatsachen.

Tatsache war, dass David mit der Erweiterung seines Projekts begonnen hatte, einer Menge Leute auf die Füße zu treten. Aber jemand versuchte nicht, ein Kind zu beseitigen, nur weil es sich einmischte, wenn der Jemand seinen Hund schlug. Oder weil sich das Kind gegen den Verkauf eines Gemüsegartens stellte. Oder weil es mit angesehen hatte, wie ein Streit um ein Fahrrad eskalierte. Und – wenn doch?


»Und dann habe ich mich aufgeführt wie ein schlechter Detektiv aus einer Fernsehserie«, sagte ich viele Stunden später zu Thorsten Samstag. »Ich bin durchs Dorf gerannt und habe versucht, den Leuten Fragen zu stellen, aber vielleicht wissen Sie, wie das ist. Man bekommt keine Antworten.« Ich schüttelte den Kopf. »Ganz besonders dann nicht, wenn man Fragen stellt.«

Ich beugte mich vorsichtig vor und berührte eine der goldenen Haarsträhnen, die in Davids Stirn lagen. Sie war unwirklich weich, wie das Fell eines sehr kleinen, hilflosen Tieres. Die Apparate um uns summten und piepten leise und monoton. Das Frühlingslicht, das durchs Fenster schien, verwandelte sich hier in die gedämpfte Erinnerung an einen Herbst. Einen Oktober, in dem ein kleiner Junge einen Hundebesitzer verärgert hatte.

»Was haben Sie die Leute denn gefragt?«, wollte Samstag wissen. Er hockte neben Davids Bett und tat irgendetwas mit den Plastikhebeln am zentralen Venenkatheter, der seitlich unterhalb von Davids Hals begann. Er hätte, was immer er tat, sicher auch im Stehen tun können, ich hatte den Verdacht, dass er auf dem Boden hockte, weil ich auf einem Stuhl saß und weil ich sonst zu ihm hätte emporreden müssen. Ich hatte eigentlich auch den Verdacht, dass es an dem zentralen Venenkatheter schon lange überhaupt nichts mehr zu tun gab. Er blieb einfach, um zuzuhören, weil er wusste, dass ich jemanden brauchte, der zuhörte. Er hörte schon eine ganze Weile zu, den ganzen letzten Projekteintrag hindurch, obwohl so viele andere kranke Kinder auf ihn warteten. Nein, dachte ich. Diese Kinder waren jenseits von Begriffen wie Warten. Es waren die Geräte, die auf Samstag warteten, er war wie ein Mechaniker oder eher wie der Pilot eines kompliziert zu bedienenden Raumschiffs inmitten digitaler Anzeigen, die auf den Input von Medikamenten und Flüssigkeit hin Zahlen ausspuckten und den Output der atmenden (oder beatmeten) Masse unter den Geräten kontrollierten.

»Frau Berek? Was … haben Sie die Leute gefragt?«

»Was schlechte Detektive so fragen.« Ich hörte mich selbst leise lachen. »Kannten Sie das Opfer? Wo waren Sie am Nachmittag des zweiten Mai? Waren Sie alleine, oder kann jemand bezeugen, dass Sie waren, wo Sie waren? Nicht mit diesen Worten, natürlich …«

»Sie glauben, einer von den Leuten, die David in seinem Bericht erwähnt, hat ihn an der Schule abgepasst und entführt.«

Ich zuckte die Schultern. »Möglich ist es.«

»Und ihn dann Stunden später in der Dämmerung aus dem Auto gelassen und auf die Straße geschubst?«

»Möglich ist es.«

»Aber etwas merkwürdig ist es auch. Vor allem – warum drei Kilometer nach der Ausfahrt Rostock Südstadt? Wenn man gegen Mittag in Stralsund losfährt, kann man bis zur Dämmerung wer weiß wo sein. In Hamburg. In Kiel. In Dänemark. Und es erklärt nicht, dass David alleine die Straße entlanggegangen ist, statt in den Bus nach Hause zu steigen.«

»Jemand könnte ihm eine Nachricht geschickt haben. Triff mich da und da.«

»Sie haben recht.« Er seufzte. »Sie denken tatsächlich wie ein schlechter Fernsehdetektiv.«

Ich sah ihn an, auf einmal ärgerlich. »Sie brauchen mir ja nicht zuzuhören.«

»Aber ich möchte wissen, was passiert ist.« Er hörte auf, sich mit dem Katheter zu beschäftigen. »Ich möchte auch wissen, wie dieser Junge auf die Autobahn gekommen ist. Was hat Tielow gesagt? Und wen haben Sie noch gefragt?«

»Lottas Bruder, Marcel. Und René, ich habe René gefragt, ob die Jungs, die ihn verkloppt haben, wussten, dass David sie beobachtet hat. René hat nur die Schultern gezuckt, seine Mutter hat gejammert und geraucht, und Tielow hat gesagt, ich soll machen, dass ich weiterkomme. Marcel meinte, er erinnert sich an kein blaues Fahrrad, David hätte sich was ausgedacht. Lotta hat auf einem Pfosten beim Gartenzaun gesessen und mich bloß angeguckt, als ob sie sagen wollte: Das musst du wohl selbst wissen, ob David die Wahrheit geschrieben hat oder nicht. Irgendwie vorwurfsvoll. Lottas Mutter saß draußen und schälte Kartoffeln. Sie sieht sehr alt aus. Voller Falten im Gesicht. Aber so alt kann sie ja noch nicht sein …«

Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und tauchte aus meinem Redefluss auf wie aus einem kalten Strom, und ich merkte, dass ich so geredet hatte, wie David schrieb. Die gleiche Art von Sätzen.

»Sie machen sich eine Menge Gedanken«, sagte Samstag, dem die Hand auf meiner Schulter gehörte. »Es ist ein bisschen viel. Lotta und ihre Familie und dieser René und Hunde auf der Veranda …«

»Es ist nur ein Hund«, sagte ich. »Und für David war es wohl auch ein bisschen viel. Er plante, fünfzehn Kühe zu entführen … Ich muss erst begreifen, wie ich den nächsten Eintrag zu entschlüsseln habe, um zu erfahren, ob er es getan hat.«

Ich stand auf und ging zum Fenster. Unten vor der Klinik blühten die Birnbäume. Ich dachte an Claas. Claas und sein frühmorgendliches Gespräch mit David. Mit Claas hatte er gesprochen. Claas besaß keine Mauer.

»Eine Sache stand über allem«, sagte ich leise. »Eine Frage umfasste alle anderen Fragen, die David gestellt hat. Die Frage, ob man das Paradies erschaffen kann. Und ob man es erschaffen muss, oder ob jemand anderer sich darum kümmert. Die Frage nach der Existenz von Gott. Oder … einem Gott. Wir haben ihn nicht christlich erzogen, wir sind keine Christen, Claas und ich. Glauben Sie an Gott?«

»Ich glaube an EKGs«, sagte Samstag. Er stand so dicht hinter mir, dass ich seinen Atem im Nacken spürte. Es war nicht unbedingt ein unangenehmes Gefühl. »Ich glaube, dass es unmöglich ist, seine eigenen Kinder zu verstehen. Je mehr man sie liebt, wissen Sie …, desto schwerer ist es. Ich … habe auch welche. Kinder. Zwei Stück.«

»Oh«, sagte ich.

»Sie sind nicht hier, sie sind mit ihrer Mutter nach Bremen gezogen. Schon lange her. Sie liegen nicht im Koma. Sie sind nicht hochbegabt. Ich habe keine Ahnung, ob sie je über Gott nachgedacht haben oder über das Paradies …«

Eine Weile schwiegen wir.

»Wir könnten uns duzen«, sagte ich.

Er nickte, stumm, und ich bereute, dass ich das vorgeschlagen hatte, denn er konnte schlecht nein sagen. Was dachte er von mir? Dachte er: Hier ist eine verzweifelte Frau, die jemanden braucht, an den sie sich klammern kann? Dachte er: Warum klammert sie sich nicht an ihren Mann? Dachte er –

»Was denken Sie denn über mich?«, fragte Samstag. Ich drehte mich um. Er sah mich mit seinem blauen Auge an, während das braune in den Frühling vor dem Fenster hinausblickte. Ich zuckte zusammen. Konnten Ärzte neuerdings Gedanken lesen? Gab es dafür Kurse wie für das Lesen von EKGs und Ultraschallbildern?

»Ich denke«, sagte ich, »dass es sehr freundlich von Ihnen ist, mir zuzuhören.«

»Und ich denke«, sagte er, »dass es die fünfzehn ist. Fünfzehn Kühe.«

»Fünfzehn?«

»Das könnte der Schlüssel zur nächsten Schriftart sein. Hätte er die Zahl so genau aufgeschrieben, wenn sie nicht wichtig wäre? Verschieben Sie mal … hm … die Eins auf die Fünfzehn. Zum Beispiel. Im Alphabet.«

Er schenkte mir ein Lächeln, hell und weit wie der Frühling und doch merkwürdig durch seine Zweifarbigkeit. Es war wirklich ein Geschenk, denn ich hatte ihn noch nie so lächeln sehen. Eins auf fünfzehn, zwei auf sechzehn, drei auf siebzehn. Aus einem A würde also ein O. Alpha est et O, hatten wir früher in der Kirche gesungen. Indulci jubilo-o-o, Alpha est et O-o-o … Er ist der Anfang und das Ende. Er.

Wäre er nur hier gewesen! Hätte ich nur an ihn glauben und ihn bitten können, mir beizustehen! Er hätte meine unsichtbare Mauer zerschlagen können, David wecken, alles zum Guten wenden. Aber er war nicht. Nirgends.

Zwei Stunden später schlug ich zu Hause die Ledermappe wieder auf und entzifferte, diesmal, ohne die Finger auf der Schreibmaschine zu haben, den


Werkstattbericht – Eintrag 5
3. 12. 2011

Lotta hat gesagt, sie werfen auch immer Steine nach ihm. Nach René. Sie hat es gesagt, als wir zusammen durch den Wald gingen, zu Rosekasts Haus.
»Steine?«, fragte ich. »Wieso?«
»Nur so«, antwortete Lotta und balancierte über einen morschen Baumstamm. »Weil er zu dumm ist, um sich richtig zu wehren. Sie sind gemein, Marcel und die anderen Jungs. Sie können eigentlich gar nichts, weißt du, aber Steine werfen können sie. Ich meine, du denkst dir diese ganzen tollen Sachen aus, wie man ein Skelett von einer Amsel nachbaut oder alle Schnecken im Dorf auf dem Haus beschriftet und ihre Wanderung in eine Karte einzeichnet, weißt du noch? Oder wie man ein Paradies macht. Marcel und die anderen, die können das nicht, und deshalb werfen sie Steine.«
»Du«, sagte ich, »du kannst auch was.«
»Ich?«, fragte Lotta, ehrlich erstaunt, hopste von dem Baumstamm und sah mich an. »Was denn?«
Leider fiel mir in dem Moment nichts ein, und ich sagte: »Na, jedenfalls wirfst du keine Steine.«
»Nee«, sagte Lotta. »Das wär ja gemein. Und dem Marcel, weißt du, dem könnte man wohl ruhig auch mal eins mit der Bierflasche auf die Pfoten geben.«
»Das nützt nichts«, sagte ich. »Das wäre wieder etwas Böses. Es würde unserem Projekt rein mathematisch schaden, denn wenn wir das täten – angenommen, wir könnten es tun –, dann würde doch die Summe der bösen Dinge größer. Die schiefe Ebene würde sich zurückbewegen, und die Murmel würde in die verkehrte Richtung rollen und …«
Aber ich glaube, Lotta hörte nicht mehr zu, denn sie war schon vorausgehüpft, auf einem Bein, den schmalen Pfad entlang durch den Oktoberwind.
Rosekast saß auf seiner Bank, als wir bei ihm ankamen. Inzwischen wunderte mich das nicht mehr.
»Wetten«, flüsterte Lotta, »der schläft sogar auf der Bank?«
»Natürlich«, erwiderte ich ernst. »Damit er nachts das Wasser angucken und nachdenken kann, falls er aufwacht und ihm ein philosophisches Problem einfällt.«
Die Bücher im Wohnzimmer waren zum ersten Mal nicht herausgerissen. Hatte Rosekast die verlorene Religion gefunden? Musste er jetzt nicht mehr nach ihr suchen? Oder war der andere, der die Bücher ständig herausriss, nicht wieder da gewesen? Dafür war heute der Couchtisch umgekippt; er streckte seine vier kurzen Beine in die Luft wie ein atemnötiger Dackel. (ich finde dieses Wort schön, atemnötig)
(Liste der Wörter, die ich schön finde:
atemnötig
Fliederbeeren
ultramarinblau
bemoost
Sehnsucht
Aroma
fragil
Nachtschattengewächs
goldgelb
Wachstumszyklus)
Da lag also der Tisch auf dem Boden, und die Kaffeetasse, die Lotta beim letzten Mal als Blumenvase benutzt hatte, war umgekippt. Die Blumen lagen vertrocknet auf dem alten abgewetzten Fransenteppich. Lotta schüttelte nur den Kopf. »Der hat wirklich keine Ahnung davon, wie man Ordnung hält«, sagte sie, und wir stellten den Tisch wieder hin.
Draußen setzten wir uns rechts und links neben Rosekast, wie wir es immer taten. Und ich erzählte ihm alles von Tielows Hund und Hemke Junior und dem metallicblauen Fahrrad und René.
»Es gibt so viele böse Leute«, sagte ich am Ende und schlug mit der Faust gegen die Bank. »So viele! Und nun bin ich mir nicht sicher – was ist denn mit diesen Leuten, wenn wir das Paradies tatsächlich geschaffen haben? Verschwinden sie? In diesem Fall wäre es kein Paradies für diese Leute, aber ein Paradies müsste ja für alle sein … Kann man die bösen Leute ändern, damit sie gut werden?«
»Die erste Frage ist«, sagte Herr Rosekast bedächtig, »was ist überhaupt böse?«
»Wenn man Schwächeren weh tut«, sagte Lotta, was ein bisschen klang wie aus einem Schulaufsatz.
»Ist«, fragte Herr Rosekast und sah aufs Wasser hinaus, »ein Tiger böse, der eine Antilope frisst? Oder ein Huhn, das einen Wurm frisst?«
Das war eine rhetorische Frage. Falls Sie das nicht wissen: Das bedeutet, dass man darauf nicht zu antworten braucht, weil die Antwort in der Frage implifiziert ist. Ein Tiger, der eine Antilope frisst, ist nicht böse, er ist ein Tiger. Und ein Huhn, das einen Wurm frisst …
»Das Huhn und der Wurm sind unterschiedliche Speziesse«, sagte ich. »Und eins frisst den anderen, natürlich. Aber wenn wir nun zwei Geschöpfe der gleichen Spezies haben, eines stark und eines schwach …«
»Ist«, fragte Rosekast weiter, »ein starker Tiger böse, der einem schwachen die Beute wegfrisst?« Ich wollte »ja« sagen, aber es war wieder eine rhetorische Frage gewesen, die man mit »nein« beantworten musste. »Der stärkere Tiger … oder das stärkere Huhn … überlebt und legt Eier, aus denen eine neue Generation schlüpft«, sagte ich. »Und dann gibt es nur noch starke Hühner, richtig? Es ist eine Art Auswahlverfahren der Natur. Darwin.«
»Ja«, sagte Rosekast. »Darwin hat darüber geschrieben.«
»Wer?«, fragte Lotta.
»Ist es dann also gut, wenn man Steine auf Leute wie René wirft und sie deshalb irgendwann nicht mehr aus dem Haus gehen und sich nicht weitervermehren?«, fragte ich, und das war auch eine rhetorische Frage, denn es klang unheimlich gemein.
»Nietzsche wäre zum Beispiel der Meinung gewesen, dass ja«, sagte Rosekast.
»Wer?«, fragte Lotta.
»Hitler aber auch«, sagte Rosekast.
»Den kenn ich«, sagte Lotta. »Der war böse, oder?«
Und da hatte sogar Lotta eine rhetorische Frage gestellt.
Aber Rosekast gab ihr eine rhetorische Antwort, was mich wieder verwirrte. »Hitler hätte sicher nicht von sich gesagt, dass er böse war«, antwortete er. »Ihr findet das und ich finde das, natürlich, aber er ist nicht morgens aufgewacht und hat gesagt: Ab heute bin ich böse. Er dachte, er würde das Richtige tun.«
»Also sind böse Leute einfach nur dumm?«, fragte ich.
»Und Hühner … sind auch dumm?«, fragte Lotta.
»Im weiteren Sinne«, sagte Rosekast und schmunzelte. »Die Frage ist, ob daraus folgt, dass Hitler ein Huhn war.«
»Das würde erklären, dass er als Landschaftsmaler so wenig Erfolg hatte«, sagte ich.
Wir blickten lange nur so aufs Wasser, das zwischen den Eichenstämmen lag, und schließlich fragte ich: »Was wollen Sie eigentlich sagen? Dass das Böse eine Frage des Standpunkts ist?«
»Ich will überhaupt nichts sagen«, sagte Rosekast. »Meine Aufgabe besteht darin, die richtigen Fragen zu stellen. Wenn das Böse eine Frage des Standpunkts ist, wie kann man dann herausfinden, wer recht hat? Wer böse ist und wer nicht?«
»Das kann man gar nicht herausfinden«, sagte ich. »Man kann nur von sich ausgehen. Und deshalb baue ich mein Paradies so, wie ich es gut finde, und die Leute, die ich böse finde, können sich von mir aus ändern oder nicht, aber wenn sie sich nicht ändern, müssen sie sich ihr eigenes Paradies schaffen. Dann haben sie in meinem nichts zu suchen. Logischerweise sind sie dann verschwunden, sobald die Murmel in die richtige Richtung rollt und das Paradies sich selbst fertigbaut. Sie existieren in einer Parallelwelt weiter, aber dort muss ich nicht sein, und also ist alles in Ordnung.«
»Und kann ich dann denen, die ich böse finde, einfach eine reinhauen?«, fragte Lotta. »Wenn gut und böse Ansichts … Ansichtskarte …«
»Ansichtssache?«
»Ja. Wenn gut und böse das sind?«
»Ist es denn deiner Ansicht nach gut, jemandem eine reinzuhauen?«
»Hm, nee, stimmt«, sagte Lotta enttäuscht. »Dann müssen wir Davids Paradies doch ohne Gewalt bauen. Und Tielows Hund mit irgendeinem Trick klauen.«
»Was hattest du denn vor?«, fragte Rosekast. »Dachtest du, ihr könntet sein Haus in die Luft jagen?«
»David kann alles«, sagte Lotta – so voller Zuversicht, dass ich irgendwie ganz traurig wurde.

An diesem Nachmittag machten wir einen Plan, wie wir Tielows Hund gewaltlos entführen konnten. Lotta fand zwar, es wäre schöner, Tielow doch noch eine reinzuhauen, aber sie sah ein, dass das nicht die richtige Lösung war, vor allem, weil Tielow ganz bestimmt stärker ist als sie.
Den Plan schmiedeten wir in Herrn Rosekasts Garten, wo wir eine ganze Aldi-Tüte voller Gemüseableger pflanzten.
Rosekast saß auf seiner Bank und sah uns zu.
»Die Pflanzen sind von Frau Hemke«, erklärte ich ihm. »Sie hat gesagt, ihr Garten muss irgendwo weiterwachsen, wenn sie ins Seniorenheim Friedensstift muss.«
»Dann sind die Pflanzen bei mir herzlich willkommen«, sagte Herr Rosekast. »Was ist das mickerige Hellgrüne?«
»Das werden Bohnen«, antwortete Lotta, und Herr Rosekast war sehr erstaunt, was alles aus was wurde.
»Alles auf der Welt ist ständig dabei, etwas anderes zu werden«, sagte ich. »Wird auch mal etwas Böses zu etwas Gutem?«
»Geht es denn umgekehrt?«
»Dass etwas Gutes zu etwas Bösem wird?«
»Ja«, sagte Lotta. »Zum Beispiel … man will etwas Gutes, aber es kommt etwas Böses dabei heraus. Man pflückt zum Beispiel Blumen und will sie in eine Vase stellen, und dann fällt einem die Vase runter und zerbricht. Und der, für den die Blumen waren, ist traurig. Das war gestern. Mama hat rumgeschrien, weil es unsere einzige Porzellanvase war, und dass ich ihren Geburtstag doch einfach vergessen soll, weil wir sowieso kein Geld für Geschenke haben.«
»Andersherum geht das auch«, sagte ich. »Die Vase kann man kleben.«
»Nee, geht nicht«, sagte Lotta. »Zu viele Einzelteile.«
»Daraus folgt«, sagte ich nachdenklich, »dass man etwas Böses nur in etwas Gutes verwandeln kann, wenn es nicht in zu vielen Einzelteilen vorliegt.«
»Und wie ist es mit eurer Frau Hemke?«, sagte Rosekast. »Und ihrem Herrn Sohn? Liegt er in zu vielen Einzelteilen vor oder kann er sich verwandeln?«
»Ich glaube, er ist ein Fall von zu vielen Einzelteilen«, sagte ich. »Seine Gedanken drehen sich um lauter einzelne Euros. Aber wir haben einen Plan. Zur Umverteilung dieser Euros. Wenn wir genug davon haben, um den Pflegedienst und das Essen und die Haushaltshilfe zu bezahlen … dann kann ihr Sohn gar nichts mehr sagen. Aber zuerst entführen wir den Hund.«
»Was verteilt ihr dazu um?«, fragte Herr Rosekast.
»Tabletten«, sagte ich.
Herr Rosekast kratzte sich am Kinn. »Verwechselst du das jetzt nicht mit dem kranken Herrn Dings – Werter?«
»Wenter«, sagte ich. »Nein. Herr Wenter braucht Hustentabletten. Tielows Hund braucht Schlaftabletten.«
Das fand Rosekast irgendwie beunruhigend, aber ich entunruhigte ihn, indem ich eine Liste für ihn machte, damit er verstehen konnte, wie die Entführung vonstattengehen würde:
Stecken der Tabletten in Leberwurst/ein Stück Torte
Abholen von Frau Hemke
Überreichen der Torte an Herrn Tielow durch Frau Hemke, die sagt, sie hätte zum Geburtstag zu viel davon bekommen (von der Torte)
Zurückbringen von Frau Hemke
Einschlafen von Herrn Tielow
Verfüttern der Leberwurst an den Hund
Einschlafen des Hundes
Wegtragen des Hundes
»Das ist eine sehr schöne Liste«, sagte Rosekast und steckte sie sorgfältig ein wie ein Erinnerungsstück. Aber ich dachte, dass er ja kein Erinnerungsstück brauchte, weil ich ja nicht plötzlich verschwinden würde oder so.

Leider scheiterten wir an Punkt 2 der Liste. Frau Hemke lag im Bett und wollte nicht aufstehen. Sie sagte, es hätte keinen Sinn, aufzustehen, weil ihr Sohn angerufen hätte, und er hätte gesagt, er würde sie am nächsten Tag abholen, damit sie das Seniorenheim Friedensstift besichtigen könnte, sie würde schon sehen, es wäre sehr schön. Deshalb hatte Frau Hemke beschlossen, krank zu sein. Vielleicht, sagte sie, könnte sie so krank werden, dass sie direkt starb, damit sie in ihrem eigenen Haus sterben konnte. Ich sagte ihr, dass das Unsinn war und dass sie uns helfen musste, aber sie war an diesem Abend sehr schwerhörig, obwohl sie sonst gar nicht sehr schwerhörig ist.
Wir selbst konnten Herrn Tielow die Torte nicht bringen, das wäre verdächtig gewesen. Wir warteten eine Weile, ob jemand Geeignetes vorbeikäme, und was vorbeikam, war Jarsens Jeep mit Jarsen darin, und wir winkten, aber obwohl der Beifahrersitz leer war, redete er mit jemandem, wahrscheinlich mit einer Person, die hinten in dem Jeep saß. Jedenfalls sah er uns nicht und fuhr weiter. Hinter Frau Hemkes kleinem Haus auf dem Feld war die einsame Spaziergängerin unterwegs, der winkten wir ebenfalls, und ihr langes schwarzes Haar winkte zurück, aber sie selbst war zu sehr in Gedanken, um uns zu bemerken.
Da gingen wir (mit der Torte) wieder zu mir nach Hause, und das war nicht gut für die Torte, die eine Sahnetorte war und inzwischen in ihrer Plastikbox ein bisschen verformt.
Lovis war in ihrem Atelier. Sie hatte einen Pinsel in einer Hand und das Telefon in der anderen, als ich die Tür aufmachte. An ihrem Gesicht sah man gleich, dass sie es nicht in Ordnung fand, dass die Tür gerade jetzt aufgemacht wurde.
»Dies ist ein Notfall«, sagte ich. »Kannst du zu Herrn Tielow gehen und ihm dieses Stück Torte geben und sagen, du hättest Geburtstag und das Stück Torte wäre über, und Herr Tielow könnte es haben, weil er doch dein Nachbar ist?«
»Herr Tielow ist nicht mein Nachbar«, sagte Lovis. »Wer ist Herr Tielow?« Und ins Telefon: »Ja, einen Moment. Für die Ausstellungseröffnung morgen habe ich sogar … ich habe eine Torte gemacht, die zum Thema passt, sozusagen ein Kunstwerk. Nein, nicht wirklich, die Torte ist mehr ein Witz … Sahne …« Und wieder zu mir: »Moment. Das ist ein Stück von der Torte.«
»Sie war im Kühlschrank«, sagte ich. »Herr Tielow wohnt in der Straße zum Wald, links, im letzten Haus vor dem Hügel, nachdem nur noch der Bauernhof kommt.«
»Ja, gleich«, sagte Lovis ins Telefon.
»Du kannst mit dem Auto fahren«, sagte ich. »Vergiss nicht, es ist eine Geburtstagstorte …«
»Ich habe nicht Geburtstag«, sagte Lovis.
»Komm jetzt«, sagte ich. »Sonst geht unser Plan nicht auf.«
»Unser?«, fragte Lovis.
»Lotta wartet draußen auf mich.«
»Lotta«, wiederholte Lovis, ließ plötzlich das Telefon sinken und sah auf die Uhr, die über der Tür ihres Ateliers hing. »Es ist neun durch«, sagte sie. »Wieso wartet Lotta abends nach neun Uhr auf dich? Wieso bist du nicht im Bett? Es ist spät.«
»Nicht so spät, dass Claas wieder zu Hause wäre. Ich hätte ihn gefragt. Aber –«
»Claas hat Nachtdienst.«
»Lotta und ich haben heute auch Nachtdienst«, erklärte ich. »Kommst du jetzt?«
»Nein!«, rief Lovis, merkte, dass sie das Telefon noch in der Hand hielt, sagte etwas wie »Entschuldigung« hinein und legte auf.
»Du gehst jetzt ins Bett«, sagte sie zu mir, »ich entsinne mich vage, dich dort heute Abend schon einmal hingebracht zu haben.« Da wurde ich sehr wütend, weil sie überhaupt nichts verstand, und deshalb schmiss ich die offene Plastikbox mit der Torte darin. Die Torte landete auf Lovis Leinwand, und ich schrie, dass das Bild jetzt wohl fertig sei, und schön modern noch dazu, und Lovis schrie auch irgendwas, und eine halbe Stunde später lag ich im Bett. Fünf Minuten lang. Dann kletterte ich aus dem Fenster auf den linken Kastanienbaum und von da aus hinunter zu Lotta, die immer noch wartete.
»Wo ist die Torte?«, fragte sie.
»Auf Lovis Leinwand«, sagte ich und seufzte.
»Oh«, sagte Lotta. »Dann haben wir jetzt nur noch die Schlafwurst. Für den Hund.«
»Schlafwurst ist ein schönes Wort«, sagte ich. »Das kommt vielleicht demnächst auf irgendeine Liste.«
Herr Tielow sah fern, als wir bei seinem Haus ankamen, hinter den niedrigen Fenstern seines geduckten Hauses flackerte es blau wie ein geheimnisvolles kaltes Feuer. Wir warfen die Schlafwurst durch die Maschen des Gitters, dort, wo der Zwinger an den Gartenzaun stieß. Der Hund fraß sie völlig kommentarlos, legte sich in eine Ecke und sah uns eine Weile an. Dann schloss er die Augen. Aber wir mussten warten, bis auch das Haus seine blauen Flackeraugen schloss. Wir legten uns in die Wiese und sahen in den Himmel.
»Du«, sagte Lotta. »Wenn wir größer werden, sind wir dann eigentlich immer noch Freunde? Ich meine, meine Familie ist ganz anders als deine, und du wirst Professor, oder so, und ich arbeitslos, weil das so ist, und ob man dann noch Freunde sein kann?«
»Nehme ich wohl an«, sagte ich. »Wenn alles gutgeht, haben wir bis dahin das Paradies fertig erschaffen. Dann gibt es keine Unterschiede mehr, weißt du? Du wirst auch Professor.«
»Hihi«, sagte Lotta. »Ich. Stell dir mal vor.«
Und ich fragte mich, ob sie das glaubte, das mit dem Paradies, und ob ich das glaubte, und wir schwiegen lange, während der Mond aufging.
Schließlich war alles dunkel hinter Herrn Tielows Fenstern. Man konnte nur hoffen, dass er schlief.
Wir standen leise auf und schlichen zum Gartentor. Im Zwinger lag der schwarze Schatten des Hundes wie ein Stein. »Du wartest hier«, sagte ich zu Lotta, »vor dem Gartentor.«
»Nee«, sagte Lotta.
Und deshalb kletterten wir beide über das Tor; es war ja ganz niedrig. Die Tür des Zwingers war mit einem alten Zahlenschloss verschlossen, das hatte ich vorher schon gesehen. Billige alte Zahlenschlösser kann man ganz leicht aufmachen, man muss nur eine Weile daran ruckeln, dann klicken sie in die richtige Position, das weiß ich, weil ich mal so eins für mein Fahrrad hatte.
Das Zahlenschloss gab sehr schnell nach. Der Weg zum Paradies war einfach.
Ich ging durch den Zwinger wie im Traum, bückte mich und hob den Hund auf meine Arme. Er war sehr schwer und sehr still.
»Lebt der noch?«, flüsterte Lotta zweifelnd. Ich dachte daran, wie schnell sich gute Dinge in böse Dinge verwandelten und dass wir vielleicht diesen Hund mit dem Schlafmittel umgebracht hatten, und mir wurde ganz heiß. Da kniff Lotta den Hund ins Ohr, was nicht nett war, aber sehr effektiv, denn der Hund zuckte. Das war ein Moment, der auf meiner Liste an glücklichen Momenten ziemlich weit nach oben kommt, wenn ich irgendwann eine mache.
Lotta hielt mir die Tür des Zwingers auf, und ich trug den Hund hindurch, und danach mussten wir ihn über das Gartentor bekommen. Da war das Gartentor auf einmal viel höher als vorher. Ich wünschte, Herr Tielow hätte einen Dackel gehabt oder besser noch einen Chi Hua Hua, den hätte man einfach über das Tor werfen können wie einen Tennisball, obwohl es natürlich nicht nett ist, Chi Hua Huas zu werfen.
Schließlich beschlossen wir, dass ich ohne Hund hinüberklettern sollte und Lotta dann versuchen würde, mir den Hund anzureichen. Ich kam auch hinüber, aber der Hund war, da er kein Chi Hua Hua war, zu schwer für Lotta. »Höher«, flüsterte ich, »du musst ihn höher heben, sonst krieg ich ihn nicht richtig zu fassen …«
Und Lotta stöhnte und ächzte vor Anstrengung, und schließlich zog ich den schlaffen, schweren Hund an den Vorderpfoten über das Tor. »Du musst die Tür zum Zwinger noch zumachen«, wisperte ich. »Damit er nicht gleich was merkt.«
Da nickte Lotta und ging noch einmal zurück. Ich stand mit dem schlafenden Hund in den Armen vor dem Tor, und mein Herz hüpfte. Wir haben es geschafft, sang mein Herz, wir haben es geschafft …
In diesem Augenblick polterte etwas in Tielows Haus. Ich erschrak und machte einen Schritt zurück, und dann ging plötzlich das Außenlicht an und die Tür war offen und Herr Tielow stand darin. Lotta hielt das Zahlenschloss noch in der Hand. Das Außenlicht beleuchtete sie sehr gut, sie strahlte einen Moment wie ein Engel, ein Türhüter des Paradieses, ihre blonden Locken waren golden und ihr Gesicht so schön wie gemalt.
»WAS«, sagte Herr Tielow.
Ich trat noch einen Schritt zurück, damit das Licht nicht auf mich und den Hund fiel, und noch einen, und noch einen.
»TUST DU«, sagte Herr Tielow.
Das Mondlicht beleuchtete mich natürlich trotzdem. Ich überlegte rasend schnell. Ich konnte nicht hier stehen bleiben.
»HIER?«, sagte Herr Tielow.
Der Engel Lotta – oder die Engelin – ließ die Zwingertür los. »Kirschen«, sagte sie laut und deutlich.
»WIE?«, fragte Herr Tielow. Seine Stimme war verschlafen, aber unter der Verschlafenheit lag eine hellrote Wut, die schon durch die Ritzen drang. Ich krallte meine Hände in das Fell des Hundes. Ich wusste, dass ich den Hund auf gar keinen Fall loslassen durfte, egal, was passierte.
»Ich hab Kirschen gepflückt«, sagte der Engel. »Von Ihrem Baum.«
»SO«, sagte Herr Tielow. »Nachts. Von meinem Baum. Euch kennt man ja, die aus deiner Familie, wie viele seid ihr? Zehn? Ihr klaut wohl alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Kirschen. Nachts. Soso.«
Dann ging er über den Hof, barfuß, in seinem fleckigen Schlafanzug. Es waren nur ein paar Meter. Der Engel stand ganz still. Ich wünschte, er hätte Flügel, um wegzufliegen.
»Ha«, sagte Tielow und holte aus, und dann schlug er den Engel ins Gesicht. Ich schnappte nach Luft. Das Gold in den Haaren des Engels zerkrümelte und rieselte auf die Erde wie Schnee.
Ich dachte, dass ich etwas tun musste, aber ich konnte nicht, weil ich den Hund nicht loslassen durfte.
Herr Tielow stieß den Engel rückwärts, und der Engel ließ das Schloss los und fiel hin. Er fiel auf den Boden des Hundezwingers. Herr Tielow war zu wütend, um zu merken, dass der Hund nicht mehr da war. Er beugte sich über den Engel und blieb einen Moment so stehen, und ich sah, dass der Engel versuchte, seinen Kopf zu schützen.
»Ha«, sagte Herr Tielow, und noch einmal: »Ha.« Aber er schlug nicht noch einmal zu, er hob das Schloss auf und ging rückwärts aus dem Zwinger und machte die Tür zu.
»Da kannste dir mal überlegen, ob du weiter meine Kirschen klauen willst«, sagte er und nickte. »Und ich kann mir überlegen, was ich mit dir mache. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Damit drehte er sich um, oder er wollte sich umdrehen, denn das sah ich nicht mehr. Ich rannte.
Ich rannte mit dem Hund auf den Armen von dem eingesperrten Engel weg, von Herrn Tielows Fäusten weg, von der Zwingertür weg, die das Paradies jetzt wieder verschloss. Ich rannte den Weg entlang auf den Wald zu, den sanften Hügel hinauf und wieder hinunter, und dann blieb ich einen Moment lang keuchend stehen. Die Hügelkuppe lag jetzt zwischen Herrn Tielow und mir, und er konnte jetzt nicht sehen, wohin ich ging. Am Ende des Weges wiegte sich der Wald im Nachtwind, und davor erhoben sich zur Linken als schwarze Scherenschnitte die Gebäude des Bauernhofs. Der Wald war zu weit. Ich entschied mich für den Bauernhof.
Ich war nie dort gewesen, es war nicht die Art von Hof, auf der man als Kind herumschleicht und Kaninchen streichelt. Ich wusste nicht mal, ob es überhaupt Tiere dort gab oder ob sie nur Dinge wie Raps und Weizen anbauten. Als ich dort ankam und mich umdrehte, war auf dem Weg im Mondlicht niemand zu sehen. Vielleicht war Tielow mir gar nicht gefolgt. Man konnte ja hoffen, dass er mich nicht gesehen hatte.
Vor den großen, eckigen Betonbauten des Hofes standen ein paar riesige Landmaschinen, die in der Nacht wirkten wie Skelette von Dinosauriern. Ich fand eine offene Tür, hinter der etwas schnaubte und atmete, und einen Moment lang erschrak ich, aber dann merkte ich, dass es nach Mist stank, und ich lächelte. Dort, in der Dunkelheit, schnaubten und atmeten Kühe.
Ich würde den schlafenden Hund zu ihnen ins warme Heu legen und zurückgehen, um Lotta zu befreien, vielleicht konnten wir alle drei dort im behaglichen Frieden des Kuhstalls übernachten, wie in einem Bilderbuch …
Ich betrat den Stall und knipste meine Taschenlampe an.
Ich stand in einem schmalen, betonierten Mittelgang zwischen Gittern. Hinter den Gittern standen die Kühe. Sie hatten jede für sich nur so wenig Platz, dass sie sich nicht umdrehen konnten. Ihre Hufe standen auf einem Rost, vermutlich, damit der Mist einfach durchfiel. Es gab kein Heu.
Über mir liefen die Schläuche einer Maschine, die vielleicht zum Melken da war. Die Augen der Kühe, die mich ansahen, waren schlaflos und leer. Ich schluckte. Ich legte den Hund auf den kahlen Betonboden, weil es nicht anders ging.
Dann sah ich, dass ganz hinten in dem Flur eine Person auf einem Stuhl saß. Ich trat vorsichtig näher, die Taschenlampe erhoben wie eine Waffe, falls es eine gefährliche Person war.
Die Person hatte die Augen geschlossen. Sie trug ein pinkfarbenes T-Shirt voller Flecken und eine schwarze Trainingshose, und ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, so als schliefe sie. Ich hatte sie irgendwo schon gesehen.
»Hallo«, sagte ich leise, da erschrak sie und riss die Augen auf, die groß und braun waren, wie die der Kühe. In dem Moment, in dem sie mich ansah, fiel mir ein, wer sie war: Die Tochter der Marie. Manchmal saß sie vor dem Haus der Marie am Rand des Dorfs.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
»Ich arbeite hier«, sagte die Tochter der Marie und fuhr sich mit einer verschlafenen Hand durchs Gesicht.
»Jetzt? Nachts?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaub, ich bin eingeschlafen. In der letzten Zeit bin ich immer so müde …« Sie strich sich die blonden Haare aus den Augen, und ihre Finger waren dünn wie Zweige. Sie war überall dünn, nur um die Mitte herum ein bisschen pummelig, so dass das Gummi der Trainingshose spannte. »Ich muss los«, murmelte sie. »Nach Hause.«
Sie ging an mir vorbei, ein wenig torkelnd, als wäre sie betrunken, aber ich glaube, sie war nur wirklich, wirklich müde.
»Sind die Kühe eigentlich immer hier?«, fragte ich. »In diesen … Käfigen?«
Die Tochter der Marie nickte. »Manchmal tun die mir leid«, sagte sie, und dann stieß sie die schwere Stalltür auf und war fort. Ich wartete einen Moment darauf, dass sie noch einmal zurückkam und mich fragte, was ich überhaupt hier tat, aber sie kam nicht.
Da verließ auch ich den Stall und hoffte, dass die Tür zu schwer für den Hund war, um sie mit der Nase aufzustoßen für den Fall, dass er aufwachte.
Falls Sie das nicht wissen: Hunde sind dumm genug, zurück nach Hause zu laufen, auch wenn zu Hause ein Gefängnis für Engel ist.
Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, um den Hund über den Hügel und in den Stall zu tragen und wieder zurückzugehen. Ich rannte nicht, ich gebe das zu, ich ging, denn ich war ziemlich KO vom Tragen des Hundes. Vielleicht war es insgesamt eine halbe Stunde. Vielleicht auch eher eine ganze.
Tielows Haus war dunkel.
Ich wartete einen Moment vor dem Tor, dann kletterte ich hinüber und schlich zur Tür des Zwingers. Sie war zu, verschlossen mit dem Zahlenschloss.
Der Zwinger war leer.

Der Mond hatte sich ein paar Wolken vors Gesicht gezogen, und ich leuchtete mit meiner Taschenlampe durch das Gitter. Nein, der Zwinger war nicht leer. Lotta hockte ganz hinten in der Ecke auf dem Boden und war kein Engel mehr. Das Haar hing ihr zerwühlt ins Gesicht, und ihr eines Auge war zugeschwollen.
Ich ruckelte an dem Zahlenschloss.
»Hab ich versucht«, flüsterte Lotta ein bisschen heiser. »Ging nicht.«
Sie war aber wohl zu nervös gewesen, denn es ging doch. Das Schloss sprang auf, und ich öffnete die Tür, so leise ich konnte. »Es ging nicht schneller«, sagte ich.
»Nee«, sagte Lotta.
Als ich sie auf die Beine zog, merkte ich, dass sie zitterte. Ich führte sie aus dem Zwinger und half ihr über das Tor. In Tielows Haus blieb alles still. »Komm«, sagte ich, »wir müssen zu dem Bauernhof vorm Wald. Da ist der Hund jetzt.«
Wir gingen schweigend den Weg entlang, bis wir den Hügel zwischen Tielow und uns gebracht hatten.
»War er noch mal da?«, fragte ich.
»Nee«, sagte Lotta und sah weg. »Doch«, sagte sie dann.
»Hat er dir was getan?«
»Nee«, sagte Lotta.
»Bist du sicher?«, fragte ich.
»Er hat nur geguckt«, sagte Lotta. »Da gestanden und geguckt, durch das Gitter. Ganz lange. Irgendwann ist er wieder rein.«
»Sonst war nichts?«
»Nee.«
»Du läufst komisch.«
Lotta sah an sich hinunter. »Meine Hose ist ganz nass«, sagte sie. »Ich glaube, es gab kein Klo in dem Zwinger.« Sie zögerte. »Ich glaube, ich hatte Angst.«
»Zieh die blöde Hose einfach aus«, sagte ich. »Ist ja Nacht, da sieht dich keiner. Deine Jacke ist dann eben ein Kleid.«
Wir rollten Lottas Hose und Unterhose zusammen und nahmen sie mit, und etwas später stand Lotta in ihrem Jackenkleid zwischen den Gittern, hinter denen die Kühe mit ihren leeren Augen ins Nichts starrten. Der Hund schlief noch immer.
»Schau dir das an!«, sagte ich und zeigte auf die Kühe. »Die sind nie draußen, oder? Hast du die schon mal auf einer Weide gesehen?«
»Nee«, sagte Lotta.
Sie streckte ihre schmale Hand durch das vorderste Gitter und streichelte einer Kuh über die Schnauze, und die Kuh leckte mit ihrer riesigen rosa Zunge an Lottas Arm.
Ich glaube, sie verstanden sich gut, weil sie beide wussten, was es hieß, eingesperrt zu sein.
»Wir bringen jetzt den Hund zu mir nach Hause«, sagte ich, »bis wir jemanden finden, der ihn haben will, weit weg am besten. Und weißt du, was wir dann als Nächstes machen?«
»Nee«, sagte Lotta.
»Nachdem ich mit meinem Plan für René und für Frau Hemke und Herrn Wenter fertig bin«, sagte ich feierlich, »befreien wir diese Kühe. Es sind fünfzehn, ich habe gezählt.«
Lotta zögerte eine halbe Sekunde.
»Okay«, sagte sie dann.

Ich schlug die Mappe zu. EINTRAG 6 war wieder unleserlich. Eine Weile ließ ich meinen Blick durch die Küche gleiten, wo ich gesessen und gelesen hatte, und atmete tief durch. Auf der Stufe vor der Verandatür lagen zwei Narzissen. David hatte Narzissen gemocht, er hatte jedes Frühjahr Arme voll Narzissen mitgebracht, die er hinten bei den alten Weiden pflückte, wo sie wild wuchsen. David war nicht da.

Ich öffnete die Verandatür und hob die beiden Narzissen auf, um sie in ein Glas Wasser zu stellen.

»Lotta«, flüsterte ich. Lotta musste hier gewesen sein. Sie hatte die Narzissen für David gepflückt und sozusagen hier abgegeben. »Lotta.« Der Name war auf einmal sperrig auf meiner Zunge. Er schmeckte nach billigem Kaugummi, Angstschweiß und Urin, und ich schüttelte mich.

Die bedingungslose Liebe, die dieses kleine Mädchen meinem Sohn entgegenbrachte, war mir unheimlich. Zum einen rührte sie mich, und zum anderen löste sie in mir den Wunsch aus, zu Lotta zu gehen und sie anzuschreien. Du bist eine eigene Person!, wollte ich schreien. Du musst nicht alles tun, was David sagt! Doch da war noch ein drittes Gefühl, das Lotta in mir weckte, und das war das unheimlichste.

Eifersucht.

Ich war rasend eifersüchtig auf Lotta. Vielleicht war sie verrückt, auf ihre eigene Weise, anders als René. Aber sie konnte … Dinge. Sie konnte über Mauern klettern, unsichtbare Mauern, sie hatte es bei meiner versucht … und es war ihr gelungen, sich einen Platz in Davids ebenfalls irgendwie verrückter Welt zu schaffen. Ich, dachte ich, hatte darin keinen Platz.

Ich erinnerte mich an die Sache mit der Torte.

Warum hatte ich nicht weiter nachgefragt? Hätte ich mich dazu breitschlagen lassen, einem mir unbekannten Mann ein Stück Torte mit aus-unserer-Hausapotheke entwendetem Schlafmittel zu verabreichen, damit mein Sohn seinen Hund stehlen konnte? Wenn ich es getan hätte, hätte er geschlafen, und Lotta wäre nichts geschehen – was auch immer geschehen war. Ich war mir nicht sicher. Ich zog es vor, nicht genauer darüber nachzudenken.

Es war abstrus: David hatte es geschafft, dass ich auf einem Umweg schuld an etwas war, von dem ich gar nichts gewusst hatte. An wie vielen anderen Dingen war ich schuld, ohne es zu wissen? Ich legte den Kopf auf die Arme und versuchte, mir unsere Gespräche im letzten halben Jahr in Erinnerung zu rufen –

»Lovis?«, sagte Claas. »Da ist jemand für dich an der Tür.«

Ich fuhr auf. »Wieso bist du zu Hause?«

Er zuckte mit den Schultern. »Es ist halb sieben. Ich habe um fünf Schluss.«

»Du hast immer um fünf Uhr Schluss. Du bist nie um halb sieben zu Hause.«

Sein Gesicht war ernst, zu ernst, und ich merkte, wie mir zugleich kalt und heiß wurde.

»Ist … ist etwas passiert?«

»Da ist jemand für dich an der Tür«, wiederholte Claas. »Sie stand schon da, als ich kam. Vielleicht hast du die Klingel nicht gehört.«

Ich stand auf und ging an ihm vorbei, die Ledermappe unter dem Arm wie ein kleines Kind, das ich beschützen musste. Vor der Tür stand eine junge Frau mit blonden Haaren und großen braunen Augen. Sie hatte den leeren Blick von Kühen, die ihr Leben lang in Boxen stehen.

»Hallo«, sagte ich zögernd. »Sie sind … die Tochter der Marie.«

Sie nickte. »Celia«, sagte sie. Es war seltsam, dachte ich, als wäre sie plötzlich aufgetaucht, weil ich etwas über sie gelesen hatte.

»Hat er die Kühe wirklich entführt?«, fragte ich.

»Die Kühe?«, fragte Claas hinter mir.

Celia sah mich nur weiter mit ihren großen braunen Augen an.

Dann streckte sie mir ihre Hände entgegen, und in diesen Händen hielt sie ein Bündel, das in eine Decke gewickelt war.

»Ich wollt es Ihnen nur zeigen«, sagte sie. »Er hat gesagt, ich soll’s Ihnen zeigen, wenn’s da ist. Ich bin jetzt wieder zurück aus die Klinik.«

»Wer hat gesagt … was?«, fragte ich und schlug, plötzlich vorsichtig, eine Ecke des Deckenbündels zurück. Darunter kam ein winziges, blasses Gesicht mit einer feinen Nase und fest geschlossenen Augen zum Vorschein. »Du meine Güte«, sagte ich. »Ist das … Ihres?«

Celia nickte und lächelte mich an. Sie hatte noch immer beide Arme vorgestreckt, als präsentierte sie mir ein Tablett und kein Kind, aber zumindest hielt sie den Kopf des Babys mit der einen Hand, vermutlich hatte irgendwer in der Klinik ihr also gesagt, dass das wichtig war. Ich versuchte, zu schätzen, wie alt Celia war. Achtzehn, höchstens.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Claas. Ich sah mich nach ihm um, und sein Gesicht war auf einmal seltsam verklärt, als hätte jemand ihn mit den Narzissen in eine Vase gestellt, damit er aufblühen konnte. »Darf ich es mal halten?«, fragte er.

Celia nickte wieder und streckte das Tablett-Kind Claas entgegen, und in seinen riesigen Armen schien das Bündel völlig zu verschwinden. Ich erinnerte mich, wie er David gehalten hatte, den winzigen David, den wir uns so lange gewünscht hatten. Ich glaube, damals, in den allerersten Tagen nach Davids Geburt, ehe wir uns verloren, waren wir sehr glücklich.

»David hat gesagt, Sie sollen mir das Kind zeigen?«, fragte ich.

Celia nickte. »Er hat gesagt, Sie können mir vielleicht helfen. Weil Sie wissen, wie man alles macht.«

»Was macht?«

»Alles. Mit einem Kind. David hat gesagt, Sie können mir das beibringen.«

»Man … man muss es füttern«, sagte ich und kam mir völlig blöde vor.

Celia nickte gehorsam. »Das weiß ich. Muttermilch ist am besten. Das weiß ich alles.«

»Ja, das … das haben die Ihnen in der Klinik sicher schon alles gesagt«, stotterte ich. »Die haben Ihnen bestimmt erklärt, wie das mit dem Stillen funktioniert …«

Celia nickte wieder. »Ich war da eine Woche lang«, sagte sie. »Das Essen war sehr gut. Die haben mir auch bei allem geholfen. Aber was sie dann erklärt haben … mit dem Impfen zum Beispiel, und wann man zum Arzt muss, und … wann es was kann, oder wann es nicht in Ordnung ist, wenn es was nicht kann … Das war alles so schnell. Die erklären immer so schnell. David hat das gewusst, glaub ich, deshalb hat er gesagt, ich soll zu Ihnen kommen. Wenn ich Fragen hab.«

»Ach so«, sagte ich ratlos. »Ja, wollen Sie denn jetzt akut irgendwas wissen?« Und ich fragte mich, ob sie das Wort verstand: akut.

»Ich wollt’s nur zeigen«, sagte Celia und lächelte wieder. »Mit dem Impfen und so, da können wir ja mal drüber reden, ich lese auch noch mal nach, auf dem Zettel … Ich komme dann wieder, und wir reden. Okay?«

»Ja«, sagte ich, erleichtert. »Tun Sie das. Wir gucken uns den Zettel zusammen an. Und ich werde versuchen, alle Fragen zu beantworten. Sagen Sie dem Papa, was für ein schönes Kind er hat.«

Celia schüttelte langsam den Kopf und presste die Lippen aufeinander.

»Also kein Papa?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf noch immer. Dann streckte sie die Hände wieder in Tabletthaltung aus, nahm Claas das Bündel weg und drückte es an sich, jetzt weniger wie ein Tablett und mehr wie eine Puppe. Sie drehte sich um, lächelte ein letztes Mal und ging die Pflasterstraße hinunter, an der alten Kirche vorbei, ihre Schritte vorsichtig, als balancierte sie ein rohes Ei auf einem Löffel.

»Bis … dann«, sagte ich, obwohl sie mich nicht mehr hörte.

Sie hatte meine Frage nach den Kühen nicht beantwortet. Mir war leicht schwindelig. Das winzige Kind in Claas’ Armen hatte zu viele Erinnerungen in mir durcheinandergewirbelt. Wenn wir dorthin zurückgehen könnten. Zu diesem Punkt in unserer gemeinsamen Geschichte: dem Punkt, an dem David gerade auf der Welt war. Wenn wir alles anders machen könnten. Dann, ja dann wäre es vielleicht möglich, ohne Mauern zu leben, sich nicht zu entgleiten …

»Es gibt doch Hebammen«, sagte Claas. »Oder? Hebammen, die zu den Familien nach Hause kommen und den Müttern zeigen, was zu tun ist.«

»Sie wird nicht gefragt haben«, sagte ich. »Wer nicht nach etwas fragt, bekommt es auch nicht.«

»Und David …«, begann er.

»David hat umverteilt«, erklärte ich und merkte, dass Celias Lächeln sich auf mein Gesicht geschlichen hatte. »Alles Mögliche. Zeit und Geld und Hunde und … in diesem Fall … Erfahrung? Celia wird also noch auf seiner Liste auftauchen. Ich fasse es nicht, dass er ihr gesagt hat, sie soll zu mir kommen. Gerade zu mir … Ich dachte immer, er hält mich für, ich weiß nicht, selbstsüchtig? Unfähig, zuzuhören?« Und plötzlich kam etwas über mich, ich weiß auch nicht, was, eine Welle von unerwartetem Glück, von Wärme, von Hoffnung. Ich dachte an das winzige Menschengesicht in Celias Armen, ich wusste nicht mal, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, ich war zu verwirrt gewesen, um zu fragen. Es war, als hätte David mir ein Zeichen von dort geschickt, wo er war, jenem Zwischenstadium, jenem Nicht-Raum, jenem Schwebezustand – jenem Nachbarort des Paradieses, den man nicht begreifen konnte. Oder er hatte nicht mir ein Zeichen geschickt. Sondern uns.

Der Frühling duftete so sehr nach Frühling. Die letzten der Kastanienkerzen über uns hatten sich entzündet.

Und mit einem Mal war ich sicher: Wenn die Kastanien verblüht waren, würde ich zusammen mit David hier auf den Stufen vor dem Haus sitzen und in ihre sattgrünen Kronen emporsehen – zusammen mit David und Celia und ihrem Baby und dem schmutzig weißen Hund, mit René und mit Lotta, Eifersucht hin oder her. Und … mit Claas.

Ich legte eine Hand auf seinen Arm, ganz kurz. »Komm«, sagte ich leise, »setzen wir uns einen Augenblick auf die Veranda. Ich muss dir etwas erzählen. Etwas …« Ich hielt ihm die Ledermappe entgegen. »… über das hier. Ich hätte es längst tun sollen.«