In den nächsten Tagen saß ich nachmittags meist zu Hause, um zu lernen. Wir mussten jetzt ziemlich viel für die Schule tun. Die Schonzeit für uns Neulinge schien bereits vorbei zu sein. Einige Lehrer hatten sogar schon die ersten Klassenarbeiten angekündigt.
»Wenn ich in der Bioklausur die vier Mägen der Kuh beschreiben soll, kriege ich einen Schreikrampf«, prophezeite ich Sissi und Emma.
»Keine Sorge«, unkte Sissi, »so leicht wird Herr Dickefett es uns bestimmt nicht machen.«
Ich stöhnte. »Bio ist ja nur der Anfang! Nächste Woche schreiben wir dann auch noch die Mathearbeit.«
»Och, was wir zurzeit in Mathe machen, hab ich einigermaßen verstanden«, sagte Emma eifrig. »Wenn du willst, erkläre ich es dir, Diana!«
Ich stieß Emma in die Seite. »Gib zu, Prinzessin: Du willst dir doch nur auf leichte Weise eine gute Tat verdienen!«
»Ph... das habe ich gar nicht nötig«, gab Emma mit erhobener Nase zurück. »Ich habe nämlich gestern Frau Blümlein ihre Torte gebracht. Weil Sissi nicht konnte.«
»Soso«, sagte ich. »Und wie machen sich unsere Balkonblumen?«
Emma strahlte vor Stolz. »Sehen super aus! Frau Blümlein hat mir übrigens erzählt, dass ihr Sohn Bernd unsere Aktion auch ganz toll fand.«
»Sag bloß, er hat seine Mutter inzwischen mal besucht?«, fragte Sissi ungläubig.
Emma schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht! Frau Blümlein hat ihm am Telefon davon erzählt. - Aber anscheinend hat er sie ins Theater eingeladen! Nächsten Mittwoch will Bernd Blümlein seine Mutter in den ›Sommernachtstraum‹ führen. Ihr könnt euch vorstellen, wie sehr sie sich darauf freut...!«
»Schafft sie das denn mit ihrem Bein?«, fragte ich zweifelnd.
»Klar«, meinte Emma. »Ihr Sohn holt sie mit dem Auto ab und bringt sie anschließend wieder nach Hause.«
»Vielleicht haben wir ihm ja unrecht getan. Und er ist doch nicht so eine Schnarchnase«, überlegte Sissi.
»Abwarten«, sagte ich skeptisch. Eine einzige Theatereinladung reichte mir noch nicht aus, um meine Meinung über Frau Blümleins wunderbaren hochbeschäftigten Sohn nachhaltig zu ändern. Da musste schon ein bisschen mehr passieren …
»Was willst du eigentlich an deinem Geburtstag machen, Sissi?«, warf Emma etwas unvermittelt ein. »Es sind ja nur noch zehn Tage bis dahin, oder?«
Sissi nickte und schob ihr Haarband zurecht. Emma und ich beugten uns erwartungsvoll vor.
»Ehrlich gesagt, ich hab noch keinen blassen Schimmer!«
Passend zu dem Haarband trug Sissi eine eng anliegende bestickte Weste aus weinrotem Samt. Wieder einmal wirkte ihr Outfit gleichzeitig altmodisch und total »hip«. Ich seufzte. Neben Sissi hatte ich immer das Gefühl, total langweilig auszusehen. Andererseits wusste ich ganz genau, dass ich selber gar nicht den Mut hätte, mit so auffallenden Klamotten herumzulaufen. Aber Sissi schien es überhaupt nichts auszumachen, wenn sie verwundert angestarrt wurde.
»Wie wär’s denn mit einer Übernachtungsparty?«, schlug ich vor.
»In meinem kleinen Kämmerchen?« Sissi zog eine Grimasse. »Und nebenan die drei Nervzwerge? Wie soll das denn gehen?«
»Okay«, gab ich zu. »Keine gute Idee! - Also sag lieber mal, was wir dir schenken sollen! Hast du einen Wunsch?«
Sissi lächelte. »Euer Geschenk habe ich doch schon: den Prinzessinnenclub! An meinem Geburtstag ist unsere vereinbarte Zeit vorbei. Vier Wochen hattet ihr mir versprochen!«
»Und dann?«, fragte Emma besorgt. »Was machen wir danach?«
Sissi zuckte die Achseln. »Dann entscheiden wir drei Prinzessinnen, ob wir weitermachen wollen.«
»Komisch, an unsere Regeln habe ich mich inzwischen richtig gewöhnt«, sagte ich und begann aufzuzählen: »Also, ich finde, ich drücke mich mittlerweile ziemlich gewählt aus -«
»Ach, tatsächlich?«, grinste Sissi.
»Ich sage die Wahrheit«, fuhr ich ungerührt fort.
Emma zog die Augenbrauen hoch.
»Okay«, gab ich zu, »ich sage meistens die Wahrheit. - Was noch?« Ich überlegte. »Ach ja, ich bin eine sehr zuverlässige Freundin.«
Emma und Sissi nickten eifrig.
»Und das mit unseren guten Taten klappt doch inzwischen auch, findet ihr nicht? Und zwar nicht nur wegen unserem Einsatz für Frau Blümlein.«
Tatsächlich hatten wir alle drei festgestellt, dass sich in den letzten Wochen etwas verändert hatte. Wir erkannten inzwischen viel schneller, wenn jemand Hilfe oder Unterstützung brauchte, und wir waren insgesamt, ja, aufmerksamer als früher. Klar, meistens waren unsere »guten Taten« nur kleine Gesten. Wir hoben ein heruntergefallenes Spielzeug auf, sammelten herumliegenden Müll ein, ließen eine Mutter mit einem quengelnden Kleinkind an der Kasse vor oder erklärten Kevins Tischnachbarn Jannis, der in Mathe noch weniger schnallte als Sissi und ich, eine Algebraformel. Aber egal was es war. Es erzeugte fast immer ein gutes Gefühl im Bauch.
»Nur dass wir kein klitzekleines bisschen lästern dürfen«, seufzte ich. »Das ist wirrrrrklich schade!«
»Hmm... wir könnten uns ja eine kleine Ausnahmeregel überlegen«, schlug Sissi vor, »für besondere Fälle.«
»Gute Idee«, nickte Emma.
»Sehr gute Idee«, bekräftigte ich.
 
Zwei Tage später trafen wir uns bei Sissi, um gemeinsam für die bevorstehende Mathearbeit zu üben. Emma hatte als Einzige von uns drei Prinzessinnen begriffen, wie man ein gleichschenkliges Dreieck im Koordinatenkreuz spiegelte, und großzügig angeboten, Sissi und mir auf die Sprünge zu helfen.
»Ihr müsst aber zu mir kommen«, hatte Sissi gesagt. »Ferdi ist immer noch krank. Ich kann ihn nicht den ganzen Nachmittag alleine lassen.«
Während die Zwillinge Mats und Tilda sich schnell von ihren Windpocken erholt hatten und schon wieder in den Kindergarten gingen, sah der arme Ferdi weiterhin aus wie ein Streuselkuchen und kratzte jammernd an seinen grässlich juckenden roten Pusteln herum.
»Natürlich langweilt er sich zu Tode«, hatte Sissi uns stöhnend erzählt. »Deswegen ruft er alle zwei Minuten nach mir! Ich schwöre euch: Ich werde noch wahnsinnig!«
Emma hatte Ferdi eine gelbe Wasserpistole mitgebracht und damit anscheinend genau seinen Geschmack getroffen. »Super Teil«, rief er begeistert, »die probiere ich gleich aus!«
»Oh nein, das lässt du schön bleiben!«, bestimmte Sissi. »Wenn du hier alles nass machst und wir dein Bett neu beziehen müssen, flippt Mama aus!«
»War wohl doch keine so tolle Idee von mir, Ferdi ausgerechnet eine Wasserpistole zu schenken«, meinte Emma zerknirscht.
»Mach dir bloß keine Gedanken«, winkte Sissi ab. »Bei uns ist doch sowieso immer Chaos! Darauf kommt’s auch nicht mehr an.« Sie schloss die Tür zu Ferdis Zimmer. »Kommt mit, wir setzen uns in die Küche.«
Wir breiteten gerade unsere Mathesachen aus, als im Treppenhaus schnelle Schritte zu hören waren.
Sissi wandte sich überrascht um. »Oh, hallo, Mama, was machst du denn hier?«
»Na, das ist ja eine Begrüßung...!« Frau Lilienthal strich Sissi flüchtig übers Haar. »Ich wollte nur mal rasch nach Ferdi sehen. Aber so lerne ich endlich auch deine neuen Freundinnen kennen.« Sie reichte Emma und mir lächelnd die Hand. »Hallo, ihr beiden!«
Ich fand Sissis Mutter sehr hübsch. Sie wirkte so klein und zierlich, irgendwie konnte man sich gar nicht vorstellen, dass sie vier Kinder hatte. Mit einer ungeduldigen Handbewegung strich sie sich eine Locke aus der Stirn. »Habt ihr alles, was ihr braucht? Oder soll ich euch noch ein bisschen Obst hinstellen?«
»Kein Problem, wir bedienen uns schon selber«, sagte Sissi.
»Gut.« Sissis Mutter schien zu überlegen, was noch zu erledigen war. Ich kannte diesen Blick. Mama hatte ihn auch oft, vor allem an hektischen Tagen.
»Übrigens, Sissi, zu Frau Blümlein brauchst du heute nicht zu gehen!«
»Oh, bringt ihr jemand anders ihren Kuchen?«, erkundigte sich Emma.
»Vielleicht ja Frau Puppel?« Ich wusste selbst nicht, wieso mir dieser Satz rausgerutscht war. Völlig unsinnig! Schließlich hatte Frau Blümlein keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ihre frühere Freundin wohl kaum um einen Gefallen bitten würde.
Auch Sissis Mutter blickte mich verwundert an. »Meinst du ihre Nachbarin? - Nein, Frau Puppel ganz bestimmt nicht! Ich glaube, die beiden sind noch immer heillos zerstritten.«
Aha, Frau Lilienthal wusste also über den Streit Bescheid!
»Wissen Sie eigentlich, was zwischen den beiden passiert ist?«, erkundigte ich mich.
»Also wirklich, Diana!« Emma puffte mich vorwurfsvoll in die Seite. »Jetzt sei doch nicht wieder so schrecklich neugierig.«
Aber Sissis Mutter zwinkerte mir zu. »Ich kann schon verstehen, dass euch das interessiert...«
»Kennen Sie denn den Grund für den Streit?« Plötzlich war ich richtig aufgeregt.
Sissis Mutter warf einen Blick auf ihre Uhr. »Eigentlich hab ich ja gar keine Zeit, aber gut...!« Sie setzte sich zu Sissi auf die Bank. »Du kennst die Geschichte auch nicht, oder?«
»Nein.« Sissi schüttelte ungeduldig den Kopf. »Erzähl!«
»Also«, begann Sissis Mutter, »es ist einige Zeit her, da kamen Frau Puppel und Frau Blümlein jede Woche ein- oder zweimal zu uns ins Café Lilienthal. Sie saßen immer am selben Tisch, tranken Tee, aßen Torte und manchmal spielten sie auch zusammen Rommé. Ich hatte den Eindruck, dass die beiden sich sehr gut verstanden, beste Freundinnen eben.« Sissis Mutter machte eine kleine Pause. »Eines Tages saß plötzlich ein älterer Herr am Tisch der beiden Damen. Die drei amüsierten sich bestens. Es wurde gelacht und geplaudert, Sherry getrunken... und seitdem war dieser Mann immer dabei. - Ich muss sagen, er sah gut aus: groß und stattlich, gut angezogen, volles graues Haar...« Sissis Mutter lächelte. »Ich habe die drei oft beobachtet, weil die beiden älteren Damen so sichtlich aufblühten. Sie trugen plötzlich schickere Kleider, mehr Make-up, sie sprachen lauter, lachten häufiger... Na ja, die üblichen Anzeichen.«
»Anzeichen wofür?«, unterbrach Emma verwirrt.
Ich stöhnte auf. »Mensch, Emma! Dafür dass Frau Blümlein und Frau Puppel sich in den Typ verknallt hatten, ist doch klar!«
Sissis Mutter nickte. »Es war tatsächlich ganz offensichtlich, dass der charmante ältere Herr beiden Damen sehr gut gefiel - und das wurde wohl mit der Zeit zum Problem.« Sissis Mutter trank einen Schluck Wasser. »Einmal, als ihr Begleiter früher gegangen war, hörte ich zufällig, dass Frau Blümlein und Frau Puppel richtig miteinander stritten. Jede warf der anderen vor, den alten Herrn zu ›umgarnen‹ und ihn für sich allein haben zu wollen.«
Sissis Mutter unterbrach sich und blickte uns fragend an. »Versteht ihr? Es war ein richtiges Eifersuchtsdrama!«
»Aber Frau Blümlein und Frau Puppel sind doch schon so alt!«, wandte ich verblüfft ein.
Sissis Mutter lachte. »Denkst du etwa, wenn man älter ist, kann man sich nicht mehr verlieben? Und nicht mehr eifersüchtig sein?«
»Doch schon.« Ich überlegte. »Aber so doll, dass man sich mit seiner allerbesten Freundin streitet...? Hmm!«
»Jedenfalls ist die Freundschaft der beiden alten Damen offensichtlich daran zerbrochen«, fuhr Sissis Mutter fort. »Nach diesem Streit sind sie nie mehr zusammen ins Café gekommen. - Einoder zweimal habe ich Frau Puppel dann allein mit dem Herrn gesehen, aber danach...«
»Also hat er sich für Frau Puppel und gegen Frau Blümlein entschieden?«, fragte Sissi empört.
Ihre Mutter nickte. »Ja, so sah es aus.«
»Die arme Frau Blümlein«, seufzte Emma mitleidig.
»Ihrer früheren Freundin erging es aber auch nicht viel besser«, berichtete Sissis Mutter. »Einige Wochen später sah ich den charmanten Herrn mit der nächsten älteren Dame flirten. Anscheinend hatte er Frau Puppel ziemlich schnell abserviert...«
»So ein Schuft!«, rief ich wütend. »Erst macht er die Freundschaft der beiden Frauen kaputt. Und dann ist er noch nicht mal treu, sondern zieht sich gleich die Nächste an Land!«
»Gemein, nicht wahr...?« Sissis Mutter erhob sich und lächelte uns zu. »So, jetzt muss ich aber wirklich nach Ferdi sehen und dann schnell wieder runter ins Café!«
»Moment noch!«, bat ich. »Wie lange ist das Ganze eigentlich her?«
Sissis Mutter war schon an der Tür. »Oh, bestimmt schon fünf oder sechs Jahre!«
»Was? So lange sind die beiden schon zerstritten?«, fragte ich erschrocken.
Sissis Mutter nickte. »Ja. Schade um die schöne Freundschaft! Besonders jetzt, wo Frau Blümlein kaum noch aus dem Haus geht... Tja, manchmal können die Menschen ganz schön unversöhnlich sein. - Und nun seid schön fleißig, ja?«
Die Tür schloss sich hinter ihr.
Einen Moment lang schwiegen wir, dann sagte Emma leise: »Was für eine traurige Geschichte!«
»Komisch, dass Mama mir noch nie davon erzählt hat!«, meinte Sissi. »Aber als das Ganze passiert ist, da war ich ja erst... Moment«, sie rechnete, »sechs oder sieben Jahre alt. - Arme Frau Blümlein. Zu dumm, dass man da gar nichts machen kann...«
Ich holte tief Luft und sah meine beiden Freundinnen streng an. »Sagt mal, habt ihr eigentlich ganz vergessen, wer wir drei sind?«
Emma und Sissi wechselten einen Blick.
»Prinzessinnen?«, fragte Emma schließlich vorsichtig.
»Richtig.« Ich nickte. »Und was haben Prinzessinnen für eine Aufgabe?«
»Gutes tun?«, versuchte es Sissi.
Ich nickte wieder. »Also, worauf warten wir noch?«
 
»Ganz so schnell ging es ja dann doch nicht«, erinnert sich Emma.
»Stimmt«, bestätigt Sissi, »aber nur, weil Diana die Geschichte ihrer Mutter erzählt hat, die natürlich prompt meinte, dass wir uns da keinesfalls einmischen sollten.«
»Erwachsene wollen ja nie, dass Kinder sich in ihre Angelegenheiten mischen«, sagt Emma.
Ich grinse. »Nur gut, dass wir uns da nicht immer dran halten...«