Dritter Tag des Sturms
„Ist er ansprechbar?“, fragte der hochgewachsene Mann, mit dem graumelierten Haar und nickte mit dem Kopf in Richtung Bett. Dort lag ein Mann, der an Überwachungsgeräten angeschlossen war, die in regelmäßigen Abständen einen Piepton von sich gaben. Dr. Berger sah den Kriminalbeamten, der sich mit Kommissar Markus Born vorgestellt hatte, mit ernstem Gesichtsausdruck an und sagte schließlich: „Ja, Sie können mit ihm sprechen. Gehen sie aber davon aus, dass er Ihnen im Moment noch nicht besonders viel sagen kann. Er ist durch den Blutverlust noch sehr schwach. Sie haben ja mitbekommen, dass wir seine Hand nicht mehr retten konnten. Zudem hat er ein Schädelhirntrauma, war deutlich unterkühlt und er scheint im Augenblick noch äußerst verwirrt zu sein.“
„Verwirrt?“, fragte der zweite, etwas kleinere und untersetzte Mann – Kommissar Roland Behrenz. Er lugte mit ernstem Blick über den Rand seiner Brillengläser und sah Berger eindringlich an. „Was genau meinen Sie damit?“
„Nun, er redet ununterbrochen von einer Pension im Annatal. ZUM ALTEN JAGDHAUS soll sie heißen und er hat angeblich nach seinem Unfall dort um Hilfe gebeten. Er sagte dort sei etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen. Wir sollten dringend die Polizei verständigen und in diesem Haus nach dem Rechten sehen. Er war sehr aufgebracht, nahezu hysterisch. Er sagte, seine Frau und sein Kompagnon wären ebenfalls dort im Keller gewesen und ein Mann namens Toni hätte sie beide umgebracht. Und es wären auch noch viele weitere Personen vor Ort, die nichts Gutes im Schilde führen würden. Wir konnten ihn aber wieder halbwegs beruhigen. Es ist immer wieder faszinierend, welch ausgeklügelte Streiche unser Gehirn uns vorspielt, wenn es sich in einem Ausnahmezustand befindet. Offenbar sind ihm in den knappen fünf Stunden, die er bewusstlos in seinem verunfallten Wagen verbracht hat, eine Menge Dinge durch den Kopf gegangen.“ Dr. Berger kratzte sich nachdenklich am Kinn.
„Ja, das haben wir schon gehört“, sagte Kommissar Born. „Die Kollegen von der Streife haben die kuriose Anzeige und seine unglaubliche Aussage aufgenommen. Fakt ist allerdings, dass es dort dieses Jagdhaus nicht gibt und er nach dem Unfall den Wagen definitiv nicht verlassen haben konnte. Ein Baum hat den Wagen unter sich begraben. Die Feuerwehr musste die Tanne erst mit Kettensägen zerlegen, um überhaupt an ihn heranzukommen. Seine rechte Hand war zwischen Scheibe und Lenkrad eingeklemmt. Er musste im Anschluss mit schwerem Gerät befreit werden. Mit anderen Worten verwirrt oder nicht, wir müssen dennoch dringend mit ihm sprechen. Insbesondere über die Sache mit seiner Frau und seinem Kompagnon Päler.“
„Wie? Ist an der Sache doch etwas dran?“ Behrenz schüttelte den Kopf.
„Sagen wir es mal so: Wir interessieren uns sehr für seine Geschichte und haben Hoffnung, dass er uns in einigen Fragen weiterhelfen kann.“ Dr. Berger sah abwechselnd von einem Beamten zum anderen. Als er merkte, dass beide offenbar keine genauere Erklärung zum Fall abgeben wollten, verkniff er sich weitere Fragen.
„Ja, wie gesagt, er ist weitgehend vernehmungsfähig, dennoch möchte ich Sie bitten, behutsam mit meinem Patienten umzugehen. Ich bin in meinem Arztzimmer, wenn Sie mich brauchen.“ Der Arzt verabschiedete sich von den beiden Männern.
„Herr Blumenfeld?“, fragte Kommissar Born und zog seinen Ausweis aus der Brusttasche. Auch Kollege Behrenz folgte der Dienstvorschrift, obwohl sie sich sicher waren, dass dieses Dokument bei diesem Patienten wohl kaum von Interesse sein würde. Der Mann im Bett lag teilnahmslos auf der Seite und starrte ins Leere.
„Guten Tag, mein Name ist Markus Born und das ist mein Kollege Roland Behrenz. Wir sind von der Kriminalpolizei Bonn und würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen, insofern Sie sich dazu in der Lage fühlen?“ Der Mann im Bett sah ihn aus zwei mit Brillenhämatom umrandeten Augen müde an. Sein Kopf war mit einem Verband umwickelt, sein rechter Arm lag in einem dicken Verband, der an der Stelle, wo üblicherweise eine Hand zu sehen war, in einem Stumpf endete. Die andere Hand schien auf den ersten Blick unversehrt, erst auf den zweiten Blick sah Born, dass sie mit vielen kleinen, offenbar alten Narben übersät war.
„Wo ist meine Frau?“, fragte Georg kraftlos.
„Wissen Sie, sie hat mich nicht besucht, weil sie offenbar immer noch in diesem Haus ist, dass es angeblich nicht gibt. Die Ärzte sagen mir auch nicht, was sie wissen. Ich werde hier behandelt wie ein Idiot!“
„Herr Blumenfeld“, begann Born und warf seinem Kollegen einen Hilfe suchenden Blick entgegen. „Können Sie mir sagen, was passiert ist?“
„Was passiert ist?“ Er lachte verächtlich. „Die Ärzte sagen, dass ich einen Autounfall und verdammtes Glück hatte. Ein Baum ist auf mein Auto gekracht und hat sowohl meinen Wagen als auch meine Hand zertrümmert. Das ist zumindest die Version, die mir zugetragen wurde.“
„Und wie lautet Ihre Version?“ Behrenz kritzelte etwas in ein Notizbuch und sah Georg fragend an.
„Das habe ich schon dem Doktor und auch den Polizisten erzählt. Aber scheinbar nimmt mich hier niemand ernst. Ich will wissen, was mit meiner Frau passiert ist! Wenn alles nicht wahr wäre, dann wäre sie doch jetzt hier bei mir? Warum wurde in der Sache noch nichts unternommen? Vielleicht läuft dort draußen ja doch ein verdammter Mörder rum!?“
„Erzählen Sie uns bitte erst einmal, was genau geschehen ist“, sagte Behrenz. „Dann entscheiden wir, ob wir Sie ernst nehmen oder nicht.“ Born warf Behrenz einen ermahnenden Blick zu. Doch Behrenz reagierte nicht und sah den Patienten fordernd an.
„Wir hören?“
Georg ergriff mit der linken Hand den Galgen über seinem Bett und zog sich stöhnend hoch.
„Erzählen Sie mir lieber, wieso die Kripo in einem Verkehrsunfall ermittelt?“ Er sah abwechselnd in die ernsten Gesichter beider Männer.
„Wann haben Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen?“
„Ich weiß nicht genau…“ Georg schien nach einer Antwort zu suchen und fand sie schließlich. „Ich habe sie in diesem Haus gesehen. Ja, gestern Abend im Jagdhaus. Mir ging es zu diesem Zeitpunkt nicht besonders… warum fragen Sie mich das? Ist doch irgendetwas nicht in Ordnung mit ihr?“
„Herr Blumenfeld“, begann Born vorsichtig. „Ihre Frau ist tot!“ Georgs Gesicht wurde aschfahl und seine Stimme krächzte kraftlos:
„Tot?“
„Ja, es tut mir leid.“
„Dann ist es also doch passiert?!“
„Herr Blumenfeld, wir haben die Hoffnung, dass Sie uns das erklären könnten. Wir haben vor einer knappen Stunde ihre Leiche im Kofferraum Ihres Wagens gefunden.“ Die Augen des Mannes füllten sich mit Tränen.
„Nein, das kann nicht sein!“
„Haben Sie irgendeine Erklärung dafür?“
„Eine Erklärung?“ Georg schluchzte los. „Sie fragen mich, ob ich eine Erklärung für das habe, was Sie mir hier auftischen? Sie haben keine Ahnung, was ich in den letzten Stunden durchgemacht habe. Wer sagt mir, dass Sie überhaupt echt sind? Und dass das, was Sie sagen echt ist?“
„Sie haben Zweifel daran, dass wir echt sind?“, fragte Born überrascht.
„Sie lügen! Sie alle lügen! Maria lebt! Alles ist so wie immer und in bester Ordnung! Vielleicht hat Päler sie nur wieder aufgehalten?“ Behrenz horchte plötzlich auf und auch Born huschte ein Zucken über das Gesicht.
„Herr Blumenfeld, in welcher Verbindung stehen Sie mit Joachim Päler?“ Georg starrte Behrenz mit offenen Augen an.
„Was ist mit ihm? Er ist mein Kompagnon. Wir beide führen zusammen das Architekturbüro PÄLER UND BLUMENFELD. Und er war mein bester Freund…“
„Was meinen Sie mit war Ihr bester Freund?“, fragte Born und warf Behrenz einen wissenden Blick zu.
„Warum stellen Sie mir all diese dummen Fragen? Was hat Päler mit der Sache zu tun?“
„Wir haben eine zweite Leiche gefunden - Joachim Päler. Vorgestern Abend im Fahrstuhlschacht an der Rheinarkaden-Baustelle, mit durchgeschnittener Kehle.“ Georg starrte die beiden Beamten abwechselnd an.
„Päler ist auch tot? Seit vorgestern?! Wie kann es dann sein, dass ich ihn gestern noch gesehen habe – MIT MEINER FRAU! Sie verarschen mich doch!“ Er tastete blind nach der Klingel, die dafür sorgen sollte, dass die Schwester kam, wenn er Hilfe brauchte. Mit zittriger Hand drückte er auf den Knopf.
„Gehen Sie weg!“, zischte er. „Lassen Sie mich in Ruhe!“
„Herr Blumenfeld, beruhigen Sie sich“, sagte Born. „Das bringt doch jetzt nichts.“
„Hilfe!“, schrie Georg plötzlich in einer Lautstärke, die beide Beamten erschrocken zusammenzucken ließ. „Helfen Sie mir! Diese Männer sind böse! Sie erzählen schlimme Lügen! Schicken Sie sie weg!“ Behrenz und Born warfen sich einen irritierten Blick zu. Dann zogen sie sich zur Beratung zurück. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis eine Schwester und auch Dr. Berger hektisch das Zimmer betraten. Die Schwester, auf deren Namensschild Annika stand, kümmerte sich, ohne zu zögern um Georg und legte ihm behutsam ihre Hand auf die Schulter. Er akzeptierte ihre Berührung dankbar und legte sich wieder zurück ins Kissen. Die beiden Kriminalbeamten erklärten dem Arzt kurz die Situation, woraufhin er ernst sagte: „Ich habe Sie ja gewarnt. Geben Sie ihm ein paar Tage Zeit, er muss sich erholen. Immerhin hat er eine Hand verloren und wäre fast an den Folgen seines Autounfalls gestorben. Ich werde Sie informieren, sobald er vernehmungsfähig ist.“
„Wir werden ihn allerdings rund um die Uhr bewachen müssen“, sagte Behrenz verärgert. „Wir werden einen Beamten vor der Tür postieren, nur damit Sie Bescheid wissen.“ Dr. Berger sah die Beamten erstaunt an, dann sagte er leise, so dass sein Patient ihn nicht hören konnte: „Ist er etwa ein Verdächtiger?“ Born legte den Finger auf seinen Mund und nickte. Dann verließen die beiden Kriminalbeamten den Raum.
Kaum schloss sich die Tür hinter ihnen, schnaufte Behrenz laut auf. Er lehnte sich gegen die Wand und sah Born fragend an.
„Du liebe Güte, was war das?“, stöhnte Behrenz.
„Was meinst du?“ erwiderte Born.
„Ich weiß nicht, wie schwer seine Kopfverletzungen sind und ob er sich wirklich an nichts erinnern kann. Ansonsten würde ich sagen, dass er ein fantastischer Schauspieler ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er der Täter ist und dass die Ergebnisse der Spurensicherung nur noch reine Formsache sind.“
„Vielleicht sollten wir noch mal mit Dr. Berger sprechen. Vielleicht kann er uns mehr Infos zu seiner angeblichen Amnesie geben.“ Behrenz nickte.
„Ich rufe im Präsidium an, dass die uns jemanden schicken, der ihn sichert.“