Zweiter Tag des Sturms
Am nächsten Morgen schien der Sturm die dramatische Form anzunehmen, wie es am Vortag angekündigt wurde. Georg fand diese Fiona-Aufregung bis dahin noch vollkommen übertrieben und vermied aus diesem Grund auch das Radio einzuschalten. Er wollte einfach nichts von all dem hören. Er fühlte sich nicht gut und hatte aus diesem Grund auch unendlich lange Zeit im Bad verbracht. Doch die Gewissheit, dass sich tatsächlich etwas Großes, Ungutes über ihnen zusammengebraut hatte, ließ sich auch nicht unter der Dusche abwaschen. Seine morgendliche Rasur nahm er nur halbherzig und teilweise auch sehr unachtsam vor, was einige unschöne Schnitte im Kinnbereich verursachte. Er belegte die blutenden Stellen mit Toilettenpapierfetzen und entdeckte dabei, dass er eine andere, nicht blutende Verletzung im Gesicht hatte. Er hatte keine Ahnung, woher diese drei langen Kratzer auf der Wange, in Höhe der Koteletten, hätten stammen können, und fuhr mehrmals mit dem Finger darüber. Sie schienen etwas älter zu sein, vielleicht ein paar Stunden. Er dachte nach, kam aber auf Anhieb zu keiner plausiblen Antwort. Dann kam der Anruf von Päler: „Ich weiß, du hast dir eigentlich heute freigenommen aber wir haben ein Problem!“
„Ach wirklich?“
„Die Rheinarkaden hat es erwischt!“ Georg erwiderte nichts und schwieg.
„Sieht übel aus, der Gutachter ist schon auf dem Weg. Wir treffen uns alle um 15.00 Uhr an der Baustelle. Schaffst du das?“ Georg sah auf die Uhr.
„Ja!“
„Super, dann sehen wir uns später.“ Georg wartete, bis Joachim auflegte. Das tat er aber nicht. Stattdessen schien er noch mit einem letzten Anliegen zu kämpfen.
„Georg? Bist du noch dran?“
„Ja!“
„Bestelle Maria doch bitte einen schönen Gruß von mir.“ Georg ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Er sollte Maria einen schönen Gruß bestellen? Warum? Was genau war der Sinn und Zweck eines solchen Grußes? Bedeutete es vielleicht so etwas wie: Hallo, ich denke gerade an dich? Ja, bestimmt! Er dachte nach und war erstaunt über die Vielzahl an Grüßen, die er über die Jahre hinweg sowohl an Maria als auch von Maria an Joachim ausgerichtet hatte.
Interessant! Irgendwann unterbrach er das beklemmende Schweigen und sagte schließlich: „Ja, mach ich!“ Dann legte er auf.
Tick Tack!
Das Chaos auf der Baustelle des neuen Einkaufszentrums war nicht zu übersehen. Der Sturm hatte in der Nacht ganze Arbeit geleistet. Und dabei handelte es sich erst um die Ausläufer des Orkans, die den mehrstöckigen Rohbau in ein Schlachtfeld verwandelt hatten. Dachlatten, Dämmwolle und Styroporplatten hingen nur noch in Fetzen von den Decken. Überall lag durcheinandergewirbeltes Baumaterial und die letzten noch übrig gebliebenen Bauplanen klammerten sich verzweifelt an die Stahlstützen. Das Baugerüst, das an der Frontseite des Komplexes in eine gefährliche Schräglage geraten war, bereitete allen die größte Sorge. Es war nur noch eine Frage der Zeit, und der Windstärke, bis die ganze Konstruktion nachgeben und auf die Straße krachen würde. Weder Bauherr Rüdiger Marquard, Bauleiter Gerd Finken noch der Gutachter Frank Langenfeld wagten eine erste offizielle Schadensbilanz. Die drei Männer hatten sich zu einem Gespräch unter sechs Augen in einen Bauwagen zurückgezogen und den Rest der Truppe einfach im dritten Stockwerk stehen lassen. Neben Georg, Guido Hölzer - dem Statiker, dem Gerüstbauer Matthias Ecker blieb auch Kompagnon und Freund Joachim Päler auf der Baustelle. Im Gegensatz zu Georg schienen die anderen die Aufforderung zum Warten mit einer erstaunlichen Gelassenheit hinzunehmen. Man versuchte die Zeit mit Small Talk zu überbrücken. Georg hatte die ersten fünfzehn Minuten nur halbherzig und mit wenig Anteilnahme verfolgt. Ihn interessierte nicht, dass Hölzers Nachwuchs inzwischen Zähne bekam, Eckers Saufgelage am Vorabend ihm einen dicken Kopf bereitete und es war ihm auch gleich, wie es um die Tabellenführung der Bundesliga stand. Und während er mit den anderen darauf wartete, dass Marquard, Finken und der Gutachter zurückkehrten, gab er sich alle Mühe, sich wenigstens dafür zu interessieren, ob die Bauhelfer die drohende Orkangefahr ernst nahmen, und den neuen Anweisungen Folge leisten würden. Weggewehte Gegenstände sollten aufgesammelt, entsprechend untergebracht oder entsorgt werden. Die Sicherung des Baugerüstes sollte ebenfalls umgehend erfolgen. Er folgte dem Treiben am Fuße des Gebäudes durch die noch fensterlose Frontseite des ersten Stocks und spürte dabei den eisigen Zug in seinem Nacken. Er klappte den Kragen seines Mantels hoch und vergrub zur Hälfte sein Gesicht hinter dem schützenden Baumwollstoff. Es war ein Designermantel, der fast siebenhundert Euro gekostet hatte. In seinen Augen Wucher, aber es war Maria, die ihn daran erinnerte, dass er als erfolgreicher Architekt Kleidung tragen musste, die etwas her machte. Und Maria legte sehr viel Wert darauf, dass immer und alles um sie herum irgendwie etwas her machte. Selbst der Fußabtreter vor ihrer Haustür durfte kein gewöhnlicher sein. Denn nur wer seine Gäste mit einem lateinischen „SALVE!“ begrüßte, der wurde im Klub der Wir-machen-was-her-Leute aufgenommen. Aber jetzt war er froh diesen Maria-Mantel zu haben, der ihn vor diesem eisigen Wind schützte. Doch schützte er ihn nicht vor seinen hereinbrechenden Gedanken. Sie kamen mit jedem Windstoß und krochen an ihm hoch, bis sie eine Öffnung fanden, um in ihn hineinzuschlüpfen. Und dort blieben sie und warteten. Nein, sie lauerten und warteten auf neuen Zündstoff, um sich an ihm zu nähren. Und trotz aller Bemühungen, sich auf seinen Job als Architekt und Mitverantwortlicher zu konzentrieren und sich ernsthafte Sorgen, um das Bauprojekt zu machen, blieb der Sturm mit all seinen Schäden nur Nebensache. Georg hatte plötzlich ein ganz anderes Problem: Joachim Päler. Er beobachtete den hochgewachsenen Mann, mit vollem Haar und Zahnarztlächeln, der gerade angeregt mit Hölzer sprach. Er gestikulierte beim Reden so gekonnt und mit Bedacht, als würde er für jede neue Kür Haltungsnoten bekommen.
Päler ist so eine gottverdammte linke Ratte!, ertönte es irgendwo in seinem Kopf und ihm fehlte die Kraft, dieser Aussage zu widersprechen. Und jetzt nimmt er sich auch noch die Frechheit raus und bestellt Maria schöne Grüße – meint er eigentlich du bist total verblödet?
„Du siehst schlecht aus“, stellte Päler so plötzlich fest, dass Georg erschrocken zusammenfuhr. Offenbar hatte Joachim Lunte gerochen und war entweder auf Konfrontations– oder Kuschelkurs. „Alles in Ordnung mit dir? Hast du dich etwa mit einer Katze angelegt?“ Georg starrte ihn an.
„Katze? Wieso Katze?“, fragte er kühl.
„Du hast Kratzspuren im Gesicht und – wie ich sehe – hast du dich auch beim Rasieren geschnitten. Schlecht geschlafen, was?“ Georg antwortete nur mit einem gequälten Lächeln, was soviel bedeuteten sollte wie: Danke, für die Blumen, Arschloch! Und Päler schien verstanden zu haben. Er akzeptierte seine Reaktion und wandte sich ohne ein weiteres Wort wieder Hölzer, dem Statiker zu. Und Georg war sehr froh darum. Er zitterte vor Kälte und vor Aufregung. Zudem hatte er heute Morgen das Frühstück ausgelassen. Selbst auf einen Kaffee hatte er verzichtet. Und er hätte auch gerne auf dieses Treffen verzichtet – oh ja, es gab heute wirklich nichts, auf das er lieber verzichtet hätte. Es fiel ihm unsagbar schwer Päler überhaupt ins Gesicht zu sehen. Selbst ein Wortwechsel wurde zu einem innerlichen Überlebenskampf. Seine Anwesenheit störte ihn und löste in ihm ein Gefühl aus, das er als hochgradig abstoßend bezeichnen würde. Er hatte sich vorhin sogar bei dem Gedanken ertappt, Päler den entscheidenden Tritt zu geben, der noch fehlte, um ihn in die tiefen Sphären des noch leeren Fahrstuhlschachts zu befördern. Ein kleiner Tritt, vielleicht auch nur ein kurzes Anrempeln und schon wäre er ihn für heute los. Bei einem Sturz vom dritten Stockwerk bis hinab in die Tiefgarage wahrscheinlich sogar für immer. Der Gedanke klang vielversprechend und hatte fast schon etwas Einladendes für solch einen stürmisch tristen Tag. Aber es war eben nur ein Gedanke. Ein dummer kleiner Gedanke, der sich, wie so vieles andere in seinem Kopf, einfach in der Tür geirrt hatte. Er dachte an Maria. Was hätte sie wohl zu seiner Idee gesagt, Päler verschwinden zu lassen? Oh ja, er wusste ziemlich sicher, was sie dazu gesagt hätte:
AMICUS OPTIMA VITAE POSSESSIO - ein Freund ist der beste Besitz des Lebens. Und ja, Maria hatte recht. Sie waren in der Tat Freunde, vielleicht sogar die Besten. Sie hatten sich vor etwa zweiundzwanzig Jahren auf der Uni kennengelernt und führten seither eine Freundschaft, geprägt durch eine große Portion Hassliebe. Joachim war ihm immer und in allem einen Schritt voraus gewesen, was Georg allerdings nicht sonderlich störte. Er blieb lieber im Hintergrund, handelte und bewegte sich unauffällig. Er war nie der Hallodri gewesen, der wie Hans Dampf durch alle Gassen stampfen musste, um seine Mitmenschen zu beeindrucken – das war Joachims Aufgabe. Er war der Erste, der eine Studentenwohnung in Köln bezog. Er war der, der die meisten Frauen flachlegte. Er war der, der das meiste Geld mit Aushilfsjobs verdiente. Er war allerdings auch immer der Erste, der Ärger bekam, wenn er seinen Sarkasmus an falscher Stelle anbrachte. Egal, wo sie waren und was sie gerade taten, Joachim war immer der Größere, Bessere und Schnellere. Doch seit dem Georg Maria kennengelernt hatte, war er es, der in der vorderen Liga spielte.
Wow, wo hast du diese Perle denn ausgebuddelt, Blumenfeld!, hatte er damals gesagt und Maria mit seinen Blicken regelrecht ausgezogen. Na, ob die es mit dir Sonderling lange aushält? Über fünfzehn Jahre hatte sie es inzwischen schon mit ihm ausgehalten. Päler hingegen hatte er schon über zwanzig Jahre an der Backe. Auf geschäftlicher Ebene waren sie gleichwertige Partner und führten, seit dem sie aus dem Studium raus waren, als renommiertes Architekten-Team, das Architekturbüro BLUMENFELD & PÄLER. Das Unternehmen konnte sich über Auftragsmangel nicht beklagen und alles lief bestens. Sogar mehr als das. Hier im Köln/Bonner Raum schien es an qualifizierten Architekten zu mangeln. Architekten, die sich der Vielzahl an Träumen vom Eigenheim, in den zahlreichen Neubaugebieten annahmen. Hier gab es neben günstigen Baugrundstücken auch die üblichen Kreditfallen und genug naive Bauherren, die darauf reinfielen - die Gegend oberhalb der Rheinschiene, eine äußerst einladende Geldmaschine. Und jetzt hatten sie zusätzlich noch den Bau des hiesigen Einkaufszentrums in der Hand. Sie hatten ihre Schäfchen also im Trockenen. Doch was bringen dir trockene Schäfchen, wenn hinter deinem Rücken eines nach dem anderen verschwindet und geschlachtet wird? Ein Gedanke, der schon seit Längerem in ihm wuchs und mittlerweile an unerträglicher Größe gewonnen hatte. Eigentlich konnte er es Joachim noch nicht einmal so richtig übel nehmen, dass er den einen oder anderen Auftrag an ihm vorbeischmuggelte, um in seine eigene Tasche zu wirtschaften. Immerhin hatte er ihm die kompletten Verwaltungsangelegenheiten aufs Auge gedrückt und sich vielmehr um die aktive Arbeit an der Projektplanung und Baurealisierung gekümmert. Ja, Traumhäuser entwerfen, das war sein Ding – Bilanzen und Zahlen hingegen nicht. Und er war sich sicher, Päler hätte ihn noch viele Jahre übers Ohr hauen können, ohne dass er etwas davon bemerkt hätte, wenn da nicht dieser dumme Zufall gewesen wäre. Es war nur diese eine Begegnung, die nicht nur Päler einen Strich durch seine Rechnung machte, sondern auch Georg dazu brachte, seinen Status in der Firma BLUMENFELD & PÄLER neu zu überdenken. Im Fokus von Kommissar Zufall lag ein Fahrzeugzentrum, für das er Wochen zuvor eine aufwendige Architektur- und Fachplanung gefertigt hatte. Gefordert war hier etwas Extravagantes, mit dem sich Alexander Richter, der sich auf den Verkauf von Luxuswagen spezialisiert hat, identifizieren konnte. Er hatte den Entwurf dem äußerst peniblen Auftraggeber vorgelegt und dieser war begeistert von seiner Idee. Dann hörte er nichts mehr und erfuhr schließlich von Päler, dass das Projekt aus Finanzierungsgründen gecancelt wurde. Ein Schlag für Georg, denn er hatte nicht nur viel Zeit und eine Menge Leidenschaft in dieses Projekt gesteckt, sondern witterte bei der Größe des Auftrags auch ein beachtliches Honorar für die Kanzlei. Es sollte nicht sein. Zumindest gaukelte Päler ihm genau das vor.
Von wegen Luxuswagen! Über der Richter GmbH kreist der Pleitegeier, Georg. Sei froh, dass wir aus der Nummer raus sind. Und Georg war froh. Es gab in seinem Beruf für ihn persönlich nichts Schlimmeres, als mit Leidenschaft und Empathie den Wohn– oder Businesstraum eines Kunden zu planen und mittendrin zu sein, wenn dieser Traum, urplötzlich an den scharfen Kanten einer Finanzierung zerplatzte. Doch dann, einige Wochen später, traf er Alexander Richter zufällig auf der Architekturmesse, der ARCHITECT@WORK DÜSSELDORF.
Herr Blumenfeld, das ist aber eine Überraschung, ich dachte, Sie hätten sich wegen Ihrer Erkrankung eine Auszeit genommen?, hatte Richter ihn mit Handschlag begrüßt und ihm damit das größte Fragezeichen seines Lebens beschert. Eine Auszeit genommen? Wegen meiner Erkrankung?
Kollege Päler hat mir von Ihren Schwierigkeiten erzählt. Burn-out ist wirklich eine Angelegenheit, die man nicht unterschätzen sollte, von daher meine Hochachtung für Ihren Schritt.
Er war so verblüfft, dass er zunächst nicht in der Lage war, dieses Missverständnis aufzuklären. Sprachlos ging er ein paar Schritte mit Richter durch die Gänge der Messehalle.
Auch wenn ich zugeben muss, dass ich mit der Betreuung von Päler nicht ganz glücklich bin – aus diesem Grund bin ich auch heute hier, um mir selbst ein Bild von dem zu machen, was der Markt im Angebot hat. Ich war von dem Biobeton ganz fasziniert – natürliche Fassadenbegrünung, statt aufwendiger Farbe. Was meinen Sie: Passt eine lebende Fassade zur Luxusklasse? Und je mehr Richter sich in seiner Euphorie verlief, desto weiter rückte Georgs Chance das Missverständnis aufzuklären in die Ferne. Es war, wie es war – und daran ließ sich auch nicht rütteln – Joachim Päler hatte ihm rücklinks ein Bein gestellt. Eine Situation, die ihn in der Tat zum Nachdenken brachte und ihn seit jenem Tag dazu trieb, an der einen oder anderen Stelle etwas genauer hinzusehen. Und das, was es herauszufinden galt, war die Antwort auf die Frage, ob dieser kleine Betrug nur eine Verzweiflungstat war – vielleicht aus finanziellen Gründen - oder ob doch ein gezielter Plan dahintersteckte, ihn heimlich aus dem Unternehmen zu drängen. Aber warum machte er es so kompliziert? Warum sagte er ihm nicht einfach, dass er sein Ding alleine weitermachen wollte? Warum kam Joachim gerade mit solch einer unglaublichen Geschichte um die Ecke? Gut, er war in den letzten Monaten psychisch etwas angeschlagen, was auch physische Folgen hatte. Sein Hausarzt, Dr. Engeler, hatte ihm ans Herz gelegt entsprechende Burn-out-Prophylaxe zu betreiben – aber davon konnte Joachim nichts wissen. Es sei denn, ein gewisser Jemand hatte ihm davon erzählt.
„Ach, Georg, was ich dich noch fragen wollte“, Pälers Stimme riss ihn abrupt aus seinen Gedanken. „Warst du gestern Nacht hier auf der Baustelle?“ Georg sah ihn stirnrunzelnd an.
„Nein! Wie kommst du denn darauf?“
„Einer der Wachmänner behauptet, deinen Wagen gesehen zu haben“, erklärte Päler und kratzte sich nervös am Kopf. „Er hat Hoffnung, dass du vielleicht die Vandalen gesehen haben könntest.“
„Vandalen? Was für Vandalen?“
„Keine Ahnung. Irgendwelche Idioten haben in der Tiefgarage eine Wand beschmiert und sich im hinteren Teil des Geschosses an der Schalung zu schaffen gemacht. Ich war auch noch nicht unten. Wir werden uns das gleich ansehen. Zum Glück hat der Betonlieferant aufgrund des Sturms abgesagt. In dem Zustand hätte ohnehin kein Beton gegossen werden können.“
„Ich war weder hier, noch hab ich etwas gesehen“, sagte Georg ruhig. „Ich war zu Hause. Mit Maria. Wir haben gemeinsam ferngesehen.“ Er sah Päler scharf in die Augen. Für einen kurzen Augenblick dachte er darüber nach noch mehr ins Detail zu gehen, ihm vielleicht sogar die eine oder andere falsche Information zu suggerieren, damit sich in seinem Kopf auch ein klares Bild von einer glücklich geführten Ehe formte. Vielleicht so etwas wie, dass sie nach einem gemeinsamen Abendessen und einem ausgiebigen Wellnessbad sehr intensiven Sex hatten. Er wollte, dass Päler wusste, dass alles in bester Ordnung war, denn alles war so wie immer – nein, sogar noch viel besser! Er wollte, dass Päler wusste: Ich liebe meine Frau und meine Frau liebt mich - capito!
„Hab ich mir fast gedacht.“ Päler lächelte verhalten und wandte sich ab. Dann nestelte er in seiner Manteltasche und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. Und als wollte er Georg beweisen, dass er gegen jede Windmühle und jeden Gegner kämpfen würde, versuchte er vergebens sich gegen den Willen der Zugluft eine Zigarette anzuzünden.
„Wie sieht es eigentlich in der Tiefgarage aus?“, fragte Hölzer plötzlich in die Runde.
„Ich habe gerade schon Georg gesagt, unten ist bis auf die kleine Sauerei und eine Beschädigung im Schalungsbereich alles gut“, antwortete Päler ruhig.
„Damit haben wir Gott sei Dank nichts zu tun“, sagte Ecker fröstelnd. „Ich werde mal sehen, wie weit meine Jungs mit der Sicherung des Gerüstes sind.“ Der Gerüstbauer verabschiedete sich mit einem Handgruß und verschwand.
„Lasst uns runter gehen“, meinte Hölzer. „Es dauert ohnehin noch, bis die Herren der Schöpfung wieder auftauchen.“ Er deutete auf eine Betontreppe, die in ihrem verschalten Rohzustand wenig einladend den Weg auf die untersten Ebenen wies. Päler nickte.
„Wir haben ja sonst nichts Besseres zu tun! Ich hoffe Finken, Marquard und Langenfeld bewegen ihre Ärsche sehr bald wieder in unsere Richtung, denn so langsam könnte ich einen Kaffee vertragen, was meinst du Georg?“ Georg schwieg und erwiderte Pälers eindringlichen Blick mit kühler Standhaftigkeit. Und irgendwie schmerzte es, plötzlich festzustellen, dass ein Mensch, den man seit über zwanzig Jahren kennt, einem von der einen auf die andere Minute vollkommen fremd vorkommt.
„Ja, ein Kaffee wäre sicher nicht schlecht!“, antwortete er leise. Der schmeißt sich aber heute ran! Was will dieser Kerl nur von mir?, fragte er sich und sah Joachim weiter scharf in die Augen, um darin irgendwo die Antwort zu finden. Deine Schäfchen, du Idiot!
„Ein Zippo wäre mir allerdings lieber“, fluchte Päler plötzlich, und schleuderte sein Feuerzeug wütend von sich. Georg hörte, trotz des pfeifenden Windes, wie das Feuerzeug irgendwo in der Dunkelheit eines fensterlosen Raumes gegen einen Stahlträger prallte und schließlich mit einem kurzen Klack-Geräusch zur Ruhe kam.
„Rauchen ist ohnehin ungesund“, lachte Hölzer und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Dann stiegen sie die Treppe hinunter. Nur Georg zögerte. Instinktiv blickte er in die Richtung in die Päler das Feuerzeug geworfen hatte, so als würde er erwarten, dass irgendwo aus der Dunkelheit des Rohbaus lauter Protest kam. Vielleicht so etwas wie: Hey, wirf deinen Scheiß hier nicht rum! Oder: Pass auf, ich komm dir gleich darüber! Doch niemand protestierte. Er war offenbar inzwischen alleine auf dieser Ebene. Nur der Wind schien teil an Georgs gefühlter Einsamkeit zu haben und nahm erneut Anlauf, um mit all seiner Energie an den vor Kurzem erst frisch hochgezogenen Mauern zu rütteln. Er ist nicht nur eine linke Ratte, sondern auch ein… der Gedanke fror in dem Augenblick ein, als ein bekanntes Geräusch ihn zwang, seine Augen auf den Boden zu richten. Etwas Weißes, Kleines flog aus der Dunkelheit über den Boden und blieb unmittelbar vor seinem Schuh liegen. Mit fieberhafter Aufmerksamkeit fixierte er das kleine Feuerzeug, das Päler noch vor wenigen Augenblicken in das dunkle Nichts geworfen hatte. Jemand hatte es kurzerhand zurückbefördert. Suchend blickte er in die Richtung, wo er einen Bauarbeiter vermutete.
„Ist da wer?“ Zögerlich trat er in den lichtschwachen Gang, um besser in den finsteren Raum blicken zu können. Vielleicht konnte er Konturen oder einen verräterischen Schatten sehen. Er wartete. Er wollte dem Witzbold, der ihm da versuchte einen Schrecken einzujagen, eine faire Chance geben, selbst aus seinem Versteck zu kommen. Mit klopfendem Herzen suchten seine Augen jeden Winkel ab. Hatte sich dort hinter der Plane nicht etwas bewegt?
„Kommen Sie heraus und lassen Sie den Blödsinn!“ Er kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung mehr erkennen zu können. Aber da war niemand. Nachdenklich hob er das Feuerzeug auf und betrachtete es aufmerksam von allen Seiten. Auf den ersten Blick war es einfach und eher unscheinbar. Es trug eine Werbeaufschrift. Er stutzte. Irgendwo klingelte es in seinem Oberstübchen, allerdings nicht in unmittelbarer Reichweite.
„Blumenfeld, wo bleibst du denn?!“, ertönte es plötzlich von unten. Und Pälers Stimme fühlte sich wie Blei auf seiner Seele an. Er ließ das Feuerzeug in seiner geballten Faust verschwinden und drückte zu.
Halt dein Maul, Päler! Halt einfach dein Maul! Entschlossen, der Aufschrift sehr bald noch einmal Zeit zu widmen, steckte er das Feuerzeug in seine Manteltasche. Dann folgte er Hölzer und Päler mit schnellen Schritten ins Untergeschoss. Die beiden Männer erwarteten ihn bereits plaudernd und lachend in einem kalten und zugigen Abschnitt, der in Zukunft als halb offene Tiefgarage einer Menge Autos entsprechende Parkmöglichkeiten geben sollte. Mit einem kurzen Kopfnicken nahmen sie seine Anwesenheit zur Kenntnis und gingen dann weiter einen sehr breiten Gang hinunter.
„Ja, dieser Orkan macht uns allen einen gehörigen Strich durch die Rechnung!“ Hölzer schien seinen Weg in Richtung Tagesordnung offenbar wieder gefunden zu haben. „Die Dacharbeiten werden wohl noch länger als zwei Wochen in Anspruch nehmen. Je nachdem, wie der Orkan heute Nacht noch aufdrehen wird, könnte es sein, dass ...“
„... wir den ganzen Laden wieder abreißen und neu bauen müssen“, unterbrach Päler und lachte. Hölzer rollte mit den Augen.
„Mal den Teufel nicht an die Wand. Ich bin froh, wenn ich diesen Choleriker Finken nicht mehr in meinem Terminkalender stehen habe.“
„Ja, Finken ist wirklich ein Fall für sich. Es würde mich nicht wundern, wenn seine Leute ihn irgendwann einmal versehentlich mit einbetonieren.“
Pass auf, dass man dich nicht irgendwann, irgendwo einbetoniert, schoss es Georg plötzlich durch den Kopf. Er hatte keine Ahnung, woher diese Eingebung kam, aber sie sorgte für ein stummes Lächeln.
„Aber mal unter uns gesagt“, Päler blieb stehen und tat geheimnisvoll. „Diese Fiona scheint es wirklich drauf zu haben. Die bläst jedenfalls schon mal besser als meine Putzfrau!“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis Georg den vermeintlichen Witz in seinem Kopf registriert, aufgenommen und schließlich verarbeitet hatte. Er dachte über eine mögliche Reaktion nach, während Hölzer bereits laut los prustete und Päler für diesen Schenkelklatscher gratulierend auf die Schulter klopfte. Irgendeine Reaktion, die Joachim zu verstehen geben sollte, wie geschmacklos und dumm seine Witze doch waren. Abgesehen davon, kannte er seine Putzfrau. Gertrud Engelmann war eine Freundin der Familie, mittlerweile 65 Jahre alt und kam auch bei ihm einmal in der Woche vorbei, um seine Hemden zu bügeln. Maria hasste jegliche Form von Bügelarbeit. Doch Georg kam nicht dazu, Hölzer darüber aufzuklären, dass Päler sich von seiner 65-jährigen Putzfrau einen Blowjob verpassen ließ – was er, nebenbei bemerkt, nicht wirklich glaubte. Vor ihm tat sich ein Bild auf, was ihm nicht nur die Sprache verschlug, sondern auch gleich den Atem. Er spürte, wie ihm unaufhaltsam eine fiebrige Hitze in den Kopf stieg. Auch Hölzer und Päler verstummten noch inmitten ihrer Albereien und erstarrten. Gemeinsam blickten sie auf das, was sich vor ihnen offenbarte. Irgendwo flatterte energisch ein Absperrband und es klang fast schon wie eine düstere Fanfare. Sein Herz begann zu rasen, stolperte über sein blankes Entsetzen und ihm wurde schlecht. Die Botschaft an der Wand schien noch feucht und glänzte in meterhohen, kräftigen tief roten Buchstaben von einem Ende der Wand zur anderen, und er wusste, diese Worte waren nur für ihn bestimmt:
NIHIL FIT SINE CAUSA
Er schluckte schwer und starrte auf den lateinischen Satz, der sich mit jedem einzelnen Buchstaben immer mehr in seine Seele brannte. Nein, das konnte kein Zufall sein!
„Was ist das denn für eine widerliche Scheiße“, rief Hölzer entsetzt und riss Georg damit abrupt aus seinen Gedanken.
„Wie kann das passieren? Wozu beauftragt Marquard einen teuren Sicherheitsdienst, wenn trotzdem jeder Idiot hier hereinspazieren und Blödsinn machen kann?“
„Weil die vom Sicherheitsdienst selbst Idioten sind“, antwortete Päler wissend und verschränkte die Arme. „Ich hab vorhin mit dem Kerl geredet, der hier nachts seine Runden dreht. Ich schätze mal der kommt aus dem Osten. Ich wette 100 €, dass er ein Säufer ist. Und ich setze noch mal 100 € und behaupte, dass er selbst für einen gebotenen Fünfer jeden Einbrecher hereinspazieren lässt. Mehr verdient er auch nicht die Stunde.“
„Vermutlich hast du recht“, sagte Hölzer. „Marquard spart wieder am falschen Ende. Was soll der Quatsch überhaupt bedeuten?“
„Keine Ahnung!“
„Nihil fit sine causa“, sagte Georg leise. „Das ist lateinisch und bedeutet: Nichts geschieht ohne Grund.“
„Oh, du hast scheinbar dein Sprachzentrum wieder aktiviert“, spottete Päler. „Ich wusste gar nicht, dass du dich neuerdings mit Underground-Kunstwerken, geschweige denn mit Latein auskennst.“
„Das ist kein Kunstwerk, sondern die Handschrift eines Stümpers, und zwar eines Stümpers aus der untersten Schublade“, motzte Hölzer. „Nein, ich würde sogar sagen, das ist die Handschrift eines Idioten.“ Dann legte er prüfend den Kopf zur Seite. „Obwohl ...“. Er trat einen Schritt vor und berührte die feuchte Farbe mit den Fingerkuppen. Zögerlich führte er seinen Finger an die Nase und roch ein paar Mal daran. Wenige Sekunden später verzog er angewidert das Gesicht.
„Nein, das ist das Werk eines Geisteskranken.“ Instinktiv griff Hölzer in seine Manteltasche und zog ein Taschentuch heraus.
„Verdammt, das Zeug ist Blut oder so was!“ Hektisch begann er seine Finger zu säubern, als hätte sich die Pest auf ihnen niedergelassen. „Seht, hier auf dem Boden ist auch eine große Lache Blut!“ Er sprang zur Seite.
„Ach was, Blut! Jetzt übertreib mal nicht!“ Päler winkte ab.
„Glaub mir, es ist Blut! Wir sollten die Polizei rufen!“
„Guido, was ist los mit dir? Warum gleich so hysterisch? Zum einen: Selbst wenn sich hier jemand einen Eimer Schweineblut aus dem Schlachthof besorgt hat, um dieses Kauderwelsch an die Wand zu schmieren – es ist nicht unser Problem. Es sind immer noch Marquard und Finken, die für den Bau der Hütte hier verantwortlich sind. Zum anderen: Das hier wird ein Einkaufszentrum. Du weißt doch, die Konkurrenz ist groß – allerdings auch die Gegenwehr der Bürgerinitiative. Hier haben wir es scheinbar mit einem, vielleicht sogar auch mehreren sehr lebhaften Aktivisten zu tun. Aber wenn die Putzer erst einmal mit ihrer Arbeit durch sind, sieht man von diesem Blödsinn nichts mehr. Wenn er will, soll Marquard die Polizei rufen und dies als Vandalismus zur Anzeige bringen. Ich jedenfalls mache in dieser Sache gar nichts, ich hab weiß Gott Besseres zu tun.“ Und als hätte Päler mit diesem Satz den Startschuss gegeben, schaute er nervös auf die Uhr.
Tick Tack! Nanu, warum denn so nervös, Joachim?
„Was ist los mit dir, Blumenfeld?“ Hölzer sah Georg besorgt an. „Du sagst ja gar nichts und – wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf - du siehst blass aus! Geht es dir nicht gut?“
„Offenbar hat ihm der Sprayer mit seinem Latein einen gehörigen Schrecken eingejagt“, grinste Päler und klopfte ihm unsanft auf die Schulter.
Ja, das hat es in der Tat, Joachim!, dachte Georg. Und ich frage mich, wer mir diese Botschaft hier geschickt hat und vor allem, was mir dieser „Jemand“ damit sagen will. Hast du vielleicht etwas damit zu tun, du blödes Arschloch!? Wieder sah Päler auf die Uhr, zückte sein Handy und begann sich ausgiebig mit seinem Smartphone zu beschäftigen.
Und was ich mich noch frage: Warum bist du so nervös? Wartest du etwa auf eine Nachricht von ihr? Es war Hölzers Handy, das die beklemmende Stille plötzlich durchbrach und auch die Gedanken wieder dorthin schickte, wo sie hergekommen waren. Das Telefongespräch war so kurz, wie deutlich und es endete damit, dass Hölzer sich mit einem: „Wir sehen uns später. Ich muss noch mal ins Büro!“, verabschiedete.
„Nichts geschieht ohne Grund ...“, wiederholte Georg abwesend und ließ seinen Blick immer wieder von einem Buchstaben zum anderen schweifen. Päler tippte immer noch auf dem Display seines Handys herum und schien angespannt.
„Ich kämpfe gerade mit der Technik“, entschuldigte er sich schließlich. „Eine SMS zu schreiben ist auch nicht mehr das, was es früher einmal war. Hast du was gesagt?“ Georg starrte immer noch auf die Wand vor ihm. Joachims Frage hallte in seinem Kopf. Hast du was gesagt? Er dachte nach. Hatte er denn etwas gesagt? Nein, hatte er noch nicht. Aber er könnte etwas sagen! Und plötzlich war er sich sicher, das unsichtbare Ding, was ihn die ganze Zeit verfolgte, war wieder hier. Hier irgendwo, und es beobachtete ihn und es beobachtete auch Päler und es zischte: Sieh dich um, du bist mit ihm alleine, Georg! Stell ihn zur Rede! Georg wusste, dass es an der Zeit war, ihm tatsächlich eine Frage zu stellen, die ihm schon seit zwei Tagen unter den Nägeln brannte. Los, frag ihn endlich! Und zwar in drei, zwei, eins …JETZT!
„Joachim, was läuft da eigentlich?“, platzte es aus Georg heraus. Keine Antwort.
„Joachim?“ Georgs Stimme hallte durch die halbdunkle Weite der Tiefgarage, prallte aber irgendwo im Nichts ab. Er drehte sich um. Und zu seiner Überraschung stand Päler nicht mehr dort, wo er ihn erwartet hatte - hinter ihm.
Er ist abgehauen!, dachte Georg und spürte, wie plötzlich Wut in ihm aufstieg. Dieser Mistkerl ließ ihn einfach stehen, so als wolle er es mit aller Gewalt vermeiden, mit ihm alleine zu sein. Warum?
Weil er nervös ist und ahnt, dass du etwas herausgefunden haben könntest, flüsterte das Ding direkt in sein Ohr. Er wird wohl gerade mit allen Mitteln versuchen, Maria zu erreichen. Und in der Tat sah er aus der Ferne, wie Päler mit seinem Handy am Ohr in einem Gang verschwand. Georg folge ihm.
Etwa eine Stunde später, nachdem auch Bauherr Marquard seinen Ärger über die lateinische Botschaft an der Mauer mehr als nur laut kundgetan, im gleichen Atemzug den Sicherheitsdienst gefeuert und schließlich auch die Polizei informiert hatte, beorderte er alle Beteiligten zur Lagebesprechung in ein benachbartes Café. Ein solches Treffen hatte Georg eigentlich nicht in seinem Zeitplan vorgesehen und folgte der Aufforderung nur widerwillig. Plaudernd wurden Tische zusammengeschoben, Kaffee und Snacks bestellt, Baupläne ausgelegt, Notebooks gezückt sowie Vorschläge und Meinungen ausgetauscht. Georg schwieg die meiste Zeit, denn er hatte weder einen Vorschlag noch eine Meinung. Er empfand dieses kurzfristige Zusatzmeeting mit der ganzen Bau-Bagage als besonders mühselig und anstrengend. Den höflichen Schein zu wahren und den aufmerksamen und ideenreichen Architekten zu spielen, fiel ihm schwer. Er fühlte sich nicht gut, irgendwie fiebrig und auch seine Konzentration ließ zu wünschen übrig. Zu viel ging ihm durch den Kopf, zu tief saß noch der Schreck über die Botschaft aus der Tiefgarage. Und er hatte noch ein weiteres Problem: Päler war nicht wieder aufgekreuzt. Offenbar hatte es Joachim bevorzugt, dem Treffen im Café nicht beizuwohnen. Das machte ihn auf eine nahezu unerträgliche Art und Weise nervös. Als Päler noch vorhin mit ihm und den anderen über die Baustelle lief, war die Spannung zwischen ihnen zwar deutlich zu spüren, aber er hatte die Kontrolle über ihn. Er wusste, wo er war und er wusste, was er tat. Doch jetzt war er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt und niemand hatte ihn gesehen oder zumindest etwas von ihm gehört. Ob er sich jetzt gerade mit Maria traf?
„Wo steckt eigentlich Päler?“, knurrte Marquard und sah Georg fragend an.
„Ich habe keine Ahnung, wo er ist“, erwiderte er und blickte nervös zur Tür.
„Er wird schon wieder auftauchen“, beruhigte ihn Guido Hölzer und schob Georg die bestellte Tasse Latte Macchiato entgegen. Georg nickte und versuchte sich auf die Gespräche rund um den Rheinarkaden-Bau zu konzentrieren. Irgendwann standen Bauherr Marquard und der Gutachter Langenfeld plötzlich auf und entfernten sich vom Tisch. Sie zogen es offensichtlich vor, ihr Gespräch ungestört im Bereich der Garderobe direkt am Eingang fortzuführen. Und ihre verhärteten Mienen, die sie schon mit sich trugen, seit dem sie das Café betreten hatten, verrieten, dass es an der Zeit für ein Vieraugengespräch war. Das war verdächtig. Er hatte durch den Spalt zwischen einer Säule und einer Wand Sichtkontakt, konnte aber nur spärlich ihrem Gespräch folgen. Mit großem Interesse beobachtete er die beiden. Allerdings nicht, weil ihn die Neugierde dazu trieb, sondern weil er verzweifelt nach Ablenkung suchte. Er saß mit Finken und Hölzer am Tisch, die beide ihre Laptops vor sich aufgebaut hatten und neben Bautechnischem auch wieder über Fußball sprachen. Er hatte keinerlei Interesse, sich an diesem Thema zu beteiligen und schwieg. Fußball war einfach nicht sein Ding – überhaupt war heute so vieles nicht sein Ding. Da kam ihm der Anblick zwei diskutierender Männer, die sich mit jedem weiteren Wort immer mehr gegeneinander aufschaukelten gerade gelegen. Er nahm zunächst nur Wortfetzen wahr, konnte sich daraus aber zusammenreimen, dass der Gutachter Marquards Plan, aus dem Orkan Profit zu schlagen und den Sturmschaden in eine regelrechte Versicherungsgeldquelle zu verwandeln, nicht mitspielen wollte. Offenbar hatte er Langenfeld eine Liste von Schäden aufgeführt, die nicht alle auf Fionas Kerbholz stehen konnten.
„Ich soll ein Auge zudrücken?“, wetterte Langenfeld. „Wissen Sie eigentlich, was Sie da von mir verlangen?“
„Ja, natürlich, weiß ich das. Und ich weiß auch, die Loyalität gegenüber Ihrem Unternehmen sehr zu schätzen, aber …“
„Vergessen Sie es, Marquard! Das ist Versicherungsbetrug, also eine Straftat und könnte mich obendrein auch noch meinen Job kosten.“
Er wird früher oder später einknicken, dachte Georg. Alle Gutmenschen, Möchtegernweltverbesserer und Reinwestenträger knicken irgendwann ein. Sie werden unehrlich, käuflich und korrupt. Loyalität wird urplötzlich zu einem Fremdwort und Geld zu einer Tugend. Es muss nur das Angebot stimmen. Betrug – egal in welcher Form – die unehrliche Art und Weise, wie man seine Schäfchen ins Trockene bringen konnte.
„Reine Zeitverschwendung ist das hier“, unterbrach Hölzer Georgs Gedanken. Auch er sah inzwischen missmutig zur Garderobe und machte seinem Ärger Luft: „Herrgott, was reden die denn die ganze Zeit dahinten? Ich habe keine Zeit für solche Trödeleien. Ich will nach Hause zu meinem Sohn und seinem ersten Zahn.“ Georg sah ihn an und versuchte sein bestes Lächeln herauszukramen, fand es aber auf Anhieb nicht. Das schien Hölzer in eine Art Alarmzustand versetzt zu haben, denn er schenkte Georg plötzlich einen sorgenvollen Blick.
„Georg, du siehst wirklich nicht besonders gut aus. Brütest du etwas aus? Und da an der Schläfe hast du …“
„Ja, ich weiß“, unterbrach Georg ruhig. „Irgendwie ist bei mir heute der Wurm drin.“ Er griff, trotz, dass ihm das Bedürfnis fehlte, nach seinem Latte Macchiato, nippte kurz daran und sah aus dem Fenster. Der Himmel war grau und verhangen, die Nachmittagsdämmerung setzte schon ein. Immer wieder wirbelten Laub und Unrat durch die Luft und er spürte das energische Rütteln des Windes an der Fensterscheibe. Alles war so schrecklich kompliziert und müßig heute. Sein Kopf fühlte sich seltsam schwammig an, als hätte er die ganze Nacht gesoffen. Das hatte er aber nicht. Der Filmriss war allerdings trotzdem da. Warum sonst konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er ins Bett gekommen war und vor allem, wie er sich diesen Kratzer an der Schläfe zugezogen hatte, der jedem ins Auge fiel? Er ließ seinen Blick wieder schweifen und blieb erneut an Marquard und Langenfeld hängen. Der Bauherr schrieb etwas auf einen Zettel und schob diesen Langenfeld zu. Georg war sich sicher, dass auf diesem Zettel etwas stehen musste, was Langenfelds Meinung zum Thema Versicherungsbetrug plötzlich ändern würde. Vielleicht ein beachtliches Sümmchen, vielleicht ein Sommerurlaub auf einer Finca im Süden, eine spezielle Automarke? Langenfeld schien jedenfalls das nächste Wort im Halse stecken zu bleiben, als er auf den Zettel blickte. Er starrte Marquard ungläubig an, dieser nickte, lächelte und reichte ihm dann die Hand. Wir knicken um, in drei, zwei, eins … Langenfeld schlug ein. Und wie auf Bestellung, - oder besser gesagt, um dieser Szene noch eine gewisse Form von Slapstick zu verleihen - ging plötzlich die Eingangstüre auf und herein traten zwei Personen in blauen Uniformen. Auf ihrem Rücken stand das unmissverständliche Wort POLIZEI.
Na, das ging aber schnell! Mit ihrem Auftauchen blickte auch der Sturm kurz vorbei. Ein kräftiger Windschub bahnte sich seinen Weg über den Eingangsbereich, durch die Garderobe, schreckte dort ein paar Zeitungen auf und wehte schließlich auch durch das Café, in Georgs Richtung. Er spürte den kalten Windhauch in seinem Gesicht und schloss die Augen. Und mit ihm schien sich auch das Schleierhafte, das Fadenscheinige und Unaussprechliche wieder Eintritt verschafft zu haben. Polizei – es wird ernst, Georg. Verblüfft und irritiert starrte Georg auf das mit ernster Miene dreinschauende Beamten-Duo von denen einer männlich und die andere weiblich war. Sie blickten sich suchend um. Georg sah bereits vor seinem inneren Auge wie die Handschellen sowohl bei Marquard als auch bei Langenfeld klickten.
Wir nehmen Sie fest, wegen des dringenden Tatverdachts auf Vorteilnahme, Betrug und Korruption. Mit diesem Gedanken im Kopf sah Georg in die erschrockenen Gesichter von Marquard und Langenfeld, die anscheinend genau diesen Gedanken mit ihm teilten. Mit offenen Mündern starrten sie die beiden Polizisten an und rechneten offensichtlich mit dem Schlimmsten. Die Polizistin trat als Erste auf die beiden Herren an der Garderobe zu, als kämen ihr diesen beiden Gauner gerade recht. Sie stellte Marquard eine Frage, woraufhin dieser vorsichtig nickte. Langenfeld war sich augenscheinlich sicher, dass er mit diesem Besuch nichts zu tun hatte, und verabschiedete sich mit einem flüchtigen Wink in Richtung der Toiletten. Na, da hat er wohl im wahrsten Sinne des Wortes Schiss gekriegt, was? Georg lächelte müde. Der zweite Polizist trat ebenfalls auf Marquard zu und sagte etwas direkt in sein Ohr.
„Was ist denn da los?“, bohrte Hölzer neugierig.
„Keine Ahnung!“, antwortete Finken. „Vielleicht haben die noch ein paar Fragen wegen der Schmiererei?“
„Das könnte sein.“
Georg gab sich währenddessen alle Mühe, etwas zu verstehen. Er hatte das Gefühl, als sei die Unterhaltung die Marquard mit den Polizisten führte auch für ihn von besonders großer Bedeutung. Immerhin ging hier etwas ganz gewaltig Seltsames vor sich. Auch er dachte an die blutige Botschaft an der Wand. Er gab seinen Tischnachbarn das Zeichen still zu sein und spitzte die Ohren, doch vergebens. Die Beamten hatten eindeutig mehr Übung ein Vieraugengespräch zu führen, Diskretion schien auf der Polizeischule ein Ausbildungsfach zu sein. Das Gespräch dauerte nicht lange und endete damit, dass Marquard kopfschüttelnd und mit deutlich weniger Farbe im Gesicht die Beamten verabschiedete. Und den Erwartungen zur Folge kam er ohne Umwege zurück an den Tisch. Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hektisch setzte er sich, fuhr sich nervös durch die Haare und rang nach Fassung.
„Das hat mir gerade noch gefehlt!“ Nun war es doch Georgs Neugierde, die ihn dazu trieb Marquard die richtige Frage zu stellen.
„Gibt es Ärger?“
„In der Tat. Ich kann es nicht fassen! Eine riesengroße Scheiße läuft hier. Ich bin mir sehr wohl im Klaren darüber, das dieses Bauprojekt nicht von jedem Bürger begrüßt wird und ich weiß auch, dass eine Bürgerinitiative alles mobilisiert hat, damit dieser Bau verhindert wird, aber das geht wirklich zu weit!“
„Was ist los?“, Hölzer sah ihn besorgt an.
„Da sich die Fälle von Sachbeschädigung in der letzten Zeit häufen, habe ich natürlich auch wegen der beschmierten Wand die Polizei verständigt. Die haben sich die Sache vorhin angesehen. Jetzt ist die Hölle losgebrochen. Die haben die ganze Baustelle abgeriegelt, niemand darf das Gelände mehr betreten. Ein Trupp mit Suchhunden ist bereits unterwegs.“
„Um Gotteswillen, warum?“, rief Finken und es lag ein Hauch Hysterie in seiner Stimme.
„Die Bullen haben so eine Art Schnelltest, bei dem sich herausgestellt hat, dass es kein Tierblut, sondern menschliches Blut ist. Und sie gehen davon aus, dass derjenige dem das Blut an der Wand und auf dem Boden gehört entweder ziemlich schwer verletzt oder gar tot sein muss.“
„Großer Gott, nein!“, flüsterte Hölzer und legte schockiert seine Hand auf den Mund. Auch Finken starrte Marquard fassungslos an und suchte nach den richtigen Worten. Georg wurde schlagartig schlecht. Irgendetwas in ihm brachte die Gewissheit, dass das Schreckliche, was hier möglicherweise passiert war, etwas mit ihm zu tun haben musste. Die Nachricht an der Wand war für ihn bestimmt, für ihn oder seine Frau, dessen war er sich sicher. Er hatte den Ernst der Lage unterschätzt. Das konnte kein Zufall sein. Er musste dringend Maria anrufen. Er musste sie anrufen, damit er ihre Stimme hören und sich sicher sein konnte, dass es ihr gut ging. Dann würde er ihr sagen, dass er in weniger als einer Stunde zu Hause sei. Er würde ihr alles erklären, sich wegen seines unangemessenen Verhaltens von gestern entschuldigen und sie dann vor allem Übel, das noch in diesem beschissenen Sturm lauerte, beschützen.
„Könnten Sie mich für einen Augenblick entschuldigen?“, unterbrach Georg das betretene Schweigen. „Ich würde gerne die Toilette aufsuchen.“ Marquard nickte verständnisvoll. Georg stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Saal. Er ging in die Richtung, in der auch Langenfeld verschwunden war. Durch eine Tür trat er auf einen schmalen Gang. Er blickte abwechselnd in beide Richtungen. Niemand war zu sehen. Und bis auf das monotone Gebrabbel von Stimmen der Angestellten in der Küche und dem stetigen Geklapper von Geschirr war alles ruhig. Nicht einmal der Wind war zu hören und das, obwohl Fiona dort draußen mit jeder Stunde immer mächtiger wütete. Nervös nestelte er sein Handy aus seiner Hosentasche und wählte Marias Nummer. Er wartete geduldig und legte sich schon die Worte zurecht, die er sagen wollte, wenn er ihre Stimme hörte. Erwartungsvoll lauschte er dem monotonen Klingeln entgegen.
„Los, Maria, geh schon ran!“, flüsterte er nervös. Er ließ es lange klingeln, sehnte sich Marias Stimme herbei. Doch nichts geschah. Er versuchte, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber auch dort ging sie nicht ran. Verdammt, wo steckt sie nur? Hinter ihm wurde eine Türe geöffnet und jemand trat auf den Flur. Vielleicht ein Bediensteter oder ein anderer Gast, der zur Toilette wollte. Langsame Schritte. Es klang wie das übliche dumpfe Stampfen, wenn Sneakers auf Filzboden trafen. Er stutzte. Nein, falsch! Es klang nicht wie Sneakers. Es klang vielmehr nach schweren Stiefeln, die an großen Füßen hafteten und die ihm mit immer schneller werden Schritten folgten. Ein Geräusch, das ihn in den letzten Tagen immer wieder dazu brachte, sich verfolgt zu fühlen – das Ding, es ist wieder hinter dir her! Hastig drehte er sich um. Zu seiner Überraschung konnte er niemanden entdecken. Er blieb stehen und lauschte. Nichts war zu hören. Keine Schritte, kein Verfolger. Entweder hatte dieser sich in Lichtgeschwindigkeit hinter einer weiteren Türe versteckt oder aber: Du hast sie nicht mehr alle!, spotteten seine Gedanken.
Genau!, dachte Georg. Alles ist in bester Ordnung, denn alles ist so wie immer - mein Gehirn spielt mir nur wieder einen Streich. Er lief weiter, beschleunigte seine Schritte und prompt setzte sein Verfolger wieder mit ein. Ein Blick über die Schulter erinnerte ihn daran, sich nicht so eine blöde Scheiße einzubilden. Ich sollte mich beruhigen! Da ist nichts, redete er auf sich ein. Niemand hat es auf meine Schäfchen abgesehen und niemand wird versuchen mir mein Glück zu nehmen!
DOCH!, antwortete die vertraute Stimme irgendwo in seinem Kopf und irgendwie war er plötzlich froh, dass sie da war. Die Tür zu den Toiletten war nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Wie ein Tier auf der Flucht vor seinem Jäger hechtete er den Nassräumen entgegen, in der Hoffnung, dort die Sicherheit wieder zu finden, die ihm immer mehr abhandenkam. Er erreichte die Tür und erschrak, als Langenfeld ihm fast ungebremst in die Arme stolperte. Er entschuldigte sich kurz, ging dann allerdings kommentarlos an ihm vorbei. Georg huschte in den Waschraum, doch erst als die Tür ins Schloss fiel und er sich wirklich sicher sein konnte, dass ihm niemand in die Toilettenräume gefolgt war, fiel die unerträgliche Anspannung, die vielmehr dem Begriff „Angst“ sehr nahe kam, von ihm ab.
„Verdammt, was ist nur los mit mir“, flüsterte er. Dann warf er einen prüfenden Blick in den Spiegel und bemerkte, dass er tatsächlich nicht nur schlecht, sondern regelrecht beschissen aussah. Tiefe Falten hatten sich auf Stirn und Augenpartie gelegt und die dunklen Ringe unter seinen Augen verrieten mehr über die letzten Tage als ihm lieb war. Vielleicht nur eine Erkältung, dachte er, merkte aber gleichzeitig, dass ein Teil von ihm ein eindeutiges Veto gegen diese Vermutung einlegte. Von wegen Erkältung – du verlierst deinen Verstand! Er drehte den Hahn auf und klatschte sich eine Hand kaltes Wasser ins Gesicht. Er stellte überrascht fest, dass es ihm gut tat, und wiederholte diesen Erfrischungsvorgang noch ein weiteres Mal. Auf der Suche nach einem Papierhandtuch tastete er halb blind die Wand zu seiner Rechten ab. Den Schatten, der plötzlich dicht hinter seinem Rücken auftauchte, hatte er nicht nur gespürt, sondern auch gesehen. Aus dem Augenwinkel hatte er beobachtet, wie er an ihm vorbei huschte und in einer der Toilettenkabinen verschwand. Lautlos und spurlos, wie auch all die anderen Schatten, die ihn seit Tagen verfolgten und wie sie auch auf der Baustelle auf ihn gelauert hatten. Für einen kurzen Augenblick hatte er darüber nachgedacht, der Sache auf den Grund zu gehen und eine Toilettentür nach der anderen mit einem gezielten Tritt zu überprüfen. Doch er tat es nicht. Er starrte über den Spiegel in den Raum, gefasst auf das Unerwartete. Angst nagte in seiner Brust und schnürte ihm die Kehle zu. Georg schluckte und er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen.
Hör zu!, rief die Stimme in seinem Kopf mahnend. In wenigen Augenblicken werden auf der Baustelle die Suchhunde anschlagen. Sie werden eine männliche Leiche finden. Es ist zu gefährlich hier. Hau ab und bringe dich in Sicherheit! Der Jäger mit seiner Meute ist wieder hinter dir her… Georg atmete schwer. Wasser perlte von seinem Gesicht, tropfte auf Kleidung und Boden. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, dachte er und versuchte sich mit aller Gewalt zu beruhigen. Als er ein weiteres Mal in den Spiegel sah, starrten ihn zwei fast schwarze Augen aus einem finsteren Gesicht an, das sich mit Georgs Spiegelbild zu einer grässlichen Fratze vereinte.
„Wirst du jetzt endlich tun was ich dir sage, du kleiner erbärmlicher Hosenscheißer?“, brüllte die Gestalt im Spiegel. „Oder soll ich dir den Bauch aufschlitzen?“ Georg fuhr herum und starrte erschrocken in das freundliche Lächeln von Guido Hölzer.
„Himmel, hast du mich erschreckt!“
„Entschuldige, das wollte ich nicht. Ich fragte, ob alles in Ordnung mit dir ist?“, Hölzer schenkte ihm einen sorgenvollen Blick. Hastig riss Georg mehrere Papiertücher aus dem Spender, trocknete sich das Gesicht. Er wagte es nicht, noch ein weiteres Mal in den Spiegel zu sehen.
„Du bist nicht wieder zurückgekommen und ich dachte, ich sehe kurz nach dir. Außerdem wollte ich dir sagen, dass wir aus gegebenem Anlass beschlossen haben, für heute Feierabend zu machen. Wir sind ja auch schon fast durch und den Rest können wir die Tage besprechen, wenn hier wieder Ruhe eingekehrt und diese schreckliche Sache aufgeklärt ist. Fahr nach Hause.“
„Ja, das werde ich tun“, sagte Georg halblaut. „Ich werde nach Hause fahren und darauf hoffen, dass hier alles wieder in Ordnung kommt und alles so wie immer sein wird.“ Er ging seufzend an Hölzer vorbei und verließ mit einem kurzen Wink den Waschraum.
„Gute Besserung!“, rief Hölzer ihm noch hinterher. Und als die Türe hinter ihm ins Schloss fiel, war ihm, als müsste er seinen Kopf gegen eine Wand schlagen, um all diesen Irrsinn wieder loszuwerden. Der Jäger mit seiner Meute ist hinter mir her? Was hat das zu bedeuten? Er verließ, ohne sich von Marquard und dem Rest zu verabschieden, das Café und eilte zu seinem Wagen. Diesen hatte er unmittelbar an der Baustelle der Rheinarkaden geparkt. Der knapp dreihundert Meter lange Fußweg war kalt, nass und unangenehm. Es hatte den Anschein, als hätte der Sonnenuntergang seinen Auftritt vorgezogen. Der Orkan hatte inzwischen die Herrschaft über das komplette Gebiet übernommen und vollzog mit einem Heer aus unsichtbaren Kämpfern seinen Schlachtzug. Unzählige Böen begleiteten ihn auf seiner Wegstrecke zu seinem Wagen ebenso lautstark, wie mehrere Polizeistreifen mit Blaulicht und Krankenwagen mit Martinshorn. Und mit jedem weiteren Wagen, der an ihm vorbeirauschte und auf das Gelände der Baustelle zusteuerte, wuchs in ihm die Angst vor dem, was passiert war, noch mehr vor dem, was noch alles passieren könnte. Er hatte nur noch einen Gedanken: Er musste nach Hause zu Maria.
Nihil fit sine causa - nichts geschieht ohne Grund, erklang irgendwo eine Stimme, die allerdings in diesem Fall ganz nach seiner eigenen klang.
„Halt die Fresse! Halt einfach die Fresse und lass mich in Ruhe“, gab er ihr lautstark zur Antwort.
Im Anschluss wusste er nicht mehr, wie lange er sich und seinen Wagen durch die stürmische und regennasse Dunkelheit quälte, ohne überhaupt nur annähernd an sein Ziel zu gelangen. Die letzte gefährlich wankende Straßenlaterne hatte er vor mehr als einer viertel Stunde in Bad Honnef passiert. Das war kurz nachdem er noch einer vorbeiwehenden Mülltonne ausgewichen war. Aber immerhin wusste er nach diesem waghalsigen Ausweichmanöver, welchen Sinn und Zweck eine solch ausgeklügelte Erfindung wie ein Antiblockiersystem erfüllte und auch, vor was es ihn möglicherweise bewahrt hatte. Allerdings konnte er sich seitdem auch gut vorstellen, was seine E-Klasse alles nicht konnte. Immer wieder blickte er sorgenvoll auf die dunklen Silhouetten der Bäume, die jenseits der Fahrbahn tapfer gegen die Naturgewalt kämpften. Majestätische Buchen bogen sich bis zum Äußersten und die schemenhaften Skelette der Birken, die mit ihren dünnen Stämmen um Hilfe klapperten, hielten sich aneinander fest, um nicht doch noch wie Streichhölzer abzuknicken. Er war sich sicher: Egal, ob ABS oder Spurhalteassistent - er hatte die besten Aussichten hier und heute in echte Schwierigkeiten zu geraten. Die Uhr auf dem Bordcomputer zeigte 18.07 Uhr. Viel später, als er geplant hatte.
Hoffentlich nicht zu spät, dachte Georg nervös. Er wollte nach Hause und das auf dem schnellsten Wege. Er wollte in die Wiesenstraße lenken, vor dem großen Haus mit der Nummer 13 parken, ins Haus eilen, um dort Maria in den Arm zu nehmen. Er würde sie fest an sich drücken und sagen:
Hey Baby, alles ist in bester Ordnung, denn alles ist so wie immer. Und sie würde ihm ein Ich liebe Dich! entgegenhauchen, bevor sie in die Küche eilte, um sein Lieblingsessen für ihn zu kochen. Vielleicht würden sie im Anschluss noch gemeinsam einen Wein trinken, reden und Sex haben. Sie hatten schon lange nicht mehr miteinander geschlafen. Warum eigentlich? Weil du ein Schlappschwanz und ohnehin kein richtiger Mann bist!, sagte die vertraute Stimme durch den Schleier. Er widersprach. Stress! Wir hatten beide wenig Zeit und viel zu viel Stress, da kann das schon mal auf der Strecke bleiben. Wie so vieles auf der Strecke bleiben kann, wenn… aber jetzt war alles in bester Ordnung! Es ist doch alles in bester Ordnung, Maria?
Nein! Dieser Sturm machte ihm einen gehörigen Strich durch seine Alles-ist-so-wie-immer-Rechnung. Die Ordnung, seine Ordnung war erheblich gestört und er fühlte sich nicht mehr sicher. Er befand sich auf irgendeiner beschissenen Landstraße weit weg von Maria und er konnte nichts dagegen tun. Und Lizzy – so nannte er liebevoll die weibliche Stimme seines Navigationssystems - behauptete zwar, dass er schon knapp 25 Kilometer südlich von Bonn entfernt war, aber dennoch schien diese verfluchte Straße ihn keinen Meter weiter an sein Ziel zu bringen. Lizzy lotste ihn schon seit einer knappen Dreiviertelstunde bereitwillig durch das unüberschaubare Chaos an gesperrten und unpassierbaren Straßen und hatte am Ende doch immer wieder aufs Neue die Route geändert. Mittlerweile waren wegen Sturmschäden und umgestürzter Lastwagen sämtliche Autobahnen und Bundesstraßen voll gesperrt. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als der lieblichen Stimme aus der Mitte seines Bordcomputers zu folgen, die ihn via GPS immer mit dem neusten Stand versorgte. Und laut neustem Stand war diese gottverlassene Straße der einzige Weg, die ihn sicher und staufrei nach Bad Hönningen führen sollte. Doch mit jedem weiteren Kilometer durch diese Einöde zweifelte er an Lizzys Spürsinn für sinnvolle Umleitungen. Und er war sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie auch diese Strecke für jeglichen Verkehr sperrten. Vielleicht hatte die Feuerwehr auch diese Straße in dem Augenblick dicht gemacht, als seine Rücklichter gerade in diesem Tor zur Hölle verschwanden? Wie auf der Achterbahn kurz vor der Parkschließung.
Letzte Runde, letzte Fahrt! Noch einmal die Arschbacken zusammenkneifen und dann ENDE! Bei einer Achterbahnfahrt kam man an besagtem ENDE aber in der Regel wieder an dem Punkt an, von dem auch gestartet wurde. Wo er nach dieser Fahrt ankommen würde und ob er überhaupt irgendwo ankam würde, das wusste nur der Sturm. Die Steigung hatte inzwischen stark zugenommen und auch der Verlauf schlängelte sich in gefährlichen Serpentinen und einer unheimlichen Finsternis das Siebengebirge hinauf. Die Geschwindigkeit war überall auf 50 km/h begrenzt, manchmal sogar nur 40 km/h und die unzähligen Kreuze am Straßenrand ließen erahnen, warum das der Fall war. Der Tod schien sich auf dieser Straße eine goldene Nase zu verdienen, denn die Möglichkeiten hier den Löffel abzugeben waren nahezu unbegrenzt. Doch Georg wollte bei Weitem nicht ins Gras beißen, allerdings wollte er sich auch nicht dem wetterbedingt geforderten Schritttempo anpassen.
„Willkommen im Land der Geschwindigkeitsbegrenzungen und der Einsamkeit“, knurrte er kapitulierend und blickte auf die Straße. Die Sicht wurde immer schlechter. Die Scheibenwischer quietschten, die aufgepeitschten Wassermassen trommelten im Takt auf die Windschutzscheibe und über allem lag das sopranistische Zusammenspiel von Wind und Türdichtungen. Es war ein merkwürdiges, fast schon unheimliches Konzert und er hätte es gerne mit einer Handbewegung einfach abgeschaltet, so wie er es oft mit Dingen tat, die ihn störten. Ja, es war so einfach, unangenehme Dinge mit einem Schalter zum Schweigen zu bringen. Die Kunst des Abschaltens, die dafür sorgte, dass man lästigen Situationen und auch Konversationen völlig unkompliziert aus dem Weg gehen konnte. Ein Telefongespräch ließ sich hierbei noch am einfachsten beenden. Er hatte gestern und auch heute schon einige unliebsame Anrufer einfach weggedrückt und sogar mehrmals per Knopfdruck, mit dem Vorwand schlechten Empfang zu haben, zum Schweigen gebracht. Auch Iris, seine langjährige Sekretärin staunte nicht schlecht, als er heute Morgen, bevor er auf die Baustelle fuhr, die Fahrstuhltür mit einer Handbewegung lächelnd zum Schließen brachte, noch bevor sie die wichtigen Akten mit einem schrillen Herr Blumenfeld, Herr Blumenfeld, Sie müssen doch hier noch… durch den Spalt schieben konnte. Ich? Pardon! Ich muss gar nichts! Nein, nach diesem merkwürdigen Tag stand definitiv nichts mehr auf seiner Georg-Muss-Agenda, außer, dass er nach Hause zu Maria musste, um sie zu beschützen. Ja, das war etwas, was er wirklich und mit aller Dringlichkeit musste. Sie schützen vor diesem anderen, diesem neuen Ding, dass ihm diese morbide Botschaft geschickt hatte, für die im schlimmsten Fall sogar jemand sein Leben lassen musste. Was war, wenn tatsächlich Joachim Päler hinter all dem steckte? Und es war mehr als nur anzunehmen, dass er eine Menge Dreck am Stecken hatte – auch was Maria betraf. Verdammt, ich hätte mit der Polizei sprechen müssen!, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Ich hätte ihnen sagen müssen, dass die blutige Botschaft an der Wand mit mir und Maria in Verbindung steht. Sie hätten Maßnahmen ergreifen können, um Maria zu beschützen, bevor er da war.
Er schaltete das Radio ein, in der Hoffnung irgendwo die letzten Nachrichten zu erwischen und wurde prompt fündig. Vielleicht kam zwischen den ganzen Meldungen rund um den Sturm auch etwas über einen möglichen Toten von der Rheinarkaden-Baustelle? Er lauschte. Doch KFM Moderator Hansen sprach nur ungewöhnlich ernst von dem Ausnahmezustand, der von Feuerwehr und THW beklagt wurde. Die Zwischenbilanz des Unwetters – was laut Wetterdienst bis gestern nur die Vorläufer von Orkan „Fiona“ gewesen waren - lautete zu diesem Zeitpunkt: sieben Todesopfer, Sachschäden in Millionenhöhe und tausende, umgestürzte Bäume. Wie viele davon hier in dieser Gegend dem Orkan zum Opfer gefallen waren und wie viele in dieser Nacht noch fallen würden, wusste niemand. Und scheinbar wusste auch noch niemand von einem schrecklichen Ereignis auf einer Bonner Baustelle. Vielleicht haben sie sich ja auch geirrt und nichts und niemand ist zu Schaden gekommen?
Der Sturm hatte inzwischen erneut Anlauf genommen und donnerte seinem Mercedes nun mit umherfliegenden Blättern, Ästen und einem erbarmungslosen Starkregen entgegen.
„So, ihr Lieben, ihr habt es ja gehört! Örtlich müssen wir uns hier auf Böen von über 200 Kilometern pro Stunde gefasst machen. Es ist also nicht auszuschließen, dass es auch heute Nacht wieder eine Menge Bäume erwischen wird. Und damit es euch nicht auch erwischt, ist von kuscheligen Nachtspaziergängen und Schäferstündchen im Wald dringend abzuraten. Polizei und Feuerwehr bitten, es möglichst zu vermeiden, sich im Freien aufzuhalten. Mit anderen Worten: Sich bei diesem Wetter in einem Wald aufzuhalten ist eine schlechte, eine sehr schlechte, sogar eine verdammt schlechte, wenn nicht sogar die dümmste Idee ...“
„Sehr witzig“, zischte Georg. Er war angespannt. Lizzy zeigte einen kleinen Fortschritt, aber es waren immer noch knapp 10 Kilometer, bis er aus dieser Hölle herauskommen und wieder zivilisierten Grund befahren würde. Immer wieder wurde der Wagen von heftigen Windböen durchgeschüttelt. Wie unsichtbare Hände, die erst mit ihm spielen wollten, um ihn dann in einem hohen Bogen von der Straße zu schleudern. Sich bei diesem Wetter in einem Wald aufzuhalten ist eine schlechte, eine sehr schlechte, sogar eine verdammt schlechte, wenn nicht sogar die dümmste Idee... Immer wieder musste er auf die Gegenfahrbahn lenken, um herumliegenden Ästen auszuweichen, die an Größe und Gewicht deutlich zugenommen hatten. Der Gegenverkehr ließ immer noch auf sich warten. Zum Glück, dachte Georg. Auf eine unliebsame Kollision stand ihm am wenigsten der Sinn. Dennoch kam es ihm komisch vor. Ihm war schon seit etlicher Zeit kein weiteres Fahrzeug mehr begegnet, weder kam ihm gelegentlich ein weiterer Fahrer entgegen, noch folgte ihm ein Auto. Er blickte noch einmal prüfend in den Rückspiegel. Keine Scheinwerfer, keine Menschenseele. Hier gab es nichts. Nichts, außer Dunkelheit, mörderische Serpentinen, ein Meer aus Warnschildern und eine Straße mit Ästen übersät. Trümmer einer Schlacht, die der Orkan vor drei Tagen angezettelt hatte und in der heutigen Nacht wohl auch siegreich zu Ende bringen wollte. KFM Moderator Hansen war inzwischen wieder zum musikalischen Teil seiner Sendung übergegangen und spielte gerade den Song Africa von Toto. Das Lied sollte allen Hörern die Portion gute Laune wiederbringen, die „Fiona“ durch die aktuellen Staumeldungen weggeblasen hatte – so oder so ähnlich rechtfertigte Hansen jedenfalls seine Musikwahl. Idiot!, dachte Georg. In dem Song segnen sie den Regen und heißen ihn willkommen - konnte Hansen kein Englisch? Der Song riss ihn, trotz Hansens katastrophaler Fehlinterpretation, kurzzeitig aus seiner Anspannung. Er mochte das Lied und drehte die Lautstärke höher. Toto war wesentlich angenehmer als dieses bedrohliche Pfeifen aus den Türdichtungen, auch besser als quälende Gedanken an Maria und sogar allemal besser als das wachsende Gefühl, dass gerade etwas ganz gewaltig falsch läuft in seinem Leben. Zeitgleich holte der Sturm erneut aus und verwandelte die Straße in einen Parcours des Schreckens. Er zuckte erschrocken zusammen, als ein Geschoss aus Ästen und Zapfen die Windschutzscheibe traf. Es folgten abgerissene Zweige, die auf die Haube krachten oder sich knirschend im Radkasten verfingen. Er war sich sicher, sie würden auf dem Lack die eine oder andere unschöne Beule hinterlassen. Seit sechs Monaten war dieser Wagen, ein Mercedes E 350 CDi, T-Modell, sein ganzer Stolz. Kein Leasing, keine Finanzierung. Er hatte ihn bar bezahlt, weil er es konnte. Und es gab deshalb sogar einen Schlüsselanhänger gratis. Einen mit LED-Funktion und einem Einkaufswagen-Chip in Mercedes Stern Form. Thank you for the nice shit!
Die Jungs von Toto sangen immer noch über Regen und andere existenzielle Probleme und Georg kämpfte gegen beides. Er spürte, wie langsam die Wut in ihm hochkroch. Und dieses wachsende Gefühl schien sich mit jeder weiteren Sekunde, in der er seinen Mercedes die engen Kurven des Annatals hinauf jagte, noch um ein Quäntchen zu steigern. Er wollte doch nur nach Hause. Mit fieberhafter Aufmerksamkeit klebte er an der Scheibe in der Hoffnung, der schlechten Sicht und umherfliegenden Blättern irgendwie trotzen zu können. Seine Scheibenwischer gaben sich alle Mühe, aber gegen solch eine Konstellation, konnten auch sie nicht viel ausrichten. Doch ganz plötzlich und unverhofft gaben sie den Blick auf einen schwachen Lichtfleck frei. Verschwommen und undefinierbar näherte sich der helle Schein und entpuppte sich schließlich als eindeutiges Zeichen menschlicher Zivilisation. Vielleicht eine Wohnsiedlung? Fragend blickte er auf Lizzys Bildschirm, doch hier war kein Ort und auch keine weitere Straße zu sehen. Das, was dort unmittelbar vor ihm lag, ließ sich zumindest nicht in digitaler Form zuordnen. Die seltsame Lichtquelle manifestierte sich schließlich immer mehr zu einem Meer aus Lampen und Lichtern. Im Vorbeifahren starrte er ungläubig auf das Gebäude, das sich langsam neben der Straße aufbäumte und mit jedem weiteren Meter seine unheimliche Pracht entfaltete. Es war ein altes Fachwerkhaus, anno irgendwann zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert. Als Architekt kannte er sich mit alten Gemäuern und Gebäuden bestens aus. Und hier hatte der Besitzer offenbar mit viel Liebe zum Detail restauriert, denn es machte nicht den Eindruck als hätten die Zeichen der Zeit in den letzten 400 Jahren irgendetwas ausrichten können. Die Fenster waren mit Läden verriegelt, offenbar wollte man auch hier den Sturm mit aller Kraft draußen lassen. Der Vorhof und auch die Eingangstür waren mit Laternen beleuchtet, die aufgeregt und vom Wind angepeitscht hin und her schwankten. Auf dem Giebel thronte ein majestätisches Hirschgeweih. Es bewachte das große Schild, welches von beiden Seiten mit kräftigen Strahlern angeleuchtet wurde. Georg gab sich alle Mühe, trotz schlechter Sicht die Aufschrift zu lesen. PENSION ZUM ALTEN JAGDHAUS, er stutzte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dieses Haus schon einmal irgendwo gesehen zu haben, allerdings war er sich auch sicher, dass er noch nie diese Strecke genommen hatte. Vielleicht auf einem Foto in einer Zeitung? Im Internet? Er ließ den Schauer zu, der ihm schon seit dem ersten Blickkontakt über die Schulter kriechen wollte. Der Anblick des Hauses löste in ihm ein Gefühl der Beklemmung aus. Wieso stand hier inmitten dieser Einöde ein solches Haus? Wer um alles in der Welt würde sich hier ein Zimmer nehmen wollen? Die Antwort kam wie von selbst: Jäger, Wanderer, Naturliebhaber, Durchreisende, Schiffbrüchige, vielleicht sogar Ehebrecher und vermutlich auch Schwangere! Er ignorierte die letzte Botschaft seines Hirns und kam zu der Auffassung, dass es wahrscheinlich sogar genügend Menschen gab, die eine wahre Wonne empfinden würden, hier, in solch einem historischen Anwesen, zu nächtigen. Und irgendwie konnte er es verstehen. Denn auch, wenn dieses Gebäude eine tief verankerte Abneigung in ihm auslöste, fesselte es ihn. Es hatte den Anschein, als würde das Haus ihn auf eine seltsame Art und Weise mit seinen Lichtblicken in der Dunkelheit zuwinken. Wie ein alter Freund, der ihn auf einen Plausch, auf ein oder zwei Drinks einladen wollte. Für einen kurzen Augenblick dachte er darüber nach, diese Einladung dankend anzunehmen, doch dann siegte wieder der tiefe Wunsch, nach diesem unsagbar schlechten Tag einfach nur nach Hause zu kommen. Er hatte Maria in den letzten zwei Stunden immer wieder versucht anzurufen, ohne sie jedoch erreichen zu können. Ob sie immer noch böse auf ihn war und deshalb nicht ans Telefon ging? Mit diesem Gedanken fuhr er an dem Anwesen vorbei und beobachtete im Rückspiegel, wie die Lichter immer kleiner wurden. Schließlich verschwand die Pension hinter der nächsten Kurve. Inzwischen hatte Hansen eine weitere Platte aus den 80ern aufgelegt und untermalte seine Mischung aus Synthiepop und Reggaetönen nach wie vor mit weiteren schlechten Scherzen und angeschwärztem Sarkasmus.
„Fragt der eine Nachbar den anderen: Sag mal, hat der Sturm auch dein Dach beschädigt? Sagt der andere: „Keine Ahnung, ich habe es noch nicht gefunden!“ Langsam begann Hansen, ihm auf die Nerven zu gehen. Er war so ungehalten und so nervös und das Übel, was ihn schon seit Tagen verfolgte und immer wieder in seinen Kopf kroch, wollte einfach nicht von ihm ablassen. Und wer war schuld? Die Antwort war so plausibel wie einfach. Der oder die Schuldige war Fiona. Sie war einfach willkürlich und ohne ersichtlichen Grund – von den meteorologischen Bedingungen des Entstehens abgesehen aufgezogen und hatte noch viel willkürlicher ihn und alles um ihn herum vollkommen durcheinander geworfen. Vielleicht hatte sie sogar sein Leben in einen unaufhaltsamen und zerstörerischen Wirbelsturm verwandelt? Und vor allem hinderte sie ihn daran, endlich nach Hause zu kommen. Er dachte wieder daran, wie einfach es doch war, all die Dinge, die störten, nervten oder einem über den Kopf wuchsen, einfach auszuschalten. Es war sogar möglich Menschen auszuschalten. Vielleicht sogar Päler? Wieso nicht auch einen Sturm? Fiona sollte endlich damit aufhören, alles zu zerstören. Bevor sie kam, war alles in bester Ordnung. Jetzt war alles so schrecklich durcheinander.
„FUCK YOU, FIONA!“, rief er laut. „FUCK YOU!“ Und auch, wenn ein Teil von ihm sich in diesem Augenblick vor Schreck weit in den hintersten Teil seiner Seele versteckte und sich fragte, was plötzlich in den alten Georg Blumenfeld gefahren war, dass dieser so derartig unreif die Fassung verlor, fand ein anderer Teil genau diese Einlage amüsant. Hatte er gerade wirklich Fuck you! gesagt? Eben das Vokabular, das in der heutigen Jugend offenbar zur Muttersprache gehörte und was er in keiner Weise für gut heißen konnte? Ja, du hast Fuck you gesagt, Blumenfeld! Und es fühlt sich gut und richtig an, nicht wahr? Es fing mit einem leisen Kichern an und steigerte sich dann langsam in ein lautes Lachen. Das Lachen schwoll an und kippte schließlich in schallendes Gelächter. Doch Georg lachte nicht. Es war vielmehr der Hilferuf seines Verstandes, der ihn brutal daran zu erinnern versuchte, dass er nichts zu Lachen hatte, weil er mit seiner Schuldigen-Theorie verdammt falsch lag.
„Ich erobere jede Frau im Sturm – was macht ihr so gerade?“, sagte Hansen und er konnte sein breites Grinsen förmlich durch das Radio hören. Dieser idiotische Moderator hatte gut reden. Er saß hinter den schützenden Mauern eines Kölner Radiosenders, trank gerade einen heißen Kaffee, einen Cappuccino mit Keks oder was ihm sonst noch von seinen gut aussehenden Praktikantinnen ins Studio gereicht wurde. Wer weiß, vielleicht massierten ihm diese ja auch gerade den Nacken oder andere von seiner Arbeit stark beanspruchte Körperteile? Was immer Hansen auch gerade tat, er konnte dabei entspannt die Füße hochlegen, sich während seiner musikalischen Redepausen seelenruhig in der Nase bohren und sich neue Frechheiten ausdenken, die er dann der vom Sturm geplagten Menschheit dort draußen verkünden konnte. Ja, Hansen saß mit seinem fetten Arsch auf sicherem Terrain, während er durch eine Hölle irrte, verfolgt von einem Ding, was ihm und seiner Frau an den Kragen wollte.
„Und wer weiß … während du gerade irgendwo durch die stürmische Pampa fährst, erobere ich vielleicht auch gerade deine Frau…“
„HALT`S MAUL!“ Georg donnerte seine Faust in Richtung Radio, in der Hoffnung dabei den Ausschalter zu treffen. Er verfehlte ihn knapp. Dafür traf er die Halterung seines Handys, die sein Telefon auch bereitwillig freigab und dafür sorgte, dass sein Samsung beleidigt im Fußraum der Beifahrerseite liegen blieb. Verdammt! Selbst erschrocken über diesen Ausbruch zwang er sich gewaltsam zur Ruhe.
„Kein Problem, ich hab alles im Griff“, sagte er halblaut und ignorierte dabei seine zitternden Hände, die sich immer mehr am Lenkrad festkrallten, so als könnten sie sich nur dadurch in Schach halten. Er war Georg Blumenfeld, der immer alles unter Kontrolle und der zu jedem noch so großen Hindernis die richtige Lösung hatte. Aber jetzt hatte er Angst. Und dass er Angst hatte, machte alles noch gefährlicher und heimtückischer, als es ohnehin schon war. Plötzlich spürte er den starken Drang, jemanden anzurufen. Irgendjemanden, ganz egal wen. Hauptsache dieser jemand würde ihn davon abhalten, noch weiter den Verstand zu verlieren. Vielleicht sollte er noch ein weiteres Mal versuchen, Maria zu erreichen? Oder Päler? Ja, genau, Päler! Die linke Ratte, sein Schäfchenjäger, sein bester Freund? Ja, er würde ihn anrufen und sagen: Hey Joachim, wo hast du vorhin gesteckt? Eigentlich wollte ich nur noch mal fragen, ob dieser verklemmte Gutachter seine Berechnungen inzwischen gefaxt hat? Und Päler würde wahrscheinlich darauf sagen: Nein, der berechnet wohl gerade noch seine Sekretärin! Und Georg würde lachen und irgendetwas Passendes darauf antworten. Und dann würde Päler vielleicht fragen: Wo bist du? Es rauscht so in der Leitung! Und er würde antworten: Ich umfahre gerade einen dicken Fiona-Stau und befinde mich am Arsch der Welt! Und er würde sagen: Ach herrje! Vielleicht würde er auch sagen: Ach du Scheiße! Was immer Päler auch von sich geben würde, es würde ihm zumindest das Stück Sicherheit wieder geben, was er inzwischen gänzlich verloren hatte. Der Drang Päler anzurufen, wurde schier unerträglich. Ein einziger Anruf und alles wäre wieder in Ordnung. Ein kleiner verfluchter Anruf und er könnte sich wieder sicher fühlen. Aber diese Sicherheit schien ihm sein Handy nicht gönnen zu wollen, denn es streikte nach wie vor mit Unerreichbarkeit im Fußraum.
„Scheiße!“ Instinktiv streckte er seinen rechten Arm aus, in der Hoffnung sein Handy mit einem Griff wieder in den Händen halten zu können.
„Na los schon, ich krieg dich!“ Er lehnte sich noch weiter auf die Beifahrerseite. Seine Fingerkuppen berührten das kalte Metall und packten schließlich zu. Er hatte das einzige Tor zu Außenwelt sicher in den Händen. Triumphierend richtete er seinen Blick wieder nach vorne und erstarrte. Das reflektierende Gelb eines Regenmantels war das Erste, was er im Licht seiner Scheinwerfer aufblitzen sah, die gelben Regenstiefel das Zweite. In dem Moment, als die Person auf der Straße den Kopf in seine Richtung drehte und ihm direkt ins Gesicht sah, stieß er einen endlos scheinenden Schrei aus. Dann trat er mit aller Kraft auf die Bremse und schloss die Augen. Ein dumpfer Schlag, ein Poltern, ein Ruckeln. Er spürte, wie sich der Wagen von der Straße hob, als würde er auf einer großen Welle reiten, die ihn nur ungern wieder loslassen wollte. Dann ein ohrenbetäubendes Krachen, Glas splitterte, Metall zerbarst und verbog sich mit einem ächzenden Stöhnen. Irgendetwas peitschte in sein Gesicht und er nahm den Geruch von Benzin wahr, vermischt mit dem Duft einer frisch gefällten, harzenden Tanne. Der Wagen heulte noch ein letztes Mal auf, bevor der Motor schließlich verstummte und zum Stehen kam.
„Wenn möglich, bitte wenden“, sagte Lizzy freundlich, dann herrschte gespenstische Stille. Stille die sanft mit den Klängen aus den Lautsprechern untermalt wurde. Aus dem Radio ertönte dumpf Céline Dion – My Heart Will Go On. Es war ihr Lied und es nahm ihn sanft an die Hand, begleitete ihn in die unabwendbare Bewusstlosigkeit und führte ihn auf magische Weise zurück an den Ort, an dem er sich vor fünfzehn Jahren so wohlgefühlt hatte. Es war eine kleine Studentenwohnung in der Kölner Innenstadt. Hier hatte er sein erstes Date mit Maria.
Die Gewissheit, dass er lässig und entspannt aussah, verabschiedete sich in dem Augenblick, als Georg sein Spiegelbild im Fenster vor sich erblickte. Das Küchenfenster, das eigentlich nur einen Blick in die tiefschwarze Dunkelheit eines Januarabends zu bieten hatte, brachte in Verbindung mit der hellen Deckenleuchte seinen wahrhaftigen Zustand deutlich zum Vorschein. Ein beschämtes Zucken ging durch sein Gesicht, denn von diesem Blickwinkel aus gesehen, sah er alles andere als lässig aus. Er glich eher einem verkrampften, englischen Grenadier Guard, den man seit Stunden den Gang zur Toilette verwehrte.
Nimm gefälligst Haltung an!, sagte das verzerrte Abbild seiner selbst und er folgte diesem Befehl, ohne zu zögern. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte eine Schulter an den Türrahmen. Aber der kurze Blick in das Spiegelbild im Fenster verriet ihm, dass ihn das auch nicht viel ansehnlicher machte. Schließlich schob er seine nervösen und feuchten Hände in die Hosentasche und fand, dass sie dort am besten aufgehoben waren. Jedenfalls so lange, bis sie aufhörten zu zittern. Dann beobachtete er Maria aufmerksam, wie sie Schachteln und durchsichtige Behälter mit seltsam aussehendem Inhalt aus einer Tüte auf den Tisch packte. Er konnte es immer noch nicht ganz glauben, dass er tatsächlich in der Küche einer Frau stand, von der er nie zu glauben gewagt hatte, dass er überhaupt jemals ein Date mir ihr haben würde. Er hatte ohnehin noch nie ein Date gehabt. Frauen waren einfach nicht sein Ding, was allerdings nichts mit seiner grundlegenden sexuellen Einstellung zu tun hatte – er war mit Leib und Seele heterosexuell -, sondern vielmehr mit der Schwierigkeit die Angst zu überwinden, auf Ablehnung zu stoßen. Er war nicht nur zu schüchtern, sondern hatte auch nach wenigen gescheiterten Versuchen den Glauben an die Liebe verloren. Auch ihr erstes Zusammentreffen war wackelig und unbeholfen. Er erinnerte sich noch genau an den Abend, als er Maria zum ersten Mal im LOTUS, seiner Lieblingssushibar, begegnete.
Sushi mit Messer und Gabel zu essen grenzt an ein Verbrechen, hatte sie gesagt und ihm einen Blick zugeworfen, den Georg zunächst nicht richtig deuten konnte. Ich bin angehende Rechtsanwältin, also wenn du in Zukunft Hilfe brauchst…
Trotz, dass er sich im Klaren darüber war, dass sie ihn gerade verspottete, lag etwas in ihrem Blick. Es war wunderschön, freundlich und bedrohlich zugleich. Sie gehörte eigentlich zu einer seiner selbst ernannten Sparte „anspruchsvoll“ und in die darüber liegende Kategorie „etwas schräg“. Und sie hatte auch noch eine Menge anderer Eigenschaften, die Georg eigentlich bei seiner Traumfrau nicht zu vermissen glaubte. Sie war fünf Jahre jünger als er, ihr Kleidungsstil glich eher dem einer Globetrotterin, als einer Dame von Welt. Sie studierte Jura und sie beschäftigte sich in ihrer Freizeit mit Kunst. Und dann war da noch diese unglaubliche intensive Anziehungskraft. Ja, er fühlte sich zu ihr hingezogen. Und dieses Bedrohliche schien mit jedem weiteren Blick in ihre blauen Augen zu einer regelrechten Gefahr zu werden. Denn urplötzlich keimte in ihm die Gewissheit auf, dass diese Frau sein Leben verändern könnte und es auch würde, er musste sich nur trauen.
Ich habe dir in die Augen gesehen und bin mir sicher, dass du die Frau meines Lebens bist! Lass uns heiraten und viele Kinder kriegen! Doch das konnte er ihr wohl kaum nach den ersten zehn Minuten Unterhaltung in einer Sushibar sagen, oder? Allerdings musste er das auch nicht. Maria hatte große Freude daran gehabt ihn, den überaus schüchternen Mann immer mehr aus der Fassung zu bringen, sodass sie ihm als Entschädigung ihre Nummer zuschob.
Damit ich mich aufrichtig bei dir entschuldigen kann, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert und in ihm das Feuer erst recht entfacht. Knapp zwei Wochen und einige Telefonate später durfte er sie endlich wiedersehen und ihre versprochene Entschuldigung entgegennehmen. Es gibt Sushi, sagte sie und lächelte.
Eigenhändig bestellt und von unserer Sushibar abgeholt. Bin ich nicht toll? Sie grinste.
Ja, wirklich großartige Leistung, antwortete er und lächelte ebenfalls.
Na dann zeig mal, was du inzwischen kannst! Sie drückte ihm zwei Stäbchen in die Hand. Er hatte intensivst für diesen Moment geübt und glänzte schließlich mit seinem Können als Stäbchenesser. Danach aßen, lachten und quatschten sie in einer Intensität, die selbst Georg unheimlich erschien. Nach dem Essen bestand Maria noch auf einen Absacker in ihrem kleinen Wohnzimmer. Sie hatte ihren besten Wein aus dem Schrank geholt - zumindest die Sorte bester Wein, den eine Pizzeria bei einer Bestellung von über 30 € zu verschenken hatte – schob Céline Dion in den Player und schaltete gleich auf mittlere Lautstärke. Dann schleuderte sie, wie selbstverständlich, ihre Schuhe von den Füßen und begann zu tanzen. Einfach so. Georg war sprachlos. Sie schwebte durch das Wohnzimmer und bewegte sich nahezu perfekt zur Musik, als hätte sie diesen Tanz vorher genau einstudiert.
Komm her und tanz mit mir, rief sie und winkte. Georg spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Nein! Niemals würde er das Tanzbein schwingen. Er konnte nicht tanzen, er hatte es nie gelernt. Außerdem passte es nicht in sein Grundkonzept von erwachsenen Menschen. Ein Mann und eine Frau, die sich mit einer Flasche Wein ins Wohnzimmer begeben, sollten andere Dinge tun, anstatt in wildes Gehopse auszubrechen, nur weil irgendeine Schnulzensängerin in Ekstase geriet. Ein Mann und eine Frau sollten ein gepflegtes Gespräch führen. Vielleicht über Politik oder über den aktuellen Börsenindex? Vielleicht sollten ein Mann und eine Frau auch gar nicht so viel reden und gleich zum Angenehmen übergehen? Er betrachtete Maria aufmerksam. Alles an ihr ist angenehm! Warum zögerte er dann noch? Noch nie hatte eine Frau ihn so gewollt wie Maria - das machte ihm Angst. Es machte ihm deshalb Angst, weil er nicht wusste, warum sie es tat. Was ging in ihrem Kopf vor, wenn sie ihn so ansah, dass es in ihren Augen zu funkeln begann? Wenn ihre Wangen glühten, wenn er ihr etwas erzählte und sie verträumt an seinen Lippen hing? Konnte das ein perfektes Schauspiel sein, um ihn am Ende doch wieder zu demütigen? Er wusste, er würde keine Antwort darauf finden, wenn er sich nicht auf sie einlassen würde. Maria tanzte unbeeindruckt von Georgs Zurückhaltung weiter. Dieser sank immer mehr in die Couch ein, umklammerte sein Glas und spürte, wie sich all seine Hemmungen urplötzlich in Gedanken verstrickten und ihn unfähig machten irgendetwas zu tun. Er hatte Angst. Angst, dass diese wunderbare Frau ihn mit nur einem Wort oder einer Geste vernichten würde, so wie es schon einmal geschehen war.
Du solltest das wirklich mal versuchen, sagte sie. Es ist befreiend und vor allem lenkt das ungemein von kontraproduktiven Ängsten ab.
Kontraproduktive Ängste? Georg runzelte die Stirn. Konnte sie jetzt auch noch Gedanken lesen?
Ja, das mache ich auch immer vor einer Semesterarbeit. Tanzen ist Balsam für die Seele. Komm her zu mir! Sie reichte ihm Hüfte schwingend die Hand. Georg zögerte, aber bevor er ein weiteres „Nein!“ aussprechen konnte, zog sie ihn auch schon zu sich hoch, nahm ihm das Glas aus der Hand, stellte es auf den Tisch und schob ihn in die Mitte des Wohnzimmers.
Und jetzt?, fragte er mit hochrotem Kopf.
Let’s Talk About Love, sang sie leise und schmiegte ihren Körper an seinen. Und dann sagte sie plötzlich: Sag, warum hat so ein wunderschöner Mann wie du, so traurige Augen? Wer oder was hat dich so verletzt? Ich würde dich niemals verletzen. Er wusste nicht, ob es am Wein lag, der ihr Antlitz in ein Meer aus gleißendem Licht tauchte und in die Silhouette eines zauberhaften Wesens verwandelte. So etwas hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. Plötzlich hatte er die Gewissheit, er durfte sie nicht mehr gehen lassen. Die Frau vor ihm sollte die sein, die er heiraten wollte – daran hatte er plötzlich nicht den geringsten Zweifel.
Erzähl mir mehr über diese kontraproduktiven Ängste, sagte er und legte dabei zaghaft seine Hände auf ihre Hüften. Sie erwiderte seine Berührung, indem sie ihm mit einem verschämten Lächeln die Arme auf die Schulter legte.
Kontraproduktive Ängste sind eben diese, die einen davon abhalten, das zu tun, was man gerne tun würde.
Und was würdest du gerne tun?, fragte er vorsichtig und sah in ihre wunderschönen blauen Augen. Maria schaute ihn an und küsste ihn schließlich. Und in diesem Kuss fühlte er die Sanftheit ihres Wesens, er spürte ihre Leidenschaft und er wusste plötzlich, das muss Liebe sein. Maria, ich liebe dich. Nichts und niemand wird uns jemals wieder trennen. Wir sind füreinander bestimmt. Da wo du bist, da will ich auch sein…
WIR SEHEN UNS IN DER HÖLLE, BABY! Mit der donnernden Stimme in seinem Kopf verschwand Maria aus seinen Armen und ihm blieb von dieser Erinnerung nichts als eisige Dunkelheit.
Eine unsagbare Kälte war in seinen Körper gekrochen und ließ ihn frösteln. Seine Glieder fühlten sich schwer und müde an. Undefinierbare Schmerzen in der Rückengegend ließen ihn erahnen, dass er schon seit Längerem auf einem harten und unbequemen Untergrund lag. Langsam öffnete Georg die Augen und starrte mit klopfendem Herzen in ein schwarzes Nichts.
Verdammt, wo bin ich?, war sein erster Gedanke, der Versuch zu verstehen, was passiert war, sein nächster. Ein Unfall! Oh mein Gott, ich hatte einen Unfall! Hektisch setzte er sich auf und erblickte das schwache Licht eines Scheinwerfers, der unmittelbar neben ihm in die konturlose Dunkelheit strahlte.
Mein Wagen!, schoss es ihm durch den Kopf, dicht gefolgt von der Befürchtung, dass er sich bei diesem Unfall verletzt haben könnte. Vorsichtig überprüfte er Arme, Beine und Oberkörper auf mögliche Verletzungen. Dann berührte er mit zittrigen Fingern sein Gesicht und ertastete seinen Hinterkopf, aber es waren keine klaffenden Wunden oder andere schmerzenden Blessuren zu erfühlen. Das Einzige, was er spürte, war ein leichter Schwindel. Seine rechte Hand kribbelte, als wäre sie eingeschlafen. Und dann schmeckte er diesen bitteren Geschmack, der ihn an Blut erinnerte. Vielleicht hatte er sich bei dem Aufprall auf die Zunge gebissen? Oder schlummerte doch irgendwo in seinem Körper eine innere Verletzung, von der er nur noch nichts bemerkte? Er atmete tief durch und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Fieberhaft suchte er nach dem Knopf, der das Geschehene für ihn noch einmal zurückspulte, damit er sich daran erinnern konnte. Er versuchte einzuordnen, was er sah, versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging. Zu seiner Überraschung registrierte er die gespenstische Windstille, die ihn umgab. Es wehte kein Lüftchen mehr. Es war, als sei der Sturm mit einem Male verstummt. Der Wald stand still und schwieg, so als sollte das Geschehene für immer ein behütetes Geheimnis bleiben. Auch der Regen hatte aufgehört. Das ist doch vollkommen verrückt, dachte Georg. War das vielleicht das berühmt berüchtigte Auge des Sturms? Nein, das konnte nicht sein. Ein Orkan hatte kein Auge, das hatte er in irgendeiner Zeitschrift bei einem Besuch beim Urologen gelesen. Ein Orkan hatte ein Zentrum und in dem war es alles andere als windstill. Das Zentrum dieses Sturms hatte am Nachmittag im Berliner Bahnhof tonnenschwere Stahlträger regnen lassen. Was also war hier los? Hatte er hier so lange auf dieser Straße gelegen, dass er Fionas Finale verpasst hatte? Er lauschte nochmals und nahm schließlich dieses unterschwellige monotone Brummen war. Es vermischte sich mit einem Rauschen und erinnerte an das Geräusch, was ein LKW beim Abkippen von Kies verursachte. Das alles irritierte ihn, doch er stellte fest, dass es ein denkbar schlechter Augenblick war, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er stand auf und richtete seinen Blick nochmals auf das, was er eigentlich gar nicht sehen wollte. Da lag sein Wagen. Im Licht des einzigen noch funktionierenden Scheinwerfers und rot glühender Rückleuchten konnte er die Konturen eines Mercedes 300 E mit einem Totalschaden erblicken. Motorhaube, Kotflügel und Teil des Daches waren durch die Kollision mit einer umgestürzten Tanne eingedrückt, die Windschutzscheibe war geborsten. Kurioserweise funktionierte das Radio einwandfrei. Er hörte, wie sich Hansen gerade wieder mit stürmischen Wortspielen vergnügte und seine letzte Pointe mit einem Shit Happens beendete.
„Stimmt - Shit Happens!“ Georg lachte verzweifelt. Es war das Lachen eines Mannes, der gerade mit der Gewissheit kämpfte, in echten Schwierigkeiten zu stecken. Er lachte so laut, dass es wehtat im Hals.
Reiß dich gefälligst zusammen, Blumenfeld! Du hast gerade jemanden umgelegt! Georgs Lachen fror ein. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen, dann kam plötzlich die Erinnerung zurück.
Verdammt! Da war etwas auf der Straße gewesen! Es war plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Er hatte daraufhin eine Vollbremsung hingelegt, dann der dumpfe Schlag, dann ein Krachen. Seine Gedanken überschlugen sich. Der gelbe Regenmantel, die gelben Stiefel, dieser Blick. Nein, er hatte keinen Zweifel. Diese Erinnerung war echt. Oh mein Gott, er hatte jemanden überfahren! Ihm wurde schlagartig übel. Er begann hektisch, die Umgebung mit seinen Augen abzusuchen, um seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Doch er konnte auf den ersten Blick nichts entdecken.
Manchmal laufen verletzte Menschen noch Kilometer weit, bevor sie umfallen, überlegte er. Manchmal laufen sie sogar noch Kilometer weit, wenn man ihnen ein Messer in den Rücken gejagt hat… Er verwarf diesen unsinnigen Gedanken, und ging vorsichtig um das Fahrzeug herum. Leises Tropfen erregte seine Aufmerksamkeit. Was er sah, ließ ihn erstarren. Benzin!, war sein erster Gedanke, Kühlwasser oder der Inhalt der Scheibenwaschanlage, beruhigte er sich sogleich. Doch in seinem Kopf formte sich noch eine weitere Möglichkeit.
Das ist BLUT! MENSCHLICHES BLUT! Und alleine die Tatsache, dass er mit dieser Vermutung Recht behalten könnte, reichte aus, um ihn in Panik zu versetzen. Was war, wenn hier irgendwo im Gebüsch ein schwerverletzter Mensch gerade um sein Leben kämpfte? Georg wimmerte verzweifelt. Hin- und hergerissen von dem starken Drang einfach wegzulaufen und der Gewissheit helfen zu müssen, wenn Hilfe noch möglich war, stand er wie angewurzelt da. Er spürte, wie die Angst die Suche nach einem möglichen Opfer, vielleicht sogar doch nur nach einem toten Tier erschwerte. Die Möglichkeit, dass es wirklich ein Mensch gewesen sein könnte, machte ihn wahnsinnig. Er wagte kaum einen Blick jenseits der Straße. Irgendwann versuchte er seine Befürchtungen mit aller Gewalt auszublenden. Allerdings mit mäßigem Erfolg. Er begann dennoch zu suchen, fand zu seiner Erleichterung jedoch nichts. Irgendwann gab er die Suche auf. Ihm fehlten Licht und die Fähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Den Tränen der Verzweiflung nahe vergrub er sein Gesicht in dem hochgeklappten Kragen seines Mantels und blickte abwechselnd in beide Fahrtrichtungen. Zu seinen Gunsten entpuppte sich der helle Fleck am Himmel als Vollmond, der gerade nicht von den Wolken verdeckt wurde. Mahnend, vorwurfsvoll, fast schon verhöhnend warf er sein Licht auf die glänzend feuchte und mit Ästen bedeckte Straße, so als wolle er ihm mit aller Gewalt das ganze Ausmaß seiner misslichen Lage vor Augen halten. Konnte es eigentlich noch schlimmer kommen? Die Antwort bekam Georg schneller als ihm lieb war. Er befand sich mitten in einem Waldgebiet, weit entfernt jeglicher Zivilisation. Sein Mercedes war nur noch ein qualmender Schrotthaufen, aus dem vermutlich Benzin und andere undefinierbare Flüssigkeiten tropften und der nun mitten auf der Straße lag und auf seine Beerdigung wartete. Seine einzige Verbindung zur Außenwelt war sein Handy. Er würde die Feuerwehr oder den verdammten Pannendienst anrufen und die wiederum würden dafür sorgen, dass er endlich nach Hause kam – wozu war er denn Mitglied in einem Automobilklub? Er nestelte nervös in seinem Mantel und suchte nach seinem Telefon, fand es aber nicht. Hektisch begann er sich abzutasten, in der Hoffnung, es irgendwo in der Hosen- oder in der Hemdtasche finden zu können.
„Verdammt, wo ist es nur!“ Hilflos überlegte er, wo er sein Handy das letzte Mal gesehen hatte.
Im Fußraum deines Wagens du Idiot, der Grund, warum du jetzt in dieser neuen Misere steckst! Sofort begann er das Autowrack abzusuchen und war erstaunt, dass er das Handy tatsächlich mit wenigen Handgriffen und ohne Licht fand. Er war sich sicher, dass hier wohl Wille und Hoffnung den richtigen Antrieb gegeben hatten. Und Hoffnung flammte auch in ihm auf, als er plötzlich „Anruf in Abwesenheit“ auf dem Display entdeckte. Sein Herz begann zu klopfen. Das musste Maria gewesen sein. Immer wieder starrte er auf diese Meldung, als könne er sein Glück kaum fassen.
„Hey, warte, Baby! Ich bin nicht abwesend, ich bin hier!“ Mit zittrigen Fingern drückte er auf Wahlwiederholung und wartete sehnsüchtig auf den Moment, am anderen Ende ihre Stimme zu hören. Doch es konnte keine Verbindung hergestellt werden.
Anruf fehlgeschlagen. Er überprüfte den Empfang. Nichts. Er hob den Arm in die Höhe, drehte und wendete sich nach allen Seiten, in der Hoffnung, auch nur einen von diesen klitzekleinen Empfangsbalken aufblinken zu sehen. Irgendwoher musste doch ein Signal kommen. Und als er schließlich feststellte, dass noch nicht einmal ein Notruf möglich war, musste er einsehen, dass dieses scheiß Telefon einfach nicht mehr funktionierte. Dieser erneute Schlag in die Magengrube hatte gesessen und machte ihn wütend. Am liebsten hätte er dieses nutzlose Teil mit aller Kraft auf den Asphalt geschleudert. In Gedanken sah er mit Genugtuung, wie es in sämtliche Einzelteile zerbrach und ihn somit nie wieder von der Fahrbahn ablenken oder wegen einer fehlgeschlagenen Verbindung enttäuschen würde. Plötzlich hatte er den starken Drang, diesem Gedanken zu folgen. Ohne Vorwarnung holte er aus und warf das Smartphone mit allen Kräften, die seine Wut aufbringen konnte, auf die Straße. Allerdings zerbrach das Handy nicht wie erwartet in alle Einzelteile, sondern blieb stur und ohne einen einzigen Riss im Display auf dem Asphalt liegen. Himmel, wie kann man nur so viel Unfähigkeit auf einmal anhäufen?, schrie ihn die Stimme in seinem Kopf an. Georg blickte fassungslos auf diesen letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen könnte.
„VERDAMMTE SCHEISSE!“, schrie er in die Dunkelheit und legte gleich noch eine weitere Fluchsalve hinterher. „SO EINE GOTTVERDAMMTE FUCK YOU SCHEISSE!“
Jetzt bloß nicht durchdrehen! Denk nach! Denk nach! Denk nach! Okay fassen wir kurz zusammen: Du hattest gestern eine ziemlich beschissene Nacht, der Tag heute war auch nicht viel besser, dann dieser miese Sturm und jetzt auch noch das. Dein Mercedes ist im Arsch, doch das Schlimmste an der Sache: Du wurdest die ganze Zeit gefickt und hast es nicht einmal bemerkt. Soll ich noch weitermachen?
„Nein!“, sagte Georg. „Nein, das darf alles nicht wahr sein!“
Was jetzt? Die erlösende Idee kam zeitgleich mit dem Gedanken, einfach aufzugeben. Ja, er konnte sich hier mitten auf die Straße legen und einfach darauf hoffen, dass er irgendwann, irgendwie gefunden wird oder aber er nahm sein Schicksal wieder selbst in die Hand und ging dahin, wo ihm auf schnellstem Wege geholfen werden konnte. Die Pension! Ja, natürlich! Hier würde er Hilfe finden und er konnte sich von dort aus um alles Weitere kümmern.
„Maria, ich komme!“, rief er in die Dunkelheit und machte sich auf den Weg. Er musste knapp einen Kilometer diese Straße hinunterlaufen, dann würde er das Haus erreichen. Er ging, nein er rannte und wurde dabei von dem immer stärker werdenden Willen angetrieben, schnellstmöglich Maria zu warnen. Er würde ihr von den schrecklichen Geschehnissen auf der Baustelle erzählen und ihr sagen, dass sie niemanden die Tür aufmachen sollte. Ob er ihr auch sagen sollte, dass er Päler verdächtigte, etwas mit der Sache zu tun zu haben? Nein, das würde er nicht tun. Er würde es nicht ertragen können, wenn sie Joachim wieder nur in Schutz nahm und ihn in den höchsten Tönen lobte, während sie Georg vorwarf, grenzenlose Loyalität, absolute Vertrauenswürdigkeit und bedingungslose Freundschaft nicht erkennen zu können. Und dann würde sie möglicherweise auch noch so etwas sagen, wie: Vergiss nicht, Georg: AMICUS OPTIMA VITAE POSSESSIO - ein Freund ist der beste Besitz des Lebens. Ihm drehte sich allein bei dem Gedanken der Magen um. Nein, Joachim Päler würde er mit keinem Wort erwähnen. Inzwischen hatte er sich knappe hundert Meter von seinem Wagen wegbewegt. Und er war erstaunt, wie gut er in der Dunkelheit die Straße sehen konnte. Sie lag vor ihm, wie ein schwarzer Teppich, der sich über einen Abgrund von noch tieferer Schwärze legte. Er konnte sie gar nicht verfehlen und ungewollt vom Weg abkommen. Eine gut funktionierende Taschenlampe hätte ihm jedoch das Unbehagen genommen, was er empfand, wenn er in das finstere Dickicht jenseits der Straße blickte. Und er spürte, wie mit jedem weiteren Schritt, den er sich von seinem Wagen entfernte, in ihm das Gefühl von Angst stieg. Vielleicht war sein Plan doch keine so gute Idee? Er drehte sich um und starrte mit klopfendem Herzen in die unheimliche Dunkelheit, die aus der Ferne nur durch die Rücklichter seines Wagens durchbrochen wurde. Wie rot glühende Augen starrten sie ihn an, mahnend, eindringlich und vorwurfsvoll. Hatte sich da hinten nicht gerade etwas bewegt? Er fixierte das Autowrack mit stechendem Blick. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Und er war sich sicher: Irgendetwas lauerte dort. Plötzlich sah er im Spiel der schwachen Lichter seines Wagens und schwarzer Nacht einen Schatten. Er huschte zunächst hinter das Fahrzeug und verschwand kurz aus seinem Sichtfeld. Was zur Hölle war das? Ungläubig stierte er weiter in die Richtung, in der er eine weitere Bewegung vermutete.
Bilde dir nicht schon wieder so eine Scheiße ein! Und fast hätte sein Gedanke ihn zu einem amüsierten Lachen getrieben, wenn die schemenhafte Gestalt, die plötzlich neben seinem Wagen auftauchte, in diesem Augenblick nicht so verdammt real gewesen wäre.
Du bist nicht allein, Georg! Dort hinten stand eine große, breitschultrige Person, mit dunkler Kleidung. Georg vermutete von der Statur her, dass es sich um einen Mann handelte. Er trug einen seltsamen Hut, der tief in sein Gesicht gezogen war und einen merkwürdigen Mantel, eher eine Art Poncho und er schien ihn aus der Entfernung regungslos anzustarren. Wer lief in solch einem merkwürdigen Aufzug und bei diesem Wetter in der Dunkelheit durch den Wald? Warum lief hier überhaupt jemand herum?
Vielleicht, um dir aus dieser Scheiße zu helfen?, korrigierte er seinen Gedanken. Es könnte vielleicht ein Jäger auf seiner abendlichen Pirsch sein.. Ein kurzer Augenblick der Freude. Dort war jemand, der ihm mit Sicherheit aus seiner misslichen Lage helfen konnte. Andererseits wuchs in ihm das Gefühl, dass er vielleicht doch aufpassen sollte. Hatte die Stimme in seinem Kopf nicht irgendetwas von einem Jäger gesagt?
Der Jäger mit seiner Meute ist wieder hinter dir her… Vielleicht war ihm dieser Geistesgestörte, der auch die Botschaft an die Wand der Tiefgarage gepinselt hatte, bis hierher gefolgt? Als hätte der Mond seine Zweifel erhört, kam er ihm zur Hilfe und schenkte Georg für einen Bruchteil von Sekunden seichtes Licht. Aus der Ferne erkannte er, dass die Gestalt, neben augenscheinlicher Jagdkleidung auch etwas an einem Gurt über der Schulter trug.
Das ist ein Gewehr!, schoss es ihm durch den Kopf, und noch bevor er sich darüber im Klaren werden konnte, wie recht er damit hatte, sah er, wie der Mann langsam den länglichen Gegenstand von seiner Schulter nahm und den Lauf geradewegs auf ihn richtete.
„Hey!“, rief Georg plötzlich und löste sich aus seiner Starre. „Nicht schießen! Ich bin der Fahrer dieses Wagens! Ich hatte einen Unfall!“ Er hoffte, dass er mit seiner Ansage zumindest die Freund-Oder-Feindfrage klären konnte. Doch die dunkle Gestalt reagierte nicht. Sie harrte in ihrer Position aus und schürte Georgs schleichende Panik.
„Bitte nehmen Sie die Waffe runter! Mein Name ist Georg Blumenfeld und ich brauche Hilfe!“ Keine Reaktion. Keine Antwort. Er spürte, er hatte ihn im Visier. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Stimme irgendwie hohl klang. Kein Echo, so wie er es in diesem Wald, mit all seinen finsteren Tälern vermutet hätte. Er lauschte in die dunkle Stille, in der Hoffnung, dass er doch noch eine freundliche Antwort bekam. Plötzlich huschte noch etwas aus dem Schatten des Autowracks und gesellte sich neben seinen unheimlichen Besucher. Georg erkannte einen Hund. Und als hätte der Mann einen stummen Befehl gegeben, setzte sich der Hund mit spitzen Ohren neben ihn. Er schluckte. Und eigentlich hätte er sich gewünscht, dass in diesem Augenblick die Angst und die Anspannung einfach von ihm abfallen würden – immerhin war es unwahrscheinlich, dass ein klassischer Mörder mit einem Hund Jagd auf seine Opfer machte. Doch die Furcht blieb, schlimmer noch, Panik machte sich in ihm breit. Seitdem er denken konnte, hatte er diese schreckliche Angst vor Hunden. Alleine die Anwesenheit eines Vierbeiners reichte schon aus, um ihm eine Panikattacke zu bescheren. Doch der Hund saß aufmerksam und kerzengerade neben seinem Herrchen und regte sich nicht. Es war also anzunehmen, dass er angeleint oder zumindest so weit erzogen war, dass er sich nicht von der Stelle bewegte, wenn es „Sitz!“ oder „Bleib!“ hieß. Das reichte ihm, um den Adrenalinpegel zu senken.
„Warum antworten Sie nicht?“, fragte Georg vorwurfsvoll und deutlich kraftloser, als er es bis vor einer Minute noch getan hatte. Irgendetwas in ihm sagte, dass dieser Kerl nicht einfach nur zufällig hier vorbei gelaufen war – er hatte auf ihn gewartet.
„Hören Sie, ich will einfach nur telefonieren und endlich nach Hause. Ich bin unbewaffnet und habe nicht vor irgendetwas Unrechtes zu tun.“
„NIHIL FIT SINE CAUSA – NICHTS GESCHIEHT OHNE GRUND!“, donnerte plötzlich die tiefe verrauchte Stimme des Jägers durch die Dunkelheit und ließ Georg das Blut in den Adern gefrieren. Der Mann legte das Gewehr an und zielte.
Lauf, Georg! Lauf! Georg rannte los. Fast wäre er über seine eigenen Füße gestolpert. Er wusste nicht, wohin. Und er wusste auch nicht, dass er überhaupt so schnell rennen konnte. Ein Schuss knallte durch die Nacht und er hörte, wie das Geschoss irgendwo dicht an seinem Kopf vorbeisauste und in einen Baum schlug. Der schießt auf mich! Dieser Irre schießt wirklich auf mich! Er rannte, so schnell er konnte. Die Angst, dass gleich ein weiterer Schuss fallen und er verwundet zusammenbrechen würde, gab ihm den Befehl die Laufrichtung zu ändern. Instinktiv schlug Georg einen Haken, sprang in den Wald und lief dort parallel zu Straße weiter.
„APPORT JÖRRES!“, brüllte der Mann. Georg wusste, was dieser Befehl zu bedeuten hatte. Er hörte, wie der Hund sich in Gang setzte und ihm unaufhaltsam hinterherwetzte. Panisch nahm er hinter sich ein verdächtiges Knacken wahr. Ohne sich umzudrehen, lief er weiter. Doch er war sich sicher, der Hund würde ihn kriegen! Apport, so lautete der Befehl an einen Jagdhund, wenn er eine zuvor fixierte Beute verfolgen und dem Jäger bringen sollte. Er würde ihn so lange jagen, bis er die Aufgabe erfüllt hatte.
Lauf, Georg! Wieder ertönte das Krachen von Ästen und es klang diesmal näher. Verdammt, ich schaffe es nicht! Seine Muskeln brannten wie Feuer und er spürte einen unangenehmen Druck in seinen Lungen. Und während er in der Dunkelheit über Stock und Stein stolperte, dabei krampfhaft versuchte nicht die Straße aus den Augen zu verlieren und darüber hinaus auch noch den Grundfehler seiner Situation und eine Antwort auf die Warum?-Frage suchte, dachte er wieder an Maria. Wenn er jetzt und hier draufgehen würde, dann wäre sie diesem Verrückten – wer immer das auch war - vollkommen hilflos ausgeliefert. Nein, das konnte er nicht zulassen. Er würde kämpfen! Ja, wenn es sein musste, würde er sein Gegenüber mit bloßer Hand erwürgen – für Maria. Er blieb abrupt stehen. Und er wusste, dass der Hund im Wald ebenfalls stehen geblieben war. Er wagte es aber nicht, den Kopf in die Richtung zu drehen, wo er seinen Verfolger, den Jäger vermutete – immerhin hatte dieser ein Gewehr, er hatte nichts. Hektisch blickte er um sich, in der Hoffnung, eine Art Waffe zu finden. Einen Stock, einen Stein, irgendetwas mit dem er sich zur Wehr setzen konnte. Der Sturm hatte genügend Astwerk auf den Boden geweht, doch er konnte nichts entdecken, was er tatsächlich zu einem wirkungsvollen Gegenschlag einsetzen konnte. Er durchsuchte nervös die Taschen seines Mantels, in der Hoffnung, dort das Pfefferspray zu finden. Seine Angst vor Hunden hatte ihn einmal dazu getrieben, eine kleine Dose zu kaufen. Manchmal nahm er sie mit, meistens aber nicht. Und dieses meistens aber nicht hatte Maria zu verantworten, die ihn immer wieder daran erinnerte, dass Hunde in den meisten Fällen harmlose, liebevolle Wesen seien und es daher auch nicht von Nöten war, solch eine Waffe mit sich herumzuschleppen. Die Dose war nicht in seiner Tasche!
Warum habe ich nur auf sie gehört? Warum habe ich ohnehin immer nur auf sie und ihre scheinheiligen Weisheiten gehört? Stattdessen ertastete er neben einem unbenutzten Stofftaschentuch und Pälers Feuerzeug noch einen anderen Gegenstand. Er war überrascht, als seine Finger den kleinen, kalten Griff mit einer ebenso kalten, kleinen Klinge ertasteten. Es fühlte sich wie ein Werkzeug an, konnte sich aber nicht daran erinnern, warum er es eingesteckt hatte. Er zog das faustgroße Ding aus dem Mantel und hielt es zitternd in den Händen. Erst jetzt erkannte er, dass es sich um ein Messer handelte. Mit der Klinge konnte er wohl nicht viel ausrichten. Sie war schmal und leicht gebogen, der Griff gerade so groß, dass er in seine Faust passte.
„Kommen Sie raus und zeigen Sie sich, Sie feiges Schwein!“, rief er in die Dunkelheit, ärgerte sich aber gleichzeitig über seine unglückliche Wortwahl. Vielleicht hätte er seinen Feind nicht als Schwein betiteln sollen?
„Ich bin hier! Was wollen Sie von mir?“ Keine Antwort. Ein bösartiges, dumpfes Knurren ließ ihn plötzlich erschrocken herumfahren. Es kam direkt aus dem Dickicht dicht neben ihm. Er fuchtelte mit dem Messer in der Dunkelheit ins Leere. Schließlich schoss der Hund aus dem Unterholz und stellte sich ihm in den Weg. Georg stieß einen Schrei aus und taumelte vor Schreck. Der Hund starrte ihn mit stechendem Blick und fletschenden Zähnen an. Georg wich zurück. Im schwachen Schein des Mondlichtes konnte er erkennen, dass es ein großer und ungewöhnlicher Hund war. Seine Nase war leberfarben und er hatte einen merkwürdigen Fellkamm auf dem Rücken. Er kannte diese Hunderasse. Es schien ein Rhodesian Ridgeback zu sein, auch Afrikanischer Löwenhund genannt – was allerdings die Angelegenheit nicht weniger unangenehm machte. Das Knurren aus seiner Kehle schwoll an. Georg wusste, dass dies der Vorläufer eines schmerzhaften Angriffs werden würde.
Komm ruhig näher Georgy, damit ich dich in Stücke reißen kann!, legte er seine Gedanken dem Hund ins Maul. Dieser starrte ihn aus kalten, geröteten bernsteinfarbenen Augen an, während sein Maul zähnefletschend und ohne Vorwarnung in seine Richtung schnappte.
„HAU AB!“, brüllte er dem Tier entgegen und wich aus, immer auf der Hut, den Blickkontakt nicht zu verlieren. In dem Moment, als er registrierte, dass der Hund zum Sprung ansetzte, konnte er nichts weiter tun, als kapitulierend das Messer fallen zu lassen und dem bellenden Rüden Hand und Arm in den Rachen zu drücken. Er spürte, wie sich die scharfen spitzen Zähne in seine Hand bohrten und seine Kiefer sich wie eine Schraubzwinge um seine Gelenke legten. Entsetzt und mit Schmerz erfüllt, setzte Georg zu einem Schrei an, doch er brachte keinen Laut über die Lippen. Er konnte nur noch fassungslos mit ansehen, wie der Hund sich immer tiefer in seine Hand verbiss und mit einem gierigen Knurren daran zu reißen begann. Er hörte wie seine Handknochen brachen und Fleisch herausgerissen wurde. Immer wieder versuchte er den Hund abzuschütteln, doch er ließ nicht locker. Irgendwann ließ er doch kurz knurrend von ihm ab. Aus seinem Maul triefte Blut, Georgs Blut. Er setzte erneut zum Sprung an. In dem Augenblick, als sich die Zähne in seinen Hals bohren wollten, riss Georg die Arme hoch, und hielt sie schützend über seinen Kopf. Vor Adrenalin zitternd wartete er auf den Aufprall und rechnete sogar damit, dass der Hund ihn umriss und zu Boden warf. Aber er wartete vergebens. Er spürte weder einen Aufprall noch einen weiteren Biss. Vorsichtig lugte er durch seine Arme und sah … nichts. Hektisch drehte er sich im Kreis. Der Hund war verschwunden. Seine Hand pochte und er spürte, dass er stark blutete. Für einen kurzen Augenblick dachte er darüber nach, zurück zum Wagen zu gehen und nach dem Verbandskasten zu suchen, aber alleine der Gedanke daran, dem Tier oder diesem verrückten Jäger noch einmal ausgesetzt zu sein, hielt ihn davon ab. Instinktiv zog er mit der linken Hand das eigenhändig von Gertrud gebügelte Stofftaschentuch aus der Tasche und verband damit die klaffende Wunde auf seiner Hand. Er hoffte, dass dies als provisorische Wundversorgung so lange hielt, bis er Hilfe fand.
Georg wusste nicht, wie lange er im Anschluss die Straße hinabstolperte. Vielleicht waren es zehn, vielleicht auch fünfzehn Minuten. Er hatte ohnehin schon vollkommen das Zeitgefühl verloren. Seine Hand schmerzte und er spürte, dass sein Stofftaschentuch nicht ewig seinen Zweck erfüllen würde. Den Jäger mit seinem Hund sah er nicht mehr, aber er wusste, dass sie noch immer irgendwo dort draußen lauerten und möglicherweise jeden seiner Schritte beobachteten. Manchmal hörte er sein aufgeregtes Hecheln, manchmal ein entferntes Bellen. Irgendwann sah er aus der Ferne Licht, welches zwischen den Zweigen der Bäume aufblitzte. Hoffnungsvoll und entschlossen erhöhte er sein Schritttempo, verdrängte dabei den Schmerz und begann wieder zu rennen. Wenig später erreichte er kurzatmig und mit einem merkwürdigen Summen im Kopf eine Einfahrt.
Fast feierlich durchschritt er den Kegel einer Straßenlaterne, die einen kleinen leeren Parkplatz beleuchtete. Das finstere Gebäude, was sich vor ihm auftat, sah aus diesem Blickwinkel ganz anders und noch Respekt einflößender aus, als er es aus dem Auto heraus gesehen hatte. Basaltsteine bildeten das Fundament, was dem Ganzen einen mittelalterlichen Hauch verlieh. Den Teil darüber bis zum Giebel zierte altertümliches Fachwerk. Diese Bauart war nicht unüblich in dieser ländlichen Gegend, aber in Verbindung mit dieser stockfinsteren Nacht hatte dieser Anblick plötzlich etwas Gespenstisches. Und dieses gewaltige Abbild des röhrenden Hirsches an der Giebelseite machte das Gebäude auch nicht viel einladender. Im Gegenteil, es bereitete ihm mehr Unbehagen, als es ihm im Augenblick lieb war. Doch so unheimlich und abstoßend er diesen Ort fand, er hatte keine Wahl. Er musste telefonieren. Er musste Maria anrufen und ihr sagen, dass es ihm gut ginge. Dann würde er die Feuerwehr und den Pannendienst darüber informieren, dass sein Wagen nur noch ein Haufen Schrott war, damit sie sich um die Bergung und um den Rest kümmern konnten. Auch ein Anruf bei der Polizei wäre dann dringend fällig. Er musste ihnen mitteilen, dass sich hier im Siebengebirge ein Verrückter mit einem Hund aufhielt, der es offenbar auf ihn abgesehen hatte. Nihil fit sine causa, hatte er ihm entgegengerufen und es war anzunehmen, dass dieser unheimliche Jägersmann auch für den Vorfall auf der Baustelle verantwortlich war. Vielleicht hatte Päler ihn sogar beauftragt, sein krankes Spiel zu spielen? In seiner Hand pochte es mahnend. Desinfektionsmittel, einen sauberen Verband, eine Kopfschmerztablette und ein funktionstüchtiges Telefon – ja, das alles hoffte er hier zu bekommen sofern hinter dieser Fassade auch hilfsbereite Menschen wohnten. Er rieb sich fröstelnd die Arme und trat langsam näher. Bevor er jedoch die Treppe zur Türe hinaufstieg, warf er noch einen kurzen Blick auf die Infotafel zu seiner Rechten:
Herzlich Willkommen in unserer Jagdpension!
Lassen Sie sich nicht abschrecken, wenn Sie mit der Jägerei nichts zu tun haben. Wir bieten Ihnen in dieser ländlich sehr ruhigen Lage, eine gemütliche Unterkunft mit Frühstück. Alle Zimmer (Einzelzimmer, 2-3 Bettzimmer) sind mit Dusche und WC ausgestattet. Lassen Sie sich verwöhnen von gutbürgerlicher Küche und Wildgerichten, Biergarten und Nachtcafé, Grillplatz, Terrasse und einem großen gesicherten Parkplatz. Unsere waldreiche Umgebung ist ideal zum Wandern, Walken und Radfahren. Für Jäger bieten wir jedoch besonders interessante Möglichkeiten.
Wir würden uns freuen, Sie als Gast begrüßen zu dürfen.
„Ich hoffe, die haben bei diesem Angebot auch irgendwo ein funktionierendes Telefon“, sagte Georg halblaut und spürte dabei, wie er plötzlich schwankte. Er fühlte einen leichten Schwindel. Und da war immer noch dieser metallische, blutige Geschmack in seinem Mund. Er musste sich setzen, vielleicht ein Wasser oder besser noch einen doppelten Whiskey trinken. Und augenblicklich war es ihm vollkommen egal, ob er nun in eine geschlossene Gesellschaft eines Puffs oder in einen schießwütigen Dackelklub platzte, Hauptsache, sie würden ihm helfen. Entschlossen stieg er langsam die Steintreppe hinauf, die ihm unendlich lange vorkam. Unendlich viele Stufen, unendlich viel Zeit. Oben angekommen drückte er mit zitternden Fingern auf die Klingel. Er trat einen Schritt zurück und wartete geduldig. Zu seiner Überraschung dauerte es nicht lange, bis er hinter der Türe langsame Schritte und schließlich auch ein Drehen im Schloss hörte. Einen kurzen Augenblick später wurde die Türe geöffnet. Durch den kleinen Spalt konnte er das faltige Gesicht eines hageren, alten Mannes aufblitzen sehen, der ihn mit einer erschreckend finsteren Miene anstarrte.
„Was wollen Sie?“, knurrte er unfreundlich und blickte ihn mit halb zusammengekniffenen Augen prüfend an. Georg fühlte sich schlagartig unwohl und plötzlich drängte sich ihm der Gedanke auf, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, jetzt um diese Uhrzeit in eine Annataler Jagdpension zu platzen. Nach diesen ganzen seltsamen Dingen, die er heute erlebt hatte, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die andere Hälfte des grimmigen Mannes gerade blind nach einer hinter der Türe verstauten Flinte tastete. In Gedanken sah er schon, wie der Mann plötzlich ein Gewehr durch den Spalt schob und das kalte Eisen auf seine Stirn legte, und wie er sagte: Stirb du mieser Ruhestörer! Dann drückte er einfach und ohne mit der Wimper zu zucken ab und blies ihm den Kopf weg. Und er hätte sich in diesem Augenblick gerne selbst für diesen unsinnigen Gedanken geohrfeigt. Es war ganz offensichtlich, dass dieser Mann ihm auf den ersten Blick einfach nicht traute und irgendwie konnte er es ihm auch nicht verdenken. Immerhin trug er kein Schild um den Hals auf dem stand:
Georg Blumenfeld, 40 Jahre alt, Architekt mit ansehnlichem Einkommen, verheiratet, kinderlos, keine Vorstrafen, hatte einen Autounfall oben in der Linkskurve, wurde von einem Jäger bedroht und von dessen Löwenhund angefallen und verletzt, ist zudem auch noch im Nichtbesitz eines funktionstüchtigen Handys und will eigentlich nur noch telefonieren. Er war sich nicht einmal sicher, ob er sich selbst auch mit seinem leicht unentspannten und geschundenen Antlitz, die Freund-Oder-Feind-Frage zufriedenstellend beantworten könnte.
„Verzeihen Sie bitte die späte Störung“, sagte Georg freundlich und hoffte dadurch das Schlimmste verhindern zu können. „Ich hatte einen Unfall. Mein Wagen liegt etwa einen Kilometer von hier auf der Straße. Ich wurde von einem Hund angefallen. Sein Besitzer, vermutlich ein Jäger, hat ihn auf mich gehetzt. Er hat mich in die Hand gebissen.“ Er hob seinen Arm, um seinem Gegenüber das blutdurchtränkte Taschentuch zu zeigen.
„Mein Handy funktioniert leider auch nicht. Könnte ich vielleicht kurz Ihr Telefon benutzen?“ Der Mann verzog keine Miene. Er blickte ihn immer noch finster und ohne den kleinsten Hauch von Anteilnahme an. Und seine Augen, die in dem ungünstigen Spiel von Licht und Schatten fast schwarz aussahen, schienen ihn förmlich nach seinem wahren nächtlichen Anliegen durchbohren zu wollen.
„Sind Sie Jude?!“, fragte der Mann scharf und verengte die Augen zu einem Schlitz. Georg sah ihn irritiert an. Er selbst war kein Jude, aber konnte seine jüdischen Wurzeln allein schon von seinem Namen her nicht leugnen. Aber was machte das schon?
„Ich frage Sie noch einmal: SIND SIE JUDE?“, wiederholte der Alte und in seiner Stimme lag eine deutliche Drohung.
„Nein, ich bin katholisch“, sagte Georg resignierend und verzichtete mit schwerem Herzen, auf die jüdische Identität seines Großvaters mütterlicherseits hinzuweisen. Elias Blumenfeld, ein KZ-Häftling, der den Holocaust und Dachau überlebt hatte. Georg war gerade im Begriff seine Geldbörse zu zücken, um dem Mann sämtlich Ausweispapiere, inklusive Kreditkarten als Beweis vorzuzeigen, dass er nichts Unrechtes im Schilde führte, als zu seiner Überraschung der Mann sich plötzlich aus seiner Starre löste, ihm zunickte und ihn schließlich mit einem Handzeichen bat einzutreten.
„Ich danke Ihnen vielmals!“ Georgs Stimme bebte vor Erleichterung. Sorgfältig trat er seine nassen Schuhe auf der Fußmatte ab und nahm zunächst nur beiläufig wahr, dass auch in diesem Haus wohl jemand viel Wert auf Details legte, die etwas „her“ machten. Die Matte war tiefschwarz und unter seinen Schuhen zeichneten sich blutrote Buchstaben ab, die er zunächst nicht richtig lesen konnte. Erst als seine Schuhe von der Unterlage abließen, glaubte er den Begrüßungssatz NIHIL FIT SINE CAUSA gelesen zu haben. Er wäre vor Schreck fast gestolpert. Im nächsten Augenblick war er sich sicher, sich einfach nur verlesen zu haben. Er hätte auch noch einen zweiten Blick gewagt, doch der Alte drängte ihn, ihm weiter zu folgen. Der Mann ging - nein, er hinkte schwerfällig, mit einer merkwürdigen, ruckartigen Rechts-links-Verlagerung voraus.
Im Schein des schwach beleuchteten Flurs hatte seine pendelartige Gangweise etwas Unheimliches an sich. Georg tippte auf eine alte Kriegsverletzung, vielleicht auch ein Hüftschaden. Vielleicht hatte er sich aber auch nur beim Holzhacken oder beim Jagen verschätzt. Georg folgte ihm schweigend, obwohl er den starken Drang fühlte, etwas zu sagen. Vielleicht so etwas wie „Schöne Gegend hier!“, oder irgendetwas in der Art. Und er war gerade im Begriff den Mund zu öffnen, um zumindest eine triviale Bemerkung über den plötzlich abgezogenen Sturm zu machen, als es ihm mit einem Mal die Sprache verschlug. Hinkebein führte ihn in einen großen Raum mit hohen Decken. Ein Foyer, schätzte Georg, dessen Anblick ihn ungebremst in ein Pfuhl aus gemischten Gefühlen schleuderte. Das mächtige Hirschgeweih an der Hauswand hatte bei ihm bereits seine abneigende Wirkung erfüllt und ein Gefühl in ihm aufgerufen, das er deutlich als unangenehm empfunden hatte. Doch das, was sich hier vor seinen Augen auftat, war nicht nur grotesk, sondern für ihn der Inbegriff des schlechten Geschmacks. Unzählige Geweihe und präparierte Tierköpfe reihten sich an den Wänden und bildeten ein makabres Spalier des Todes. Er sah Jagdtrophäen, auf edle Holztafeln genagelt, die teilweise noch an halben Schädeln hingen. Köpfe von Hirschen, Steinböcken und anderem Getier die ihn mit ihren künstlichen Glasaugen fixierten, als ob sie sagen wollten: Hey Georg, willkommen im Klub der Gejagten! Deinen Kopf werden sie hier auch noch hinhängen. Ihm gefiel diese Form der Begrüßung nicht, im Gegenteil, es machte ihm Angst. Schnell wandte er sich ab und suchte einen anderen Blickfang. Er sah sich um. Der Raum erinnerte ihn auf den ersten Blick an eine alte Bibliothek, mit rustikaler Einrichtung und einer kleinen Empfangstheke in der Ecke. Doch auch hier ließ die Wanddekoration keine Wünsche eines Jagdfreundes offen. Es begann mit einer Reihe ausgestopfter Vögel an der Wand in den verschiedensten Formen und Variationen. Möwen, die im Sinkflug ihre Flügel ausbreiteten, finstere Krähen, die mit offenen Schnäbeln ins Leere starrten, ein Greifvogel, unter dessen Krallen sich eine erbeutete Maus verrenkte und eine Reihe kleiner Singvögel, aus deren Kehlen sich nur kalter Staub löste, statt fröhlichem Gezwitscher. Georg ließ seine Blicke weiter schweifen und blieb nach jedem Meter erneut an einem schaurigen Ausstellungsstück hängen.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte der Alte in einem Ton, der mit seiner Schärfe die Luft durchschnitt. Hinkebein hatte offenbar bemerkt, dass sein Gast inzwischen stehen geblieben war. Georg löste seinen Blick von den Wänden, sah Hinkebein an und lächelte sein bestes Knopfdrucklächeln.
„Nein, nein! Alles in Ordnung“, log er. „Ich bewundere nur Ihre zahlreichen Trophäen.“
„Ach ja? Tatsächlich?“ Ein Hauch von amüsiertem Spott lag plötzlich in der Luft. Georg ignorierte ihn und folgte Hinkebein, der unaufhaltsam auf die kleine Empfangstheke aus dunklem, massivem Holz zuwankte. Die aufwendige Schnitzerei, inklusive Vertäfelung beeindruckte Georg. Seine Begeisterung hielt sich jedoch in Grenzen, als ihm eine weitere Dekoration des Todes ins Auge fiel - ein ausgestopfter Fuchs. Er stand mit aufmerksamen Blick und Habachtstellung auf dem Tresen und starrte ihn erwartungsvoll und aus nächster Nähe an. Georg ignorierte seinen eindringlichen Blick und vor allem sein offenes Maul, aus dem kleine spitze Zähne ragten. Sie erinnerten ihn unsanft an seine letzte Begegnung mit einem Vierbeiner. Er hoffte sehr, dass das Telefon bald in greifbarer Nähe war, damit er schnellstmöglich wieder von hier Verschwinden konnte. Das hier war in der Tat das reinste Jagdirrenhaus! Hinkebein verschwand hinter der Theke, schaltete eine kleine grüne Tischlampe ein und griff nach einem schwarzen Gerät, das – zu Georgs großer Überraschung - tatsächlich einen Hörer hatte.
„Das macht zwei Reichsmark pro Minute“, knurrte Hinkebein und stellte das schwarze Ungetüm auf den Tresen. Ungläubig schaute Georg auf den Apparat, der ihm mit Telefonschnur und Wählscheibe entgegenlächelte.
„Oh, was für ein seltener Anblick“, bemerkte Georg und berührte das Kommunikationsgerät, das ihn eher an ein antikes Spielzeug, als an ein Telefon erinnerte. „Und das funktioniert noch?“
„Natürlich! Warum sollte es nicht funktionieren?“ Hinkebein sah ihn grimmig an. „Das macht zwei Reichsmark pro Minute!“ Georg starrte sein Gegenüber mit fassungslosem Erstaunen an. Er schien seine lächerliche Forderung mit dieser Wiederholung offenbar tatsächlich Ernst zu meinen. Wo lebte er? Etwa im Dritten Reich?
„Wollen Sie das Geld im Voraus oder kann ich später in Raten zahlen?“, provozierte Georg und schenkte ihm einen vorwurfsvollen Blick. „Zudem kann ich Ihnen im Jahre 2014 nur noch mit Euro dienen.“ Hinkebein sah ihm scharf in die Augen. Und mit einem Male wurde die Beantwortung der Frage, ob und wie der Alte nun nach seinem Anruf wirklich die vertelefonierten Einheiten abkassieren würde, vollkommen unwichtig. Im Schein der kleinen Lampe konnte er Hinkebeins Gesicht klar und deutlich sehen und erkannte den vollbärtigen Mann mit den schneeweißen Haaren. Zumindest war er ihm schon irgendwann einmal begegnet. Er gab sich alle Mühe in seinen Erinnerungen die richtige Zeit und den richtigen Ort zu finden, doch sein Gehirn verwehrte ihm die Antwort.
„Na los, rufen Sie schon Ihre Frau an!“ Georg hob mit zitternden Fingern den Hörer ab, hielt ihn ans Ohr und wartete gespannt auf das Freizeichen. Ein durchgehendes Tuuuuut, das war es, was er jetzt hören wollte. Ein Freizeichen, das Einzige, was ihn jetzt nur noch von Maria trennte. Und während er auf die freie Leitung wartete, drängte sich ihm, nach genauerer Betrachtung, eine berechtigte Frage auf: Woher weiß Hinkebein eigentlich, dass ich meine Frau anrufen will? Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er bei seiner Ankunft die Absicht, Maria anzurufen, erwähnt hatte. Er sah Hinkebein fragend an, doch dieser beachtete ihn nicht und kritzelte stattdessen etwas in ein großes Buch, was aufgeschlagen vor ihm lag. Vielleicht hatte er ihm auch gesagt, dass er Maria anrufen wollte und es nur vergessen? Woher Hinkebein nun diese Information auch hatte, es war vollkommen egal. Maria anzurufen war jetzt das Einzige, was er wollte. Er würde blitzschnell ihre Nummer wählen, sofern eine etwa 80 Jahre alte Wählscheibe eine blitzschnelle Bedienung zuließ. Und es würde vielleicht sogar nur ein einziges Mal klingeln, bis Maria abnahm. Sie wartete gewiss schon sorgenvoll auf seinen Anruf und würde vielleicht ängstlich in den Hörer flüstern: Hallo? Und Georg würde antworten: Ich bin es Schatz! Und sie würde aufgeregt sagen: Georg, was ist passiert? Wo steckst du? Warum hast du nicht angerufen? Und er würde sagen: Entschuldige Süße, ich hatte einen Unfall. Und noch bevor sie ein Bestürztes: Oh mein Gott? aussprechen konnte, würde er sagen: Mach dir keine Sorgen, ich bin okay! Immer noch hielt Georg erwartungsvoll den stummen Hörer an sein Ohr, in dem nichts weiter zu hören war, als ein leises Knacken, das aber, wie er schließlich feststellte, von dem Telefonkabel kam, das unentwegt über das Holz der Theke kratzte. Georg spürte, wie ihm die Hitze der Nervosität ins Gesicht stieg. Kein Freizeichen, kein Anruf. Er sah den Hörer an, als könne dieser ihm die Lösung des Problems verraten. Dann drückte er mehrmals auf die Gabel, in der Hoffnung, dass dies der Schlüssel zum Freizeichen war, doch das Telefon blieb weiterhin stumm.
„Es funktioniert nicht.“ Er schaute Hinkebein Hilfe suchend an.
„Was?“, brummte dieser abwesend.
„Ich sagte, das Telefon, es funktioniert nicht. Die Leitung ist tot.“
„Ach wirklich?“ Georg reichte ihm bereitwillig den Hörer, damit er sich von dem fehlenden Freizeichen selbst überzeugen konnte. Doch er hatte das Gefühl, als ob diese Überzeugung unendlich lange auf sich warten ließ. Wie in Zeitlupe bewegte sich Hinkebein in seine Richtung und nahm den Hörer entgegen. Er legte ihn langsam an sein Ohr und wartete.
„Sie haben recht“, sagte er schließlich und legte auf. „Es ist tot.“
„Und jetzt?“
„Tut mir leid, da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen.“ Hinkebein stellte das Telefon wieder zurück auf seinen Platz und schrieb unbeeindruckt weiter in das aufgeschlagene Notizbuch. Tut mir leid, da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen? Georg starrte den Alten fassungslos an. Er hatte plötzlich das Bedürfnis ihn am Kragen zu packen und ihn zu schütteln. Er wollte ihn anschreien, dass er gefälligst damit aufhören sollte, ihn wie einen lästigen Eindringling zu behandeln. Er wollte ihm sagen, was er in der letzten Stunde für Ängste ausgestanden hatte und er wollte ihm auch sagen, dass er verdammt noch mal ein Scheiß Glück gehabt hatte, dass er auf dieser Straße bei diesem verdammten Sturm und bei diesem Unfall noch nicht gestorben war. Ein klein wenig Anteilnahme an seinem Unglück, das war es, was er in diesem Augenblick verlangte. Anteilnahme und ein funktionierendes Telefon, war das etwa für ein Jagdhaus oder eine Pension zu viel verlangt?
„Haben Sie vielleicht ein Handy?“, fragte Georg hoffnungsvoll.
„Ein Handy!?“, wiederholte der Mann und sein darauffolgender Blick kam einem abfälligen „Haben Sie vielleicht sonst noch irgendwelche Wünsche?“ ziemlich gleich.
„Hören Sie, ich hatte einen Unfall, und ich bin verletzt“, sagte Georg ruhig, aber doch mit einem gewissen Nachdruck. „Ich würde alles andere lieber tun, als Ihre Zeit zu stehlen. Aber ich muss dringend jemanden anrufen, der sich um die Sache kümmert und ich muss auch meiner Frau Bescheid sagen. Die stirbt sonst vor Sorge…“ Oder aber sie stirbt, weil ein verrückt gewordener Jäger ihr den Garaus macht!
„Und es würde auch mir wesentlich besser gehen, wenn ich von ihr hören würde, dass alles in bester Ordnung ist. Dieses Telefon funktioniert nicht, also frage ich Sie, ob es in diesem Haus ein funktionierendes Handy gibt?“
„Ich habe kein Handy“, sagte der Alte unbeeindruckt von seiner Erklärung.
„Vielleicht jemand anderes in diesem Haus? Sie haben doch bestimmt Gäste oder noch weiteres Personal?“
„Natürlich“, sagte der Alte verächtlich. Dann überlegte er kurz und sagte schließlich: „Bitte warten Sie einen Augen-blick.“ Er hinkte gemächlich an Georg vorbei und verschwand hinter einer Tür. Fassungslos starrte er ihm hinterher.
Dieser komische Kauz hat nicht nur eine Behinderung im Bein, sondern auch einen ziemlichen Dachschaden, dachte er und berührte vorsichtig seine pochende Hand. Die Schmerzen hatten inzwischen einen Grad erreicht, den er als ziemlich schlimm einstufte. Er spürte, dass er dringend einen Arzt brauchte.
Wo war er hier nur hingeraten? Was war das hier für ein merkwürdiger Laden, in dem ein funktionierendes Telefon und ein Handy Utensilien aus der weiten Zukunft zu sein schienen? Er seufzte, lehnte sich kapitulierend an die Theke und rieb sich die Stirn. Dann wartete er. Etwas anderes blieb ihm auch nicht übrig. Und während er darauf wartete, das Hinkebein mit einer Lösung im Gepäck zurückkam, ließ er seine Blicke vorsichtig in alle Richtungen wandern. Er war sich sicher, dass er noch nicht alles gesehen hatte, was sich in diesem Raum verbarg. Zunächst blieben seine Augen immer wieder an all den Dingen haften, die ihn mit kalten, toten Glasaugen anstarrten. Am hinteren Ende des Raumes führte eine Treppe nach oben. Georg vermutete, dass es dort zu den Zimmern ging. In unmittelbarer Nähe des Treppenaufganges gab es noch eine weitere Tür, sie sah anders aus als die anderen in diesem Raum. Sie war kleiner, gebogen, mit aufwendigen Schnitzereien und Metallbeschlägen. Über dem Türbogen stand etwas in altdeutscher Schrift geschrieben. Er konnte es auf den ersten Blick aber nicht entziffern. Einen zweiten Blick gab es nicht, denn dieser wurde von einer Reihe sanft tickender Pendeluhren abgefangen. Es waren fünf an der Zahl. Kleine, große und mittlere Prachtstücke mit aufwendigen Schnitzereien. Sie hingen in Reih und Glied an der Wand und sahen ihn mit ihren römischen Ziffern und grinsenden Zeigern freundlich an. Er schlenderte interessiert an ihnen vorbei. Für einen Augenblick hatte er Hoffnung herauszufinden, wie spät es war. Seitdem er im Besitz eines Handys mit einer zuverlässigen Zeitanzeige war, verzichtete er gänzlich auf das Tragen einer Armbanduhr. Die gute Breitling lag nun schon seit Jahren in seinem Nachtischschränkchen und das aus einem simplen aber doch sehr wirkungsvollen Grund – er hasste es, wenn sich die kleinen Härchen seiner behaarten Arme im Metallarmband verfingen. Dann stand er schließlich vor der größten der fünf Uhren. Sie erinnerte ihn an die Pendeluhr aus der Küche, das Erbstück von Marias Großvater. Diese Uhr war besonders edel geschnitzt. Mit Sicherheit ein wertvolles Stück, schätzte Georg. Vielleicht sogar eine Antiquität von unschätzbarem Wert, wenn das Geheimversteck mit Omas gebunkerten D-Mark oder das Diebesgut aus längst vergangenen Zeiten hinter dem Uhrwerk unentdeckt geblieben war. Vielleicht versteckten die Menschen in diesem Haus aber auch ganz andere Dinge in den Uhren? Für einen kurzen Augenblick hatte er große Lust seiner Neugierde nach verborgenen Schätzen auf den Grund zu gehen, sah aber ein, dass er keine besonders gute Ausrede parat hätte, wenn Hinkebein plötzlich wieder um die Ecke käme, während er sich an den Uhren zu schaffen machte. Vielleicht würde dieser dann doch noch nach seiner Flinte greifen und ihn ohne Vorwarnung über den Haufen schießen? Und deinen Kopf würde er gleich neben Bussard und Co. an die Wand hängen! Er schluckte und beschloss im gleichen Augenblick die Uhren nicht anzurühren.
Hatte die Uhr in ihrer Küche eigentlich auch ein Versteck? Er konnte diese Frage nicht beantworten. Allerdings ließ sich im Anschluss auch nicht herausfinden, wie spät es war. Jede Uhr zeigte eine andere Zeit und das willkürlich und ohne erkennbares Muster. Bedrückt und enttäuscht wandte er sich ab und drehte seinen Körper wieder in Richtung Theke. Dort begegnete der ausgestopfte Fuchs zum zweiten Mal seinen Augen.
„Na, Kollege“, sagte er halb laut, halb flüsternd. „Auf wen oder was wartest du denn hier?“ Wie zu erwarten antwortete der Fuchs nicht, sondern starrte ihn nur mit halb geöffnetem Maul an.
„Ah, verstehe! Du darfst nicht reden. Ich würde an deiner Stelle auch nicht reden wollen, wenn man mir das Fell über die Ohren ziehen und es im Anschluss auf einen PU-Block oder Tonkörper stülpen würde.“ Georg kicherte und das, obwohl er seinen plötzlichen Sarkasmus mehr als unangebracht und sogar regelrecht zum Kotzen fand. Eigentlich fand er alles hier zum Kotzen, auch den grausam und stumm keifenden Fuchs. Er legte zur Entschuldigung seine unverletzte Hand auf den Rücken des präparierten Tiers und fuhr ihm sanft über das Fell. Das stumpfe, tote und struppige Haar hinterließ ein unangenehmes Gefühl auf seiner Haut. Ein bösartiges, dumpfes Knurren grollte plötzlich durch den Raum und ließ ihn panikartig zurückschrecken. Dem Knurren folgte ein aggressives Bellen, dann ein merkwürdiges Kratzen und schließlich ein lautes Poltern. Irritiert und ungläubig starrte er den Fuchs an, stellte aber dann erleichtert fest, dass das Knurren aus der Richtung des Fensters unmittelbar neben ihm kam.
Der Hund ist draußen und wartet auf dich!, sagte die vertraute Stimme irgendwo in seinen Kopf. Ein Blick aus dem Fenster lohnte nicht, es war durch die Läden verrammelt und verriegelt – zum Glück, dachte Georg. Nachdem er sich von dem Schreck erholt hatte, begann er sich intensiver mit dem Jagdhaus auseinanderzusetzen. In unmittelbarer Nähe des Telefons hing ein offener Schlüsselkasten und machte mit seiner ausgefallenen Schnitzoptik ebenfalls Eindruck. Ein stolzer Hund – schon wieder ein Hund?! - aus Eichenholz wachte über den sieben Fächern, von denen sechs leer waren. Es hing nur noch ein Schlüssel in seinem Fach und dieser trug die Nummer 3. In Gedanken kombinierte er, dass folglich noch sechs andere Gäste im Haus sein mussten. Also gab es ebenso viele Möglichkeiten an ein funktionierendes Handy zu kommen. Von neuer Hoffnung angestachelt fiel sein Blick plötzlich auf das aufgeschlagene Notizbuch, das augenscheinlich die Dimensionen eines ausgewachsenen Telefonbuchs zu haben schien. Georg schielte über den Rand des Tresens, um besser sehen zu können. Er entdeckte darin eine handgeschriebene Liste. Vielleicht eine aktuelle Gästeliste, dachte Georg und war über diesen Gedanken selbst erstaunt. Es war wirklich kaum zu glauben, dass jemand, der halbwegs Wert auf Gemütlichkeit und die Grundformen von Technik legte, hier freiwillig abstieg. Er schielte dennoch auf das Blatt und versuchte das Geschriebene zu entziffern. Der Alte hatte in der altdeutschen Sütterlinschrift geschrieben, so dass Georg Schwierigkeiten hatte, die richtigen Buchstaben und Worte zu finden. Er las:
1. DER MEDIZINER
2. DER SCHÄFCHENJÄGER
3. --------------------------------
4. DIE FADENSCHEINIGE
5. DIE WOLLLUSTIGE
6. DIE TRUNKSÜCHTIGE
7. DER JÄGER
Er schmunzelte, als er die Namen las. Offenbar hatten die Herrschaften hier doch Sinn für Humor oder er war hier in etwas hineingeraten, zu dem man nur mit einem Pseudonym Zutritt hatte. Er fand diesen Gedanken, je mehr er ihn weiterdachte, äußerst beängstigend. Obgleich der erste Name auch wieder hoffnungsvoll klang. Falls hier wirklich ein „Mediziner“ im Haus war, würde er diesen sogar mit Kniefall begrüßen. Bevor er allerdings in der Lage war, auf die Knie zu fallen, musste er sich einen Augenblick setzen. Er erblickte die kleine Sitzgruppe mit den antik aber auch bequem aussehenden Sesseln und spürte eine nahezu ungehaltene Sehnsucht sich und seinen geschundenen Körper mit dem Polster zu vereinen. Er hatte in den letzten Stunden physische und psychische Höchstleistungen erbracht und sehnte sich nach einem Augenblick Entspannung. Seine Hand schmerzte, die Kälte nagte an seinen Gliedern - trotz, dass er in diesem Haus war – und er fühlte die Müdigkeit, die nur darauf zu warten schien, dass der Schlaf endlich zuschlug. Ob Hinkebein es begrüßte oder auch nicht, er würde sich setzen und ausruhen. Kraftlos und mit einem lauten Seufzer, ließ er sich auf den Sessel fallen und bereute es sogleich. Eine Schmerzwelle überfiel seinen Rücken und ließ ihn kurz aufschreien. Dann begann er wie eine Schwangere den reißenden Schmerz zu veratmen und hoffte, dass diese plötzliche Wehe schnell vorüberging. Dann wartete er weiter. Fünf Minuten, dann zehn.
Verdammt, wo bleibt dieser Quasimodo nur? Alles fühlte sich so unwirklich, so gestreckt und so furchtbar mühsam an. Und auch die Uhren hinter seinem Rücken schienen langsam nervös zu werden. Die Zeit lief und ihm somit immer mehr davon. Das sanfte Ticken war in ein energisches Schlagen übergegangen und untermalte sein Gefühl mit einer ungewöhnlichen Hektik. Sie tickten ruhelos um die Wette, als arbeiteten sie auf ein gewisses Ziel hin.
Tick tack! Und jede einzelne dieser vermaledeiten Pendeluhren zeigte ihm noch weitere unendlich lange Minuten, die vergingen. Das Ticken war inzwischen überall. In seinem Kopf, in Mark und Bein. Das Ticken vermischte sich wieder mit diesem unterschwelligen Brummen, das ihm schon an der Unfallstelle aufgefallen war. Und aus diesem Winkel, hörte sich das Geräusch an, als würde außerhalb dieser Wände immer noch ein mächtiger Sturm toben. Merkwürdig! Äußerst merkwürdig…, dachte er und hörte schließlich auf gegen den Sekundenschlaf anzukämpfen. Er schloss die Augen und hoffte, dass wenn er wieder aufwachte, dieser Albtraum vorüber war.
Das schrille Klingeln eines alten Telefons riss ihn aus seinem Dämmerschlaf. Es schallte durch den Raum, suchte sich unaufhaltsam den Weg in seine Ohren und platzte schließlich brutal in seinen Kopf. Es dauerte einen Augenblick, bis er das Geräusch einordnen konnte, doch als der Groschen fiel, erhellte sich seine Miene. Das Telefon!, dachte er. Ja, es ist dieses gottverdammte Telefon, es klingelte! Und wenn ein Telefon klingelt, bedeutet das für gewöhnlich, dass es auch funktionierte und nicht mausetot war. Georg sprang aus dem Sessel und blickte erwartungsvoll auf die Tür, hinter der Hinkebein verschwunden war. Spätestens jetzt würde es dem alten Mann auch wieder einfallen, dass er hier im Foyer noch einen Job zu erledigen hatte. Und er würde gezwungen sein, sich an ihn zu erinnern. An den Mann, der behauptete einen Autounfall gehabt zu haben und der nun schon seit unendlicher Zeit darauf wartete, endlich telefonieren zu können. Für einen kurzen Augenblick dachte Georg darüber nach aufzustehen und den Anruf selbst entgegen zu nehmen. Aber, auch wenn er sich in einer Art Ausnahmezustand befand, wusste er, wie man sich als Gast, - wenn auch als ungebetener - zu benehmen hatte. Doch das Telefon klingelte unaufhörlich weiter. Von Hinkebein war weit und breit nichts zu sehen. Er sprang auf und scharwenzelte nervös um das klingelnde Gerät herum.
„Hallo?“, rief Georg laut. „Das Telefon klingelt!“ Er lauschte kurz, wartete auf eine Reaktion, die aber dann doch nicht kam.
„Verdammt noch mal, dann geh ich halt selber ran“, zischte Georg. Ja, genau, vielleicht ist es ja wichtig. Entschlossen nahm er den Hörer ab und meldete sich mit einem höflichen: „Rezeption Pension zum alten Jagdhaus, hallo?“ Gespannt wartete er auf eine Antwort, doch zu seinem Erstaunen meldete sich am Ende der Leitung niemand. Seine Verwunderung kippte schließlich in bittere Enttäuschung, als er feststellte, dass die Leitung schon wieder tot war. Georg starrte ungläubig den Hörer an, bevor er ihn ärgerlich auf die Gabel knallte. Verdammt, was geht hier vor? Seine Augen suchten nervös nach Hinkebein oder einem anderen Bediensteten. Das konnte doch nicht sein, dass sie ihn hier einfach sitzen ließen?
„Hallo?! Ist hier jemand?“ Wieder klingelte das Telefon. Ohne nachzudenken, ging Georg wieder ran. Und zu seiner Überraschung meldete sich am anderen Ende der Leitung dieses Mal eine ungehaltene weibliche Stimme, die in den Hörer schrie: „VERDAMMT NOCHMAL, WO STECKST DU? WARUM LÄSST DU MICH SO LANGE ALLEINE?“
„Maria?“, rief Georg erstaunt in den Hörer, obwohl er selbst wusste, wie absurd das eigentlich war. Es war nicht nur absurd, es war vollkommen verrückt zu glauben, dass dies die Stimme seiner Frau war. Maria konnte nicht wissen, wo er war, Maria wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass es diesen Ort überhaupt gab. Aber dennoch hatte diese Stimme genau so geklungen wie ihre.
„Maria, bist du es?“ Erwartungsvoll lauschte er und wartete auf weitere Antwort, selbst wenn es nur ein „Nein, nicht Maria, ich heiße Karin!“ gewesen wäre.
„HEY GEORG!“, donnerte plötzlich eine Stimme durch die Leitung, die auf einmal ganz und gar nicht mehr nach seiner Frau klang.
„ICH HABE ES AUSPROBIERT! FIONA BLÄST WAHRHAFTIG BESSER ALS MEINE PUTZFRAU – ABER DEINE FRAU BLÄST IMMER NOCH AM BESTEN!“ Dann drang schallendes Gelächter durch die Leitung.
Päler?! Georg wurde schlagartig schwindelig. Alles um ihn drehte sich und er hatte das Gefühl, als würde sich der Boden unter seinen Füßen in eine wabernde Masse verwandeln. Er stöhnte auf und kämpfte gegen die plötzliche Flut an tanzenden Punkten vor seinen Augen. Waren es die schleichenden Anfänge einer Blutvergiftung ausgelöst durch einen Hundebiss? Was immer es auch war, es kam äußerst ungelegen. Kein Problem, ich hab alles im Griff!, motivierte Georg seinen Körper, doch er schien ihm nicht zu glauben. In seinem Kopf breitete sich unendliche Schwärze aus und er spürte die Kälte, die unaufhaltsam durch seine Kleidung drang
Maria, der Mantel, er wärmt mich nicht… Ich brauche deine Wärme, sonst sterbe ich…
Plötzlich regte sich etwas aus der Ferne. Er hörte Stimmen und das Schlagen einer Tür. Und dann meinte er so etwas vernommen zu haben wie: Keine Ahnung, er will unbedingt telefonieren! Er versuchte die Augen zu öffnen, doch sie folgten seinem Willen zunächst nicht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm und seinem Körper.
„Ich schätze mal es ist der Kreislauf“, sagte eine unbekannte Stimme aus weiter Ferne. „Und du sagst, er ist einfach wie ein erschossenes Reh umgefallen?“
„Eher, wie ein erschossener Keiler!“ Ein kurzes unterdrücktes Kichern stolperte durch den Raum. Als Georg endlich die Augen aufschlagen konnte, sah er direkt in das faltige und stachelige Gesicht von Hinkebein. Dann tauchte ein zweites Gesicht über ihm auf. Es war jung, nahezu faltenfrei, sanft gebräunt und erinnerte Georg an das Gesicht eines Unterhosenmodels, dass er kürzlich in einer Männerzeitschrift gesehen hatte.
„Guten Abend Georg!“ Der hochgewachsene Mann, mit den dunklen Haaren lächelte freundlich und reichte ihm die Hand. Erst jetzt bemerkte Georg, dass er nicht wie erwartet auf irgendeinem Stuhl saß, sondern auf dem Boden lag. Georg nahm die Stütze dankend an, war überrascht über diesen festen Griff, setzte sich auf und legte direkt im Anschluss stöhnend die Hände auf seinen vor Schmerzen pochenden Kopf. Aufzustehen wagte er jedoch noch nicht.
„Was ist passiert?“, fragte er gequält und sah Hinkebein Hilfe suchend an.
„Woher soll ich das wissen?!“, knurrte der und zuckte mit den Schultern. „Sie sollten hier warten und nicht herumschnüffeln. Wer schnüffelt, könnte ein böses Erwachen erleben, wie Sie gerade bemerken.“
„Ich habe auf Sie gewartet und nicht herum geschnüffelt. Sie sind nicht wiedergekommen. Das Telefon hat vorhin geklingelt.“
„Ja, ich weiß. Und Sie sind einfach ran gegangen. Das war nicht Dienst nach Vorschrift, Herr Blumenfeld. Haben Sie eigentlich jemals gedient?“ Georg starrte Hinkebein fassungslos an. Er wollte antworten, doch ihm fehlten die Worte. Sie wurden verdrängt von der Erinnerung an das, was er vorhin durch das Telefon gehört hatte. Erst war da die Stimme von Maria und dann plötzlich die von Päler? Hatte er sich einfach nur verhört oder aber spielte man hier ein böses Spiel mit ihm? Er musste es herausfinden. Und er musste auch herausfinden, warum er aus heiterem Himmel das Bewusstsein verloren hatte. Er spürte, dass er den Tränen nahe war.
„Lass dich nicht von ihm ärgern“, mischte sich der andere Kerl plötzlich ein. „Alois ist ein komischer und vor allem ein ziemlich brauner Kauz, aber ungefährlich.“ Georg lächelte gequält und nickte skeptisch.
„Ich hatte nicht so schnell mit dir gerechnet“, sagte der Mann. „Ehrlich gesagt, hatte ich überhaupt nicht mit dir gerechnet.“
„Nicht mehr mit mir gerechnet?“ Georg stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Langsam versuchte er, seinen Körper wieder aufzurichten. Ein leichtes Schwindelgefühl ließ ihn taumeln, worauf der Dunkelhaarige schnell auf ihn zu trat und ihn zu stützen versuchte.
„Setz dich lieber“, sagte er und schob Georg mit sanfter Gewalt in Richtung des Sessels. „Dein Kreislauf muss sich erst wieder stabilisieren.“
„Sie haben nicht mehr mit mir gerechnet?“ Georg starrte den Mann irritiert an. „Ich befürchte, ich verstehe nicht ganz. Kennen wir uns?“
„Ob wir uns kennen?!“ Der Mann sah Georg mit ernster Miene an. „Soll das etwa bedeuten, dass du keinen Schimmer hast, wer ich bin?“ Georg schüttelte den Kopf.
„Leider nein.“ Der Mann lachte laut und in seinem Lachen fand sich eine Spur Hohn.
„Du machst Witze! Hey Kumpel, ich bin`s - Toni!“ Nervös und mit einem Gefühl im Bauch, als würden ihm gleich noch weitere Dinge offenbart, die in seinem Hirn unauffindbar waren, rutschte er auf dem Sessel hin und her. Er war sich nicht sicher, ob der Mann, der sich Toni nannte, ihn auf den Arm nehmen wollte oder dieser ihn wirklich kannte. Immer wieder sah Georg ihn aufmerksam an, um zumindest einen Anhaltspunkt zu finden. Der Typ erinnerte ihn an jemanden, so viel stand fest, aber er wusste nicht an wen.
„Gerne können Sie mir gleich die Geschichte erzählen, woher wir uns kennen“, begann Georg ruhig, seine bebende Stimme verriet jedoch seine Aufregung. „Aber zunächst, bitte, muss ich telefonieren. Ich hatte dort draußen einen Unfall. Mein Auto ist nur noch ein Schrotthaufen und ich habe mich an der Hand verletzt. Mein Handy ist unbrauchbar und das Telefon hier funktioniert leider nicht. Oder besser gesagt, es scheint eine Störung zu haben. Ich hoffe, dass Sie wenigstens im Besitz eines Handys sind, Toni?“ Er schenkte ihm einen hoffnungsvollen, fast schon flehenden Blick.
„Ein Handy?“, fragte der Toni-Mann erstaunt und es klang genauso ungläubig und zu viel verlangt, wie dieser Alte es vorhin hatte verlauten lassen.
„Ja, ein Handy!“, zischte Georg und sprang auf. „Hören Sie, ich muss meine Frau anrufen! Sie wird schon ganz verrückt sein vor Angst und ich bin es inzwischen auch schon. Zudem habe ich die Befürchtung, dass ihr jemand etwas antun will. Ich muss also dringend nach Hause. Himmel, wie schwer kann es in Deutschland sein, ein einfaches Telefonat zu führen?“
„Oh, jetzt wird er aber ein klein wenig ungehalten“, flüsterte Toni Hinkebein zu. Sein amüsierter Gesichtsausdruck blieb Georg dabei nicht verborgen.
„Nehmen Sie mich etwa auf den Arm?“, platzte es wütend aus Georg heraus. „Himmel, was läuft hier eigentlich?“
„Niemand nimmt dich hier auf den Arm, Georg, höchstens du dich selbst.“ Toni kicherte. „Apropos, wie lange gedenkst du zu bleiben?“
„Wie lange ich bleiben werde?“, wiederholte Georg ungläubig. Ein Haus inmitten einer Einöde: Umringt von tiefen Wäldern und Schluchten des Siebengebirges, fernab jeglicher Zivilisation. Bisher hatte er noch an einen als Jagdhaus getarnten Puff geglaubt, aber jetzt war er sich sicher, diese Hütte war ausschließlich für exzentrische Schießfreunde da. Hier wollte er keine Minute länger bleiben als nötig.
„Wenn Sie in der Lage sind, mir neben Feuerwehr und Polizei auch einen Pannendienst zu besorgen, mir zudem ein Telefonat mit meiner Frau ermöglichen könnten, dann bin ich hier schneller weg, als Sie gucken können.“
„Das wäre jammerschade!“, sagte Toni bedauernd. „Aber eigentlich hast du gar keine Wahl. Du befindest dich gerade in einer ziemlich misslichen Lage. Es ist spät. Draußen ist die Hölle los, die Straßen sind weitgehend gesperrt. Fiona fegt über Deutschland, es liegen zahllose Bäume auf der Straße – unter anderem auch einer auf deinem Auto. Vorhin im Radio haben sie sogar von Ausnahmezustand geredet. Es wurde ausdrücklich darum gebeten, die Häuser nicht zu verlassen. Wie hoch ist die Chance, dass jetzt einer die Annatalstraße heraufkommt und dich findet? Du wirst wohl oder übel die Nacht hier verbringen müssen.“
„Das geht nicht! Ich muss nach Hause! Ich muss telefonieren – woher wissen Sie, dass ein Baum auf meinen Wagen gefallen ist?“ Toni zuckte mit den Schultern.
„Hast du mir das nicht gerade erzählt?“ Georg schüttelte den Kopf und versuchte seine hereinbrechenden Gedanken in Schach zu halten.
Nein, ich habe ihm ganz sicher nicht gesagt, was passiert ist. Folglich muss er es gesehen haben. Und wenn er Vorort war, warum hat er mir nicht geholfen? War er vielleicht sogar dieser verrückte Jäger? Georg wich instinktiv zurück und beobachtete jede einzelne Bewegung von Toni, der gerade sagte:
„Du glaubst allen Ernstes, dass es hier mit ein, zwei Anrufen getan ist?“ Georg schaute den Mann verwundert an. Er verstand seine Frage nicht.
„Ja, natürlich ist es damit getan! Meine Frau wird sich keine Sorgen mehr machen. Feuerwehr, Polizei, wer auch immer, irgendjemand wird kommen, die Straße freiräumen, mein Auto abschleppen und mich nach Hause bringen.“ Toni lachte.
„Du hast wirklich keine Ahnung, was?“ Georg sah ihn fragend an.
„Wovon habe ich keine Ahnung?“
„Vergiss den Anruf und vergiss auch die Idee, dieses Haus heute noch zu verlassen. Der einzige Ort, an dem du im Augenblick sicher bist, ist hier! Solange du nicht nach draußen gehst und hier in diesem Haus bleibst, bist du sicher. Verlässt du diese Pension, bist du zum Tode verurteilt. Der Tod lauert auf dich dort draußen, Georg. Du hast ihn doch vorhin schon kennengelernt, oder?“
„Wer sind Sie?“, fragte Georg ernst und schaute Toni abschätzend an. „Ich meine, wer sind Sie wirklich?“ Der Mann legte den Kopf zur Seite und grinste.
„Das wirst du schon noch früh genug erfahren. Ich denke, du solltest dich zuerst etwas ausruhen. Du siehst nämlich sehr schlecht aus und, wie du schon sagtest, bist du verletzt.“
„Sie haben doch einen Arzt im Haus“, fragte Georg und ohrfeigte sich in Gedanken zugleich für diese voreilige Bemerkung. Vielleicht wäre es klüger gewesen, die Frage etwas intelligenter und weniger verräterisch zu stellen. Jetzt war es allerdings raus und somit zu spät.
„Sehen Sie Herr Toni, er hat geschnüffelt!“, fauchte Alois und zeigte mahnend den Finger auf ihn. Toni gab Hinkebein ein Zeichen, sich zurückzunehmen.
„Alois, beruhige dich. Georg hat lediglich einen Blick in unser Gästebuch geworfen, um festzustellen, ob noch ein Zimmer frei ist. Und ja, wir haben einen Arzt hier im Haus. Allerdings ist Dr. Alois schon seit vielen Jahren im Ruhestand. Aber ich denke, er ist gerne bereit, sich deine Hand einmal anzusehen… das machst du doch Alois, oder?“ Er sah Hinkebein scharf in die Augen. Erst jetzt verstand Georg, das er der Arzt aus Zimmer Nummer 1 sein musste. Er schluckte.
„Nun zeigen Sie schon her“, knurrte Hinkebein widerwillig. Und noch widerwilliger reichte ihm Georg seine verletzte Hand. Hinkebein setzte eine Brille auf, begann unsanft den Knoten des Taschentuchs zu lösen und legte die Wunde frei. Georg wollte nicht hinsehen. Er spürte nur den kalten Luftzug an den vom Hund zerfetzten Stellen und er spürte auch, dass seine Hand inzwischen so angeschwollen sein musste wie ein Boxhandschuh.
„Also wenn Sie mich fragen, würde ich Ihnen zu einer Amputation raten“, sagte Dr. Hinkebein.
„Ich frage Sie aber nicht!“, zischte Georg und zog energisch seine Hand aus seinen Fängen.
„Nur zu Ihrer Information: Ich bin kein Stümper. Ich war damals im Krieg ein angesehener Arzt unter anderem darauf spezialisiert, Gliedmaßen zu amputieren.“
„Meine Hand wird nicht amputiert!“
„Noch nicht!“, lächelte Toni und klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter. „Zugegeben, Alois bevorzugt die radikale Methode, ich rate dir an dieser Stelle, die Wunde fest zu verbinden und darauf zu hoffen, dass dein Körper genug körpereigene Schmerzmittel hat, damit du durchhältst.“
„Sie haben keine Schmerztabletten im Haus?“, Georg sah ihn ungläubig und der Verzweiflung nahe an. Toni schüttelte den Kopf und reichte Hinkebein Verbandszeug. Und während Alois missmutig Georgs Hand umwickelte und dabei nicht gerade zimperlich mit ihm umging, trat der Mann, der sich Toni nannte hinter die Theke und griff dann nach dem letzten vorhandenen Schlüssel am Schlüsselbrett.
„Dieser ist für ein gemütliches Zimmer im oberen Stockwerk“, sagte er und reichte ihm den Schlüssel. „Lehn dich zurück, ruh dich aus, mach es dir bequem, die Nacht könnte lang werden. Alois wird dich nach oben bringen.“ Dann schrieb er etwas in das dicke Buch. Offenbar ergänzte Toni einen Vermerk auf der Liste hinter der Nummer 3 – wie er ihn wohl nennen würde?
DER VERGESSLICHE?
DER IDIOTISCHE?
DER TODGEWEIHTE?
Er würde es bei nächster Gelegenheit überprüfen. Georg nahm den Schlüssel seufzend an sich. Solange er nicht mit Maria gesprochen hatte, würde er sich keine Sekunde ausruhen können. Allerdings hatte er die Hoffnung in diesem Haus auf jemand anderes – vielleicht einen normalen Menschen – zu treffen noch nicht aufgegeben. Er war sich sicher, irgendjemand wird ihm früher oder später mit einem funktionstüchtigen Mobiltelefon weiterhelfen. Toni hob die Hand zu einem Abschiedsgruß und sprach ihm ein lautes: „Wir sehen uns!“ entgegen. Dieser Satz, der fast schon wie eine Bedrohung klang, hallte Georg noch lange nach.
Er folgte Hinkebein die Treppe hinauf. Und während er die Stufen hinaufstieg, wurde er das Gefühl nicht los, als würde dieser Toni irgendetwas im Schilde führen. Irgendetwas Ungutes.
Es waren wieder unendlich viele Stufen, die unendlich viel Zeit und Kraft kosteten. Als sie das Ende der Treppe erreichten, traten sie auf einen schmalen Flur, der ihm, genau wie die Treppe, endlos lange vorkam. Seichtes Licht geleitete auch hier den Weg. Der Gang war sehr schmal, die Wand mit dunklem Holz vertäfelt. Auf dem Boden lag ein Läufer, der ebenso lang war, wie der Gang. Der Teppich, er vermutete, dass es sich hierbei um einen echten Perser handelte, erinnerte ihn an das Laufbett eines Sportlers. Wie ein Läufer, dachte Georg und musste über dieses Wortspiel fast lachen. Und in der Tat fühlte er sich, wie ein Marathonläufer, der nach stundenlangem Kampf um die Medaille endlich das Ziel erreichen wollte, um dann, gleich hinter der Linie erschöpft zusammenzubrechen. Und plötzlich sehnte er sich förmlich nach dem erlösenden Zusammenbruch – das allerdings wollte er erst hinter der verschlossenen Türe seines Zimmers, das ihm so bereitwillig zur Verfügung gestellt wurde, geschehen lassen. Eigentlich könnte er selbst schon etwas mehr Dankbarkeit zeigen, fand Georg. Doch dann beschäftigte ihn mit einem Male die Frage nach dem Preis für eine Übernachtung mit Frühstück. Vielleicht hätte er sich vorher erkundigen sollen, bevor der Wucher wieder zuschlug. Georg erinnerte sich an die energische Forderung von Hinkebein, 2 Reichsmark pro Einheit für ein Telefonat zu zahlen. Georg lächelte mitleidig. Er schien also auch einer von diesen ewig Gestrigen zu sein, die sich mit aller Gewalt dagegen sträubten Neues und Modernes zu akzeptieren. Hinkebein, der laut Toni Alois hieß, stapfte weiter schweigend voran. Georg war erstaunt, dass solch ein merkwürdiger Mensch, der aus irgendeinem Hitchcockfilm hätte stammen können, so einen ganz gewöhnlichen Vornamen wie Alois hatte und auch noch Arzt war - ein Dr. med. in Amputation, um genau zu sein. Und während Hinkebein vor ihm über den Flur schwankte, stellte er sich die Frage, ob Alois auch eine Amputation an sich selbst durchgeführt hatte? Das Bild dazu in seinem Kopf war grotesk, sowie auch der ganze Mensch irgendwie grotesk war. Und als Alois schließlich stehen blieb, sich wackelnd umdrehte und ihn mit finsterem Blick anstarrte, hatte er fast schon etwas Bedrohliches an sich. Bedrohlich, aber doch auf eine ganz bestimmte Art und Weise bemitleidenswert.
„Wir sind da! Hier ist Ihr Zimmer.“
„Vielen Dank …“, sagte Georg freundlich und zögerte. „Ähm, Alois, darf ich Sie etwas fragen?“
„Wenn es sein muss!“, knurrte er.
„Kennen Sie Toni schon lange?“ Alois starrte Georg verwundert an. Offenbar war er auf Fragen dieser Art nicht vorbereitet. Es war anzunehmen, dass eine vernünftige Antwort entweder in sehr weiter Ferne oder gar nicht zu finden war.
„Was geht Sie das an?“
„Nichts!“, antwortete Georg. „Allerdings behauptet Toni, mich zu kennen und ich habe absolut keine Erinnerung an irgendeine Verbindung. Sie kennen ihn doch bestimmt wesentlich besser und länger. Vielleicht macht er gerne diese Art von Scherzen bei seinen Gästen?“ Alois nickte nachdenklich und schien tatsächlich nach einer geeigneten Antwort zu suchen.
„Das Einzige, was ich Ihnen hierzu sagen kann, ist: In seinem schwarzen Humor liegt stets die Wahrheit verborgen. Seien Sie daher auf der Hut und tun Sie lieber, was er sagt.“ Georg nickte nachdenklich, wusste aber mit dieser Information nicht viel anzufangen.
„Was sind das für Gäste, die hier wohnen?“
„Ich glaube, ich bin nicht berechtigt mit Ihnen darüber zu sprechen, zumal ich selber Gast hier bin.“
„Ein Gast, der Gäste empfängt? Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, was? Ist hier das Personal entlaufen? Na, kommen Sie schon! Sie arbeiten doch für diesen Toni! Und wenn Sie mir ein bisschen was erzählen, dann lasse ich Ihnen auch ein nettes Trinkgeld zukommen.“
„Wollen Sie mich beleidigen? Ich bin ein anständiger Deutscher und ein angesehener Arzt! Ich verbitte mir solche unglaublichen Anmaßungen!“
„Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“ Hinkebein verabschiedete sich mit einer halbherzigen Handbewegung und hinkte kopfschüttelnd von dannen. Georg schaute ihm noch einen Moment hinterher, dann blickte er auf den Schlüssel in seiner Hand. Ein kleiner silberner Schlüssel, der an einem Anhänger in Zapfenform hing und die Aufschrift „NR. 3“ eingraviert hatte. Die Eichenholztüre vor ihm, trug ein kleines Schild auf der ebenfalls eine 3 stand. Alles schien seine Richtigkeit zu haben, dennoch zögerte er, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und das Zimmer zu betreten. Er witterte die Chance, doch noch schnellstmöglich an sein Telefonat zu kommen. Hierzu müsste er allerdings jemanden antreffen. Er schaute abwechselnd in beide Richtungen. Hinkebein war inzwischen verschwunden, der Flur war leer. Er lauschte. Bis auf das monotone Summen war kein Laut zu hören. Noch nicht einmal ein eingeschalteter Fernseher eines Pensionsgastes. Oder doch? Offenbar lief hier irgendwo Musik. Er erinnerte sich an die Gästeliste und die anderen sechs fehlenden Schlüssel. Sein Blick fiel auf die Tür nebenan - Zimmer Nummer 2. Hier müsste jemand wohnen, den sie den SCHÄFCHENJÄGER nannten. Kurios, dass er gerade über diesen Ausdruck stolperte, wo er doch Joachim Päler diesen Titel verpasst hatte. Entschlossen, aber doch mit einer gewissen Vorsicht klopfte er an der Tür und wartete einen Augenblick. Er hörte Schritte im Inneren, die aber mit einem Male zum Stillstand kamen. Nachdem sich nichts weiter tat, klopfte er noch ein weiteres Mal.
„Entschuldigen Sie die Störung“, rief er schließlich halblaut. „Mein Name ist Georg Blumenfeld, ich belege das Zimmer mit der Nummer drei – also gleich nebenan – und ich bräuchte Ihre Hilfe. Ich hatte dort draußen einen Unfall. Ich muss dringend telefonieren. Haben Sie zufällig ein Handy?“ Er lauschte gespannt, bekam aber keine Antwort. Schließlich legte er sein Ohr an die Tür, in der Hoffnung von dort drinnen irgendeine Reaktion einfangen zu können. Allerdings dachte er auch über die Gefahr nach, dass gerade in diesem Augenblick dieser jemand die Tür aufreißen und ihn beim Lauschen erwischen könnte. Er ließ es. Warum machte dieser Gast verdammt noch mal nicht einfach auf? Er war sich sicher, dass der Bewohner dieses Zimmers ihn klar und deutlich gehört haben musste. Selbst ein energisches „Verpiss Dich!“ wäre ihm lieber gewesen als dieses ignorante Schweigen.
Er beschloss vorerst, die Suche nach dem Telefon aufzuschieben. Er fühlte sich nicht gut. Da war nach wie vor dieser furchtbare Geschmack im Mund, der ihm eine unterschwellige Übelkeit bescherte. Er musste sich dringend einen Augenblick hinlegen, über seine Situation nachdenken und zur Ruhe kommen. Entschlossen öffnete er seine Zimmertür und trat vorsichtig ein. Der Raum war ungewöhnlich groß. Viel zu groß, als dass man ihn wirklich als Einzelzimmer einer Pension hätte definieren können. Er hatte Platz für ein großes, sauberes Holzbett und ein antikes Sofa aus braunem Leder mit zwei passenden Sesseln und einem massiven Holztisch. Alt, edel und stilvoll, dachte Georg und verdrängte für einen kurzen Augenblick, dass auch in diesem Zimmer der Grad zwischen Staunen und Abscheu nicht besonders breit war. Er ignorierte die beiden ausgestopften Krähen an der Wand und richtete seinen Blick in eine andere Richtung. Auf der gegenüberliegenden Wand hingen zwei alte Ölgemälde. Mit flüchtigem Blick erkannte er hier verschiedene Jagdszenen aus längst vergangenen Zeiten. Er trat näher und betrachtete aufmerksam das erste Bild. Es zeigte einen Fasan, der stolz auf dem Ast einer hohen Tanne saß. Er schien sich sicher zu fühlen und blickte hinab ins Tal und wartete dort auf den Sonnenuntergang. Nein, korrigierte Georg in Gedanken. Er wartet dort auf seinen Abschuss. Er richtete seinen Blick auf das nächste Bild. Hier lag der Fokus auf einem toten Reh, umringt von drei Jagdhunden. Das Reh blutete aus einer Wunde und über allem lag der stolze Blick des Waidmannes, der mit geschultertem Gewehr und einem toten Hasen im Gepäck lächelnd auf seine Beute deutete. Und er musste besonders hier zugeben, dass des Malers Pinselstrich gekonnt war. Im Gegensatz zu den Malkünsten seiner Frau wusste er, was auf jedem einzelnen dieser Bilder zu sehen war – auch wenn ihm das Abgebildete nicht sonderlich gefiel. Ja, der Maler dieser Bilder trug mit viel Liebe zum Detail einiges dazu bei, dass sein Gefühl von Unbehagen besonders beim Betrachten dieses letzten Bildes einen weiteren Höhepunkt erreichte. Es erinnerte ihn an ein Geschehen, das bisher irgendwo ganz tief in ihm verborgen war und eigentlich auch dort versteckt bleiben wollte, doch es war zu spät. Der Film lief und flimmerte unaufhaltsam und in bester HD-Qualität, inkl. Dolby Surround durch seinen Kopf.
Es war 1985, er war etwa zehn Jahre alt. Es war so ruhig und so friedlich in diesem Waldstück. Alles war so perfekt, so traumhaft schön. Der warme Sommerregen fühlte sich wie Balsam auf seiner Haut an und es lag wieder dieser frische Duft in der Luft. Es roch nach getränkter Erde, feuchtem Moos und Gras. Die Rehherde hatte sich wieder aus dem Schutz des Waldes gewagt, um sich am satten Grün zu erfreuen. Georg lächelte und, als wenn er einen alten Freund begrüßen wollte, hob er die Hand. Ein Hirsch mit stolzem Geweih sah auf, und schien seinen Gruß mit einem sanften Augenaufschlag und wackelndem Schwänzchen zu erwidern. Dann war es so weit: Die Wolken taten sich feierlich auf, um auch der Sonne Einlass zu gewähren. Mit ihren goldenen Strahlen verwandelte sie den Sprühregen in glitzernde Kristalle und die Lichtung wurde in ein Meer aus reflektierenden Glasperlen getaucht. Mit der Sonne erwachte auch der Regenbogen, der sich unaufhaltsam wie ein farbenfroher Schutzring über den atemberaubenden Moment stellte und somit die Ganzheit dieses kleinen Wunders vervollständigte. Ein Ort voller Kraft und Magie, der inneren Ruhe und des Friedens. Hier fühlte er sich wohl und er war sich sicher, dass nichts und niemand auf dieser Welt diesen wunderbaren Augenblick zerstören konnte. Nichts und niemand auf dieser Welt. Ein Schuss krachte durch die friedliche Stille. Georg zuckte erschrocken zusammen. Die Rehe flohen mit hektischen Sprüngen ins Gebüsch, nur eines nicht. Das Weibchen blieb stehen. Es schaute Georg mit weit aufgerissenen Augen an und öffnete dann das Maul zu einem röhrenden Schrei. Noch nie hatte Georg ein Reh schreien gehört. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, den Laut eines Rehs überhaupt schon einmal gehört zu haben und dieser Laut ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Es ließ ihn sogar für einen kurzen Augenblick vergessen, dass soeben ein Schuss gefallen war und er sich eventuell in Gefahr befinden könnte. Er stand da und sah das Tier an, auf dessen Stirn sich der weiße Fleck allmählich rot zu färben begann. Das Reh begann zu zittern, seine Vorderbeine knickten ein. Dann begriff er plötzlich.
Nein, sagte er leise. Er trat einen Schritt auf das sterbende Tier zu. Wieder dieser schreckliche Laut aus seiner Kehle. Dann brach es zusammen. Zuckend lag es auf der Wiese. Weinend fiel er auf die Knie. Oh nein, bitte nicht! Er streckte seine Hand aus und legte sie auf den Bauch des Tiers. Es atmete nicht mehr. Er spürte nur noch ein leichtes Flimmern, was schließlich mit einem letzten Zucken beendet wurde. Das Reh war tot. Und was einmal tot ist, kehrt nie wieder zurück. Nie wieder! Ein Mann stapfte aus dem Dickicht, dicht gefolgt von einem Hund, der aufgeregt seine Schnauze in das tote Tier drückte.
Bruno aus! Lass das!, brüllte der Mann und trat nach dem braunen Hund. Bruno jaulte auf und sprang knurrend zur Seite.
Sauberer Kopfschuss, genau zwischen die Augen, sagte er zufrieden und hing sich sein Gewehr um die Schulter. Georg starrte den Mann fassungslos an. Er war nicht imstande irgendetwas zu sagen oder zu tun. Er kämpfte mit den Tränen und mit dem starken Drang den Mann anzuschreien. Doch in seiner Erinnerung blickte er nur in dieses versteinerte und finstere Gesicht und schließlich auf dessen rechte Hand, die plötzlich ein Messer zückte und es ihm vor die Nase hielt. Das Messer hatte eine kleine, merkwürdig aussehende Klinge, die leicht gebogen war.
Hier, das ist dein Job! Und wehe du vermasselst es schon wieder! Georg wich zurück und schüttelte den Kopf. Er wusste, was der Mann von ihm verlangte und er wusste auch, dass er das auf gar keinen Fall tun wollte. Schon oft musste er mit ansehen, wie er vor seinen Augen Tiere erlegte und sie im Anschluss „aufbrach“ – zumindest nannte er so diese schreckliche Prozedur, die Georg selbst als ausschlachten betitelte. Und es schien dem Mann auch immer wieder helle Freude zu bereiten die dampfenden Eingeweide aus den Körpern zu zerren.
Los! Mach schon! Ich habe nicht ewig Zeit! Das Tier muss auch noch nach Hause gebracht werden. Er stieß ihn mit dem Messer an. Die Spitze hinterließ einen roten Punkt auf seinem Oberarm. Er begann wieder zu weinen.
Jetzt heul hier nicht schon wieder herum, du jämmerlicher kleiner Bastard! Du wirst diesem Reh nun den Bauch aufschlitzen, sonst schlitze ich dir deinen auf! Georg fuhr sich nervös durch die Haare. Das reichte ihm. Er hatte keine Ahnung, woher diese Erinnerungen so plötzlich kamen und warum er gerade in diesem Augenblick mit ihnen kollidierte. Getroffen von den Bildern aus längst vergangenen Kindertagen wandte er sich abrupt von den Gemälden ab und suchte fieberhaft nach Ablenkung.
„Himmel, wo bin ich hier nur hingeraten“, seufzte er leise und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Irgendwoher ertönte plötzlich Musik. Offenbar war sein Zimmernachbar wach geworden und hatte das Radio lauter gestellt. Deutlich lauter, dachte Georg und lauschte.
„Hier noch mal Charly Hansen, mit weiteren Verkehrsmeldungen für die Region. Ihr werdet es nicht glauben, aber inzwischen ist auch die Kennedybrücke in Bonn für Autos, Radfahrer und Fußgänger gesperrt. Der öffentliche Nahverkehr hat den Betrieb vollständig eingestellt. Die Bahn meldet, dass in den Bahnhöfen gestrandete Züge als kostenlose Unterkunft zur Verfügung gestellt werden. Wenn ihr jetzt noch draußen unterwegs seid, grabt euch am besten irgendwo ein Loch in die Erde und wartet, bis ihr irgendwann vom THW geborgen werdet – Fiona leistet wirklich ganze Arbeit und sie hat offenbar die Lust noch lange nicht verloren… und wie sieht es mit eurer Lust aus?“ Jetzt hatte er es auch noch einmal offiziell – insofern man die Nachrichten eines regionalen Senders offiziell nennen durfte. Fiona war also immer noch im Lande. Und nicht, wie er vermutet hatte – inzwischen abgezogen. Irritiert und kraftlos zog er seinen Mantel aus, warf ihn über einen Stuhl und ließ sich aufs Bett fallen. Auf dem Nachttisch lag ein Buch. Georg ahnte, welcher Bestseller ihn dort erwarten würde und berührte die Bibel mit dem Finger. Die kann mir heute wohl auch nicht mehr helfen, dachte er und beschloss auch ohne Gottes Segen zu ruhen. Nur einen kleinen Augenblick oder zumindest so lange, bis er sich wieder in der Lage fühlte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wusste nicht, wie spät es war und ob er in dieser Nacht überhaupt noch etwas ausrichten konnte. Vielleicht schliefen alle Pensionsgäste friedlich in ihren Mietbetten und würden ihre verrammelten und verriegelten Zimmer auch erst morgen früh wieder verlassen? Im Radio lief das Intro von einem Song, der sich noch als undefinierbar zu erkennen gab. Doch auch wenn er weder Lied noch Interpret kannte, stolperte er ungebremst über die ersten Zeilen und spürte, wie sein Verstand ihm die tiefe Bedeutung um die Ohren schlug. Es ging um die tiefe Liebe zu einer Frau, die ihren Mann verlässt, weil er unfähig war, auf sie und ihre kostbare Liebe aufzupassen. Sie wirft ihm vor, durch seine dunkle Seite alles vermasselt zu haben. Sie vertraut ihm nicht mehr und hat Angst vor ihm. Seine Augen füllten sich plötzlich mit Tränen.
Verfluchte Scheiße, warum musste das alles passieren? Schließlich schlief er ein. In diesem unruhigen Schlaf träumte er einen seltsamen Traum. Er träumte, dass er die B42 nach Bad Hönningen entlang fuhr. Es war dunkel und es stürmte. Und er träumte auch, dass plötzlich Maria mitten auf der Straße stand, um ihn aufzuhalten. Und sie sagte in die tiefschwarze Nacht: Ja, Georg du hast recht. Du bist es nicht wert, geliebt zu werden. Nichts geschieht ohne Grund. Und der Grund, warum ich es mit Joachim treibe, ist, dass ich festgestellt habe, dass es sich kontraproduktiv auf meinem Kinderwunsch auswirkt, wenn du es nicht bringst. Ja, du bist ein Schlappschwanz und das ist auch der Grund, warum wir keine Kinder haben! Und als sie das sagte, hatte er Gas gegeben und sie über den Haufen gefahren. Einfach so. Er hatte auch jetzt noch den dumpfen Schlag im Ohr und das knackende Geräusch, als er über ihren Körper gefahren war. Und er hatte geweint, als er das tat. Er hatte so laut geweint, dass er selbst davon wach wurde. Und mit dem Aufwachen kam auch gleich die Übelkeit zurück. Er hatte plötzlich das Gefühl sich übergeben zu müssen. Irgendetwas lag in seinem Magen, was mit aller Gewalt raus wollte. Und auch dieser widerliche metallische Geschmack war wieder da. Hektisch sprang er auf, stolperte in das kleine Badezimmer, warf sich über die Toilette und übergab sich ohne weitere Vorwarnung.
„Oh mein Gott, Maria!“, sagte er halblaut und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Doch der bittere Geschmack von Erbrochenem und Blut blieb an ihm haften. Auch die Musik war verstummt, stattdessen hörte er wieder KFM Moderator Hansen, der aus dem Nebenzimmer seine sarkastischen Parolen weitertrug und dabei selbst über seine Witze lachte. Irgendwie war er sogar froh darüber, seine Stimme zu hören. Es war nur ein Traum! Ein dummer, kleiner, böser Traum! Er befeuchtete seine Lippen mit der Zunge und stellte dabei fest, dass sie spröde und rissig waren. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas getrunken hatte. Vielleicht beim Treffen mit den anderen von der Baustelle? Nein, er hatte den Latte Macchiato kurz angenippt, aber dann doch stehen lassen. Er erhob sich von der Toilette, betätigte die Spülung und schleppte sich ans Waschbecken. Hier wollte er sich den Luxus von kaltem, klarem Wasser auf Gesicht und Zunge gönnen. Er drehte den Hahn auf und wartete sehnsüchtig auf das erlösende Nass. Doch es kam nicht. Ein metallisches Grunzen ertönte aus der Leitung, dann ein dumpfes Grollen, bis sich schließlich irgendetwas die Leitungen hinaufschleppte, um sich einen Atemzug später mit einem unangenehmen Geräusch im Waschbecken zu ergießen.
„Das ist ja ekelhaft“, stöhnte Georg und verzog angewidert das Gesicht. Die braune Brühe roch noch schlimmer als das, was er vorhin aus seinem Magen in die Toilette befördert hatte. Seufzend trat er zurück in den Wohnbereich. Vielleicht gab es hier eine Minibar? Wenn das der Fall wäre, - und das schwor sich Georg – würde er sich auf jeden Fall ein oder zwei Drinks gönnen. Nüchtern war dieses Theater hier ohnehin nicht mehr zu ertragen. In Gedanken freute er sich schon auf die prickelnde Wirkung des Alkohols, inklusive möglichen Rausch, als plötzlich etwas dicht hinter ihm vorbeihuschte. Erschrocken fuhr Georg herum. Nur aus dem Augenwinkel konnte er die schemenhaften Konturen eines kleinen Körpers erkennen, der von der einen Ecke des Zimmers in die andere flitzte und dort hinter dem Sofa verschwand. Sein Gefühl war vor Schreck eingefroren, nur sein Verstand verriet ihm, dass hier etwas ganz gewaltig schief und in eine ungeahnte Richtung lief. Jemand war in seinem Zimmer und dieser jemand schien sich nicht einfach nur in der Tür geirrt zu haben. Hitze stieg ihm ins Gesicht und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Mit fieberhafter Aufmerksamkeit fixierte er das Sofa und rechnete jede Sekunde mit einem Angriff.
„Ich habe Sie gesehen!“, rief er halblaut. „Kommen Sie raus!“ Für einen kurzen Augenblick verspürte er wieder das Bedürfnis, sich zu bewaffnen. Er erinnerte sich an sein kleines Messer. Hatte er es nach dem Kampf mit dem Hund wieder eingesteckt? Verdammt, er konnte sich nicht daran erinnern.
„Hallo?!“, rief er wieder, aber gab seinem Ruf etwas mehr Bedrohung. Offenbar mit Erfolg, denn plötzlich hörte er etwas. Es klang wie ein leises Summen und es kam direkt von der Rückseite des Sofas. Derjenige, der sich hinter der Couch versteckte, summte ein Lied. Die Töne klangen dünn, fast schon zart, wie aus einem Kindermund. Georg hielt den Atem an und zu seiner Überraschung erkannte er sogar die Melodie. Die Überraschung wurde jäh von einem Schauer abgelöst.
Fuchs, du hast die Gans gestohlen
Gib sie wieder her
Gib sie wieder her
Sonst wird dich der Jäger holen
Mit dem Schießgewehr
Vorsichtig schlich er zum Sofa, bereit, sich allem zu stellen, was sich dahinter verbergen könnte. Dann hob er seinen Kopf, um den Eindringling sehen zu können. Und zu seinem Erstaunen erblickte er ein Kind. Ja, dort auf dem Boden hinter der Couch kauerte ein Kind. Ein kleiner Junge, schätzungsweise neun oder zehn Jahre alt. Georg stutzte und mit der Verwunderung ließ auch prompt seine Anspannung von ihm ab. Ein verirrtes Kind war ihm allemal lieber als die exzentrischen Herrschaften des Hauses oder andere Eindringlinge, die unerlaubt durch sein Zimmer schlichen.
„Hallo Kleiner!“, sagte Georg freundlich und lugte über den Rand des Sofas. „Was machst du denn hier?“ Das Kind hörte auf zu summen, sprang auf und starrte Georg erschrocken an. Der Junge trug eine blaue Jeans. Die Knie waren mit aufgebügelten Mickey-Mouse-Flicken versehen. Er trug ein kariertes Hemd, das sorgfältig im Hosenbund vergraben war. Die Hose steckte in zwei schlammigen Gummistiefeln, deren Spitzen sich nervös wippend berührten. Seinen kleinen Körper umhüllte ein gelber Regenmantel. Blondes Haar klebte ihm in nassen Strähnen im Gesicht und er starrte ihn mit großen haselnussbraunen Augen ängstlich an. Als sich ihre Blicke trafen, tauchte plötzlich eine unerwartete, jedoch sehr junge Erinnerung auf. Er sah, wie er in der stürmischen Dunkelheit die Annatalstraße hinauffuhr und er sah auch, wie er im Fußraum der Beifahrerseite nach seinem Handy suchte. Dann tauchte plötzlich eine Gestalt mitten auf der nassen Fahrbahn auf. Dieser Regenmantel, die Gummistiefel, die Größe – alles passte. War dieser kleine Junge tatsächlich der Grund, warum er plötzlich diese Vollbremsung hinlegen musste, die dazu führte, dass er von der Straße abkam?
„Wie heißt du?“ Georg schenkte ihm ein sanftes Lächeln. Doch der Junge reagierte nicht. Er starrte ihn angsterfüllt an, und erst jetzt sah Georg, dass das Kind am ganzen Leib zitterte.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er und trat langsam auf ihn zu. Der Junge fixierte jeden seiner Bewegungen und wich zurück.
„Ich tue dir nichts.“ Wieder ging Georg einen Schritt auf den Jungen zu, wieder scheute dieser zurück.
„Wo sind deine Eltern? Hast du dich verlaufen?“ Der Junge antwortete nicht. Nervös spielte er mit seinen Fingern. Dabei entdeckte Georg, dass die Hände des Jungen mit vielen kleinen Narben übersät waren. Instinktiv drängte sich ihm eine Gewissheit auf. Und auch wenn er keine Ahnung hatte, woher diese Gewissheit stammte, sie brachte ihn dazu, seine schmerzende Hand zu reiben. Die Narben könnten von einem Hundebiss abstammen. Nein, es mussten Narben von vielen Hundebissen sein.
„Warst du vielleicht vorhin draußen auf der Straße?“, fragte er vorsichtig. Keine Antwort.
Schritte hallten plötzlich durch den Flur. Der Junge drehte mit großen angsterfüllten Augen den Kopf zur Tür. Es waren kräftige und bedrohliche Schritte von Füßen, die in schweren Schuhen, vielleicht Stiefeln stecken mussten. Er kannte diese Schritte. Er hatte sie in der letzten Zeit schon oft gehört. Zuletzt heute Nachmittag im Café, als er die Toilette aufsuchte. Er wusste, dass dieser Gedanke vollkommen absurd war, aber er dachte ihn dennoch. Und er hörte noch etwas. Ein merkwürdiges Hecheln und das Klingeln von einer Leine, die an ein Metallhalsband schlug.
Ein Hund?!, stellte Georg verzweifelt fest. Und er hörte schließlich, wie beides vor seiner Zimmertür zum Stillstand kam. Entsetzt starrte er auf die Klinke. Er hatte nicht abgeschlossen!
Verdammt, ich habe diese Tür nicht abgeschlossen! Georg hielt den Atem an. Er wollte an diesem Abend nicht noch einmal einem Hund begegnen, eigentlich wollte er nie wieder einem Hund begegnen. Und er befürchtete, dass er dem Hundebesitzer auch nicht begegnen wollte.
Es ist der Jäger!, schoss es ihm durch den Kopf. Er ist hier! Hier in diesem Haus!
„Jörres?“, donnerte es plötzlich durch die Tür. „Jörres, bist du da drinnen und belästigst wieder die Gäste?“ Es war eine männliche, tiefe, kratzige und verrauchte Stimme. „Wo steckt dieser kleine Bastard schon wieder?“ Hatte er diesen Tonfall heute nicht schon einmal irgendwo gehört? Der Junge löste sich plötzlich aus seiner Starre und kroch wieder hinter die Couch. Georg sah abwechselnd zur Tür und zum Sofa. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Seine Gedanken gerieten ins Trudeln und er musste sich eingestehen, dass er keine Idee hatte, was er in dieser Situation tun sollte. Er hatte Angst vor diesem Mann dort draußen im Flur und genau so viel Angst vor dessen Hund, bei dem er davon ausging, dass sich hinter dem Hecheln eine afrikanische Rasse versteckte.
„Jörres!“, donnerte es wieder von der anderen Seite, dann Stille.
„Bist du etwa ausgebüxt?“, flüsterte Georg und suchte im Schatten nach den Augen des Jungen. Der Junge reagierte wieder nur mit ängstlichem Schweigen, legte aber dann flehend den Finger auf den Mund. „Keine Sorge, ich verrate dich schon nicht. Sprichst du nicht?“ Der Junge nickte. „Dein Name ist Jörres?“ Der Junge bejahte. „Ist das dein Vater?“ Wieder erkannte er in seinem Gesicht ein JA. „Dein Vater ist er ein Jäger?“ Der Junge nickte wieder und fing erneut zu summen an. Irritiert starrte Georg den Jungen an und begann, ob er wollte oder nicht in Gedanken die zweite Strophe mitzusingen:
Seine große, lange Flinte
Schießt auf dich den Schrot
Schießt auf dich den Schrot
Dass dich färbt die rote Tinte
Und dann bist du tot
Dass dich färbt die rote Tinte
UND DANN BIST DU TOT
Und mit jedem weiteren Reim tauchten wieder ungeahnte Erinnerungen auf, die wie ein donnernder Güterzug auf ihn zupreschten und bald zu entgleisen drohten.
Es war immer noch das Jahr 1985. In seinem Kopf formte sich das Bild einer Horde uniformierter Reiter in Begleitung einer Hundeschar. Die Pferde schnaubten nervös und tänzelten ungeduldig von einem Huf auf den anderen. Die Bluthunde rissen aufgeregt an ihren Leinen und wedelten mit ihren Schwänzen. Sie freuten sich auf dieses Ereignis. Sich dem natürlichen Jagdtrieb hingeben, kaum etwas machte ihnen mehr Spaß. Die Meute bellte und wartete sabbernd und hechelnd auf den Startbefehl. Das Ziel war der Fuchs, denn er hatte eine Gans gestohlen. Er sollte sie wieder hergeben. Da er dies nicht getan hatte, kamen nun die Jäger mit dem Schießgewehr und mit ihrer Hundemeute, um ihn zu holen – das war das Spiel „Fuchsjagd“. Und irgendwo im Dickicht konnte er das Gesicht eines verängstigten Fuchses sehen, der weder eine Gans gestohlen, noch irgendetwas anderes Böses getan hatte. Er hatte lediglich geschwiegen also nichts gesagt, als man ihm eine Frage stellte. Er wusste, bei diesem Spiel war er der Gejagte und bei diesem Aufgebot sicher dem Tode geweiht. Doch er wollte nicht kampflos aufgeben. Irgendwo aus der Ferne ertönte das Jagdhorn, die Hunde hörten ihren Befehl dann brach die Hölle los. Die Hetzjagd hatte begonnen. Der Fuchs ergriff die Flucht. Er hatte etwa fünf Minuten Vorsprung, so viel hatte der Jäger ihm gewährt. Jetzt erkannte Georg, dass er selbst der Fuchs war, der um sein Leben lief. Und Georg rannte. Er rannte so schnell, dass seine Lunge brannte. Er stolperte, flog der Länge nach zu Boden, stand wieder auf, lief weiter. Die Anstrengung bescherte ihm ein unangenehmes Kratzen im Hals. Das Kratzen verwandelte sich schließlich in einen unaufhaltsamen Hustenreiz. Er blieb keuchend stehen, schnappte nach Luft, wischte das Gemisch aus Speichel, Rotz und Tränen aus seinem Gesicht. Die von seiner Angst angestachelte Meute kam näher. Er hörte ihr Bellen, das Hecheln, das Geifern. Ich schaffe es nicht. Georg schüttelte den Kopf, als könne er diese schrecklichen Gedanken mit einem Mal aus seinem Gedächtnis verbannen. Er wusste nicht woher diese verstörenden Bilder in seinem Kopf kamen und er war im Augenblick auch nicht bereit diesem Pfad weiter zu folgen – im Gegenteil. Er würde diese Erinnerung wieder dort begraben, wo sie hergekommen waren, eben irgendwo im tiefen Nebel seiner Seele. Dies war nicht der richtige Ort und auch nicht der richtige Zeitpunkt, sich den Kopf zu zerbrechen.
Das Summen des Jungen war verstummt, stattdessen ertönte plötzlich Freddy Mercurys Queen mit The Show Must Go On aus dem Nachbarzimmer. Der Song riss Georg aus seinen Gedanken und erinnerte ihn wieder an den kleinen Knirps, der immer noch gemeinsam mit ihm hinter der Couch sitzen musste. Das tat er aber nicht. Als er sich zu ihm umdrehte, war der Junge verschwunden.
„Jörres, wo bist du?“ Keine Antwort. Er stand auf und sah sich um. Dann durchsuchte er jeden Winkel seines Zimmers, schaute in allen Ecken und Nischen und musste sich dann eingestehen, dass er offenbar das Geschick und die Flinkheit von Kindern deutlich unterschätzt hatte. Der Junge war und blieb verschwunden. Er hatte sich heimlich aus dem Staub gemacht, als er in Gedanken versunken und mit einem Fuchs, du hast die Gans gestohlen im Ohr, einer Erinnerung folgte. Der Junge war weg, aber er hatte das Gefühl, als würden sie sich bestimmt bald wiedersehen
Der Durst trieb Georg wieder zurück auf den Korridor. Er wollte nach unten gehen, um Toni, Hinkebein oder wer auch immer dort Dienst hatte, von dem Problem im Badezimmer zu berichten und bei dieser Gelegenheit auch um etwas Trinkbares bitten. Georg öffnete vorsichtig die Tür und lugte auf den Gang. Er konnte niemanden entdecken. Der röhrende Kerl, inklusive Hund hatte seine Suche scheinbar an einer anderen Stelle fortgesetzt. Als er aus dem Zimmer trat, ertönte wieder Musik. Diesmal kam sie vom anderen Ende des Ganges. Wieder flammte in ihm die Hoffnung auf, dass er dort auf einen freundlichen Mitmenschen traf, der ihm aus der Patsche half. Ein Anruf, einen verfluchten kurzen Anruf, dann wäre die Welt wieder in Ordnung. Entschlossen lief er auf die Tür zu und stellte sich währenddessen die Frage, warum hier nahezu ununterbrochen Musik lief. Irgendwo erklang immer ein Radio und es war stets der Sender KFM. Langsam lief er den Gang entlang und steuerte auf das Zimmer mit der Nummer Fünf zu. Irritiert bemerkte er, dass die Tür, auf die er sich zu bewegte, nicht verschlossen war. Sie stand einen Spalt weit auf und gab den Blick auf das Innere frei. Er lugte durch den Spalt und erstarrte. Seine Augen trafen auf einen wohlgeformten und leicht bekleideten weiblichen Körper. Sie stand, den Rücken zur Tür gekehrt, nur in Unterwäsche bekleidet vor einem verspiegelten Kleiderschrank und bewegte ihre Hüften zur Musik. Die Frau hatte blondes halblanges Haar, sehr helle Haut, eine schlanke Figur und – so wie Georg es flüchtig durch den Spiegel erkennen konnte - große Brüste. Sie bewegte sich mit einer auffälligen Leidenschaft zu einer besonderen Melodie, die aus dem Radio mittlerweile über den Flur durch das ganze Haus schallte. Er kannte den Song nicht, irgendein neumodischer Kram, auf den er nicht besonders stand, der aber in anderen Menschen offenbar einen besonderen Tanz auslöste, wie er jetzt sah. Wie gebannt starrte er auf das Spiegelbild und konnte sich einfach nicht mehr abwenden. Vielleicht war sie Tänzerin in einem Nachtklub? Vielleicht tanzt sie diesen Tanz auch nur für mich, dachte Georg und vergaß tatsächlich für einen Augenblick den Durst und auch seine Sorgen.
Zimmer Nummer 5, DIE WOLLLUSTIGE, erinnerte er sich und schmunzelte. So einen Titel konnte sich nur Hinkebein ausgedacht haben. Plötzlich drehte sie sich um und ihre Blicke trafen sich. Georg spürte, wie er prompt errötete. Schnell wollte er sich abwenden, damit die Peinlichkeit nicht noch weitere Kreise ziehen konnte. Immerhin hatte er das Versehen einer Frau ausgenutzt, die nur vergessen hatte ihre Zimmertür zu schließen – sie hatte es doch vergessen, oder? Sie winkte ihm zu und lächelte. Ein Lächeln, das Georg direkt einfing und ihn fesselte. Kennen wir uns nicht irgendwoher?, dachte er verträumt und starrte sie weiter an. Und dieser Gedanke kam nicht von ungefähr. Irgendetwas in ihm vermutete tatsächlich eine Verbindung. Und diese Vermutung trieb ihm plötzlich den Geruch von frischen Erdbeeren in die Nase. Ja, ihr Haar roch damals nach Erdbeershampoo und er hatte es geliebt, seine Nase in ihr blondes Haar zu drücken und ihren ganzen Duft einzuatmen, während sie auf seinem Schoß saß und ihn leidenschaftlich küsste. Es war sein erster Kuss dieser Art gewesen und das, obwohl er damals schon achtzehn oder neunzehn Jahre alt gewesen war. Ja, er erinnerte sich noch genau an diesen aufregenden Moment.
Sie hieß Lissa und er erinnerte sich noch genau daran, wie sehr sie immer auf das scharf gesprochene „S“ in ihrem Namen bestand. Auf Lissa mit einem weichen „S“ reagierte sie erst gar nicht. Er selbst steckte gerade mitten in seinem Architekturstudium und konzentrierte sich auf das Leben, dass er sich in Zukunft mit dieser Arbeit ermöglichen wollte. Er war ein besonders ehrgeiziger Student und opferte der Architektur nahezu jede freie Minute. Ganz anders als sein Studienkollege und Zimmernachbar Joachim Päler, der vielmehr jede freie Minute mit schönen Kommilitoninnen beschäftigt war. Georg selbst hatte schon damals das Problem, viel zu schüchtern und auch zu ängstlich zu sein. Daher legte er es erst gar nicht darauf an in irgendeine unangenehme Situation mit der holden Weiblichkeit zu geraten, sondern hielt sich lieber von ihnen fern. Dass er bis zu diesem Zeitpunkt noch Jungfrau war, störte ihn nicht. Es war Joachim, der aus dieser – eigentlich sehr persönlichen und intimen Angelegenheit – eine regelrechte Schande machte.
„Mit fast 19 Jahren ist man keine Jungfrau mehr, Blumenfeld! In dem Alter sollte man sie nicht mehr an zwei Händen abzählen können!“ Doch dann war plötzlich sie da – Lissa. Sie hatte blonde lange Haare, blaue Augen, eine makellose Haut und einen ebenso makellosen Körper. Sie war eine der Frauen, die unter seinen Kommilitonen als regelrechte Göttin betitelt wurde. Irgendwie war jeder hinter ihr her. Allerdings munkelte man hinter vorgehaltener Hand, dass sie es auch gerne mit jedem trieb, sogar mit Frauen. Georg wollte damals nur ungern an diese Version glauben, denn das beschmutzte unnötigerweise das Bild, was er von ihr hatte. Daher gab er nichts auf das Gerede der anderen und vergötterte sie insgeheim ebenfalls. Dann waren sie sich auf dieser Party begegnet, auf die auch – so fiel Georg plötzlich ein - Joachim eingeladen war. Genau, Joachim war auch da, stimmte er seiner Erinnerung zu. War er es vielleicht sogar, der mich überhaupt in diese schreckliche Situation gebracht hatte? Sie hatten nie über diesen Abend gesprochen. Er versuchte seine Gedanken neu zu sortieren und suchte auch in seinen Erinnerungen nach einer plausiblen Erklärung, für diesen merkwürdigen und folgenschweren Abend. Die Party war bereits voll im Gange, und dass Lissa ein ungeahnter Teil dieser Party war, überforderte ihn. Er hatte sie den ganzen Abend schon beobachtet, wagte es aber nicht, sie anzusprechen. Sie trug ein wunderschönes rotes Kleid, was sie nur noch mehr zu einem unglaublichen Blickfang machte. Irgendwann kam Lissa mit zwei Flaschen Bier zu ihm und begann eine Unterhaltung. Oder besser gesagt: Sie versuchte ein Gespräch mit ihm anzufangen.
Warum sitzt so ein attraktiver Mann wie du hier so alleine?, hauchte sie ihm entgegen. Doch ihm hatte es die Sprache verschlagen. Er war gefangen in dem Moment, der darüber entschied, ob er nun besser die Flucht ergreifen oder sich ihren Flirtversuchen hingeben sollte. Er entschloss sich, es zumindest zu versuchen, ihre Fragen zu beantworten – ein weiteres Bier half ihm dabei. Doch Lissa machte kein Geheimnis daraus, was sie eigentlich im Schilde führte, was Georg vollkommen aus der Fassung brachte. Doch ihm fehlte die Kraft, sich gegen eine Frau zu wehren, die es sich ganz offensichtlich auf die Tagesordnung geschrieben hatte, Georg Blumenfeld ins Bett zu kriegen. Irgendwann nahm sie ihn an die Hand und entführte ihn in ein Zimmer. Sie verschloss die Türe hinter sich und fixierte ihn mit stechendem Blick.
„Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du noch Jungfrau bist?“ Erschrocken starrte er sie an. Er war nicht imstande irgendetwas zu sagen oder zu tun. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper, als sie langsam ihre Bluse aufknöpfte und wenig später ihre üppigen Brüste aus ihrem BH hob.
Was tust du da?, fragte er und wich zurück.
Na, was schon!, lächelte sie. Ich will mit dir zusammen sein! Sie drückte ihn mit sanfter Gewalt in den Sessel, schob ihren Körper nach und setzte sich schließlich mit gespreizten Beinen auf seinen Schoß. Sie schob ihren Rock hoch und Georg sah mit Entsetzen, dass sie nichts darunter trug. Er spürte, wie sich ihre weichen Pobacken an seine Oberschenkel schmiegten und ihm ein eindeutiges Zeichen gaben. Ohne Vorwarnung küsste sie ihn. Georg erstarrte zunächst, als ihre Lippen seine berührten und er plötzlich ihre Zunge in seinem Mund spürte. Und plötzlich war da dieser unglaublich betörende Duft. Es waren ihre Haare, sie dufteten nach Erdbeeren. Mit klopfendem Herzen vergrub er seine Nase in ihrem Schopf und war für einen kurzen Augenblick bereit, alles Weitere geschehen zu lassen. Sie roch so gut und sie fühlte sich auch gut an. Er spürte, wie neben der wachsenden Aufregung auch die Erregung in seine Lenden schoss. Doch das Gefühl blieb nur für einen Augenblick. Sie knutschten, leckten und schließlich nestelte sie an seinem Hosenstall. Irgendwann schob sie ihre Hand in seine Hose und forschte nach seiner Manneskraft, fand sie aber nicht.
Nanu?! Gefällt es dir etwa nicht? Immer hektischer rubbelte und riss sie an ihm herum, während er versuchte seine hereinbrechenden Gedanken zu sortieren. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas fühlte sich an dieser Situation falsch an. Sie fühlte sich plötzlich falsch an. Er stieß sie weg. An diesem Punkt verliert sich plötzlich seine Erinnerung. Vielleicht war auch diese Begegnung zu lange her und von den Erlebnissen und Eindrücken der letzten Jahrzehnte verschüttet worden? Das alles musste bereits über 22 Jahre her sein. Er hatte Lissa bis heute nie wieder gesehen und er hatte auch nicht einen Gedanken an diese unangenehme Begegnung verschwendet, bis zu diesem Augenblick. Die Frau aus Zimmer Nummer 5 tanzte immer noch ihren erotischen Tanz und schien mit ihren Bewegungen förmlich nach ihm zu rufen. Ihre Blicke luden ihn ein, das Zimmer zu betreten.
„Sie ist ein Miststück…“, sagte plötzlich eine Stimme dicht hinter seinem Ohr. Erschrocken fuhr Georg herum.
„Großer Gott, Toni. Sie haben mich erschreckt.“
„Oh, hab ich das?“ Toni grinste. „Sie ist unglaublich attraktiv, nicht wahr? Ich könnte da etwas für dich einfädeln, wenn du möchtest. Sie erfüllt dir wirklich jeden Wunsch, auch die Wünsche, die ihr selbst nicht so gefallen würden.“ Georg sah Toni abschätzend an. Nahm er ihn gerade auf den Arm oder meinte er seine Worte ernst?
„Jetzt schau nicht so verklemmt. Diskretion steht bei ihr an oberster Stelle. Man sagt sich, sie könne dir einen blasen, ohne Spuren zu hinterlassen, wenn du verstehst, was ich meine.“ Toni zwinkerte ihm grinsend zu. Doch Georg lächelte verlegen und winkte ab.
„Nein danke! Ich bin verheiratet und das sogar glücklich… sehr glücklich“, schob er schnell nach, stellte aber fest, dass es mit diesem Nachsatz noch unglaubwürdiger klang, als seine ganze Aussage es ohnehin schon war. Toni lachte und legte seinen Arm auf Georgs Schulter. Eine Berührung, die Georg unangenehm war. Es fühlte sich mehr wie eine Bedrohung an, statt einer freundschaftlichen Geste.
„Warum denn so verklemmt? Sag, wann hast du eigentlich das letzte Mal einer fremden Frau hinterher geschaut? Gestern? Oder vielleicht sogar schon heute? Ja, sogar ganz bestimmt schon heute!“ Georg sah Toni verärgert an.
„Was soll das?!“
„Nun, du musst dich nicht deswegen schämen, schon gar nicht bei mir. Denn, dass wir Männer auf weibliche Reize anspringen, ist fest in unseren Genen veranlagt. Wir können im Grunde gar nichts dafür, wenn unsere Blicke an prallen Brüsten oder einladenden Hüften hängen bleiben, denn immerhin sehnen wir uns von Natur aus nach vielen Partnerinnen, um unseren Samen möglichst weit zu verteilen, nicht wahr?“
„Ach ja?“
„Na, jetzt tu nicht so, als sei dir diese Begebenheit neu!“ Toni drehte sich um und blickte fordernd durch die Türe.
„Hey Lady, komm raus da und begrüße unseren Gast, so wie es sich gehört!“ Die Frau aus Zimmer Nummer 5 trat langsam aus der Tür, schien über den zweiten Beobachter allerdings nicht sonderlich erfreut. Wie auf Kommando winkte sie Georg ein weiteres Mal zu und befeuchtete dabei mit der Zunge ihre Lippen. Die erotische Wirkung blieb bei Georg dieses Mal aber aus.
„Mein Gott, sie ist so unglaublich heiß“, schwärmte Toni und erwiderte ihren Gruß, indem er seine Hüfte mehrmals stoßartig nach vorne und nach hinten bewegte. Angewidert wandte Georg sich ab und spürte, wie der Begriff „Fremdschämen“ plötzlich eine vollkommen neue Bedeutung bekam. Die Frau wandte sich gelangweilt ab.
„Gib es zu, ihr entblößter Anblick hat dich gerade ziemlich angemacht!“, sprach Toni vergnügt weiter. Georg schüttelte energisch den Kopf.
„Nein, ganz gewiss nicht. Ich habe im Moment echt andere Sorgen und weiß Gott keinen Kopf für so was. Sie haben wohl vergessen, warum ich hier bin?“ Toni winkte ab.
„Du bist ein Mann, du hast immer so was im Kopf! Gib es zu! Du würdest sie schon gerne ficken!“
„Himmel,….nein..., was fällt Ihnen eigentlich ein?“, fuhr Georg ihn an. „Ich sage es gerne noch einmal: Ich bin verheiratet!“
„Ja, ja und das sehr glücklich! Alles ist in bester Ordnung, denn alles ist so wie immer - wem willst du diesen Bullshit noch weismachen?“ Toni lachte und sein Lachen verriet Georg, dass er ihm genau so wenig glaubte, wie er sich selbst.
„So und jetzt verschwinde, Larissa“, zischte Toni. „Und hör auf hier deine Titten so zur Schau zu stellen!“ Die Frau, die er Larissa nannte, schenkte Toni einen bösen Blick und warf schließlich die Tür hinter sich zu.
„Besonders gastfreundlich war das aber nicht“, sagte Georg halblaut. „Ihre Wortwahl schien sie verletzt zu haben. Sie sollten sich später dringend bei ihr entschuldigen.“
„Ich soll mich bei ihr entschuldigen?“ Toni sah ihn aufmerksam an. Dann fing er an zu kichern und dieses Kichern schwoll zu einem unangenehm lauten Lachen an. Georg versuchte zu verstehen, wo Toni den Witz ansetzte, fand aber die Stelle nicht.