Baba Franciska
Ich will ja nicht angeben, aber wir leben in einem Land, in dem man oft menschliche Überreste findet, Leichen oder achtlos herumliegende Körperteile. Und es hat sich bei uns die Gewohnheit eingebürgert, daß jeder für seine Toten zuständig ist. Der Preis für unser elendes, erbärmliches Leben ist, daß wir nur in das Gesicht eines Leichnams zu blicken brauchen, auf den wir neben der Kaserne, bei der Sandgrube oder in unserem Gemüsebeet stoßen, um das zähnefletschende Grinsen des Todes nie wieder zu vergessen. Auch ich habe schon Leichen gefunden, nicht nur eine, doch die meisten hat Siposka Sipos aufgetan, unser Verrückter, der immer nach Palič zum Baden ging, obwohl er gar keinen Reisepaß hatte.
Siposka Sipos hatte vor einigen Monaten ein Massengrab entdeckt, aber das ließen wir nicht gelten. Das Massengrab paßte nicht zu unserem soliden Wettbewerb, bei dem Übertreibungen nicht üblich waren. Dazu waren wir weder hungrig noch verspielt genug. Von Siposka Sipos’ Massengrab, das unter einem Maisfeld die Knochen von etwa fünfundzwanzig Menschen barg, darunter die von Greisen, Kindern und sogar von Pferden, stellte sich später heraus, daß Vorfahren von Milenka Carica ihre Toten dort begraben hatten.
Während jenes Vorfrühlings hatten sich die Leute von Milenka Carica auf unsere Felder verirrt, einige Trampelpfade vollgeblutet und vollgekotzt, manch eine Senke, eine Weide oder Erdgrube beweint, bis sie schließlich den bittersüßen Achselgeruch von Baba Franciska spürten.
Baba Franciska war die schönste Frau weit und breit, und sie hatte sogar einen Goldzahn.
Baba Franciska war meine Liebste.
Ich sehnte mich nach Baba Franciska, ich träumte von ihr, polierte ihren Schatten, zählte vor dem Einschlafen ihre Fußspuren, ihren Duft stellte ich mir vor, wenn ich mich befriedigte, bei ihrem Namen suchte ich Heilung, wenn mich irgendein Leiden befiel und quälte, doch sie lachte nur über mich. Ich weinte, als ich erfuhr, daß Milenka Caricas Leute ihr den Bauch mit Speichel besudelt hatten. Siposka Sipos hatte sie gefunden. Unweit der Sandgrube von Berevac war sie verscharrt worden, unbekümmert, achtlos, wie Milenka Caricas Leute eben heutzutage beerdigen. Siposka Sipos, der oft in dieser Gegend spazierenging, erzählte, ihn hätte plötzlich ein Licht geblendet. Als hätte ihm jemand mit einem Taschenspiegel in die Augen geleuchtet. Zuerst hatte er an eine Erscheinung geglaubt. Blinzelnd tastete er sich zur Lichtquelle vor und betete, er möge nicht nur ein Stück von Gott finden, denn er, sagte Siposka Sipos, brauche nicht bloß ein Stückchen von Gott, er brauche ihn ganz. Egal. So entdeckte er den vor Speichel schimmernden Knöchel von Baba Franciska, der aus der Erde ragte, und die Nägel an ihren Zehen funkelten. Siposka Sipos grub die Leiche von Baba Franciska aus, dann beweinte er sie bitterlich, wie es sich gehört, und brach ihr den Goldzahn heraus, den noch ein Belgrader Dentist eingesetzt hatte. Als er fertig war, schlenderte Siposka Sipos zur Kneipe hinunter, gab Hinz und Kunz einen aus, den blassen Ungarn genau wie den vom vielen Brüllen heiseren Serben, und natürlich grölte er, es sei ein Festtag, heiho, Fest und Sieg, denn er hatte den zehnten Toten in diesem Jahr gefunden.
Aber den Leuten blieb nicht einmal Zeit, überrascht zu sein.
Nach der vierten Runde Raki und dem wer weiß, wievielten Kasten Pivo kam Baba Franciska in die Kneipe gestürzt. Das Haar wirr, das Kleid zerfetzt, ihr schöner Alabasterhals voller Staub, das Gesicht von Matsch und Sand verdreckt. Mit einem Wort, sie sah ziemlich erbärmlich aus. Aber an welcher Frau gehen einige Tage Scheintod schon spurlos vorüber, noch dazu unter der kalten Erde, wo Würmer und Nager sich über das Fleisch hermachen? Obendrein fehlte dem Mädchen auch noch der Goldzahn. Das sah man ihrer wütenden Grimasse sofort an. Baba Franciska, meine Teure, meine Liebste. In Wirklichkeit ist es nicht die Sehnsucht, die den Menschen verdirbt. Sondern das sinnlose Sich-Festklammern an Gewohnheiten, wenn man sich nicht mal vorstellen kann, daß anders sein könnte, was ist. Mit überschnappender Stimme verlangte Baba Franciska von Siposka Sipos ihren Goldzahn zurück; sie warf dabei den Spielautomaten um, stieß Bierkrüge und Schnapsgläser vom Tresen. Sie tat das so schön, daß ihre Erregung keinem etwas ausmachte.
Siposka Sipos war trotzdem nicht umzustimmen.
Er argumentierte, die fiebrigen Leute Milenka Caricas mit den klebrigen Stirnen hätten so lange an Baba Franciskas Herz geleckt und geknabbert, bis es stehengeblieben sei, das heißt, zu pochen aufgehört habe, Baba Franciska folglich nicht mehr gelebt habe, doch gebe es die von ihnen allen respektierte Vereinbarung, wonach Wertgegenstände und Kleider der Toten dem Finder zustehen, quasi als Belohnung. Wenn also Baba Franciska nicht mehr am Leben war, hatte er, Siposka Sipos, dem Mädchen den Goldzahn zu Recht herausgebrochen, ja es wäre sogar nachlässig und unaufmerksam von ihm gewesen, hätte er es nicht getan. Dafür daß Baba Franciska sich später die Mühe gemacht habe, aufzuerstehen, könne er nun wirklich nichts. Das hätte sie sich früher überlegen sollen. Schließlich weiß doch jeder, wie ausgeliefert man ist nach seiner Auferstehung, oft kehrt man geschändet und bis auf die Knochen geplündert aus dem Nichts, das wir auch Tod nennen, zurück, und überhaupt, deutete Siposka Sipos auf das vor der Kneipe zerbröckelnde Steinkreuz, Baba Franciska solle doch an den denken, der einst Jesus Christus genannt wurde, manche seiner Jünger nennen ihn heute noch so, was also mit ihm nach seiner Auferstehung geschehen sei; er, Siposka Sipos, schätze das beispielsweise so ein, daß, wenn der Jesus Christus bis zu seiner Kreuzigung mehr oder weniger Herr seiner Lage gewesen sei und auf den Lauf der Dinge beträchtlichen Einfluß gehabt habe und Urheber, Schöpfer wundersamer Begebenheiten, die Vernunft übersteigender Geschehnisse gewesen sei, daß man dies nach seiner Auferstehung im Grunde nicht mehr behaupten könne, somit also Jesus Christus, wäre er tot geblieben, in Glück und Frieden im Nichts, das man auch Tod nennt, hätte ruhen können, hingegen er mit der Auferstehung seine Lage gründlich verschlechtert, sich geradezu unmöglich gemacht habe, denn seither müsse er, und das könne Baba Franciska auch ohne Goldzahn einsehen, ständig der Tatsache ins Auge blicken, daß er keineswegs Herr der Lage ist und nicht mehr den geringsten Einfluß auf den Lauf der Dinge hat, deshalb also, sagte Siposka Sipos und wurde immer leiser, bitte er Baba Franciska höflich, nicht so herumzukreischen, nicht hysterisch zu sein, keine Forderungen zu stellen und vor allem keine Schnapsgläser mehr umzustoßen, den Goldzahn werde er nicht zurückgeben.
Waf denn der Jefuf Kriftuf mit ihrem Goldfahn fu tun habe, fragte Baba Franciska, wegen des fehlenden Zahnes lispelnd.
Daß hier, zeigte Siposka Sipos, in den Zahn sein Name eingraviert sei. Worauf Baba Franciska ziemlich erschüttert fragte, ob er ihn auch dann nicht zurückgeben würde, wenn er ihr Mohnblumen zwischen die Schenkel stecken dürfe, wenn er den Sonnenaufgang unter ihren Brüsten lecken, wenn er ihr Fischschuppen an die Wirbelsäule kleben dürfe, worauf der verrückte Kerl auflachte und seine Mähne schüttelte, daß anscheinend nicht nur Jesus Christus, sondern auch Baba Franciska nach ihrer Auferstehung nicht allzuviel Einfluß auf den Lauf der Dinge habe.
Dann johlte Siposka Sipos laut und tanzte aus der Kneipe. Und ich stand da, die Ellbogen auf den Tresen gestützt, den Kopf geneigt, und staunte nur. Was das doch für eine herzergreifende, lyrische Szene gewesen war! Es wurde still, wie am ersten, verschneiten Tag eines neuen Jahres, wenn ein einsamer Wolf in unseren Hof starrt.
Mein Name ist Wolf.
Baba Franciskas Blick glitt zögernd über die zerknitterten, einfältigen Gesichter der Gäste. Baba Franciska wankte zu mir und biß mir ein Stückchen Fleisch aus dem Arm. Dann spuckte sie es mir ins Gesicht. Sie roch nach Erde, nach Dreck und Würmern. Aus ihrem Haar perlte, wie die Zeit, der Sand. Sie war schön, oh, sehr schön. Ich liebte sie wie noch nie.
Helfen Fie mir, lieber Wolf!
Ich helfe dir, Baba Franciska, weil ich verliebt in dich bin.
Macht ef nichtf, daff ich lifple?
Dir steht auch das gut, Baba Franciska.
Sie schaute wie ein herrenloses, trauriges Tier. Kein Zweifel, sie war ein Engel. Und vielleicht wurde deshalb auch ich zum Engel, wenn ich sie anschaute, wenn ich nur an sie dachte, wenn ich sie berührte. Das Wunderbare an der großen Liebe ist, daß uns die Leidenschaft dem Gegenstand unserer Sehnsucht ähnlich werden läßt. Ich liebe sie nicht, weil ich so werden möchte wie sie, sondern weil ich mich danach sehne, daß sie mich ergänzt.
Glauben Fie auch, daff ef für mich überflüffig war, aufzuerstehen, Wolf?
Ich denke, ganz im Gegenteil, erklärte ich. Ich selbst bin für die Liebe, Baba Franciska, und da ich nicht an die Auferstehung glaube, können Sie gar nicht wirklich gestorben gewesen sein, meine ich.
Dabei bin ich wirklich auferftanden, rief Baba Franciska beleidigt und kippte sich meinen Schnaps hinunter.
Ich wußte, daß es nicht leicht sein würde, mit Siposka Sipos einig zu werden. Eine fixe Idee, die ein Irrer im Garten seines Kopfes gesät hat und dort hegt und pflegt, wieder auszutilgen, ist nahezu unmöglich. Obendrein glänzte Baba Franciskas Goldzahn wirklich schön und man konnte ihn auf ukrainisch, auf zigeunerisch, auf slowakisch wie auch auf ungarisch ansprechen. Zudem war in ihn der Name von Jesus Christus eingraviert. Siposka Sipos sprang überall umher, trällerte vergnügt, zeigte seine Beute herum und plazierte sie zum Spaß im geknebelten Maul eines Schafes, das er durch das ganze Dorf trieb. Vor dem Steinkreuz der Kneipe blieben sie stehen, und Siposka Sipos kicherte noch stundenlang über die Vorstellung.
Ich wußte, mit Schmeicheleien und Versprechungen würde ich nichts erreichen. Siposka Sipos war wirklich verrückt und darum schlauer als ich. Und er war auch größer, stärker, kurz, es sah so aus, als hätte ich, was den Goldzahn betraf, wenig Chancen. Ein wenig Hoffnung machte mir nur, daß ich grausamer war als Siposka Sipos. Wenn das Gras wachsen will, so soll es wachsen. Übrigens ist auch das Gras ein verliebtes Geschöpf, ganz wie ein Toter. Doch während die Toten unter die Erde kommen, verstopfen die Grashalme Löcher und Ritzen, die im herunterhängenden Bauch des Himmels glühen. Von den Bäumen ganz zu schweigen. Baba Franciskas flehender, vorwurfsvoller Blick brannte mir im Nacken. Ich war ein Engel, ich war verliebt. Ich war grausam. Ich sah, wie das Gras wuchs, der Himmel sich knarrend und krachend um sich selbst drehte. Und manchmal fielen auch Bomben. Milenka Caricas Leute sangen mit blutigen Mündern in der Wüstenei.
Eines Nachts fiel mir endlich ein, was zu tun war.
Wie gewöhnlich hörte ich dem Dröhnen der Bomber zu. Noch in derselben Nacht kratzte ich meine Ersparnisse zusammen, brach den Lagerraum der Kneipe auf, requirierte Getränke, Zigaretten, Salzgebäck und Kekse, doch vor dem Kruzifix verbeugte ich mich tief.
Wohin gehft Du, Wolf, rief mir mit Baba Franciskas versagender, zittriger Stimme mein guter Freund, der Wind, hinterher.
Nach Dubrovnik, Geliebte, wandte ich mich zurück.
If glaube Ihnen nicht, Wolf!
Komm mit, wenn du es nicht glaubst, Wind, mein Freund!
So kam es, daß auf dem langen, beschwerlichen Weg der Wind mich ständig begleitete. Wir unterhielten uns und trällerten vor uns hin, mal stritten wir, mal artete es in Prahlerei aus, manchmal schliefen wir zusammen. Wir kamen nach Dubrovnik, weil ich verliebt war. Fieberhaft durchstreifte ich die Stadt. Ragusa begrüßte mich. Ein alter Mann saß auf einer der bemoosten Steinbänke in der Prijeko-Straße. Er betrachtete mich eingehend, mit unbewegter Stirn. Dann drehte er sich mit seinen langen, gelben Fingern eine Zigarette. Er wird schon noch damit herausrücken, was er hat, dachte ich mir.
Hast auch du die Stadt beschießen lassen?
Ich verstand, was er meinte.
Ich habe sie niemals beschießen lassen, ich habe nur viel von ihr erzählt, sagte ich. Immer und überall habe ich das Gespräch auf sie gebracht. Wissen Sie, Alter, ob man will oder nicht, man wird schließlich so wie die eigenen Geschichten. Liebe, Verrat – zuweilen macht das keinen Unterschied. Womöglich ist auch das eine Krankheit. Ich habe erzählt, Alter, wie Ragusa beschossen und bombardiert, wie es mit Gewehrsalven überzogen wird. Wie das Blau des Hafens verwundet wird. Eines Tages dann erwachte ich, und auch meine Haut roch nach Schießpulver.
Der alte Mann paffte gedankenverloren, von Zeit zu Zeit nahm er eine Traube aus dem Schüsselchen auf seinem Schoß und steckte sie in den Mund. Aber er hatte keine Zähne. Er zerdrückte sie mit dem Gaumen.
Ich heiße Ivan Dubrovnik, sagte er.
Ich bin Wolf, nickte ich.
Du scheinst ein grausamer Mensch zu sein.
Das bin ich, Alter, grausam und einfältig. Ich bin verliebt.
Ivan Dubrovnik nahm wieder eine Traube, aber er steckte sie nicht in den Mund, sondern ließ sie hinter sich kullern. Kurz darauf kam ein junges Mädchen, die Traube in der Hand. Sie wiegte den Kopf, sabberte. Ihr bunter Rock war bis zum Schenkelansatz hochgerollt. Sie trat zu mir und steckte mir die Traube in den Mund, nur damit ich ihr Leben kennenlerne. Noch nie habe ich etwas derart Süßes geschmeckt. Das Mädchen war verrückt geworden, als Dubrovnik bombardiert wurde. Sie hieß Eva Dubrovnik, und seit damals altert sie nicht, nur ihr Speichel tropft, und im Traum spricht sie zu dem wund gewordenen Blau über dem Meer. Eva Dubrovnik war nicht vom Dröhnen der Kanonen, von den Explosionen der einschlagenden Geschosse, dem schmerzlichen Krachen der Steinmauern oder den ständig fallenden Gesteinsbrocken verrückt geworden. Auf der Terrasse im Hof ihres Vaters stand ein kleiner Holztisch. Darauf bebten die Gläser mit dem Mineralwasser, solange der Krieg dauerte, und auch während der unheilschwangeren Pausen zwischen den Bombardements bebten sie. Eva Dubrovnik starrte sie wie besessen an, bis es sie schließlich mit einem schrillen Schrei im blutigen Morgengrauen der widersinnigen Welt der Normalen, Weisen und Klugen entriß.
Ich faßte das Mädchen an der Hand, es gehörte mir.
Ich bezahlte Ivan Dubrovnik mit Geld und Geschichten.
Dann reisten wir ab, wir mußten uns beeilen. Wenn ich zur Sonne blickte, hörte ich Wehklagen. Eva Dubrovnik war tatsächlich verrückt. Unterwegs machten wir dennoch bei den Grabungen von Jakulevo Halt. Milenka Caricas Leute beobachteten uns aus dem Dickicht, aber das interessierte mich nicht. Wer weiß, in welchem Stadium die Freilegung gerade war, die von einem einbeinigen Engländer mit verstümmelter Hand geleitet wurde. Er hatte es nicht leicht. Wenn auf der Ostseite des Ausgrabungsfeldes die Erde sich zu erschöpfen schien, wenn die Arbeiter vermeinten, die Schichten wüßten keine Lieder oder Gedichte mehr von neuen Menschenschicksalen zu wehklagen, dann stürzte beim westlichen Becken der Ausgrabungen die Mauer ein, und dahinter gähnte eine neue Höhle oder der Schlund eines Erdrisses die Leute an und ließ wissen, daß die Hefe weitere Knochen, Nägel und Haarbüschel in sich berge. Ich stand bei den Grabungen von Jakulevo, starrte die künstlichen Hügel und Staubhaufen an und hatte irgendwie das Gefühl, daß die Arbeiten nie zu einem Ende kommen würden.
Nie kann man damit aufhören, und nie hat es ein Ende.
Sei stark, Wolf, kam mir plötzlich der Gedanke.
Eva Dubrovnik floß auch jetzt der Speichel, während sie wortlos bebend auf die Landschaft starrte. Doch das glänzende Silber des Speichels wurde immer dunkler, ja, Eva Dubrovniks Speichel war von Blut verfärbt, und das bedeutete nichts anderes, als daß ihr Verstand sich klärte, daß das wohltätige Dunkel, das ihren Geist umgab, sich lichtete. Wenn aber Eva Dubrovnik zur Vernunft kam, war mein Plan dahin. Ich beugte mich ganz nah zu ihr.
Wie wäre es, wenn sie plötzlich alle auferstehen würden, fragte ich leise. Ich sah, wie sich mein Gesicht in ihren Augäpfeln spiegelte.
Wie wäre es, wenn sie plötzlich alle vor uns stehen würden, wenn sie lachend oder ärgerlich, rotznäsig oder nasebohrend hier vor uns stehen würden, hungrig und unglücklich.
Eva Dubrovnik atmete, als wäre sie geschlagen worden.
Er heißt Siposka Sipos, flüsterte ich. Eines Tages hat er seine Familie tot auf der Wiese gefunden. Er heißt Siposka Sipos und hat sich für das Glück entschieden.
Eva Dubrovnik schüttelte ungläubig den Kopf.
Siposka Sipos hatte über den Toten gesessen und verkündet, daß er der glücklichste Mensch weit und breit sein werde.
Eva Dubrovnik lachte wie ein Wasserfall, sie kicherte, ihre Schultern bebten und ihr Speichel troff wieder hell und schimmernd. Ich war beruhigt. Einige Tage später kamen wir zu Hause an. Dreck unter den Nägeln, das Haar zerzaust. Das Mädchen folgte mir gehorsam, nie sagte sie, sie habe Hunger, sie klagte nicht über Durst, oder daß mein Freund, der Wind, sie störe, der uns auf Schritt und Tritt folgte und ihr ständig neue Kapitel über die Freilegungen von Jakulevo ins Ohr raunte. Nachts erreichten wir die Dorfgrenze.
Ich bin Wolf, flüsterte ich am Ortsschild.
Wolf ist wieder da, zischte ich dem übelriechenden Dunkel zu, worauf die Hunde aufhörten zu winseln. Das Mädchen versteckte ich in meinem Schuppen, den Mund band ich ihr mit einem Tuch zu, damit ihr Speichel nicht leuchtete. Und schon lief ich zum Haus meiner Liebsten. Da roch es nach Mut, nach Tod. Das Fenster von Baba Franciska stand offen, dunkel und leer.
Bist du kein Engel mehr, teure Baba Franciska?
Auch Fie haben mich verlaffen, Wolf, keuchte drinnen meine Geliebte.
Ich liebe dich und werde nur dich lieben, winselte ich unter ihrem Fenster.
Geh nur, geh, Wolf, du verlogener, graufamer Menf!
Ich gab die Hoffnung nicht auf. Am Morgen streute ich mir als erstes Mohn in den Mund. Siposka Sipos saß vor der Kneipe und spielte mit dem Goldzahn.
Was willst du, Wolf, blinzelte er mich mißtrauisch an.
Und ich, der ich grausamer und schlechter war als er, begann ihm zu erzählen. Jedes meiner Worte erzählte von Eva Dubrovnik, doch ich hütete mich, den vor Speichel glänzenden, süßen Namen des Mädchens auszusprechen. Der Blick von Siposka Sipos wurde immer starrer, auf seiner Stirn zerrann der Schimmel des Hasses. Ich erzählte vom Klingen und Beben der Gläser von Dubrovnik, vom Pfeifen der Bomben, vom stillen, tödlichen Kullern der Trauben auf den jahrhundertealten Steinen, ich erzählte von den pickeligen Schultern des Mädchens, ihren schrumpligen, kleinen Brüsten, ihrer trocken glühenden, stummen Scham, und ich erzählte ihm von dem Messer, mit dem sie sich nach den Ereignissen von Jakulevo geküßt hatte. Siposka Sipos schwieg wie die Toten, die nie wieder auferstehen. Und das reichte mir. Ich lag richtig damit, wie ich Scheiße baute. Siposka Sipos mochte verrückt sein, bis in die letzte Gehirnzelle irrsinnig, doch jetzt hatte ich ihn in der Hand. Ich hatte Macht über ihn.
Nur der Zustand meiner Liebsten machte mir Sorgen. Nicht einmal das nächtliche Dröhnen der Flugzeuge interessierte sie, sie spähte nicht zum Himmel, forschte nicht nach den herabhängenden, schmutzigen Bäuchen der Wolken. Baba Franciska war krank wie der vergessene Honig. Sie magerte ab, die Haare gingen ihr aus, ihre Haut wurde gelb, und nachts summte sie von den kalkweißen Würmern in der Sandgrube von Berevac, mit denen Milenka Caricas Leute sie damals bekannt gemacht hatten.
Ich saß an ihrem Bett und weinte.
Ich heiße Wolf, flüsterte ich.
Ich bringe dir deinen Goldzahn zurück, Baba Franciska.
Einige Tage später, ganz wie ich es geplant hatte, flehte mich Siposka Sipos inständig an, ihm Eva Dubrovnik zu geben. Ich gab sie ihm nicht. Ich trat über den Schatten des Verrückten hinweg, blickte nicht einmal zurück. Er rannte mir hinterher, zerrte mich am Arm, schlug mich. Brüllend verlangte er nach Eva Dubrovnik. Ich erzählte weiter. Ich ließ zu, daß er mich schlug, daß er mich quälte, meinen Mund verfluchte. Dann wurde er leise wie mein Freund, der Wind, der gerne den Sonnenuntergang bewundert und dabei sein Leben unterbricht. Siposka Sipos saß mir gegenüber und beobachtete mich. Schließlich schleuderte er mir den Goldzahn ins Gesicht. Ich brachte ihn zu dem Mädchen in meinem Schuppen. Ich gab ihm Eva Dubrovnik. Zwei Verrückte hatten sich vor meinen Augen gefunden, streichelten, küßten einander, und keiner, der sie nicht kannte, hätte behaupten können, sie wären verrückt.
Noch am selben Tag brachte ich Baba Franciska den Goldzahn zurück. Meine Liebste lag im Sterben. Ich legte den Flaum eines Taubenjungen auf ihre Lippen und beobachtete, wie er sich von den Lippen hob. Dann regte sich der kleine Flaum lange nicht. Schließlich hob der letzte Seufzer, der eine Melodie, eine Geschichte, einen Sinn hatte, mit einem Wort, das letzte Seufzen, das noch eine Ausdehnung hatte, den Flaum hoch, mir zwischen die Finger. Ich weiß nicht, warum, aber mir fiel Milenka Carica ein.
Am nächsten Morgen drang die Nachricht ins Dorf wie Gift. Siposka Sipos sei nicht mehr verrückt. Er sei wieder bei Trost. Oder besser erleuchtet. Er habe wieder alle Tassen im Schrank. Letztendlich egal. Selbst wenn er seinen Irrsinn gespielt haben sollte. Ich habe gesehen, wie er mit einem fremden Mädchen die Hauptstraße des Dorfes entlangtanzte, Arm in Arm. Er fing dem Mädchen eine Schwalbe, opferte ihm einen Hammel, und wenn sich einer aus dem Dorf nach seinem Namen erkundigte, winkte er nur ab und tanzte weiter. Nicht viel später, nachdem ich für Baba Franciska das Grab ausgehoben und die Boten der kalkweißen Würmer aus der Sandgrube von Berevac zertreten hatte, kam die neue Nachricht, daß Siposka Sipos wieder eine Tote gefunden hatte. Die Tote war jenes Mädchen, mit der Siposka Sipos seine Tage verbracht hatte. Die Leute sagten, sie heiße Eva Dubrovnik. Ich fragte in der Kneipe, warum sie glaubten, daß Siposka Sipos nicht mehr verrückt sei. Sie sagten, er weine bitterlich über dem toten Mädchen und flehe sie an, in dieser Welt nicht wieder aufzuerstehen.