BUCH III

»Wer wenig hat, muß Vorkehrungen gegen den Feind treffen.
Wer viel hat, bringt den Feind dazu, Vorkehrungen gegen ihn zu treffen.«

- SUN Tzu, Die Kunst der Kriegsführung
»Ich ziehe erst in den Krieg, wenn ich soweit bin.«
-
Aus einem Interview mit Kanzler SUN-Tzu LIAO, Universitätsverlag Sian, 7. Oktober 3057

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Landungsschiff Heaven Sent,
Raumhafen Shervanis, Kalifat Shervanis
Astrokazy, Peripherie

28. Juni 3058

Die Laderampe senkte sich langsam vom Tor des Hauptmechhangars der Heaven Sent hinab zum fahlgelben Sand des Raumhafens Shervanis. Marcus stand an den Toren, außerhalb des grellen Sonnenlichts, aber nahe genug an der Öffnung, um von der Hitze bedrängt zu werden, die wie ein nicht enden wollender Wärmestau eines Mechreaktors vom Sand emporstieg. Schweiß perlte ihm über die Haut und tränkte seine Kleidung. Und ich hab gedacht, der Asphalt auf Marantha wäre heiß!

Einen halben Kilometer nach Osten, seiner momentanen Position genau gegenüber, lag häßlich und geduckt die Stadt, der dieses Landefeld seinen Namen verdankte. Shervanis war Astrokazys größte Siedlung, schien aber wenig mehr als eine sich über Kilometer erstreckende Ansammlung heller Lehmbauten und dunkler, enger Straßen. Im Süden konnte Marcus am Rand der Hangarschotten vorbei gerade noch das öde Vorgebirge ausmachen, hinter dem, wie er aus den Karten wußte, die Wildnis ihren Anfang nahm. Die Wildnis, ein fünf Kilometer breiter Streifen zerklüfteter Felsen und tückischer Schluchten, war alles, was zwischen den sandigen Ebenen des Kalifats Shervanis und der Shaharazadischen Wüste lag.

Auf halber Strecke zwischen dem Stadtrand und dem Landungsschiff näherte sich eine kleine Karawane, Dutzende dunkelhäutiger Diener, gebeugt unter dem Gewicht sechs überdachter Sänften. Marcus teilte seine Aufmerksamkeit zwischen der Stadt und der sich nähernden Karawane und machte sich seine ersten Eindrücke von Astrokazy bewußt.

Trostlos, wüst und gottverlassen waren die Begriffe, die ihm in den Sinn kamen.
Die Reise von Marantha nach Astrokazy war beinahe problemlos über die Bühne gegangen. Dorian Anastius,

der Skipper des canopischenHändler-Klasse-Sprungschiffs Marathon, kannte sein Geschäft. Oder besser gesagt, seine Handelsrouten. Selbst für ein so abgelegenes

Ziel wie Astrokazy wußte der erfahrene Raumfahrer genau, wie weit er springen konnte, und welche Systeme entlang der Strecke die schnellste Aufladezeit trmöglichten. Bei der Vorbereitung des Absprungs aus

dem Marantha-System mit der Heaven Sent und derStecknadelkopf am 29. Mai hatte Anastius Marcus eine Flugzeit von nicht mehr als vier Wochen versprochen, einschließlich der acht Tage, die beide Landungsschiffe für den Flug vom Sprungpunkt zur Oberfläche Astrokazys benötigten.

Und wäre es unterwegs nicht zu einem unerwarteten Zwischenfall gekommen, hätte die Marathon diese Vorgabe exakt eingehalten. Selbst so hatten sie den Termin nur um zwei Tage überschritten.

Bei der Vorbereitung des dritten und letzten Sprungs hatte es Probleme mit der Ausrüstung zum Einholen des riesigen Solarsegels der Marathon gegeben. Ein Sprungschiff entfaltete dieses Segel, um die Sonnenenergie zu sammeln, die benötigt wurde, um den KearnyFuchida-Sprungantrieb aufzuladen, und kein Skipper war bereit, sein Segel ohne wirklich zwingenden Grund aufzugeben. Es hatte vier Tage gedauert, bis es der Crew gelungen war, die Ausrüstung zu reparieren und die verhedderte Takelage zu entwirren. Um den Zwi

schenfall wiedergutzumachen, war Kapitän Anastius

- dann an einen Piratenpunkt des Astrokazy-Systems gesprungen, der die übliche Flugdauer von acht Tagen zur Planetenoberfläche um zwei Tage reduzierte.

Von der Macht, die ein MechKrieger in seinem Kampfkoloß verkörperte, war während des Raumtransports nichts zu spüren. Dort mußte er sein Leben und seine Ausrüstung dem Können anderer anvertrauen. MechKrieger ziehen eine kurze Flugdauer vor, dachte Marcus und starrte hinaus auf die abweisende Szenerie. Selbst auf so eine trostlose Ödwelt wie diese.

Aus der Umlaufbahn hatte ihm Jericho die Shaharazadische Wüste gezeigt, einen trockenen Ozean aus

sonnengedörrten Ebenen, zerklüfteter Wildnis und wogenden Dünen, der sich um den Äquator des Planeten zog und von Nord bis Süd nirgends weniger als fünftausend Kilometer maß. Eigentlich hätte man glauben sollen, daß nichts in dieser gelbbraunen Einöde überleben konnte. Aber wie auf Tausenden Welten der Inneren Sphäre und der Peripherie hatten sich die Menschen auch hier eine Nische geschaffen. Entlang der Nord- und Südgrenzen der Shaharazad, wo die Durchschnittstemperatur erträglich war und man in oasenähnlichen Teichen und einigen wenigen kläglichen Bächen die geringen Trinkwasservorkommen des Planeten fand. Die knapp zwei Dutzend größeren Städte, die selbst zu Zeiten der Dürre andernorts noch über ausreichend Wasser verfügten, waren Machtzentren, und jede von ihnen wurde von einem Kalifen regiert: einem selbsternannten Despoten.

Den MSK-Informationen zufolge beanspruchten diese Kleintyrannen die Macht über naheliegende Dörfer und weite Teile der Wüste, die sie als Kalifate bezeichneten. Aber in Wirklichkeit endete ihre Macht in aller Regel am Stadtrand. Die Dorfbewohner zollten dem Kalifen Tribut und symbolische Loyalität, der gerade Krieger in ihrem Dorf stationiert hatte, eine Lage, die durch Überfälle und sporadische Invasionen der verschiedenen Kalifen ständig im Fluß war, ohne daß sich die Grenzverläufe irgendwo wirklich ernsthaft veränderten. Das Ganze erinnerte Marcus an die Streitigkeiten zwischen den Großen Häusern der Inneren Sphäre. Obwohl sie seit fast dreihundert Jahren um die Vorherrschaft rangen, hatten sich die Grenzverläufe ihrer Nationen bis zur jüngsten Clan-Invasion und den Problemen in den Chaos-Marken nicht wesentlich verschoben.

Was die Wüste betraf - falls irgend jemand die Shaharazad wirklich beherrschte, so waren es die Scheiche der Nomadenstämme.

Die Karawane, die Marcus beobachtet hatte, kam jetzt am Fuß der Landungsschifframpe zum Stehen. Sechs überdachte Sänften wurden von je acht Sklaven getragen. Fünf waren leer, die sechste hatte einen einzelnen Insassen. Zwei Wachen mit Automatikgewehren flankierten jede der Sänften. Die Wachen trugen einen Kaftan, eine weite, helle Robe zum Schutz vor der Sonne. Die Sklaven trugen nur grobe graue Baumwollhemden, und ihre dunkle Haut warf an Schultern, Armen und Füßen Blasen. Sie waren an den Fußgelenken aneinander gekettet. Abscheu fraß an Marcus' Eingeweiden, und das Klirren der Ketten zehrte an seinen Nerven.

»Denken Sie daran, wir sind nicht gekommen, um die hiesigen Gebräuche zu reformieren«, ermahnte ihn Jericho in lautem Flüsterton, als sie neben ihn trat. Sie wurde begleitet von Ki-Lynn Tanaga und Thomas Faber. Jase Torgensson, der sich von seiner Tortur in der Liga Freier Welten erholt hatte und wieder so elegant wie eh und je aussah, hielt sich ein Stück zurück. Wie immer zog er eine gewisse Distanz vor.

Marcus nickte einmal kurz, während er die einzelne Gestalt aus der Sänfte steigen und sich dem Schiff nähern sah. Jericho hatte sie vor Sklaverei und anderen barbarischen Praktiken gewarnt. Dies war nicht der Zeitpunkt für einen Kreuzzug. »Aber es weckt Zweifel an der Gastfreundschaft dieses Shervanis«, raunte er zurück.

Kalif Malachye Shervanis hatte seine Grüße übermittelt, als das Landungsschiff der Angeli in die Umlaufbahn eingetaucht war, und sie eingeladen, seine prächtige Residenzstadt zu besuchen und ihm den gebotenen Respekt zu zollen. Der Anruf hatte sie alle überrascht, Söldner und Canopier gleichermaßen, denn keiner unter ihnen hatte auf Astrokazy eine bis zur Möglichkeit des Orbitalfunks fortgeschrittene Zivilisation erwartet. Einen Moment lang hatte Marcus sich gefragt, ob ihre Gegner sich vielleicht durch den Einsatz moderner Technik selbst verraten hatten, aber dann waren ein Dutzend gleichartiger Einladungen rivalisierender Kalifen eingegangen. Einer von ihnen, ein gewisser Kalif Rashier, hatte es sogar mit einer kaum verhüllten Bestechung versucht und den Angeli eine >Ein-Tages-Garnisonsbezahlung< angeboten, wenn sie ihm zum Essen und einer Unterhaltung einen Besuch abstatteten.

Die Angeli hatten auch in Erfahrung gebracht, daß Blakes Wort in den Außenbezirken von Shervanis eine kleine Kommunikationsanlage unterhielt. »Warum nicht? Sie sind schließlich auch sonst überall heutzutage«, war Jerichos einziger Kommentar gewesen. Marcus hatte nur stillschweigend festgestellt, daß Blakes Wort sehr viel mehr Interesse an der Peripherie zeigte, als ComStar je aufgebracht hatte.

Die Familie Shervanis, Nachkommen der ersten Siedler des Planeten, hatte traditionell große Macht auf Astrokazy ausgeübt. Da die Angeli irgendwo mit ihrer Suche nach den Waffenschmugglern und einem möglichen Aufmarschgebiet der Mordbanden beginnen mußten, hatten sie entschieden, ein Treffen mit Malachye Shervanis sei ein guter Anfang. Sein Kalifat galt als eines der aufgeklärteren Astrokazys. Außerdem versprach die Präsenz von Blakes Wort in der Stadt den Söldnern die Möglichkeit zum direkten Kontakt mit dem Magistrat, und wenn nötig konnten die Blakisten zwischen den Angeli und Shervanis vermitteln.

Aber Marcus hatte sich auch sagen lassen müssen, daß keinem Kalifen allzuweit zu trauen war. Sie kämpften ständig gegeneinander um die Vorherrschaft, und gelegentlich auch gegen die Wüstenscheiche, und zögerten nicht, den kleinsten Vorteil auszunutzen. Jericho hatte vorausgesagt, daß die Ankunft einer verstärkten Söldnerkompanie zu Angeboten sämtlicher Kalifen führen würde, und wenn diese nichts fruchteten, zu Drohungen. Marcus hatte nur Jericho, Ki-Lynn, Jase und Thomas in der Heaven Sent mit auf die Oberfläche gebracht. Jerichos Lanze und der Rest der Angeli waren auf die Stecknadelkopf umgestiegen und blieben unter Charlene Boskes Befehl als Abschreckung in der Umlaufbahn. Die MSK-Berichte, die Major Wood ihnen ausgehändigt hatte, beschrieben Kalif Shervanis' Privatarmee als zwei schlecht erhaltene BattleMechlanzen. Und gleichgültig in welcher Verfassung die Stecknadelkopfwar, ein Landungsschiff der Festungsklasse konnte die gesamte Stadt des Kalifen dem Erdboden gleichmachen. Also hatte Jericho ihre MSK-Uniform gegen eine passendere Söldnerkluft getauscht, und die fünf hatten eine Einladung akzeptiert, die sie möglicherweise in die Höhle des Löwen führte.

Marcus trat hinaus ins Sonnenlicht, um Kalif Shervanis' Boten zu begrüßen. Der Mann trug eine formelle Robe aus schwerer Seide und anderen Stoffen, die Marcus nicht identifizieren konnte. Alle waren reich mit Goldfaden bestickt. Wie in einer Trotzgeste der heißen Sonne des Planeten gegenüber trug der Mann keine Kopfbedeckung auf dem kahlrasierten Schädel. Seine dunkelbraune Haut glänzte unter einer dünnen Schweißschicht. Er blieb mehrere Schritte vor Marcus stehen und verneigte sich ein wenig, die Hände vor dem Körper, die Fingerspitzen aneinander gelegt. Marcus erwiderte die Geste unsicher.

»Ich bin Erzwesir Ji-Drohmien«, stellte der Mann sich mit schwerem Akzent und stark rollendem >r< vor. »Persönlicher Ratgeber des Erhabenen und«, er lächelte dünn, »seine rechte Hand.«

Marcus entging der Witz dieser letzten Bemerkung. Er bat den Mann hinauf in den Schatten des Mechhangars. »Märcus GioAvanti, Kommandeur von Gli Angeli di Avanti.«

Die scharfen Augen des Mannes zuckten durch den Hangar und stoppten nur kurz bei jedem der fünf BattleMechs. »Herrliche Maschinen, Kommandant. Und der Rest Ihrer Kompanie?«

»Bleibt in der Umlaufbahn, Erzwesir. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, unserem Gastgeber zu drohen, indem ich mehr BattleMechs mitbringe, als er zur Verfügung hat.« Marcus beobachtete Ji-Drohmiens Gesicht auf Anzeichen hin, daß Shervanis mehr als zwei Mechlanzen aufbieten konnte.

Die Miene seines Gegenübers blieb respektvoll nüchtern. »Eine weise Entscheidung«, stellte er fest und deutete zu den wartenden Sänften. »Mein Herr hat eine Transportmöglichkeit geschickt. Wenn Sie soweit sind.«

»Nein«, stellte Marcus entschieden fest. Er sah, wie Jericho sich anspannte, aber er dachte nicht daran, sich in eine von Sklaven getragene Sänfte zu setzen. »Wir würden es vorziehen, unseren Transport selbst zu regeln.« Er warf Torgensson einen Blick zu. »Jase, hole einen unserer Schweber. Den großen Bus.« Er wandte sich an Ji-Drohmien. »Vielleicht möchten Sie uns Gesellschaft leisten, Erzwesir?«

Das listige Lächeln des Astrokaszy verunsicherte Marcus und ließ ihn sich fragen, ob er einen Fehler beBangen hatte. »Eine hervorragende Geste«, meinte JiDrohmien. »Im Namen unseres erleuchteten Gebieters, Kalif Malachye Shervanis, heiße ich Sie auf Astrokazy willkommen.«

Jericho entging der besorgte Ausdruck auf Ki-Lynn Tanagas Gesicht nicht, als Marcus Jase den Schweber holen schickte. Aber solange Ji-Drohmien bei ihnen stand, konnte sie nichts sagen. Was immer es ist, wir werden es früh genug herausfinden, dachte sie und stieg ein. Das Dach des Wagens war abgenommen worden, so daß sie offen fahren konnten. Glücklicherweise, denn die Kühlung hätte es mit der Wüstenhitze kaum aufnehmen können. Jase setzte sich ans Steuer, und innerhalb von Minuten fuhren sie durch die engen Gassen der Stadt.

Einige der Gebäude waren aus Holz und Stein gebaut, aber die meisten waren hellbraune Lehmziegelhäuser, wie sie für Wüstengebiete typisch waren. In den Außenbezirken der Stadt bemerkte Marcus mehr als ein Gebiet, das fast zur Gänze aus Trümmerhaufen bestand, Überreste des letzten Kriegs zwischen Shervanis und wer-weiß-welchem anderen Kalifen. Wie es schien, lebten die Menschen dort in primitiven Verschlägen, während sie versuchten, Häuser von etwas besserer Qualität wiederaufzubauen. Hinter dem vom Krieg verwüsteten, Bereich umfuhr der Schweber ein großes Industriegebiet, das vor allem aus ausgebrannten Fabrikgebäuden und verlassenen Lagerhallen zu bestehen schien. Dann erreichten sie ein überfülltes Wohngebiet, das nach Urin und verrottendem Abfall stank.

Die Menschen auf der Straße trugen hauptsächlich selbstgenähte Kleider, die Erwachsenen lange, fließende Kaftane, die Kinder formlose Hemden. Vereinzelt waren hell gefärbte Kleider etwas besserer Qualität zu sehen, aber ansonsten schien nicht viel Unterschied zwischen Wohlhabenden und Armen zu bestehen. Selbst als die kleine Gruppe sich dem Stadtzentrum näherte, waren die einzigen Anzeichen von Wohlstand ein grober weißer Verputz an den Hauswänden oder die Präsenz eines vereinzelten Sklaven. Alle Städter, denen sie begegneten, starrten den Schweber offen an, bis sie den Erzwesir auf dem Vordersitz erkannten und sich hastig wieder ihren eigenen Geschäften zuwandten.

Neben ängstlichen und haßerfüllten Blicken bemerkte Jericho auch zahlreiche Pistolen und Gewehre. Sie fragte sich, wie sich Ji-Drohmien so schutzlos und ohne Sorge um sein Leben durch die Straßen bewegen konnte. Aber als sie die Leute näher studierte, erkannte sie, daß die vorherrschende Emotion in der Tat Angst war. Und anscheinend nicht vor dem Erzwesir.

Diesen Mann hassen sie vielleicht, aber vor Shervanis haben sie Angst. Der Kalif könnte seine BattleMechs gegen sie einsetzen, und wer könnte ihn aufhalten? Sie können sonst nirgends hin, außer in die Wüste.

Der Palast des Kalifen im Zentrum der Stadt war von einer Schutzmauer aus verstärktem Stahlbeton umgeben. Mit zwanzig Metern Höhe und fast zehn Metern Dicke stellte diese Mauer für jeden Angreifer ohne sprungfähige BattleMechs ein beachtliches Hindernis dar. Gleichzeitig zeigte sie Jericho, daß Malachye Shervanis eine solide Verteidigung seiner Person für wichtiger hielt als die außerhalb der Mauern verfallende Stadt. Und am Haupttor sah sie einen weiteren Hinweis auf Shervanis' erleuchtete Herrschaft: ein Dutzend aufgespießter Köpfe, die auf langen Stangen in der trockenen heißen Wüstenluft verrotteten.

Ji-Drohmien wischte den Anblick mit einer hochtrabenden Handbewegung beiseite. »Ein Exempel«, stellte er fest, ohne sich die Mühe zu machen, diese Bemerkung näher zu erläutern. Als der warme Wüstenwind den Gestank verfaulenden Fleisches herantrug, stieg in Jericho Übelkeit auf.

Der Palast des Kalifen bot einen erstaunlichen Kontrast zur Stadt. Das gut fünfhundert Quadratmeter messende Gelände enthielt mehrere von Sklaven gepflegte Obsthaine. In seiner Mitte erhob sich ein großer, zweistöckiger Palast, dessen gedrungene, zwiebelförmige Kuppeln in Rot und Gelb in kleine Türmchen ausliefen. Die Wände waren glatt und jungfräulich weiß. Zwei BattleMechs, ein uralter Paladin und ein kaum besser erhaltener Clint patrouillierten über das Grundstück. Alles kündete von Reichtum und Macht, ein Eindruck, der sich noch verstärkte, als sie das Gebäude betraten.

Die Fußböden waren mit rosa Marmor gefliest, und überall waren Sklaven damit beschäftigt, das Interieur zu säubern und zu polieren. Ji-Drohmien führte sie mehrere enge Korridore hinab, an mit schwerer Seide oder Perlenvorhängen verschlossenenen Türen vorbei, die gelegentlich von einem turbantragenden Beduinen mit riesigem Krummsäbel bewacht wurden. Schließlich bat er sie, in einem kleinen Vorraum zu warten, während er ihre Ankunft meldete. Sklavinnen versorgten sie mit Weinkrügen, Tellern voll Datteln und Nüssen und flachen Wasserschalen, um sich den Staub von den Händen zu waschen. Jericho war immer noch übel von der Erinnerung an die abgeschlagenen Köpfe, und sie war froh, als Marcus die Früchte ablehnte.

Erst, als sie endlich allein waren, meldete sich KiLynn. »Die Sänften bedeuteten eine Höflichkeit«, stellte sie fest. »Ein Geschenk des Kalifen Shervanis.«

»Und er wird es als Beleidigung ansehen, daß ich sie nicht angenommen habe?«
»Nein. Solange der Kalif Ihnen. etwas nicht persönlich überreicht, dürfen Sie es ablehnen. Das ist Ihr Recht als Gast. Aber dann haben Sie eine. überlegene Transportmöglichkeit eingesetzt. Das kann und wird ein Pascha als Beleidigung ansehen.«
Jericho bemerkte die Andeutung einer möglichen Ausnahme. Anscheinend war sie auch Marcus nicht entgangen. »Es sei denn?«
»Es sei denn, Sie schenken den Schweber jetzt dem Kalifen.«
Auf Marcus' Miene trat ein erschreckter Ausdruck. »Deshalb war Ji-Drohmien über meinen Vorschlag so erfreut.« Auf Kis leichtes Nicken, stieß er in einem kurzen, scharfen Stoß, den Atem aus. »Jetzt läßt es sich nicht mehr ändern. Bitte warn mich nächstesmal, Ki.«
»Ich werde es versuchen. Aber es wäre fast ebenso beleidigend, wenn eine Frau an einem Ort wie diesem das Wort ergreift.«
Woher weiß sie soviel über die arabische Kultur? fragte sich Jericho. Die Kommunikationsoffizierin der Angeli schien eine unerschöpfliche Quelle nützlicher Informationen. Aber das war jetzt nicht von Bedeutung. Und auch wenn es ihr bitter aufstieß, merkte sich Jericho die Information über >den Platz der Frau< für später. Dies war nicht das Magistrat. Wenn sie hier versuchte, ihre Rechte durchzusetzen, würde sie den Angeli nur Schwierigkeiten machen und diese Mission für ihr Volk gefährden.
Aber Marcus dachte nicht daran, sich darauf einzulassen. »Du bist eine Kriegerin, Ki. Das werden diese Leute respektieren.« Er machte eine Pause und schien nachzudenken. »Aber überlege dir das nächste Mal einen Vorwand, um mich beiseite zu nehmen und mir zu sagen, was du auf dem Herzen hast. Das gilt für alle«, fügte er hinzu und sah sich unter ihnen um. Jericho hatte das Gefühl, daß sein Blick etwas länger auf ihr ruhte, aber seine grauen Augen waren unergründlich.
»Du hast Sherivan einen Pascha genannt«, meinte Jase. »Ich dachte, er wäre Kalif?«
Ki nickte. »Pascha ist ein Ehrentitel, kein Herrscheramt. Ähnlich wie san und sama im Kombinat. Die korrekte Anrede wäre Malachye-Pascha.«
Das Gespräch erstarb, als Ji-Drohmien mit rauschender Seidenrobe zurückkehrte. »Seine Erhabenheit ist jetzt bereit, Sie zu empfangen«, sagte er und führte die Angeli einen weiteren kurzen Gang hinab und durch einen glänzend rotgoldenen Perlenvorhang. Jericho erkannte, daß der Grundriß dieses Palasts mit seinen engen Korridoren und häufigen Biegungen Besucher ebensosehr verwirren wie einschüchtern sollte. Man wußte nie, ob hinter einem Vorhang ein neuer Gang oder ein Raum voller Wachen lag.
Diesmal führte er in einen kreisrunden Saal. Auf einer mit Kissen übersäten Empore lag ein nur in eine kleine Purpurweste und weite weiße Hosen gekleideter Mann, in dem sie Kalif Malachye Shervanis vermutete. Hinter der Empore ragte eine dicke Kupferwand auf, auf der in einem gewaltigen Reliefmotiv riesige Dschungelkatzen wirbelten und tanzten. Am Rand der Empore stieg der starke Duft aromatischen Weihrauchs aus einem qualmenden Metallfaß, und ein in der Nähe stehender Tisch enthielt neben einer großen Wasserpfeife ein Arrangement verschiedener Tabaksorten und Drogen.
Shervanis betrachtete seine Besucher mit so dunklen Augen, daß sie schwarz schienen. Sie erinnerten Jericho an Bilder eines alten terranischen Raubfischs namens Hai. Obwohl er ein Sohn der Wüste war, erschien ihr der Kalif ebenso tödlich.
Ihren Informationen nach war Shervanis fast sechzig, aber er war schlank gebaut und zeigte immer noch dieselbe drahtige Stärke, die er sein ganzes Leben über besessen haben mußte. Zwei spärlich bekleidete Sklavinnen umsorgten ihn. Eine der beiden fütterte ihn aus einer Fruchtschale, während die andere in der Nähe kniete und wartete. Ein einzelner Wachtposten stand etwas abseits und hielt einen großen Fächer aus riesigen Federn, den er langsam bewegte, um im Innern des stickigen Raums einen Windhauch zu erzeugen. »Erhabener«, rief Ji-Drohmien von der Türe aus, und ließ die Angeli vorgehen. »Kommandant GioAvanti und vier seiner Krieger.«
»Ah, ausgezeichnet.« Die Stimme des Paschas war leise und besaß einen starken Akzent, so daß er kaum zu verstehen war. »Mein Erzwesir hat mir von der großzügigen Leihgabe eines Schwebers berichtet, der Ihre Reise verkürzen soll.« Seine dunklen Augen sahen Marcus erwartungsvoll an.
Der Söldner reagierte ohne Zögern. »Natürlich in der vollen Absicht, dieses Fahrzeug Eurer Erhabenheit als Geschenk zu überreichen, Kalif Shervanis.«
Die schwarzen Augen zwinkerten einmal langsam. »Sehr großzügig, Kommandant«, stellte er schließlich fest. »Wir wissen es zu schätzen. Aber wir können dieses Geschenk nicht annehmen.« Er sprach langsam und sorgfältig, damit seinen Zuhörern die Bedeutung seiner Worte nicht entging. »Als Ihr Gastgeber wäre es unziemlich, einen Vorteil aus Ihrem Unglück zu schlagen.«
»Unglück, Kalif?« Marcus wirkte entsprechend besorgt, auch wenn Jericho wußte, daß alles nur geschauspielert war. Jeden Augenblick würde Marcus zugeben, daß er in finanziellen Schwierigkeiten steckte, und die Angeli nach Astrokazy gekommen waren, um mit der Suche nach der gerüchtehalber hier zu findenden Sternenbundbasis jüngste Verluste wettzumachen. Auf diese Tarngeschichte hatten sie sich vor dem Abflug von Marantha geeinigt. Es bestand keine sonderliche Gefahr, daß der Kalif sie anzweifelte.
Aber Malachye Shervanis wartete nicht auf die Erklärung. Er breitete mit einem weiten Achselzucken die Arme aus, und sein rechter Arm rutschte zwischen den Kissen hervor. Seine Hand war am Gelenk abgetrennt worden, und keineswegs sauber. Das Narbengewebe zog sich über die Innenseite des Unterarms hin, auch wenn der Stummel gnädigerweise mit einer silbernen Kappe abgedeckt war. »Heute ist eine HPG-Botschaft eingetroffen, mit der alle Peripheriestaaten und unabhängigen Welten aufgefordert werden, nach Ihnen Ausschau zu halten. Es scheint, daß auf Outreach die sofortige Einlösung Ihrer Schulden gefordert wird. Ihre Gläubiger haben Sie für bankrott erklärt und alle planetaren Milizen sind aufgefordert, Ihre Mechs zu beschlagnahmen und als Pfand an Ihre Gläubiger zu schicken.« Der Kalif nahm eine Traube aus der Hand seiner Sklavin an und lächelte böse, während er sie zerkaute und schluckte. »Es scheint, Kommandant, daß Sie so schnell nicht in die Innere Sphäre zurückkehren werden.«

23 Palastgrund, Shervanis, Kalifat Shervanis Astrokazy, Peripherie

 

28. Juni 3058

So schnell werden Sie nicht in die Sphäre zurückkehren. Die Worte hallten immer noch durch Marcus' Gedan
ken, während er die engen Korridore des Palasts durchstreifte. Die Absätze klackten auf dem Marmorboden,
und das hohle Echo seiner Schritte verfolgte ihn, gejagt
vom leisen Flüstern der Sandalen, das ihn beständig an
seine >Eskorte< erinnerte.
Erzwesir Ji-Drohmien hatte auch den anderen vier
Angeli je einen turbanbewehrten Krieger zugeteilt, um
sie zu ihren Zimmern zu führen und ihnen später zu
helfen, sich im Palastgebäude zu orientieren. Um uns zu
bewachen und einzuschüchtern, bis der Kalif bekommt, was
er will,
übersetzte Marcus. Er war noch geblieben, um
ein paar abschließende Worte mit Shervanis zu wechseln, und bei seiner Verabschiedung hatten zwei dieser
Begleiter auf ihn gewartet.
»Wie es Ihrem Status als unser höchst ehrwürdiger
Gast geziemt«, hatte Ji-Drohmien mit einem dünnen
Lächeln erklärt. Marcus hatte auf eine Antwort verzichtet. Er wollte nur aus den engen Mauern des Palasts
entfliehen und seine Enttäuschung verschmerzen. Die
beiden Wachen korrigierten ihn nur einmal, als er
falsch abbiegen wollte, und kurz darauf marschierte er
durch die weite Eingangshalle und die Vordertüren
hinaus in den Garten.
An einem Ende des überdachten Eingangs wartete jemand auf ihn. Die Frau kehrte ihm den Rücken zu, und
einen Moment lang glaubte Marcus, es sei Jericho Ryan.
Aber sie hatte weder Jerichos Größe noch ihre volle Figur, und ihr Haar war viel zu lang und glatt. Nein, es war Ki-Lynn. Marcus war überrascht, daß er die beiden hatte verwechseln können, dann wurde ihm klar, daß er gehofft hatte, Jericho zu treffen. Irgendwie konnte er mit ihr als Außenstehender viel leichter reden. Jedenfalls war es bisher so gewesen. Jetzt, da sie und ihre Lanze den Angeli angegliedert waren, trug er auch für sie die Verantwortung. Und der Gedanke, daß sie einen besonderen Platz in seinem Herzen beanspruchen könnte, wurde plötzlich beunruhigend. So beunruhi
gend, daß er die wartende Ki-Lynn fast vergessen hätte. »Konnichi-wa, Marcus«, begrüßte sie ihn.
An der gelassenen Geduld ihrer Stimme erkannte
GioAvanti, daß sie die Worte schon einmal gesprochen
hatte, und sie wahrscheinlich im selben nüchternen Ton
auch ein zweites und drittes Mal wiederholen würde,
bis er antwortete. »Konnichi-wa, Ki-chan.« Sein Japanisch war alles andere als perfekt, aber nach Jahren in
den Diensten des Draconis-Kombinats reichte es für
ein einfaches Gespräch. »Gomen-nasai«, entschuldigte
er sich. »Ich war in Gedanken.«
»Wakarimasu. Verständlich, wenn man die Dauer
Ihres Gesprächs mit Kalif Shervanis bedenkt.« Wie immer achtete Marcus mehr darauf, wie Ki
etwas sagte oder manchmal nicht sagte. Die Kunst der
Konversation unter Draconiern erforderte den Einsatz
von Subtilität und vagen Andeutungen selbst für die
alltäglichsten Themen. Und Ki-Lynn hatte darin Meisterschaft erlangt. Marcus schloß aus ihrer Feststellung,
daß sie sich über das Gespräch unterhalten wollte. »Laß
uns etwas gehen, Ki.«
Auch die leichte Bewegung ihrer Augen, mit der sie
seine Aufmerksamkeit auf ihre Eskorte zog, einen großen Beduinen, der reglos auf der anderen Seite einer
Säule wartete, entging ihm nicht. Marcus ging voraus
in den Palastgarten, einen Feldsteinpfad entlang, der

23 6

237 um das Gebäude herumzuführen schien. Ki-Lynn spazierte eleganten Schritts neben ihm, und drei der Krieger des Kalifen folgten ihnen wenige Schritte zurück. Sollen sie, dachte Marcus. »Wir sind nicht allein«, stellte er auf japanisch fest. Falls es nicht weiter von Bedeutung war, geheimzuhalten, worüber sie sprechen wollte, konnte sie das Gespräch auf Anglik fortsetzen. Es überraschte ihn nicht, als sie in derselben Sprache antwortete.

»Hat der Oyabun Sie bedroht?«

Oyabun. Das war das japanische Wort für den Anführer einer Yakuza-Verbrecherorganisation. Marcus grinste. Ki hatte einen Namen für Shervanis gefunden, bei dem keine Gefahr bestand, daß ihre Wachen eine Verbindung zum Kalifen zogen. »Iie. Er hat sich auf einen schwerfälligen Erpressungsversuch beschränkt. Er weiß, daß er uns fünf bestenfalls unter Arrest stellen kann. Aber dann müßte er uns und unsere Mechs zur sofortigen Überstellung nach Outreach an Blakes Wort ausliefern. Währenddessen hängt Charlie mit einer ganzen Kompanie BattleMechs über seinem kostbaren Reich.«

»Dann sind wir tatsächlich bankrott erklärt worden?« Marcus zuckte unbehaglich die Achseln. »Du kennst unsere finanzielle Lage so gut wie jeder andere. Dem Oyabun zufolge hat jemand unsere Schuldscheine aufgekauft, und unsere neuen Gläubiger fordern sofortige Bezahlung. Ich will nicht ausschließen, daß wir irgendeine Nebenklausel in unseren Vereinbarungen übersehen haben, aber die einzige Möglichkeit für uns, diese Sache zu regeln, besteht darin, zurück nach Outreach zu kommen. Und ganz egal, ob wir die Sache in Ordnung bringen können oder nicht, wenn wir jetzt abfliegen, brechen wir unseren Kontrakt mit dem Magistrat - ganz abgesehen davon, daß uns allein schon die ausstehenden Betriebskosten in den Ruin treiben würden.« Wieder in den Ruin treiben, dachte Marcus, aber das brauchte er nicht laut auszusprechen.

Ki-Lyren blieb einen Moment still. »Haben wir eine Wahl?«
Soll heißen: Was will Shervanis von uns? Sie hatten die Seite des Palasts erreicht und näherten sich einem Hain von Zitronenbäumen, deren Duft in der warmen Brise herüberwehte. Marcus hob die rechte Hand an die Augen, um sie gegen die spätnachmittägliche Sonne abzuschirmen, und beobachtete die Sklaven, die im Peitschengras nach Fallobst suchten. Sie wurden von turbanbewehrten Kriegern mit Krummsäbeln und einzelnen Automatikgewehren bewacht, und ein vernachlässigter 40-Tonnen-Mech vom Typ Clint stand über dem gesamten Wäldchen auf Posten.
»Er hat einen benachbarten Oyabun erwähnt, Rashier - derjenige, der versucht hat, mit dieser lächerlichen Bestechung unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Er hat den Mann als gewalttätigen Terroristen beschrieben, der unaussprechliche Verbrechen gegen die Bevölkerung seines Reiches ebenso wie die aller anderen verübt. Unser Gastgeber möchte, daß wir die humanitäre Mission ausführen, Astrokazy von diesem Monster zu befreien.«
»Glauben Sie ihm?«
»Daß Rashier ein Monster sein könnte?« Marcus zuckte die Schultern. »Warum nicht? Daß der Oyabun anders ist? Nein. Er will einfach nur von uns profitieren, ohne zu bezahlen. Uns anzuheuern, kann er sich nicht leisten, also setzt er uns unter Druck. Ich nehme an, er will uns geiseln und Charlie zwingen, im Austausch für unsere Freilassung seinen Rivalen anzugreifen.«
Im Obsthain lief ein Sklave mit einer Frucht zu einem der Krieger. Vielleicht war sie gequetscht oder anders beschädigt, jedenfalls untersuchte die Wache sie und warf sie danach mit einem leisen Fluch und einem Hieb ins Gesicht des Sklaven weg. Der Sklave stand nur armselig winselnd da, während die übrigen Wachen lach

ten. Ich hasse es hier, dachte Marcus. Als hätte der Pilot seine Gedanken gelesen, drehte der Clint den Torso gerade weit genug, um ihr Grüppchen in das Frontalschußfeld seiner Waffen zu bringen. Marcus fühlte, wie seine Hände zuckten. Er wünschte sich, an den Kontrollen seines Mechs zu sitzen und die Maschine des arroganten Shervanis-Posten zu Klump zu schießen.

»Er wird sich nicht lange mit Versuchen aufhalten, Sie zu überreden«, stellte Ki fest, als sie weitergingen. »Wenn Sie nicht bald zustimmen, wird er sich auf Drohungen verlegen.«

»Du scheinst viel über diese Leute zu wissen«, fischte Marcus nach Neuigkeiten. Ki war ziemlich verschlossen, was ihre Vergangenheit betraf, aber in diesem Fall hatte es Bezug aufs Geschäft, und er wollte erfahren, woher sie ihr Wissen hatte.

»Der Drache hatte bereits mit ähnlichen Kriegern zu tun«, erklärte sie. Der Drache, das wußte Marcus, bezog sich auf das Kombinat als Ganzes und den Koordinator als dessen Verkörperung. »Sie waren ein stolzes und fanatisches Volk.«

Als hätte jemand einen Lichtschalter umgelegt, kam ihm die Erleuchtung. »Die Arkab-Legionen. Natürlich.« Marcus erinnerte sich, in verschiedenen VSDK-Besprechungen von ihnen gehört zu haben, auch wenn er nie mit ihnen zusammengetroffen war. Die Krieger der Arkab-Legion waren die Nachkommen islamischer Siedler, die von Terra aus mehrere Wüstenwelten im draconischen Raum kolonisiert hatten. Arkab war eine orientalische Ableitung des Wortes >Araber<. »Siehst du große Ähnlichkeiten?«

»Manche«, bestätigte Ki. »Dieser Planet ist barbarischer und primitiver, aber seine Bewohner scheinen nach einigen derselben Grundsätze zu leben. Vor allem gilt dabei, daß ein Mächtiger Anspruch auf Tribut von Seiten der Schwächeren hat. Danach können sie als gleichrangig verkehren, aber, wenn man die Beziehung als Schuldner beginnt ...« Sie zuckte die Schultern.

Marcus verstand. Wenn man von vornherein als Schuldner erschien, verlor man mehr als nur Geld oder Gesicht. Man büßte einen psychologischen Vorsprung ein, der sich kaum mehr einholen ließ. »Die Frage ist also, kann unser Gastgeber die Gesetze umgehen, indem er ein persönliches Anrecht auf uns" und unsere Ausrüstung erhebt?«

Ki-Lynn blieb stehen und sah ihrem Kommandeur in die Augen. »Sie stellen die falsche Frage, Marcus. Es muß nicht heißen kann er, sondern wann wird er? Und die Antwort darauf lautet: Sobald er keine Möglichkeit mehr sieht, unsere Unterstützung auf einfachere Weise zu erhalten.«

Von einem Balkon des Obergeschosses blickten zwei Männer auf den Söldnerführer und seine Kommunikationsoffizierin hinab, die gerade um eine Ecke hinter den Palast verschwanden. Beide Männer hielten Becher mit dunkelrotem Wein in den Händen, der gekühlt serviert worden war, aber schnell wärmer wurde.

Demipräzentor St. Jamais beobachtete seinen Begleiter aufmerksam. »Sind Sie sicher, Erzwesir? Kalif Shervanis wird sie mir mitsamt ihren Mechs ausliefern?«

Der dunkelhäutige Mann strich sich mit einer großen Hand über den kahlrasierten Schädel. »Wie Sie selbst sehen, haben wir bereits ihren Kommandeur und vier seiner MechKrieger als unsere ... « - er lächelte »... Gäste.«

St. Jamais winkte ab. »Aber die Maschinen. Jede ist Millionen C-Noten wert. Damit lassen sich die Angeli am besten treffen. Leere Cockpits können Sie mit anderen Kriegern füllen. Vielleicht aus einem anderen Kalifat.«

»Wir hatten gehofft, daß sie mit ihren Mechs in die Stadt marschieren, was sie aus dem Landungsschiff geholt hätte. Jetzt versucht Kalif Shervanis, sie mit dem Angebot einer Mission dazu zu bewegen, die Maschinen auszuschiffen.«

Der Demipräzentor starrte Ji-Drohmien über den Rand des Bechers an, während er einen tiefen Schluck nahm, um seine Verärgerung hinunterzuspülen. »Versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen«, antwortete er leise. »Shervanis will die Söldner zwingen, Kalif Rashier oder möglicherweise Kalif Zander anzugreifen.«

Ji-Drohmiens Lächeln war breit und zeigte zwei Reihen starker weißer Zähne. »Sie haben uns die Maschinen versprochen. Was macht es aus, ob wir sie einsetzen, bevor oder nachdem wir sie erhalten?«

»Es beeinflußt meine Zeitplanung. Ich bin mir nicht sicher, wieviel GioAvanti weiß, aber mit ihm und seinen Leuten auf Astrokazy ist es gut möglich, daß die Magistrats-Streitkräfte nicht weit entfernt sind. Ich habe Ihnen die Berichte gezeigt. Emma Centrella plant etwas, jongliert mit Sprungschiff-Flugplänen und verschiebt ihre Truppen. Die Angeli müssen erledigt und meine Einheiten von hier weg sein, bevor MSK-Sprungschiffe eintreffen.« Nicht zum erstenmal verfluchte St. Jamais den Verlust von Demipräzentorin Nicholas. Sie war ein wichtiges Rad in seiner Geheimdienstmaschinerie gewesen, und ohne sie fühlte er sich halbblind. »Haben Sie auch irgendwelche guten Nachrichten?«

»Der Kommandeur, dieser GioAvanti, ist besorgt über die Nachricht, daß seine Einheit gepfändet werden soll.«

St. Jamais nickte. Es lief alles wie geplant. »Ein Schachzug, der nur funktioniert, solange wir die Angeli isolieren können. Aber wenn wir ihnen den Zugang zur HPG-Anlage zu lange verwehren, werden sie bestimmt mißtrauisch. Malachye-Pascha sollte besser schnell arbeiten.«

»Keine Sorge, mein Freund. Seine Erhabenheit hat bisher noch jedes Versprechen eingehalten, und er wird auch diesmal liefern. Sie werden die Söldner bekommen, und wir ihre Maschinen.«

St. Jamais wirbelte auf dem Absatz herum, und der Umhang seiner Robe wehte hinter ihm auf, als er durch die offenen Balkontüren zurück ins Palastinnere trat. »Aber bald, Ji-Drohmien«, erklärte er über die Schulter. »Sorgen Sie dafür, daß es bald geschieht.«

24

Prunkpavillon, Palastgrund, Shervanis,
Kalifat Shervanis
Astrokazy, Peripherie

28. Juni 3058

 

»Nicht unbedingt der Ort für ein privates Treffen«, stellte Jericho Ryan halb schreiend fest.

Ringsum toste Musik. Der tiefe, wogende Bass eines Dutzends Trommeln unterlegte das hellere Krachen der Becken und Tamburine. Sie stieg in wilden, sinnlichen Wellen hoch zur Kuppeldecke des Pavillons. Dunkelhäutige Tänzerinnen bewegten sich in erotischer Ekstase über den Boden, schwenkten das Becken und zogen an Armen und Beinen lange Bänder aus farbiger Seide hinter sich her, die bei jeder Bewegung wirbelten und knallten. Andere trugen gewaltige Tabletts mit dampfendem Essen und eisgekühlten Früchten oder riesige Weinamphoren, aus denen sie jeden ihnen angebotenen Becher nachfüllten. Der Geruch gebratenen Fleisches vermischte sich mit dem Moschusduft von Parfüm, Weihrauch und Schweiß.

Thomas Faber spießte ein großes Stück verbranntes Fleisch vom Tablett eines vorbeikommenden Dieners und legte es zu dem wachsenden Berg von Essen auf seinem Teller. »Es ist vielleicht nicht privat, aber wenigstens ist die Versorgung gut«, stellte er fest, was Jericho sichtlich verärgerte.

»Sie scheinen heute nachmittag nicht allzuviel herumgekommen zu sein.« Jase Torgensson nippte an dem Zinnbecher, den er beim Betreten des Ballsaals gereicht bekommen hatte. »Ich habe die Sklavenkarawane gesehen, die dieses Festmahl geliefert hat. Eine alte Frau ließ einen Korb mit Orangen fallen.« Seine leise Stimme war außerhalb ihrer kleinen Gruppe nicht zu verstehen. »Sie wurde zu Tode geprügelt.«

Faber schaute auf die Orangenscheiben auf seinem Teller, hörte auf zu kauen und spie die Frucht aus. »Tut mir leid.« Er wirkte verlegen.

Marcus wartete einen Augenblick, bevor er das Wort ergriff. »Hast du sonst noch was herausfinden können, Jase?« Seine Stimme klang tonlos und gedrückt, was der Stimmung entsprach, in der er seit seinem zweiten Treffen mit Shervanis war, auch wenn er ein falsches Lächeln für ihren Gastgeber aufgesetzt hatte, der hin und wieder herübersah, wie, um sich zu vergewissern, daß die Angeli noch anwesend waren. Als er wieder einmal den Blick des Kalifen bemerkte, hob Marcus den Becher zu einem stillen Gruß. »Schlange«, murmelte er in den Wein und zwang sich, einen Schluck zu nehmen.

»Mein Wachhund scheucht jeden weg, der womöglich bereit wäre, mit mir zu reden«, stellte Jase fest. »Es ist schwer, Freunde zu finden. Aber ich habe Kontakt mit einem Blake-Akoluthen aufnehmen können. Er hat mich nur allzugern darüber informiert, daß ComStar die Anlage hier nicht mehr betreibt und daß die Einladung an die Blakisten von Shervanis kam. Ich habe gefragt, wie es mit Prioritätssendungen nach Outreach aussieht, bin aber nur hingehalten worden. Anscheinend muß ich dazu mit dem Demipräzentor reden der aber nicht zu sprechen war.« Er schüttelte den Kopf. »Sieht ganz so aus, als wollten sie verhindern, daß wir mit irgend jemandem Kontakt aufnehmen. Ich kann noch nicht mit Sicherheit sagen, daß es von Shervanis ausgeht, aber bis morgen abend weiß ich mehr.«

Ki-Lynns Stimme klang leise, aber trotzdem war sie über dem Getöse der Musik und des Feierns ringsum zu verstehen. »Es ist mir gelungen, nach unserer Unterhaltung mit Erzwesir Ji-Drohmien zu reden, Marcus. Als Ihr Kommunikationsoffizier hatte ich begrenzten Zugang zu Malachye-Paschas Funkstation.« Es war nicht nötig zu erwähnen, daß sie die ganze Zeit bewacht und ihr Funkverkehr abgehört worden war.

»Ich habe mit der Heaven Sent gesprochen. Sie hat nur eine einzelne Meldung von Charlene empfangen. Die Stecknadelkopf hat einzelne BattleMechs in der Shaharazad südlich und westlich von hier gesichtet. Ältere Maschinen in schlechtem Zustand.«

Es konnte sich also nicht um die Hegemonie-Angreifer handeln. Und hätte die Stecknadelkopf neuere Mechs in Shervanis entdeckt, hätte Ki es erwähnt. Marcus senkte die Stimme, als die Musik leiser wurde. »Morgen wird die Heaven Sent eine Munitionsexplosion im Mechhangar melden.« Er sah die Überraschung auf den Gesichtern aller anderen außer Ki-Lynn. »Das habe ich arrangiert, bevor wir das Schiff verlassen haben, als Vorsichtsmaßnahme. Es sollte genügen, damit Shervanis uns zum Landungsschiff zurückkehren läßt. Natürlich nur unter schwerer Bewachung. Unser Gastgeber wird nicht wollen, daß wir abheben, ohne einen Tribut zu zahlen, aber ich denke nicht daran, ihn seine gierigen Hände auf irgend etwas von unserer Ausrüstung legen zu lassen.« Er verzog das Gesicht, als er Fabers und Jerichos amüsierte Blicke sah. »Okay - seine gierige Hand. Jase, du hast bis Mitte des Nachmittags herauszufinden, soviel du kannst.«

»Geht klar.«
»Sie werden versuchen, uns von den Mechs fernzuhalten, aber in jeder Maschine wird ein Tech sitzen, der sie auf Wartungsmodus geschaltet hat. Außer die Arme zu bewegen, werden sie nicht viel ausrichten können, aber vom Standpunkt unserer Bewacher aus müßte das Einschüchterung genug sein.«
Die anderen nickten. Dann runzelte Jericho die Stirn und deutete mit dem Kopf zur Haupttanzfläche des Pavillons. »Was geht da vor?«
Die Musik war bis auf ein tiefes Grollen der Trommeln verklungen, und die Tänzerinnen führten die Gäste zur Seite, so daß in der Mitte des Saals ein großer freier Kreis entstand. Zwei der Männer des Kalifen traten in die offene Fläche. Beide trugen nur weite schwarze Hosen und hielten in einer Hand je zwei Krummsäbel. Die Männer waren groß und muskulös. Einer hatte dunkle, olivbraune Haut, während die des anderen schwarz wie poliertes Ebenholz war. Der Braunhäutige trug das Haar kurzgeschoren, und auf seinen Brustkorb war ein großes, brennendes Schwert tätowiert. Der schwarze Krieger trug sein Haar lang und geflochten, fast wie ein Pferd mit geflochtener Mähne.
»Gladiatorenkämpfe«, wisperte Ki-Lynn.
Gladiatoren. Marcus beobachtete mit morbider Begeisterung, wie die beiden Krieger vor dem Kalif salutierten, indem sie mit der freien Hand Brust und Stirn berührten. Dann stellten sie sich einander gegenüber auf und nahmen eines der Schwerter in die freie Hand, während sie in die klassische Abwehrstellung gingen. Marcus wußte, daß Gladiatorenkämpfe im DraconisKombinat früher eine etablierte Form der Unterhaltung gewesen war, die in manchen Gebieten offensichtlich bis heute überlebt hatte. Aber mitanzusehen, wie diese beiden einander so lässig gegenübertraten, scheinbar ohne einen Gedanken daran, was sie vorführen wollten, ließ ihm kalte Schauer über den Rücken laufen.
Kalif Shervanis erhob sich von den Kissen und streckte um Aufmerksamkeit heischend die Arme in die Höhe. Die Trommler verstummten. »Am heutigen Tage traf eine Gruppe Krieger auf Astrokazy ein und erwies mir vor allen anderen die Ehre ihres Besuchs. Nun erwidere ich diese Ehre mit der Demonstration des Könnens zweier unserer Krieger.« Er half mit der gesunden Hand einer der Tänzerinnen auf die Beine, die in beiden ausgestreckten Händen einen herrlichen juwelenbesetzten Dolch präsentierte. »Dem Sieger«, verkündete er.
Marcus war sich keineswegs sicher, daß der Kalif damit ausschließlich den Dolch meinte. Und die plötzliche Anspannung um die Augen der Tänzerin zeigte ihm, daß das Mädchen seine Zweifel teilte.
Als der Kalif wieder Platz nahm, donnerten die Trommeln und steigerten sich zu einem Crescendo, dessen Höhepunkt ein lautes Krachen der Becken markierte. Wie verwandelt pirschten die beiden Kämpfer aufeinander zu. Ihre Gesichter waren plötzlich zu Masken des Hasses verzerrt, und die Schwerter wirbelten in einem großartigen Schauspiel martialischer Künste um ihre Körper. Die Klingen trafen mit stählernem Scheppern aufeinander, als beide innerhalb von Sekunden ein gutes Dutzend Hiebe ausführten und abwehrten. Es schien, als könnte dies in einer endlosen Abfolge von Hieb und Parade so weitergehen, als der olivbraune Krieger seinen Gegner plötzlich mit einem Tritt gegen den Brustkorb gute drei Meter wegschleuderte.
Aber der ebenholzschwarze Kämpfer war in einer einzigen, fließenden Bewegung wieder auf den Beinen, und der Kampf setzte sich fort. Jetzt ging der olivbraune Hüne zu Boden, diesmal von einem Tritt zur Schulter, die bereits von einer Schnittwunde blutete.
Der Schwarze warf den Kopf zurück, um seine langen Zöpfe über die Schulter zu schleudern, und stürmte vor. Wieder schlug Stahl auf Stahl. Beide Männer traten aus, beide wichen unter einem plötzlichen Wirbeln der Klingen zurück. Dann versuchte der Braunhäutige, sich durch die Verteidigung seines Gegners zu arbeiten und wurde ebenso plötzlich zurückge

-
worfen. Sein linker Fuß war sauber am Knöchel abgeschlagen, ein zweiter Schnitt klaffte quer über der Tätowierung auf seiner Brust. Aber selbst jetzt, da der Kampf so gut wie vorbei war, ließ der schwarzhäutige Krieger nicht locker, sprang vor und spießte den anderen mit dem Schwert in seiner linken Hand auf.

Das Donnern der Trommeln und Krachen der Becken hallte hohl in Marcus' Ohren, als ihn das gurgelnde Keuchen des Sterbenden erreichte. Hatte Shervanis diese Vorstellung in einem Versuch arrangiert, ihn zu überzeugen? Erwartete er womöglich, Marcus damit zu beeindrucken, wie wenig ihm am Leben seiner Untertanen lag? Der Gedanke ließ ihn an Charlenes Vorwürfe denken. Er hätte keinen seiner Leute je für irgendeinen Sport oder auch nur zur Unterhaltung geopfert, aber seit sie ihn beschuldigt hatte, war es ihm nicht gelungen, seine Zweifel zu vertreiben.

Die Trommeln verstummten unter dem Jubel der schwarzhäutigen Astrokaszys. Kalif Shervanis stand auf und rief über den Tumult zu den Angeli hinüber: »Kommandant GioAvanti. Wie hat es Ihnen gefallen?«

Einen Augenblick lang überlegte Marcus, ob er vorgeben konnte, es nicht gehört zu haben, aber er änderte seine Meinung, als die dunkelhäutigen Krieger rings um die Angeli erwartungsvoll zu ihm herübersahen. Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Becher mit süßem Wein, um sich ein paar Sekunden Zeit zu verschaffen. »Eine bemerkenswerte Darbietung«, rief er schließlich zurück. »Ein furchteinflößender Krieger.«

Kalif Shervanis lächelte. Als seine Lippen sich von den Zähnen zurückzogen, erinnerte er an ein zähnebleckendes Raubtier. »Furchteinflößend. Eine gute Eigenschaft für einen Krieger. Aber ist es seine beste? Was meinen Sie, Kommandant GioAvanti? Was ist die beste Eigenschaft, die man an einem Krieger finden kann?« Er stellte die Frage als offensichtliche Herausforderung, dann griff er nach dem Schlauch einer langen Wasserpfeife und nahm einen tiefen Lungenzug einer Droge - welche man hier auf Astrokazy auch immer rauchte.

Marcus starrte den Kalifen einen Moment lang an, bevor er antwortete. Er war sich nur zu bewußt, wie sorgfältig er seine Worte wählen mußte. »Ein Glaube an die Sache, für die er kämpft«, erklärte er. »Eine Rechtschaffenheit, die immer zum Sieg führt, selbst, wenn die Schlacht verloren geht.«

Shervanis atmete geräuschvoll aus. »Ein interessanter Gedanke, Kommandant. Und höchst passend für jemanden, der eine Einheit befehligt, die sich Engel nennt.« Er setzte sich auf. »Ich würde ihn gerne auf die Probe stellen. Sie werden gegen Kabahstalla antreten«, erklärte er mit einem Nicken zu dem schwarzen Krieger, der im Kreis der Zuschauer geblieben war. »Nein«, korrigierte er sich. »Einer Ihrer Krieger sollte gegen ihn kämpfen. Um den Glauben an seinen Kommandeur zu beweisen.«

Marcus starrte den Kalifen aus weiten Augen an. Shervanis erwartete von ihm, einen seiner Krieger gegen diesen - er rang nach Worten - wirbelnden Derwisch antreten zu lassen? Das kam einem Todesurteil gleich. »Kalif ...«, setzte Marcus zu einer Ablehnung an, von der er nur hoffen konnte, sie höflich genug formulieren zu können - aber er wurde unterbrochen.

»Der dort«, meinte Shervanis, und deutete mit dem rechten Armstummel auf Faber. »Er sieht nach einem passenden Gegner aus.«

Denk nach, herrschte sich Marcus an. Spiel auf Zeitgewinn. Dann erinnerte er sich daran, wie eine überlegene Clanstreitmacht für die Ehre, an einem Kampf teilzunehmen, einen Teil ihrer Kräfte im Bieten aufgab. Bestand die Möglichkeit, hier etwas Ähnliches zu erreichen? Versuch zu handeln.

»Vielleicht«, stellte Marcus fest und machte eine Pause, damit der Kalif das Zögern in seiner Stimme be

25 0 merkte. Er fühlte Ki-Lynns warnende Berührung im Rücken. »Thomas ist ein guter Krieger. Wahrscheinlich käme es auf die Bedingungen an.«

»Bedingungen?« Die seelenlosen schwarzen Augen des Kalifen wurden zu Schlitzen, und sein Tonfall wurde scharf. »Was meinen Sie mit Bedingungen, Kommandant?«

Thomas Faber erhob sich neben Marcus von den Kissen, und sein hünenhafter Körper ließ seinen Kommandeur wie einen Zwerg erscheinen. Bevor Marcus antworten konnte, tat Thomas es für ihn: »Die Bedingungen sind in jedem Fall die wichtigste Frage, Kalif Shervanis«, erklärte er und zuckte die Achseln, als sei das offensichtlich. »Ich bin ein Söldner. Worum kämpfe ich?«

Thomas Faber hatte den Gladiatorenkampf mit dem kritischen Blick eines Berufskriegers verfolgt. Als junger Mann hatte er im Draconis-Kombinat selbst an solchen Veranstaltungen teilgenommen. Seine Größe und sein Temperament hatten ihn schon als Teenager zu einem Naturtalent gemacht. Als Unterklassekind war es für Thomas eine Möglichkeit gewesen, seine Heimatwelt Bjarred zu verlassen. Er hatte hart gearbeitet und sich durch die Ränge hochgearbeitet, bis er die Aufmerksamkeit des planetaren Gouverneurs erregt hatte und gebeten worden war, für ihn gegen die Champions benachbarter Welten zu kämpfen. Im Gegenzug hatte der Mann Thomas die Aufnahme in eine weniger bedeutende MechKriegerakademie versprochen. Alles, was Thomas dafür tun mußte, war ein Jahr als Gladiatoren-Champion von Bjarred zu überleben.

Seit jener Zeit hatte der Hüne versucht, dieses Jahr des Metzelns zu vergessen, aber die Spuren waren immer noch in seinem Mechkampfstil zu erkennen.

251 Jetzt stiegen all diese Erinnerungen wieder an die Oberfläche, und Thomas haßte Kalif Malachye Shervanis dafür.

Er hatte augenblicklich erkannt, daß der dunkelhäutigere Kämpfer im ersten Kampf im Vorteil gewesen war. Sein Gegner hatte Angst vor ihm gehabt. Außerdem hatte er den unverhüllten Hunger nach der Tänzerin in den Augen des Schwarzen gesehen, fast wie bei einem Hund, dem man als Belohnung für seine Arbeit ein großes, blutiges Steak vors Maul hält. Während des Kampfes hatte Thomas jede Bewegung beider Kontrahenten verfolgt. Seine Muskeln hatten sich angespannt, als er eine leichte Öffnung bemerkte, die der hellhäutigere Krieger hätte ausnutzen können, aber übersah. Dann war es vorbei, und Thomas knirschte mit den Zähnen, als er das erste glucksende Keuchen des Sterbenden hörte.

Als Kalif Shervanis einen Kampf gegen einen der Angeli vorschlug, war Thomas klar, daß er antreten würde. Die Frauen waren in dieser Situation bestenfalls ein Preis für den Sieger, und Thomas hätte nicht zugelassen, daß Jase oder Marcus gegen diesen Kabahstalla in den Ring traten. Und so stand Thomas auf, als Shervanis nach den Bedingungen fragte, um selbst zu verhandeln.

Seine Antwort schien Shervanis zu amüsieren. Er lachte einige Sekunden laut und herzhaft, bevor er etwas erwiderte. »Ein wahrer Söldner«, sagte er dann und rieb die ihm verbliebene Hand. »Was willst du haben?« fragte er schließlich.

Die Frage hallte durch Thomas' Gedanken. Was willst du haben? Exakt diese Frage hatte ihm vor so langer Zeit der Gouverneur auf Bjarred gestellt. Diese Worte hatten ihn auf den Weg zum MechKrieger gebracht, eine Position weit jenseits dessen, was er ansonsten hätte erreichen können. Thomas bezweifelte, daß er Shervanis so weit treiben konnte. Er zeigte auf die Tänzerin, die a m Rand der Empore stand und immer noch den Preisdolch in den nach oben gedrehten Handflächen hielt. »Sie. Ich möchte, daß sie ganz und gar meiner ...« Pause - »... Aufsicht übergeben wird.« Er grinste wölfisch, versuchte, das Urbild des grobklötzigen Kriegers darzustellen.

Thomas hatte nie die Ausbildung in der Kriegerkunst erhalten, um das Wa oder Ki eines anderen, oder wie immer man es nannte, zu erfühlen, aber trotzdem konnte er die plötzliche Feindseligkeit Jericho Ryans und die Überraschung bei Jase und Marcus spüren. Ich weiß, was ich tue, wollte er ihnen sagen, als Shervanis' wildes Grinsen noch breiter wurde. »Gemacht«, erklärte er und schlug mit der Silberkappe am Ende des rechten Arms in die linke Hand.

»Dann brauchen wir zwei Neuropeitschen«, stellte Thomas gelassen fest, gerade als Shervanis sich wieder in seine Kissen sinken ließ.

»Zwei was?« fragte der Kalif, erheblich freudloser als er noch eine Sekunde zuvor gewesen war.
»Neuropeitschen. Sie sind die bevorzugte draconische Handwaffe«, log Thomas. In Wahrheit waren Neuropeitschen äußerst sadistische Waffen, die bei jedem Treffer extreme Schmerzen verursachten, indem sie das Nervensystem des Opfers angriffen. Sie waren im größten Teil der Inneren Sphäre verboten und auch im Kurita-Raum nur unter genau eingegrenzten Bedingungen erlaubt.
Thomas gab vor, vom plötzlichen Schweigen des Kalifen überrascht zu sein. »Vergeben Sie meine Impertinenz, Erhabener, aber ich hielt es für üblich, daß der Herausgeforderte die Waffen wählt. Ich fürchte, ich bin nur mit der Peitsche und dem waffenlosen Kampf vertraut.« Und das Einzige, was mich dazu bringen könnte, wieder ein Schwert aufzunehmen, wäre, um dir damit den Kopf abzuschlagen.

Thomas fixierte den Kalifen. In diesem Augenblick wünschte er sich, länger in den Disziplinen trainiert zu haben, die Ki-Lynn beherrschte, und die es ihr gestatteten, die innere Energie eines Gegners zu erfassen und mit der eigenen zu überwältigen. Statt dessen war er gezwungen, die Entscheidung des Kalifen abzuwarten.

»Wir würden natürlich nicht von dir erwarten, eine Waffe zu wählen, mit der Kabahstalla keinerlei Erfahrung hat«, sagte Shervanis nach einer Weile, und seine dunklen Augen erinnerten Thomas an die einer Kobra. »Ich dachte mehr an einen Kampf ohne Waffen. Ein Wettstreit des Geschicks und - wie hat es dein Kommandeur ausgedrückt - des Glaubens.«

Thomas atmete langsam aus und trat vor. Soviel zu

den Schwertern. Jetzt brauche ich nur noch zu siegen. Zwei Sklaven zerrten die Leiche des olivbraunen
Kriegers aus dem Ring und hinterließen eine blutige
Schleifspur auf dem Boden. Thomas trat zwischen zwei

Gästen inden Ring und zog das Hemd aus. Die Schuhe

warf er zur Seite, die Socken hinterher. Kabahstalla reichte seine Schwerter einem in der Nähe stehenden Posten und wartete gelassen, bis sein Gegner soweit war. Ein paar Dehnungsübungen, um die Muskeln zu lockern, dann nickte Thomas dem anderen Schwarzen zu.

Als Kabahstalla vor Shervanis salutierte, verneigte Thomas sich auf draconische Art zunächst vor dem Kalifen, dann etwas tiefer vor Marcus. Das war möglicherweise ein Bruch der Etikette, aber es zeigte, wem seine Loyalität gehörte, und das mußte genügen. Die Trommeln steigerten sich zu einem wilden Donnergrollen, und mit dem Krachen der Becken traten die beiden Männer aufeinander zu.

Kabahstalla griff schnell und aggressiv an. Er versuchte, Thomas in einem Stil - ganz ähnlich seiner Schwertkampftechnik - zu überwältigen. Fehler, dachte Thomas. Er ging in die Hocke, um den Körperschwerpunkt nach unten zu verlagern, die Füße weit auseinander, die Arme vor dem Leib. Wie erwartet, versuchte Kabahstalla einen Tritt auf den einladend gesenkten Kopf des Angeli. Thomas duckte sich unter dem Angriff weg und traf mit einem weiten Schwung des rechten Beins den Knöchel seinen Gegners. Kabahstalla fiel unbeholfen zu Boden, und Thomas sprang zurück in die Verteidigungshaltung. Wenn ich ihn wütend machen kann, gehört der Sieg mir.

Die beiden Neger tänzelten umeinander. Kabahstalla schonte den rechten Knöchel kaum. Vorsichtig geworden, versuchte der Astrokaszy keinen weiteren Sturmangriff. Er schlug mit Händen und Füßen aus, um Fabers Abwehr zu testen. Faber für seinen Teil konzentrierte sich aufs Abblocken und Ausweichen und grinste Kabahstalla dabei an, als wären die Angriffe seines Gegenüber ohne jede Bedeutung. Dessen Attacken wurden heftiger, und Thomas' Paraden kamen immer später, während er seinen Gegner unter der Vortäuschung wachsender Ermüdung an sich heran lockte.

Jetzt! Thomas öffnete seine Deckung, duckte sich unter dem Hieb gegen seinen Kopf weg und schlug mit offener Hand und steifem Arm in Kabahstallas unteren Brustkorb. Er fühlte mindestens zwei Rippen unter dem Hieb brechen, als Kabahstalla vom Boden gehoben wurde und zwei Meter weiter hart auf dem Rücken aufschlug.

Der Kampf ist vorbei. Er kann nicht mehr. Thomas hörte die Stimmen in seinem Kopf, während er zusah, wie Kabahstalla wieder hoch zu kommen versuchte. Aber die Erinnerung an dessen letzten Gegner war noch zu frisch in Fabers Gedächtnis. Als der Mann es schaffte, das rechte Bein unter den Körper zu ziehen, sprang Thomas ihn in einem flachen Flugtritt an, der Kabahstallas Knie traf, so daß das Bein nach hinten knickte.

Das ist das Ende deiner Kämpfertage, dachte Thomas, als sein Gegner vor Schmerzen schrie. Mit einem Tritt gegen den Kopf nahm er ihm das Bewußtsein und erlöste ihn vorerst von seinen Schmerzen.

Thomas wanderte betont langsam zur Empore des Kalifen. Viele der Gäste gingen ihm aus dem Weg und schufen einen freien Pfad, aber andere unter den scharfäugigen Einheimischen starrten ihn mit trotzigem Abscheu an. Zu spät wünschte er, er hätte auf die Kapitulation seines Gegners gewartet, und verfluchte die Wut, die ihn zu den letzten beiden Attacken getrieben hatte.

Am Rand der Empore nahm Thomas den juwelenbesetzten Dolch, den er in den Gürtel schob. Dann ergriff er die Hand der Tänzerin und half ihr herab. Sie starrte ihn aus großen braunen Augen an, die zwar wunderschön waren - aber in ihnen stand die Furcht vor ihrem neuen Besitzer.

Thomas war klar, daß Shervanis ihn beobachtete und überlegte, ob er sich beleidigt fühlen sollte. Wenn er zuließ, daß der Despot den Zorn sah, der immer noch in seinen Augen loderte, konnte sich das nur gegen die Angeli auswirken. Deshalb starrte er unverhohlen auf seinen >Preis< und zwang sich, nicht einmal zum Kalifen hochzusehen. »Mein Dank, Malachye-Pascha.« Er grinste lüstern und haßte sich dafür, wie er damit die Angst in den Augen der jungen Frau noch vergrößerte. »Eine wirklich hübsche Belohnung.«

25

Großer Pavillon, Palast des Kalifen, Shervanis, Kalifat Shervanis
Astrokazy, Peripherie

28. Juni 3058

Eine kleine Einheit wie Gli Angeli lebte von den Stärken jedes einzelnen ihrer Mitglieder. So sehr Thomas Fabers ruhige Akzeptanz der Herausforderung Marcus zunächst überrascht hatte, so schnell war ihm klar geworden, daß der Hüne die Lage unter Kontrolle hatte, und sich zurückgehalten. Er würde sich darauf verlassen, daß Thomas wußte, was er tat, auch wenn es danach aussah, als wollte er bei dem Versuch, die anderen zu retten, sein Leben opfern.

Wie Karstchow es getan hat.
Der Gedanke, daß er bereit war, diese Entscheidung einem einzelnen Mitglied seiner Einheit zu überlassen, schockierte Marcus. Charlenes Vorwürfe wurden wieder in ihm wach. Kümmerte er sich um seine Leute? Ja. Verdammt, ja. Er ging keine unnötigen Risken mit ihrem Leben oder ihrer Ausrüstung ein, und er würde niemals das Leben eines anderen Angeli opfern, gleichgültig, wie viele andere er damit hätte retten können.

Außer, das Leben wäre mein eigenes, dachte er. Vielleicht halte ich ja Distanz zu den anderen, Charlie, aber das bedeutet nicht, daß sie mir egal sind. Er sah zu, wie sich Thomas einen Weg durch die Menge bahnte. Und ich respektiere sie genug, um ihre persönlichen Entscheidungen anzuerkennen.

Trotzdem blieb Marcus während des gesamten Kampfes angespannt. Er biß so fest die Zähne zusammen, daß sein Kiefer schmerzte. Er schüttelte Jerichos Hand auf seiner Schulter ab, obwohl er wußte, sie bot ihm nur stumme Unterstützung an. Und auch als Faber siegte, freute er sich weder, noch entspannte er sich. Siege müssen verteidigt werden, erinnerte er sich. Und Shervanis' düstere Miene warnte ihn, daß er damit besser nicht allzu lange warten sollte.

»Eine wirklich hübsche Belohnung«, erklärte Faber mit lüsternem Blick auf die Tänzerin.
Marcus kannte Thomas als jemanden, der im einen Moment laut lacht, im nächsten verschlossen ist. Es waren keine Stimmungsschwanken, vielmehr sammelte er Kraft für seine lebhafteren Augenblicke. Aber er hatte nie erlebt, daß Thomas sich Frauen gegenüber anders als respektvoll verhalten hätte, daher erkannte er ohne Schwierigkeiten, daß Faber den ungehobelten Lüstling nur spielte. An Jerichos Reaktion sah der Söldnerkommandeur jedoch, daß sie ihm alles abnahm. Möglicherweise fiel dann auch Shervanis darauf herein.
»Exzellenz«, rief Marcus laut und lenkte Shervanis' Aufmerksamkeit von Thomas ab. »Ich weiß Ihre Lektion zu schätzen. Sie haben mir meinen Irrtum bewiesen.«
Der Kalif runzelte die Stirn, und in seinen schwarzen Augen stand Zweifel. »Wie das, Kommandant GioAvanti? Ihr Söldner hat einen meiner besten Krieger besiegt.«
Und das ziemlich gekonnt. Marcus sah zu seinem Mann hinüber. Thomas war auf dem Rückweg zu den anderen Angeli, seinen Preis im Schlepptau. Das wäre einfacher, hättest du diesen Kaba-was-auch-immer nicht zum Krüppel getreten, dachte er, sah sich aber nicht in der Lage, es Thomas zum Vorwurf zu machen. Er hatte etwas in den Augen des Hünen gesehen und wußte, daß er nicht anders hatte handeln können.
»Wie Sie selbst gesagt haben, Kalif Shervanis. Thomas ist ein Söldner. Er hat nicht für mich oder die Angeli gekämpft.« Er versuchte, angewidert auszusehen. »Er hat für sie gekämpft.« Das ist deine Chance, das Gesicht zu wahren, Kalif. Es sei denn, du bist bereit, uns alle

a

bzuschlachten und die Rache meiner Einheit zu riskieren. »Wollen Sie damit sagen, Lust hätte Kabahstallas Glauben an mich besiegt?« Der Pascha klang noch immer zweifelnd, und gefährlich.

Vorsicht, Marcus. »In dieser Umgebung?« meinte er und schwenkte die Hände, um die Gäste und Schausteller einzubeziehen, die inzwischen alle verstummt waren. »Wie könnte irgend jemand hier die Macht des Verlangens abstreiten, Malachye-Pascha. Sie haben uns allen heute abend selbst seine Anziehungskraft demonstriert.« Marcus lächelte. Dann wurde er ernst. »Um Kabahstalla Fairness angedeihen zu lassen« - Der Name bereitete ihm Schwierigkeiten - »Thomas liebt es auch zu kämpfen. Es ist schwer zu sagen, woran er mehr Freude hat«, beendete er seine Ausführungen und beäugte die Tänzerin sehr auffällig.

Kalif Shervanis grinste breit, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Die Spannung im Saal löste sich, als auch andere auflachten oder sich wieder unterbrochenen Gesprächen zuwandten. Auf ein Zeichen von Shervanis nahmen die Musiker eine lebhafte Melodie auf, die schnell dafür sorgte, daß die Tänzerinnen wieder in einem Wirbel nackter Haut und bunter Bänder durch den Pavillon huschten. Der Kalif hob einen großen Kelch mit purpurnem Wein in Richtung der Angeli, und Marcus erwiderte den Gruß, bevor er seine Aufmerksamkeit erneut seinen Leuten zuwandte.

»Danke, Marc.« Thomas trat wieder in die kleine Gruppe, die Tänzerin an der Hand. Sie wirkte besiegt, jenseits von Furcht in stiller Resignation angelangt. Jericho sah von Marcus zu Thomas und wieder zurück, als wisse sie nicht recht, an wem sie ihre Wut zuerst auslassen sollte.

»Was machen wir jetzt mit ihr?« fragte Marcus und nickte in Richtung der spärlich bekleideten Frau.

»Sie ist weg von ihm«, stellte Thomas mit einem Achselzucken fest. »Das ist die Hauptsache.« Er lächelte die junge Frau entschuldigend an. »Ich bringe Sie fort von Astrokazy«, versprach er leise. »Danach sind Sie frei.« Er drehte sich zu Jericho um und lächelte. »Sie könnte doch sicher eine Anstellung im Magistrat finden? Vielleicht als Tänzerin?«

Überraschung - gemischt mit Erleichterung - schwappte über Jerichos Gesicht. »Ja. Ja, natürlich.«
Ki-Lynn hob den Becher an den Mund, um ihre Lippen zu verbergen. »Seht euch nicht um.« Sie machte eine Pause, um sicherzugehen, daß alle in der Gruppe erfolgreich gegen die natürliche Neigung, genau das zu tun, angekämpft hatten. »Der Kalif kommt herüber.«
Jase reagierte am schnellsten und änderte das Thema, indem er laut spekulierte, wo die Angeli mit der Suche nach der angeblichen Sternenbundanlage beginnen könnten. Marcus machte erste Vorschläge, als der Kalif unterbrach. »Kommandant, ich störe doch nicht?«
»Natürlich nicht, Kalif Shervanis.« Marcus setzte ein dünnes Lächeln auf, als mache die Aufmerksamkeit des Kalifen ihn nervös. Schwer fiel ihm das nicht. »Die Angeli haben immer Zeit für Sie.« Marcus sah an dem älteren Mann vorbei zu den beiden ausladend gebauten Wachen, die ihm von der Empore gefolgt waren, und auf zwei weitere Tänzerinnen, die Shervanis unterwegs aufgelesen haben mußte.
»Ausgezeichnet«, erklärte der Kalif. Er schwankte leicht, und auch sein Atem verriet, daß er an diesem Abend reichlich Wein und Haschisch genossen hatte. »Kommandant, ich möchte Ihnen noch einmal zu Ihren Kriegern gratulieren. Vielleicht war ich zu überrascht von Kabahstallas Niederlage, um MechKrieger Faber angemessen zu gratulieren.«

Was hast du vor, Shervanis? Marcus hielt das Lächeln

aufrecht, aber innerlich rasten seine Gedanken bei dem Versuch, den tückischen Pascha zu durchschauen. Selbst halbberauscht war Shervanis noch jemand, den man nicht unterschätzen durfte. »Exzellenz ist zu gnädig.«

»Tatsächlich habe ich meine Pflichten als Gastgeber sträflich vernachlässigt.« Shervanis winkte die beiden Tänzerinnen vor. »Mir ist plötzlich klargeworden, daß ich vergessen hatte für ...« - er grinste breit und wölfisch mit einer Geste in Richtung der Tanzmädchen - »... angenehme Gesellschaft zu sorgen.«

»Äh ... Kalif Shervanis.« Marcus stockte, wußte nicht, wie er reagieren sollte. Was hatte Ki ihm gesagt? Ein direktes Geschenk abzulehnen, wäre eine persönliche Beleidigung? Aber wenn der Kalif darauf bestand, ihnen Begleiterinnen zu stellen, würde das die Angeli voneinander trennen. »Höchst großzügig«, versuchte er Zeit zu gewinnen. Er wünschte, er hätte Zeit gehabt, sich mit Ki-Lynn zu beraten, aber dazu war einfach keine Gelegenheit. Irgendwie mußte Marcus mit dieser Lage selbst fertigwerden. »Zu großzügig, um die Wahrheit zu sagen. Ich könnte das nicht annehmen.«

Shervanis' dunkle Augen verengten sich. »Und warum nicht?« Seine Stimme war hart und von gefährlicher Kälte.

»Also«, setzte Marcus an und verstummte wieder. Denk nach. »Würde ich annehmen ...«
Marcus hatte die Sache nicht wirklich durchdacht, sondern verließ sich auf einen Bluff. Zu seinem Glück nahm Jericho den Faden auf. »Würde er annehmen«, stellte sie fest, trat näher und nahm seinen Arm, »würde er sich in bösen Schwierigkeiten wiederfinden. Möglicherweise würde er selbst die Wüsten Astrokazys einladender finden.« Ihre Stimme klang zugleich spielerisch und entwaffnend.
Der Kalif blinzelte überrascht. »Das wußte ich nicht. Will sagen, Erzwesir Ji-Drohmien hat nie erwähnt, daß Sie beide ...« Er verstummte.
»Eine Beziehung haben?« beendete Marcus den Satz für ihn, und hoffte inständig, daß man seinem Gesicht die Überraschung nicht ebenso deutlich ansah. Er war sich der Berührung Jerichos nur allzu bewußt. Die Wärme ihrer Hand breitete sich seinen Arm hinauf aus. Er schluckte schwer und mußte sich bemühen, ruhig zu bleiben. »Nun, der Erzwesir hat nicht danach gefragt. Und wir stellen unsere Beziehung nicht öffentlich zur Schau. Das verstehen Sie natürlich.« Er senkte die Stimme, als spräche er nur zum Kalifen. »Als Kommandeur muß ich den Eindruck ... « - er stockte, als suche er nach dem passenden Wort - »... moralischer Überlegenheit aufrechterhalten. Keine Verbrüderung während einer Mission.«
Er fühlte, wie sich Jerichos Griff verstärkte, aber sie überspielte ihr Unbehagen und führte die Scharade weiter. »Typisch«, beschwerte sie sich mit einem Lächeln. »Immer nur die Arbeit, keine Zeit fürs Vergnügen.« Sie beugte sich vor und knabberte spielerisch an Marcus' Ohrläppchen, bevor sie wieder in ihre ursprüngliche Position zurückkehrte.
Shervanis betrachtete das Pärchen mit einer Miene, die wieder ihre alte Neutralität besaß. »Tatsächlich«, murmelte er. »Und die beiden anderen?«
»Genauso«, antwortete Jase Torgensson sofort, breit lächelnd und fröhlich, als er zu Ki-Lynn und dann wieder zurück zum Pascha blickte. »Wir leiden nicht unter dem Kommandeursdilemma, aber da bliebe noch die kleine Schwierigkeit draconischer Etikette.«
»Faber ist der einzige der wenigen ungebundenen Junggesellen bei den Angeli«, log Marcus. »Aber er hat seine Abwechslung schon gefunden.«
Shervanis ließ sich weder im Gesichtsausdruck noch im Tonfall etwas anmerken. »Natürlich«, stellte er nur fest, und winkte den beiden Tänzerinnen ab, die schnell im Hintergrund der Feier untertauchten und zu ihren pflichten zurückkehrten. »Nun denn, amüsieren Sie sich, geschätzte Gäste. Genießen Sie, was Shervanis Ihnen bieten kann. Und Kommandeur, morgen hoffe ich noch einmal darüber zu reden, was ihre Angeli mir bieten können.«
»Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Kalif Shervanis«, erklärte Marcus, als der Pascha zu seiner Empore zurückkehrte. Er wartete schweigend, bis er sicher war, daß die ein Stück hinter ihm gehenden Wachen das Gespräch auch ohne Musik nicht mithören konnten. Faber setzte die Tänzerin etwas abseits auf ein paar Kissen, wo sie nichts von der Unterhaltung aufschnappen konnte.
»Ich glaube nicht, daß er es geschluckt hat«, stellte Marcus schließlich fest, »aber er wird nicht nachhaken. Ich bin sicher, er hat andere Pläne für uns.« Er kaute auf der Unterlippe und dachte nach. »Ich weiß nicht, wie es mit euch steht, aber ich habe genug Vergnügen für eine Nacht gehabt. Wir werden uns im Laufe der nächsten Stunde langsam verabschieden, pärchenweise, um diese neue Tarngeschichte aufrechtzuerhalten. Deshalb werden wir auch weiter zusammen bleiben. Einer kann schlafen, während der andere Wache hält.« Er schluckte schwer. »Jericho ... «
Sie unterbrach ihn mit einem neckischen Lächeln. »Wir sind ein Pärchen. Ich komme damit klar, Marcus.« Sie machte eine Pause und legte den Kopf zur Seite, als dächte sie nach. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme leichter. »Ich habe das Bett gemacht, und jetzt muß ich drin schlafen?«
Jase verbarg sein Lächeln diplomatisch hinter vorgehaltener Hand, und auch wenn Ki-Lynn ihre Miene völlig unter Kontrolle hatte, sah Marcus die Belustigung in ihrem Blick. Faber versuchte nicht einmal, sein Grinsen zu verstecken. »Thomas«, befahl Marcus leicht verärgert. »Du gehst in zehn Minuten. Danach Ki und Jase.«
»Ich habe eine bessere Idee, Marc.« Jase sah sich um. »Das ist das erstemal heute, daß mir kein Wachhund folgt. Ich würde gerne noch etwas bleiben und vielleicht ein paar Freundschaften schließen.« Er sah hinüber zu Ki-Lynn. »Nichts für ungut, aber ...«
»Aber allein schaffst du mehr«, beendete Marcus den Satz. »Okay, Jericho und ich in einer halben Stunde. Ki, du verziehst dich in etwa fünfzig Minuten in dein Zimmer. Laß Jases Abschied nach etwas aussehen.« Ki nickte, was Marcus als Garantie reichte. »Jase, bleib nicht allzulange hier. Dieser Ausflug nach Shervanis war den Versuch wert, aber hier gefällt es mir nicht. Wir gehen bis Morgen auf Nummer Sicher, und dann verschwinden wir.«

Keine zehn Meter von den Angeli entfernt lehnte Cameron St. Jamais an der Wand und sah zu, wie die Söldner Malachye Shervanis abblitzen ließen und sich dann kurz besprachen. Er trug einen sandfarbenen Kaftan, und seine dunkle Haut gestattete ihm, unter den einheimischen Astrokaszys unterzutauchen.

Er streichelte die Schulter der Kurtisane, die ihm Erzwesir Ji-Drohmien besorgt hatte. Das ungebändigte Haar und die fahle Haut der Frau erinnerten ihn an Demona Aziz. Die Musik hätte sein Interesse auf niederere Instinkte umlenken können, aber die Ausbildung des Ordens verlieh ihm die nötige Klarheit der Gedanken, als er die Schulter des Mädchens liebkoste und gleichzeitig weiter die Söldner ausspionierte.

St. Jamais sah Thomas Faber mit der Tänzerin verschwinden. Keine halbe Stunde später folgte ihm Marcus GioAvanti mit seiner canopischen Schlampe. Schlafen Sie gut, Kommandant, entbot der Demipräzentor dem Söldnerkommandeur einen stummen Gute-NachtGruß. Morgen werden Sie und Ihre Angeli sterben.

26

Palastgrund, Shervanis, Kalifat Shervanis
Astrokazy, Peripherie

 

29. Juni 3058

Wer auch immer es war, sie gingen kein Risiko ein. Marcus hörte die Geräusche im Flur, als jemand
allem Anschein nach die Wachen überwältigte, die
ihnen zugeteilt worden waren. Er griff nach den Waffen
und weckte Jericho. Die beiden gingen hinter einem
umgekippten Tisch, der ihnen einen gewissen Schutz
gegen die Eindringlinge bieten sollte, in Deckung. Vier
schattenhafte Gestalten drangen in das Zimmer, gekleidet in die üblichen weiten Kaftane, aber von dunkler
Farbe statt weiß oder hellbraun. Zwei von ihnen hatten
Maschinenpistolen und traten sofort ans Fenster. Der
dritte richtete ein Nadlergewehr in Marcus' und Jerichos Richtung. Der letzte der Eindringlinge stoppte
und schloß die Türen. Er war nur mit zwei breiten
Krummsäbeln bewaffnet.
Attentäter machen sich nicht die Mühe, die Tür abzuschließen, dachte Marcus und hielt Jericho zurück, während die Eindringlinge sich im Zimmer zu schaffen
machten.
Der Mann mit den Schwertern kam herüber. Über
den Tuchstreifen, mit denen die untere Hälfte seines
Gesichts maskiert war, waren nur seine Augen zu erkennen, und sie zeigten seine Überraschung darüber,
sie hier zusammen zu finden. Beide Schwerter in der
Linken, gestikulierte er mit der rechten Hand. »Kommt.
Wir bringen euch hier heraus.« Er hatte einen starken
Akzent und sprach viel zu schnell. Er mußte den Satz
mehrmals wiederholen, bis Marcus ihn verstand. Einer der Männer benutzte ein spezielles Schneidwerkzeug dazu, das einzelne große Fenster des Zimmers aus dem Rahmen zu lösen. Marcus hatte es bereits inspiziert und wußte, daß es sich nicht ohne Schwierigkeiten öffnen oder einschlagen ließ. Mit Hilfe von Seilen erreichten sie den Boden, dann hasteten alle sechs zur Außenmauer, wo andere Männer mit Seilen auf sie warteten. Marcus war besorgt um die anderen drei Mitglieder seiner Gruppe, aber der Schwertträger versicherte ihm, daß andere Teams dabei waren, sie ebenfalls in Sicherheit zu bringen.
Der Schwertträger, der die Gruppe, die Marcus befreit hatte, offensichtlich befehligte, stellte sich während der Flucht als Nihail Sallahan vor und erklärte, daß er und seine Leute von Kalif Rashier geschickt worden waren, um die Angeli aus den Klauen des bösen und verruchten Shervanis zu befreien. Als lautes Maschinengewehrfeuer und mehrere Explosionen durch die Nacht hallten, versicherte er ihnen auch, daß all das Teil eines Ablenkungsmanövers war, um ihre Flucht zu decken. Wenn alles gut ging, würde er die Angeli zur Heaven Sent bringen, die sie alle in Sicherheit bringen konnte.
Erst als die kleine Gruppe den Stadtrand erreichte, tauchten die ersten Löcher in der Planung auf. Die fünf Gruppen trafen sich in einem halb eingestürzten und verlassenen Lehmziegelhaus. Vor dem Haus standen mehrere Pferde und ein einzelner, zerbeulter Geländewagen, alles Teil des Fluchtplans. Sallahans Team kam als zweites an, nach der Gruppe, die Jase Torgensson geholt hatte.
Marcus unterbrach Nihail, als dieser ihm zu erklären versuchte, daß Jase nicht in seinem Zimmer gewesen war. »Das ist mir klar. Er müßte bei Ki-Lynn sein.« Das erforderte weitere Erklärungen, aber Nihail schien zufrieden und versank in Schweigen.
Als nächstes kam das Team, das nach Jericho gesucht hatte. Es hatte zwei seiner vier Kämpfer verloren. »Sie sind einer Djinn-Streife begegnet«, erklärte Nihail. Auf Marcus Frage erfuhr er, daß Djinn wohl das arabische Wort für Dämonen des Teufels, al Shaitan, war. Shervanis ist im Kalifat Rashier nicht allzu beliebt, dachte er, und setzte sich wieder, um auf die anderen Angeli zu war
ten.
Ein viertes Team brachte Ki-Lynn Tanaga unter Waffengewalt zum Treffpunkt.
Sie verneigte sich förmlich vor Marcus. Er legte keinen Wert darauf, wußte aber, daß sie es tat. »Gomen
nasai, Kommandant. Jase war noch nicht von der Feier
zurück. Ich konnte sie nicht davon überzeugen, zu warten, während ich ihn holte.«
Marcus sah hinüber zu den vier Mitgliedern ihres
Teams, die in hastigem Arabisch mit Nihail sprachen.
Einer von ihnen hielt eine Kompresse an sein Gesicht,
und als er sie entfernte, um besser reden zu können, erkannte Marcus an der Schwellung und Biegung, daß
seine Nase gebrochen war. Ein böser Blick in Ki-Lynns
Richtung sagte, was sein Kommunikationsoffizier nicht
konnte. »Schon gut, Ki. Sie hatten ein Team für jeden
von uns, unserer getrennten Unterbringung wegen. Es
war einfach Pech.« Er bezweifelte, daß Ki sich davon
sonderlich getröstet fühlte. Innerlich rang er mit dem
Schicksal und versuchte, einen Plan zu entwickeln, wie
sie zurückkehren und Jase retten konnten.
Thomas hatte er völlig vergessen, bis ein einzelner
Krieger hereingestürzt kam, um mit Nihail zu reden.
Der Anführer zog den Mann zu Marcus herüber. Marcus entschied, das als Hinweis darauf zu nehmen, daß
Thomas Faber jetzt ebenfalls ein Gefangener von Shervanis war, und dachte, schlimmer könne es nicht mehr
kommen. Daher traf es ihn wie ein PPK-Blitz, als Nihail
ohne Vorwarnung feststellte: »Ihr Schiff wird angegriffen. Viele Maschinen.« Der Mann sagte noch etwas, und Nihail übersetzte. »Kann nicht starten. Größter Teil der Besatzung ist in Flugfahrzeugen geflohen und in Sicher
heit. Zweites Schiff ist in Vorgebirge südlich gelandet.« Die Neuigkeiten verschwammen in Marcus' Gedanken, bis eine Aussage sich unaufhaltsam in den Vordergrund schob. Zweites Schiff? Nein! Marcus drängelte
sich an Nihail und einigen anderen Astrokaszykriegern
vorbei und rannte nach draußen. Vom Dach des Geländewagens sprang er auf das niedrige Lehmziegelhaus
und starrte nach Südwesten.
Die unverwechselbare Triebwerksfackel des Festungsklasse-Landungsschiffs brannte einige Kilometer entfernt hell und stetig. Es hielt schätzungsweise dreihundert Meter über dem Boden Position, während alle paar
Sekunden ein Lichtblitz meldete, daß eine der PPKs im
Rumpf des Schiffes auf die Planetenoberfläche feuerte.
Marcus fühlte, wie das Bedauern in ihm aufstieg. Charlene hätte ohne Befehl nicht angreifen sollen. Oder erst,
wenn sie Grund zu der Annahme hatte, daß er nicht
mehr in der Lage war, einen solchen Befehl zu geben.
Selbst ein Angriff auf die Heaven Sent hätte erst von ihm
bestätigt werden müssen. Marcus konnte sich nur eine
andere Erklärung für ihr Auftauchen vorstellen. Er wirbelte zu Nihail herum, der mit einigen seiner
Männer und Jericho hinter ihm hergeklettert war.
»Gegen wen kämpfen sie?«
»Sie kämpfen gegen den verdammten Shervanis. Er
will unsere Welt in seine Sklaverei ...«
Marcus schnitt ihm mit einer Handbewegung das
Wort ab. »Ja, ja, aber welche Kräfte? Welche BattleMechs? Wie viele?«
Nihail sprach mit dem Boten, der am Boden geblieben war. »Viele, sagt er. Einige Dutzend. Maschinen mit
Shervanis' unheiliger dunkler Sonne und andere mit
dem Zeichen des Gefolgsmanns al Shaitans - eine
dunkle, gepanzerte Gestalt.«
D1e Mordbanden aus der Marianischen Hegemonie! »Nein!« brüllte Marcus zum Horizont. »Verdammt, Charlene, nein!« Nihails Mann hatte gemeldet, das zweite Schiff habe im südlichen Vorgebirge aufgesetzt, aber jetzt flog die StecknadelkopfLuftunterstützung. Das konnte nur bedeuten, die BattleMechs waren bereits am
Boden und im Gefecht.
»Nihail, ich brauche den Wagen und ein Funkgerät.
Eines, das auf den höheren Gefechtsfrequenzen senden
kann. Ich muß da hinaus.«
Der dunkelgekleidete Krieger schüttelte den Kopf.
»Unmöglich. Wir fallen auf Reserveplan zurück. Gehen
nach Norden zu verstecktem Landeplatz für Hubschrauber.« Marcus wollte sich wegdrehen, aber sein
Gegenüber packte ihn an der Uniform und zog ihn zurück. »Hören Sie zu, Sahib. Kalif Rashier wird Ihnen
helfen. Er ist der einzige Mann, der Ihnen noch helfen
kann. Ich bringe Sie zu ihm.«
Marcus riß den linken Arm hoch und brach den Griff
des Astrokaszy. Sein Gesicht brannte trotz der kühlen
Wüstennacht. »Durch die Hilfe deines Kalifen sind
zwei meiner Leute immer noch im Palast verschollen.
Ich würde auf der Stelle zurückgehen, um sie zu holen,
wenn mich die da draußen in der Wüste im Augenblick
nicht dringender bräuchten. Also gehe ich dorthin.« Er
sah hinüber zu den fernen Kämpfen. »Diese Schiffe bedeuten alles für Gli Angeli. Ich werde sie nicht im Stich
lassen.«
Nicht im Stich lassen. Marcus' letzte Worte hallten
durch seine Gedanken. Hatte er mehr Angst, seine
Leute zu verlieren, oder die Landungsschiffe und deren
Ladung? Wie auch immer die Antwort lautete, im
Augenblick fehlte ihm der Abstand, sie als solche zu erkennen. Wie auch immer, er mußte dieses Schlachtfeld
erreichen.
»Sie dienen Ihren Freunden am besten, indem Sie mit

mir kommen«, erwiderte Nihail. »Wenn Ihre Leute die Nacht überleben, kann Kalif Rashier ihnen helfen.«

»Es ist genau dieses wenn, das mir Sorgen macht, Nihail. Hat dein Kalif dir Befehl gegeben, mich zu erschießen, wenn ich Widerstand leiste?« Marcus starrte seinem Gegenüber in die Augen, bis er nachgab. »Hab ich auch nicht erwartet.«

Marcus ging über das flache Dach an den beiden anderen Astrokaszykriegern vorbei, die hinter Nihail heraufgestiegen waren. Er bemerkte die Bewegung im Augenwinkel, jedoch einen Sekundenbruchteil zu spät, um dem Schlag effektiv auszuweichen. Der Gewehrkolben traf ihn knapp über dem Ohr, warf ihn auf die Knie und ließ eine übelkeiterregende Schwärze in engen Wirbeln um ihn kreisen.

Der zweite Schlag brachte die Dunkelheit mit erstickender Gewalt über ihn herab.

 

27

 

Shervanis, Kalifat Shervanis Astrokazy, Peripherie

 

29, Juni 3058

Thomas Faber trug seinen eigenen Kampf mit der Bewußtlosigkeit aus, als das Feedback des Neurohelms sich in sein Gehirnn bohrte. Die Steuerknüppel des Clint zitterten wild, als er durch einen weiteren Flachbau brach. Der Mech wankte betrunken von einer Seite zur anderen. Dann brach er frei und ließ einen zusammenstürzenden Trümmerhaufen zwischen sich und dem ihn verfolgenden Derwisch zurück. Eine einzelne Langstreckenrakete schlug in seine rechte Schulter ein, kaum genug, dem mittelschweren Mech einen Schubs zu geben. Amaäli, die Tänzerin, die er von Shervanis gewonnen hatte, wimmerte vor Angst. Sie kauerte in der Enge hinter der Pilotenliege. Thomas biß unter den Schmerzen des Neurohelmfeedbacks die Zähne zusammen und lockte eine höhere Geschwindigkeit aus den Kontrollen des Mechs.

Thomas erfuhr nie wirklich, wer die Leute gewesen waren, die ihnen bei der Flucht aus dem Palast geholfen hatten, nur, daß sie von Kalif Rashier geschickt worden waren und Waffen besaßen, um ihren Befehlen Nachdruck zu verleihen. Sie hatten ihn und das Mädchen durch enge Palastkorridore geführt, bis sie geradewegs in eine Gruppe von Shervanis-Wachen gelaufen waren. Thomas hatte einem der verhüllten Krieger die Rorynex-Maschinenpistole abgenommen, sich Amaäli gegriffen und war mit ihr durch gewundene Gänge und Korridore gerannt, bis sie weit entfernt waren und sich völlig verirrt hatten.

Dann hatten die Alarmsirenen aufgeheult.

Thomas hatte den nächsten Wachmann überfallen, der ihnen begegnete. Durch puren Zufall hatten sie irgendwo einen Weg eingeschlagen, der sie zu einem kleinen Mechhof führte, in dem zwei von Shervanis' BattleMechs abgestellt waren. Thomas hatte sich einen der Wächter vorgenommen, dessen Schmerzschwelle sich als wesentlich tiefer herausstellte als sein Wunsch, zum Märtyrer zu werden. Nach seiner Versicherung, daß die Stimmerkennung längst ausgefallen und der Clint mittels Kenncode zu starten war, hatte Thomas den Mann gefesselt und bewußtlos zurückgelassen.

Seit es BattleMechs gab, existierten Methoden, ihren Diebstahl zu verhindern. Seit Jahrzehnten waren Stimmerkennung und >Schlüssel<-Codesätze die Standardmethode, seit die Neurohelmtechnologie verbessert worden war. Vorher waren die Helme so präzise an die Gehirnwellen eines bestimmten Trägers angepaßt worden, daß nur der Besitzer eines bestimmten Helms ihn benutzen konnte, ohne daß es zu äußerst schmerzhaften Feedbackeffekten kam.

Zu Thomas' Pech stammten der Neurohelm und die Kontrollschaltkreise des Clint aus einer Zeit, lange bevor sich das geändert hatte.

Der Clint geriet ins Stolpern, als acht LSR von hinten in seine linke Rumpfseite einschlugen und sich bis zur internen Stützstruktur der Maschine von Knochen aus geschäumtem Titanstahl fraßen. Der Kampfkoloß ging in die Knie, und Thomas stützte ihn mit der linken Mechhand an der Mauer einer Lagerhalle ab. Statisches Rauschen schlug über ihm zusammen, und hinter seinen Augen begann ein pulsierendes Trommelkonzert.

Er versuchte den Stadtrand zu erreichen. Fast geschafft, dachte er und zwang die 40-Tonnen-Maschine wieder auf die Beine. Knapp voraus ragten die höheren Bauten des verlassenen Industriebezirks auf, zwei- und dreistöckige Lagerhallen, die eine gewisse Deckung gegen Shervanis' Derwisch versprachen. Wenige hun

dert Meter dahinter lagen der Stadtrand und die Frei

 

heit. Halt noch ein paar Minuten durch, Thomas. Wir sind fast da.

Allerdings hatte er keinen blassen Schimmer, was ihn außerhalb der Stadt erwartete. Die Mechsensoren hatten bereits ein Landungsschiff der Festungsklasse identifiziert, das sich aus einer Luftunterstützungsposition nahe dem Stadtrand in Richtung der südlichen Wildnis zurückzog. Das mußte die Stecknadelkopf sein - aber bedeutete das, daß die Angeli auf dem Rückzug waren? Die Mechs der Einheit verständigten sich auf Frequenzen, die er nicht einstellen konnte, und keines der Landungsschiffe reagierte auf seine Rufe über die allgemeinen Kanäle.

Ich muß hier raus, dachte Thomas. Raus und in seinen eigenen Mech. Das Feedback des Neurohelms störte seine Sehnerven so extrem, daß er die Geschützmündung praktisch hätte auf den Derwisch setzen müssen, um ihn zu treffen. Das war nicht der Zeitpunkt, den Helden zu spielen, nicht jetzt, wenn die Angeli ihn möglicherweise brauchten. Er drehte den Torso des Clint herum und gab einen Schuß mit der AK/5 ab, die dessen rechte Hand ersetzte. Er legte es nicht wirklich darauf an, einen Treffer zu landen, sondern hoffte vielmehr, den Derwisch-Piloten davon überzeugen zu können, daß er nicht völlig hilflos war.

Wie als Antwort schlug eine weitere LSR-Salve in den Mech ein. Fünf Raketen erweiterten die Bresche im linken Torso und zertrümmerten den dort installierten mittelschweren Laser. Sechs andere bohrten sich mittig in den Rücken des Clint und fraßen sich in die Abschirmung des Fusionsreaktors. Thomas schaffte es, die Kontrolle über den schwerfälligen Mech zu behalten, aber der plötzliche Ausschlag auf der Wärmeanzeige machte ihm klar, daß er in argen Schwierigkeiten steckte, wenn ihm nicht schnell etwas einfiel.

Hastig warf er die Sprungdüsen an. Der Clint stieg in die Höhe und schleuderte superheißes Plasma durch die Sprungdüsenauslaßöffnungen im hinteren Torso und den Beinen. Thomas richtete ihn auf die fernen Stadttore. Amaäli kreischte, aber daran konnte er im Augenblick nichts ändern. Es war schon schwierig genug, vierzig Tonnen alles andere als aerodynamisch geformtes Metall durch die Luft zu steuern. Hinzu kam das Feedback des Neurohelms und die Tatsache, daß er kaum Erfahrung mit sprungfähigen Mechs besaß. Er hatte nicht einmal die Hoffnung, die riesige Kampfmaschine aufrecht wieder zu Boden zu bringen. Ihm reichte es völlig, eine Möglichkeit zu finden, die bevorstehende Bruchlandung etwas sanfter zu gestalten.

In eine zweistöckige Lagerhalle abzustürzen war zwar nicht gerade, was er eine sanfte Landung genannt hätte, aber für einen BattleMech bedeutete es zwei Bremsbarrieren vor dem Aufprall auf den harten Boden des Planeten. Das Dach der Halle brach augenblicklich in einer Wolke aus Stein und Zement zusammen, als vierzig Tonnen BattleMech in einer Bauchlandung aufschlugen.

Er wurde hart genug in die Haltegurte geschleudert, um blaue Flecken davonzutragen, aber die Erschütterung, mit der sein gekaperter Clint zum Stillstand kam, war trotz allem sanfter als Thomas erwartet hatte. Der Sichtschirm war schwarz, also schaltete er auf Infrarot und danach auf magnetische Anomalie um. Ich bin in einem Keller. Das erklärte die sanfte Landung: Der Sturz war von drei Schichten Beton gebremst worden - statt nur von zweien. Aber trotzdem zeigte das Schadensdiagramm den Ausfall eines Schulteraktivators am linken Mecharm und den Verlust mehrerer Tonnen Panzerung über den gesamten Rumpf verteilt: Thomas versuchte den Mech aufzurichten, aber er schien unter herabgestürztem Schutt begraben zu sein.

Der Mech lag auf der Vorderseite, und Thomas hing über den Kontrollen in den Haltegurten. Er zog den schweren Neurohelm vom Kopf und drehte sich nach seiner Passagierin um. Amaäli schluchzte hysterisch, wirkte wie im Schock und blutete aus einer kleinen Schnittwunde am Kinn - durch einen Aufschlag auf die Kontrollkonsole -, schien aber ansonsten in Ordnung. Er warf eiligst einige Schalter um und versuchte so schnell es ging, den Fusionsreaktor herunterzufahren. Zwischen seiner Maschine und dem sie verfolgenden Derwisch lagen mehrere hundert Meter und mindestens zwei Gebäude, also ließ sich der Clint momentan nicht orten. Unter den Trümmern der Lagerhalle begraben, konnte jetzt nur noch das Magnetfeld sie verraten, das half, die Fusionsreaktion im Herzen des Mechs zu kontrollieren. Er konnte den Gedanken nicht abschütteln, daß er in einem perfekten Versteck gelandet war.

Thomas haßte den Gedanken, das Geschehen an sich vorbeiziehen zu lassen, aber er sah keine Chance mehr, den Stadtrand zu erreichen. Der Derwisch würde ihn eingeholt haben, bevor er sich aus den Trümmern befreit hatte, und das Neurofeedback drohte, sein Urteilsvermögen zu beeinträchtigen. Vielleicht war es besser, hier eine Weile in Deckung zu bleiben und einen Ausbruch zu versuchen, wenn niemand mehr damit rechnete. Und so blieb ihm nur noch, was ihm am schwersten fiel:

Abwarten.

Auf der Flucht durch die Berge südwestlich von Shervanis versuchte Charlene Boskes halbe Kompanie Angeli-Mechs den Rand der Wildnis um die Hauptstreitmacht der Hegemonie-Mordbanden in einer Flankenbewegung zu umgehen und wieder auf die nördliche Ebene zu gelangen. Charlene Boske, deren Feuerfalke zu den schnelleren Maschinen der Einheit gehörte, hatte die Rückendeckung übernommen. Sie zog in weiten Schwüngen um jeden einzelnen Berg, traf und löste sich konstant wieder von den anderen, während sie die Verfolger erst nach rechts, dann nach links weglockte.

Sie kaufte Zeit, auch wenn Charlene nicht mehr wußte, wofür. Jetzt konnte sie nur noch ein Wunder retten, dachte sie, als Paula Jacobs' Stimme wieder durch den Hintergrundlärm drang, begleitet von leichtem Knattern. »Wiederhole, ich habe Flanker Zwo und Drei verloren«, meldete Paula aus ihrer Valkyrie. »Sie haben Kelseys Jenner ein Bein glatt abgeschossen, aber ich glaube, sie konnte aussteigen. Geoff hat's erwischt. Der verdammte Todesbote hat seinen Panther zerfetzt und dann absichtlich seinen Kopf eingetreten.«

Charlene biß sich auf die Unterlippe, als sie den Bericht der FlankenLanze hörte. Warmes, salziges Blut floß in ihren Mund. Sie drehte den Feuerfalke mit beinahe waghalsiger Leichtigkeit auf dem rechten Fuß um fast einhundertachtzig Grad und feuerte mit dem schweren Laser auf den sie verfolgendenLuchs. Der smaragdgrüne Strahl aus gebündelter Lichtenergie brannte eine Schmelzspur über die obere Brustpartie und den Kopf des Mordbanden-Mechs. Es reichte nicht aus, die Panzerung zu durchschlagen, aber seine Wirkung auf den Pilot des Luchs konnte dieser Treffer nicht verfehlen. Ihren Schwung ausnutzend, legte Charlene den Feuerfalke nach vorne in einen Sprint und huschte in den Einschnitt zwischen zwei Bergen. Das lieferte ihr einen Augenblick Ruhe. Mehr nicht.

Charlene und der Rest der Angeli waren auf der Stecknadelkopf geblieben, während Marcus und sein Team in der Heaven Sent auf die Oberfläche Astrokazys hinabgeflogen waren. Als das andere Landungsschiff einen Angriff unbekannter Kräfte auf die Stadt meldete, hatte sie Marcus' Anordnung erwartet, auf der einen oder anderen Seite einzugreifen. Die Angeli würden Shervanis stürzen, falls er mit den Räubern zusammenarbeitete, oder ihm helfen und so sein Wohlwollen gewinnen. Sie hatte der Stecknadelkopf befohlen, tiefer zu gehen, um in zwei Kilometern Höhe auf den Angriffsbefehl zu warten. Dann war die Meldung der Heaven Sent eingetroffen, daß sie von einer aus der Stadt kommenden Gruppe von Hegemonie-Räubern angegriffen wurde. Charlene hatte Skipper Stanislaus augenblicklich befohlen, die Stecknadelkopf südlich der Position der Heaven Sent aufzusetzen, dann war sie mit den übrigen acht Angeli und drei MSK-MechKriegerinnen ausgestiegen, um ihr zu Hilfe zu kommen.

Mach dir nichts vor, dachte sie, während sie um einen anderen Berg lief, um zurück zu ihrer Einheit zu kom

 

men. Du hast an nichts anderes gedacht als an Rache für Brent, und jetzt hast du damit das Leben eines weiteren An

geln verspielt. Geoff Vanderhavens' freundliches Lächeln trat ungebeten vor ihr inneres Auge, und sie vertrieb es mit einem wilden Kopfschütteln. Noch hingen elf andere Leben von ihr ab. Sie konnte später trauern.

Charlene war klar, daß Marcus die Einheit niemals so unüberlegt in den Kampf geführt hätte. Noch bevor die Stecknadelkopf aufgesetzt hatte, war eine Meldung der I-leaven Sent eingegangen, derzufolge das Schiff gestartet war, wenn auch mit schwer beschädigten Schubtriebwerken. Die Besatzung hoffte, das Gebiet verlassen zu können. Die Räuberkompanie war abgezogen, um die Stecknadelkopf anzugreifen, und sechs weitere BattleMechs waren ihnen aus der Stadt zu Hilfe gekommen. Charlene hatte die Hälfte ihrer zwölf Kampfkolosse am Rand des Vorgebirges gehalten, wo sie von der Stecknadelkopf unterstützt worden waren, die aus geringer Flughöhe auf die anrückenden Mordbanden gefeuert

27 6

277 hatte. Dann hatte Paula - die den Befehl über die sechs anderen BattleMechs führte, die Marcus ihr überlassen hatte - noch eine Räuberkompanie gemeldet, die aus dem Norden anrückte. Paula hatte versucht, in deren Rücken zu kommen, und wurde jetzt schwer zurückgeschlagen.

Charlenes Rachefeldzug hatte sich in ein Katz-undMaus-Spiel zwischen den niedrigen Bergen südwestlich der Stadt verwandelt. Die Mordbanden setzten ihnen von zwei, inzwischen drei Seiten zu. Sie kontrollierten die erhöhten Positionen und trieben die Söldner methodisch vor sich her. Charlene konnte gerade verhindern, daß die Angeli in die zerklüfteten Felsen und Schluchten der Wildnis getrieben wurden, deren verräterisches und unbekanntes Gelände ihr große Sorgen bereitete. Aber davon abgesehen schaffte sie es nicht, die Initiative zurückzugewinnen. Ihr fehlte Marcus' intuitives Verständnis des Schlachtfelds. Sie mußte einfach zu viele Faktoren berücksichtigen.

Zum Beispiel das Fehlen von Luft/Raumunterstützung auf Seiten der Angreifer. Es beunruhigte sie, auch wenn sie nicht daran dachte, sich darüber zu beschweren. Kadett Keppler, der MSK-Pilot, der sie nach Astrokazy begleitet hatte, flog in seinem Sperber Aufklärung und stieß gelegentlich zu einem Tiefflugangriff herab aber das reichte nicht, das Kampfglück zu wenden. Soviel zumindest war Charlene klar. Und sie wußte auch, daß sie etwas tun mußte - und zwar sofort.

Sie öffnete einen Kommkanal. »FlankenLanze, mit Höchstgeschwindigkeit zurückfallen. Neu gruppieren.« Sie gab den Befehl, obwohl sie wußte, wie problematisch er war. FlankenLanze befand sich etwas nördlicher der Wildnis als Charlenes Einheit. Wenn es ihr nicht gelang, sich schnell genug zu lösen und neu zu formieren, saß sie zwischen den eigenen Marianern und denen in der Falle, die Charlene verfolgten. »Wir halten das Tor offen, so lange es möglich ist«, versprach

sie.

»Falke Eins, bitte wiederholen.« Die Funkverbindung filterte den größten Teil der Emotionen aus Paulas Stinune heraus, aber Charlene hörte ihre Verwirrung dennoch. »Ich habe gemeldet, daß Kelsey ausgestiegen sein könnte. Wiederhole, Kelsey lebt noch. Ich brauche Unterstützung, um die Mordbanden zurückzudrängen und sie rauszuholen.« Gegen Ende des Satzes wurde Paulas Stimme schrill, und das machte Charlene ernste Sorgen. Wenn es etwas gab, was sie jetzt ganz und gar nicht gebrauchen konnte, dann war es eine hysterische Flankenführerin. Aber ich kann nicht von ihr erwarten, daß sie das versteht, weil ich normalerweise auch nicht bereit wäre, eine Angeli zurückzulassen. Verdammt sollst du sein, Marcus. Warum bist du nicht hier. »Flanker Eins, wir können uns im Augenblick keine Rettungsaktion leisten. Wir müssen uns sofort zurückziehen. Augenblicklich zum Rendezvouspunkt. Falke Eins Ende.« Sie schaltete auf den Privatkanal zum Landungsschiff. »Stecknadelkopf, wir benötigen sofortige Einschiffung. Suchen Sie den nächstgelegenen Landepunkt und senden Sie ein Peilsignal.«

Noch während sie auf die normalen Kommkanäle zurückschaltete, kreischten die Sensoren, und Charlenes Blick zuckte zur Sichtprojektion hoch, die knapp über ihrem normalen Blickfeld schwebte. Durch die Kompression einer 360°-Sicht in einen 120°-Blickfeld dauerte es ein paar Sekunden, bis sie den feindlichen Mech entdeckt hatte, der sie anvisierte. Es war der Luchs, der über die Kuppe eines nahen Berges kam.

»Den Fehler zu bereuen, wirst du keine Gelegenheit mehr bekommen«, murmelte sie, auch wenn der feindliche Mechpilot sie natürlich nicht hören konnte. Die Sichtprojektion zeigte einen zweiten Angeli und eine MSK-Kriegerin in ihrer Nähe. Wie auf Stichwort drehten alle drei Mechs bei, und ein Feuersturm aus Laserbahnen und Raketen zuckte durch die Luft, gerade als der Mordbube eine LSR-Salve auf Charlenes Feuerfalke abschoß. Sie wurde leicht durchgeschüttelt, als sieben der Raketen in dessen Torso einschlugen und fast eine halbe Tonne Panzerung wegfetzten. Aber der Luchs zahlte einen hohen Preis für seine Tollkühnheit. Seine Position auf einer Bergkuppe machte ihn zu einem leichten Ziel, und Charlenes Feuererwiderung verwüstete seine Frontpanzerung. Den Schaden hätte der Luchs allerdings noch überstehen können, aber dann traf ein mittelschwerer Laserschuß eines der beiden anderen Mechs seinen Kopf und schälte die letzten Reste Panzerung ab, kurz bevor eine Salve AK/2-Granaten durch das Cockpit schlugen.

Der Luchs kippte langsam nach vorne, die Pilotenkanzel war nur noch ein Knäuel zerschmolzenen Stahls und zerbeulter Panzerplatten, und stürzte Kopf voraus ins Tal. Er blieb nicht weit entfernt von Charlenes Feuerfalke liegen. Der Anblick ließ sie erzittern. Die Vernichtung des Luchs-Cockpits erinnerte sie an Brent Karstchows feuriges Ende. »Danke«, sagte sie mechanisch. »Wer immer das war.«

»Gern geschehen, Falke Eins.«

Charlene hatte nicht bemerkt, daß ihr Mikro eingeschaltet gewesen war, aber die ernste Stimme aus dem Funklautsprecher riß sie zurück in die Wirklichkeit. Sie blickte auf den an die rückwärtigen Sensoren gekoppelten Hilfsbildschirm und sah den Mech, der den Luchs abgeschossen hatte. Die in tonnenförmigen Ausläufern endenden Arme und die vorspringende Kugelkanzel machten ihn als Vulkan erkennbar. Einer der MSKBattleMechs - und der einzige unter ihnen, der von einem Mann gesteuert wurde. Sie erinnerte sich nicht an seinen Namen, deshalb wiederholte sie nur ihr >Danke<, während sie über dem gestürzten Mordbuben stand.

Selbst auf dem Rückzug lassen wir uns keine Ber

gungschance entgehen. Sie packte den rechten Arm des Luchs mit der linken Hand des Feuerfalke und riß ihn hoch, benutzte den schweren Laser im rechten Arm, um ihn an der Schulter abzutrennen. Ein mittelschwerer Laser, ein paar Aktivatoren und etwas Panzerung. Dafür hatte sie zwei BattleMechs und das Leben eines Angeli verspielt. Beinahe hätte sie den Arm wieder Weggeworfen, aber das ließ die Söldnerin in ihr nicht

zu. Marcus wäre stolz auf mich, dachte sie und haßte sich

dafür.
»Falke Eins von Stecknadelkopf.« Obwohl die Funk
verbindung zu schlecht war, um feinere Stimmnuancen
zu erkennen, war eine gewisse drängende Hektik nicht
zu überhören. »Wir sind am Boden. Wiederhole, sind
am Boden. Einen Kilometer westlich von Ihrer Position, mit einer Lanze Hegemonie-Mordbanden im Anmarsch.«
Wir sind am Boden konnte viel bedeuten, aber am entsetzten Tonfall des Funkspruchs erkannte Charlene,
was in diesem Fall gemeint war. »Ganz ruhig. Wer
spricht da, und wie ist Ihr Status genau?«
»Richtig. 'schuldigung, Lieutenant Boske.« Es folgte
eine Pause, und als die Stimme sich wieder meldete,
war sie spürbar gefaßter. »Hier 2. Maat Davis. Der Kapitän ist bewußtlos, und der 1. Maat hat mit dem LongTom-Geschütz ausgeholfen und ich weiß nicht, wie es
ihm geht. Wir sind in einem Minenfeld runtergekommen. Schwere Schäden an Landestützen und Hauptantrieb. Hüllenbrüche im gesamten Backbord- und
Heckbereich. Wir sind auf Kurs ins Nirgendwo, Falke
Eins. Und das verdammt schnell.«

Und ich habe die letzte Möglichkeit verloren. Charlene

 

betrachtete die topographische Karte auf dem Zweit

 

monitor. Sie haben uns ganz bewußt in diese Richtung ge

trieben, erkannte sie. Hier wurde das Gelände höchst unsicher, voller enger Schluchten, scharfer Klippen und seltener freier Stellen wie der, für die sich die Stecknadelkopfentschieden haben mußte. Ein idealer Platzfür ein Minenfeld, weil sie genau vorhersagen können, wohin wir gehen. Die Mordbanden haben aus unserem Donner-LSREinsatz gegen sie gelernt.

Wir können sie nicht stellen. Und wir können nicht entkommen. Jedenfalls nicht als Einheit. Charlene öffnete eine Verbindung zu den Angeli. Obwohl das Cockpit des Feuerfalke einer Sauna glich, fröstelte sie. Ich muß retten, was ich kann. »Alle Einheiten von Falke Eins. Der Code ist Luzifer Sieben.«

Ihre Stimme war schwach, und ihre Kehle trocken und wie zugeschnürt, als sie ihren Leuten den letzten Befehl gab. Ein Luzifer-Code kennzeichnete eine hoffnungslose Lage. Er war zuletzt benutzt worden, als sie über sieben Jahre zuvor auf Labrea von den Nebelpardem in die Flucht geschlagen worden waren. Luzifer Sieben bedeutete, daß auch eine Evakuierung nicht garantiert war. Daher war von nun an jeder der Söldner auf sich gestellt. Sie würden fliehen, wie immer es sich anbot, in der Hoffnung, sich später irgendwo neu gruppieren zu können. Charlene wußte, daß es keine andere Wahl mehr gab, aber das machte es nicht einfacher.

»Ich wiederhole. Luzifer Sieben. Die Stecknadelkopf ist ausgefallen und die Heaven Sent beschädigt. Südlich gelegene Berge in der Nähe der Wildnis sind möglicherweise vermint. Was das angeht, die Wildnis wahrscheinlich auch. Benutzt euren Verstand.«

Es mußte noch mehr geben, was sie tun konnte. Für eine derartige Situation ließ sich nur schwer eine Vorgehensweise planen, also waren Entscheidungen vor Ort gefordert. Charlene dachte wie besessen nach. An ihren um die Steuerknüppel des Feuerfalke gelegten Händen standen die Knöchel weiß hervor. »Stecknadelkopf-Crew verläßt mit allen verfügbaren Fahrzeugen das Schiff. Nehmt mit, was immer ihr könnt, aber haltet euch nicht so lange auf, daß die Mordbanden euch auseinandernehmen. Alle BattleMechs formen soweit möglich Paare. Bleibt in Zweiergruppen. Flieht in die Wüste, aber nicht direkt nach Süden. Und versucht nicht, mit irgend jemandem sonst in Kontakt zu bleiben! Wenn wir zusammen bleiben, können die Mordbanden uns alle erledigen. Wenn wir uns verteilen ... « Sie verstummte. Wenn wir uns verteilen, werden einige einige wenige - es nicht überleben, beendete sie den Satz in Gedanken. »Geht den Räubern um jeden Preis aus dem Weg.« Was noch?

»Keppler, Sie fliegen Aufklärung für jeden, der es verlangt. Danach sehen Sie zu, daß Sie so schnell es geht zurück zum Sprungschiff kommen. Erstatten Sie im Magistrat Meldung.« Sie gab ihrer Stimme einen überzeugten Klang. Gib ihnen Hoffnung. »Wir sind noch nicht am Ende, Angeli. Macht euch davon. Wartet ein paar Tage, dann versucht, Hilfe zu finden. Die Nomadenkrieger könnten uns aufnehmen oder auch nicht. Die Heaven Sent könnte uns abholen. Bis dahin, haltet euch bedeckt.«

»Wir sind verstoßene Engel«, flüsterte sie. »Aber wir können immer noch auf die Erlösung hoffen.«