Vera Domitun
Seit Wochen geht Vera Domitun im ganzen Dorf damit hausieren, sie habe ihren Mann, Petre Domitun, meinetwegen verloren. Sogar die Blätter sind naß von ihrem hemmungslosen Gegeifer. Seit wir Petre Domitun nicht mehr vor der Dede-Kneipe fluchen hören, seit er im Cambrigde-Polizeigarten keine Grashalme mehr ausreißt, seit er nicht mehr pfeifend beim rosenbekränzten, stachligen Eingang zum Friedhof steht, seitdem ist die Kirche stumm, und niemand will die Glocken läuten. Niemand ist scharf darauf, an einem beschissenen Strick zu zerren, an dessen Ende so ein Bimbam zu Gott stottert.
Unsere Kirche ist stumm und kalt.
Ich aber bin verliebt, weil ich noch nicht begreifen kann, daß es sich lohnt, ohne Seufzen zu leben. Ich habe es auch mit ruhigerem Herzen versucht, doch es ging nicht. Die Leute sagen, sie würden die Glocken nicht läuten, solange sie nicht wüßten, was mit Domitun geschehen sei, ob man ihn ermordet habe, ob ihm ein Unglück zugestoßen oder ob er etwa als Experte für Spielautomaten nach Bukarest gegangen sei, eine der Dummheiten, mit denen er in seinen unbeherrschten Momenten gedroht hatte. Möglicherweise hätten ihn die Ungarn entführt und hielten ihn gefangen, hatte ich in der Dede-Kneipe zischeln hören. Mein Nachbar ist Julek Bambam, ein Polizist, den wir nach dem großen Scheiterhaufen im Dezember hatten totschlagen wollen, doch als einer der jungen Schweinehirten die Keule gegen ihn erhob, setzte sich eine krächzende Krähe auf Juleks Schulter, und so schonten wir sein Leben, mehr noch, wir ließen zu, daß er seinen Posten behielt. Mein anderer Nachbar ist besagter Petre Domitun. Das heißt, er war es, denn inzwischen ist er unauffindbar.
Julek war ein äußerst schlauer Mensch, denn er antwortete nie, er stellte nur Fragen.
Ob ich gehört hätte, fragte er, daß aus Galizien eine Ladung Spielautomaten nach Süden unterwegs sei, nach Kosovo Polje?
Ich habe davon gehört, Herr Julek Bambam, oder auch nicht, antwortete ich vorsichtig.
Na, aber daß der Krieg vorbei ist, das werde ich doch gehört haben?
Oh, ich habe gehört, nickte ich, daß es wahr sein soll.
Julek Bambam musterte mich argwöhnisch.
Und ich weiß auch, setzte ich leise hinzu, daß die Fliegen im Herbst verrückt werden.
Im allgemeinen habe ich kein Glück bei Frauen, wobei man sagen muß, daß ich mir manchmal eine besorgen will, wie zum Beispiel neuerdings Vera Domitun, die Frau des verschwundenen Glöckners. Sie trägt einen Seidenschal um den Hals, ihr Hintern ist wohlgeformt, ihr Busen ansehnlich. Es tat mir gut, wenn die Fliege sich auf mein Gesicht setzte, gleich fühlte ich mich stärker. Es ist meine Fliege, ich kann sie von anderen unterscheiden. Dabei ist sie nur eine gewöhnliche Stubenfliege. Sie wohnt in meiner Küche, verweilt oft auf meinem Körper, auf meiner Hand, auf dem Hals oder dem Gesicht. Auf meine Unterlippe setzte sie sich zum ersten Mal in jenem Frühling, als ich merkte, daß Domitun beim Glockenläuten mogelt.
Mein Gott, sagte ich, und schon saß sie auf meiner Unterlippe.
Mein Gott, sagte ich leise, vollkommen erschüttert.
Zzz, zzz, antwortete die Fliege.
Petre Domitun läutete auf betrügerische Weise.
Ich fragte Julek Bambam, ob er es für möglich hielte, daß auch wir etwas von der Ladung aus Galizien abbekämen. Der Polizist lächelte geheimniskrämerisch, wie hinter einem Taschentuch hervor. Sein Blick schweifte über meinen Garten hinweg. Seit der Glöckner verschwunden war, hielt sich Vera Domitun öfter im Hof auf. Sie tat, als ginge sie einer Arbeit nach, sie sah prüfend zum Himmel, blinzelte in die Sonne, rupfte Gras, gab ihrer Ziege Kosenamen, und manchmal – auch das konnte ich sehen – berührte sie vorsichtig ihren Schoß.
Ich fragte Julek Bambam, ob er wisse, daß der Glöckner regelmäßig die Dauer des Läutens verkürzt habe. Wenn es nur darum ginge, daß er ein-, zweimal weniger oft am Seil gezerrt habe, doch er habe das zur Messe oder zum Begräbnis rufende Glockengeläut um Minuten reduziert. In den letzten Monaten hatte sich das Mittagsläuten auf das hastige Gebimmel von ein paar Schlägen beschränkt, und das ärgerte mich außerordentlich, man könnte sagen, es erboste mich geradezu.
Ob ich denn zu Ostern den Klang des Xylophons mag, fragte Julek Bambam träumerisch. Auch da hatte Domitun uns betrogen, denn er erlaubte nicht, daß wir, die Jungen, auf die Hölzer schlugen, er machte es allein, hielt dabei inne, verfiel ins Grübeln und dachte an etwas anderes, wer weiß, woran, vielleicht an das Glück, das er haben würde.
Ich konnte tun, was ich wollte. Der Glöckner interessierte niemand mehr. Eine Fliege auf dem Mund, Aufruhr im Bauch. In meinen Träumen streichelte Vera Domitun ihre Ziege und gab ihr Kosenamen. Unterdessen sprach das ganze Dorf von der Lieferung aus Galizien. Wie man von dem Konvoi ein, zwei Kisten mit Spielautomaten abzweigen könnte. Wem würde das schon auffallen?
Ob ich aber zum Beispiel wütend auf den Glöckner gewesen sei, löcherte mich Julek Bambam, während er sich auf meinen Zaun stützte, daß die Latten krachten.
Ich lachte wie einer, der sterben will.
Ich war nicht nur wütend auf ihn, ich haßte ihn regelrecht, denn wozu ist jemand Glöckner, wenn er nicht ordentlich zieht. Glockenläuten ist nicht wie graben, Pferde beschlagen oder Tote ankleiden. Wenn das Hufeisen nicht paßt, kannst du es am nächsten Tag in Ordnung bringen. Tudor Vasile bekam ein neues Hemd, nachdem Emil Constantin bemerkt hatte, daß jenes, in dem Vasile aufgebahrt war, ihm gehörte, sie hatten es ihm vom Leib gestohlen, als er besoffen neben dem Fahrradständer der Polizei eingeschlafen war. Einen Glockenton dagegen kann man nicht korrigieren. Wenn jemand nicht ordentlich läutet, begeht er eine Sünde, weil er den Himmel kaputtmacht. Doch wenn er anständig läutet, erfüllt er nur seine Pflicht, nichts weiter.
Wo ich den Leichnam versteckt habe, fragte Julek Bambam lachend.
Hab ich doch gesagt, daß er meinen teuren Petre umgebracht hat, schrie Vera Domitun zu uns herüber und blinzelte höchst seltsam. Ich sage ja nur. Der Blick der Glöcknerin war herausfordernd. Kokett! Ich wiederum antwortete mit lauter Stimme, Vera Domitun, hören Sie, die Scheiße unschuldiger Menschen wiegt schwerer! Ich kann nicht verheimlichen, wandte ich mich an den Polizisten, daß ich in der Umgebung noch drei weitere Glöcknersfrauen kenne, Terézia, Mária und eine aus Segedin, die Piroska heißt, drüben, hinter den Feldern. Und daß meiner Meinung nach unsere Vera die beste Glöcknersfrau ist, zugegeben, sie ist nicht mehr ganz jung, einen Seidenschal hat sie sich auch schon um den Hals geschlungen, aber ihre Formen hat sie immerhin noch, außerdem weidet eine Ziege auf ihrem Hof.
Ich glaube, es war ein Sonntag, es regnete. Viele Leute redeten davon, daß sich Möbel bewegten, Lüster von selbst zu schaukeln begannen, die Schwellen einiger Häuser Risse bekommen hätten und die Türen sich nicht mehr schließen ließen. Weil ja die Lieferung aus Galizien naht. Es war Sonntag, und es nieselte.
Was ist das für ein Fleck auf deinem Mund, schrie Vera Domitun herüber.
Nur eine Fliege, antwortete ich vorsichtig.
Gehört die da hin?
Sie setzt sich manchmal auf meinen Mund, sagte ich, dort bleibt sie auch, wenn ich spreche. Es juckt ein bißchen. Außerdem spricht man ein wenig anders, aber ich habe mich dran gewöhnt, das sagte ich leise zu ihr. Julek Bambam stand unter dem Pflaumenbaum, seine hagere Gestalt krümmte sich geradezu, wie eine schwache Bohnenstange. In seinen Augen glomm ein fremdes, feindseliges Licht. Weder Grausamkeit noch Angst Er blickte drein wie ein Glücksspieler, wenn der Würfel vor ihm rollt und rollt.
Die Lieferung raubte einigen den Verstand. Es gab eine Messerstecherei. Auch einen Ungarn haben sie erwischt, er kam nur davon, weil sein Mantel mit Gras gefüttert war. Diese Tage, diese Tage. Sie brachten nichts Gutes. Wenn das Verlangen verdirbt, hockt es sich vor die stumme und kalte Kirche wie ein Bettler.
Ich fragte die Glöcknersfrau, ob es ihr nicht schon mal so vorgekommen sei, daß es nicht Hoffnung, Sehnsucht, nicht mal die Pläne sind, die einen von einem Tag zum anderen tragen, sondern die nackte Verzweiflung. Ich habe das Gefühl, mit mir ist es schon soweit. Vernunftgründe spielen keine Rolle mehr. Zeitweise versinke ich in einen seltsamen Zustand, wie beim Tanzen, am Spielautomaten, bei einem heftigen Liebesakt, oder vielleicht wie einer, der still, aber zielstrebig Unkraut jätet. Unkraut jäten und spielen. Man könnte es auch so ausdrücken, daß ich von den dunkleren Seiten der Ekstase spreche, während die Fliege auf meinem Mund sitzt, wie zum Beispiel jetzt.
Julek Bambam, der gelauscht hatte, wurde nachdenklich, ja, was für ein Gefühl soll denn das sein.
Es ist eine Art Poesie, sagte ich. Ganz so, als wäre ein Gedicht in mir, dessen Worte allesamt giftig sind.
Die Frau des Glöckners rief wieder zu Julek Bambam herüber, he, hallo, Julek Bambam, siehst du, dieser Kerl, dabei zeigte sie auf mich, hat meinen Mann auf dem Gewissen, du solltest ihm gründlich auf die Finger sehen.
Darf ich dich mal aufs Kreuz legen, witzelte Julek Bambam mit einem fragenden Blick, worauf wir alle drei lachten.
Ich möchte von der Verzweiflung sprechen, wiederholte ich, während ich die Frau musterte, die schon über mich lächelte. Mit so vielen Dingen kann man seine Verzweiflung ausdrücken. Da gibt es zum Beispiel die Worte, die sind nun wirklich zum Verzweifeln. Oder man kann Skulpturen bosseln, fabrizieren. Na, und erst die Musik! Aber ich kenne nichts Verzweifelteres als das Glockenläuten. Es wird unter dem Himmel gemacht. Wenn man zum Beispiel an sich selbst, an diesem unglückseligen Stück Fleisch herumzerrt, ist das auch ein bißchen wie Glockenläuten. Ja, genau! Haben Sie schon einmal eine verrückte Fliege gesehen, Julek Bambam.
Doch der Polizist antwortete auch jetzt nicht, weil er nur Fragen stellen konnte.
Diese Tage, diese Tage.
Am nächsten oder übernächsten Tag redete ich dann weiter.
Ich sagte, daß auch die Fliegen im Herbst verrückt werden, was gar nicht seltsam, sondern naheliegend ist. Mit einer biederen Fliege kann man leben, sozusagen, bis man dann auf einmal die Erfahrung macht, daß die eigene, ehrbare Fliege den Verstand verloren hat. Wieviel Verstand hat eine Fliege? Verrückt kann sie werden, das weiß ich. Ich sitze, sagen wir, in der Küche und höre mit meinem Kofferradio Budapest, denn dort läuft bessere Musik. Ich höre, wie die Fliege fliegt, und plötzlich merke ich, daß etwas anders geworden ist. Der Klang des Flugs. Die dunkle Ekstase der Verzweiflung, wenn deine einzige, bis dahin biedere, anständige, ehrbare Fliege verrückt wird. Glaubst du, mein Sohn, wurde ich mal gefragt. Nein, Vater, ich weiß nur. Und ich weiß, daß das weniger ist. Wissen, daß es Gott gibt, sich beim Glauben aber zurückhalten. Ich weiß, was Schnee, was Sommer ist, ich weiß um den Körper, den Atem eines anderen Menschen. Irgend etwas aus Verzweiflung tun. Das kannte ich bereits. Immenblatt, Herbstzeitlose, Walderdbeeren, Kornelkirsche, der Duft von Maisbrei, all das interessiert mich nicht. Ich will keinen langen Sermon ablassen. Auch ein dummer Mensch kann schlau sein, wie ich. Du entfaltest die bitteren Blüten deiner Seele, du sprichst vom Elend, bis die Frau, deren Blick dich nur wie einen Stein gestreift hat, plötzlich ihre Stirn auf deine Lippen legen will, damit du auch zu dieser sprichst.
Und ich sagte, was ich zu sagen hatte, bis Vera Domitun eines Vormittags herübergetrippelt kam, gerade, als die Glocken hätten geläutet werden müssen. Sie stand in der Tür und schaute.
Ich habe gehört, kleiner Bojar, daß du läutest.
Aber nein. Ihr Gekreisch war für mich das Glockengeläut an jenem Tag. Zur Sicherheit rief ich noch zur Tür hinaus.
Lauschen Sie nicht, Herr Wachtmeister.
Am Abend kam Petre Domitun mit einem amerikanischen Lastwagen. Sein Haar war ausgebleicht, und er trug einen Ohrring. Wie ein Prinz sah er aus. Vera Domitun legte sich auf die Schwelle der Kirche und wartete sehnsüchtig auf ihn. Vergeblich wartete sie. Petre Domitun ließ drei wunderschöne, blitzblanke Spielautomaten in die Kneipe bringen. Er hatte sie von der Lieferung aus Galizien gekauft, als der Krieg ausbrach. Man muß zugeben, daß er seine Vergangenheit nicht verleugnete. Wenn sich Geld aus den Apparaturen ergoß, läuteten sie. Julek Bambam wurde Besitzer der Dede-Kneipe. Und ich der neue Glöckner. Vera Domitun jagte ich davon. Und mit der erstarrten Fliege auf meinem Mund bettelte ich Petre Domitun manchmal an, er möge doch auch mich ein klein wenig spielen lassen.