Nachdem Herr Dr. Knüsen seine Rede beendet hatte, trat das Schulorchester auf die Bühne und fiedelte uns zwei schwungvolle Stücke. - Also hätte Nele auch hier Gelegenheit gehabt, ihre geliebte Altflöte zu spielen! Ich biss mir auf die Lippen. Ach, warum konnte ich nicht damit aufhören, mir auszumalen, wie dieser Neuanfang mit Nele zusammen gewesen wäre...?!
Dann rief Herr Dr. Knüsen die Klassenlehrer der zukünftigen 5. Klassen auf die Bühne. Ich blickte gespannt nach vorn. Ob ich Glück hatte und in einer netten Klasse landete? Das hatte ich mir doch wohl verdient, wenn ich hier schon ohne Nele antreten musste...!
Als Erste trat eine sympathisch wirkende Lehrerin vor, die uns als Hilke Hasemann vorgestellt worden war. Sie sollte die Klasse 5a unterrichten. Frau Hasemann lächelte freundlich in den Saal, dann zückte sie eine Liste und begann, die Namen ihrer künftigen Schüler der Reihe nach vorzulesen.
»Diana Bartok, kommst du bitte zu mir?«
Klar, ich musste mal wieder den Anfang machen! Wer einen Nachnamen mit B trägt, muss ja fast immer als Erster dran glauben! Aber zumindest konnte ich so meine neue Klassenlehrerin gleich aus der Nähe betrachten. Frau Hasemann war mittelgroß, mittelschlank, mittelalt und mittelblond. Zugegeben, sie war bei Weitem nicht so wunderschön wie Annabelle Happen, meine Grundschullehrerin! Aber das war auch fast unmöglich. Die hatte nämlich immer ausgesehen, als sei sie gerade einem Märchenfilm entsprungen: jung, blond, blauäugig, mit lustigen Grübchen, den weißesten Zähnen, die man sich nur vorstellen kann, und einem stets strahlenden Lächeln. ALLE, wirklich alle Kinder in der Grundschule, hatten davon geträumt, von ihr unterrichtet zu werden. Nele und ich waren vier Jahre lang ultrastolz gewesen, dass diese Märchenfee UNSERE Klassenlehrerin war. Zur ausgleichenden Gerechtigkeit wurde unsere Klasse in Mathe und Sport von der schmallippigen, griesgrämigen Frau Dürrkopf unterrichtet. Puh, der Wechsel von Frau Happen zu Frau Dürrkopf fühlte sich jedes Mal so an, als würde man aus angenehm warmem Badewasser gezogen und direkt unter eine eiskalte Dusche gestellt...! Brrrrhhh! Mama und Papa nannten meine beiden gegensätzlichen Lehrerinnen »die Schöne und das Biest«. Aber immer nur dann, wenn sie dachten, ich bekäme es nicht mit. Wahrscheinlich fürchtete Mama, dass ich meinen Lehrerinnen ihre Spitznamen bei nächstbester Gelegenheit auf die Nase binden und damit meine kostbare Gymnasialempfehlung gefährden könnte.
Als ob ich mich so blöde verquatschen würde. Na ja, Eltern eben …
Frau Hasemann war noch immer eifrig dabei, ihre neuen Schäfchen nach und nach zu sich auf die Bühne zu rufen.
Schon rund ein Dutzend Mädchen und Jungen standen inzwischen neben mir. Darunter Serena aus meiner alten Klasse. Auch Kevin, das blondierte Nashorn, würde mir die nächsten Jahre nicht erspart bleiben.
»Severine Amalie Lilienthal«, las Frau Hasemann gerade langsam und deutlich vor. Dabei blickte sie suchend in den Saal. »Kommst du bitte zu uns, Severine?«
Hier und da wurde gekichert. Und alle reckten neugierig den Hals. Klar, jeder wollte sehen, wer mit einem derartig gruseligen Namen geschlagen war! Auch ich sah mich um. Aber irgendwie ahnte ich, dass dieser Name dem Mädchen mit den altmodischen Kleidern und den rotbraunen Locken gehören würde. Ihr Nachname hatte einen schönen Klang: Lilienthal... Aber Severine Amalie!!?? Himmel, was hatten sich ihre Eltern nur dabei gedacht? - Das war ja reinste Körperverletzung!
Inzwischen war Severine Amalie Lilienthal aufgestanden, sie ignorierte das Kichern um sich herum und stolzierte mit sehr geradem Rücken, und ohne einmal nach rechts oder links zu schauen, nach vorn. Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht: Severine Lilienthal war tatsächlich das Mädchen mit den braunen Locken!
Als Frau Hasemann ihr zur Begrüßung die Hand reichte, sagte sie laut und deutlich: »Nicht Severine, bitte, sondern Sissi!«
Frau Hasemann nickte lächelnd. »Willkommen in der Klasse 5a, Sissi!«
Wie selbstverständlich stellte Sissi sich neben mich und fragte leise: »Und wie heißt du?«
»Diana«, flüsterte ich zurück. »Schön, dass wir in einer Klasse sind!«
»Finde ich auch.«
Endlich schien die 5a vollzählig zu sein. Frau Hasemann faltete ihre Liste wieder zusammen und wir winkten unseren Eltern einen Abschiedsgruß zu. Dann folgten wir unserer neuen Klassenlehrerin treppauf, treppab, quer durch die Pausenhalle und durch lange Flure zu unserem neuen Klassenzimmer. Ich versuchte, an Sissis Seite zu bleiben und mir den Weg einzuprägen. Ob ich mich hier je zurechtfinden würde? Alles war so viel größer als in der Grundschule! - Aber unser Klassenraum gefiel mir sofort: ein heller gelb gestrichener Raum mit großen Fenstern und einem bunten Türbogen. Schnell besetzten Sissi und ich einen Tisch am Fenster. Während die anderen noch um gute Plätze rangelten, teilte Frau Hasemann bereits unsere Stundenpläne aus. Ich warf einen Blick darauf. Auweia, ab sofort würden wir jeden Tag mindestens sechs, oft sogar sieben Stunden Unterricht haben. - Frau Hasemann selber würde uns in Geschichte und Deutsch unterrichten. Endlich Geschichte! Ich fand es schon immer wahnsinnig spannend zu erfahren, wie Leute früher gelebt haben. Also, der Geschichtsunterricht bei Frau Hasemann würde mir sicher gefallen! Na, und Deutsch mochte ich sowieso!
Ich bin nämlich ein Bücherwurm! Ich lese total gerne! Vor allem vorm Einschlafen. Und hin und wieder denke ich mir sogar selber Geschichten aus, die ich dann Mama und Papa vorlese. Manchmal auch Nele.
»Im Deutschunterricht werden wir uns im ersten Halbjahr mit Märchen beschäftigen«, erklärte Frau Hasemann gerade. »Das ist ja sicher ein Gebiet, auf dem sich viele von euch schon recht gut auskennen.«
»Waaas? Märchen?«, blökte Kevin entsetzt los. »So einen Mist-Babykram machen wir in der 5. Klasse?«
»Es wäre schön, wenn du dich künftig melden würdest, anstatt einfach in die Klasse zu rufen«, sagte Frau Hasemann. »Und in der Tat sind Märchen Lehrstoff der 5. Klassen!«
»Au, Mann«, ächzte Kevin. »Das kann ja heiter werden! Nur so öde Geschichten mit Schlössern und bekloppten Prinzessinnen, die ihre goldenen Kugeln irgendwo reinplumpsen lassen und dann ewig rumjammern.«
Frau Hasemann lächelte geduldig. »Siehst du, und genau deswegen beschäftigen wir uns mit Märchen: Damit ihr seht, wie vielfältig die Welt der Märchen ist. Es gibt da nämlich keineswegs nur Geschichten von Prinzen und Prinzessinnen.«
»Aber die behandeln wir doch auch, oder?«, fragte eine zaghafte Stimme.
Ich drehte mich zu der Sprecherin um. Oh, das Mädchen mit dem Pagenkopf, dem Trägerkleid und den Klammer-Eltern! Das während der Feier vor mir gesessen hatte!
Seltsam, ich hatte bis eben gar nicht gemerkt, dass sie auch in meiner Klasse gelandet war. Anscheinend stand sie auf Prinzessinnengeschichten und gab das sogar öffentlich zu.
Die hatte ja Nerven...! Ich selber liebte »Dornröschen« und »Schneewittchen« zwar auch. (Die hatte ich schon hundertmal gelesen oder mir von Mama oder Papa vorlesen lassen.) Aber bevor ich damit rausplatzen würde - und dann noch vor all den Jungs hier -, da würde ich mir eher die Zunge abbeißen!
Frau Hasemann lächelte dem Pagenkopf-Mädchen zu. »Keine Sorge, Emma! Natürlich werden wir auch wieder die klassischen deutschen Märchen der Brüder Grimm behandeln!«
Die Angesprochene nickte erfreut und senkte dann schnell den Kopf. Ich betrachtete sie nachdenklich. Emma… soso, das Pagenkopf-Mädchen hieß also Emma! Wieso hatte sich Frau Hasemann nur so schnell ihren Namen merken können?
Das war ja merkwürdig! Oder kannte sie sie schon vorher? Klar, vielleicht hatte diese Emma ja einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester hier an der Schule. Aber... Moment, hatte Frau Hasemann nicht eben gesagt: Diese Märchen werden wir auch »wieder« behandeln? Machte Emma die Klasse etwa zum zweiten Mal?
Aber Papa hatte mir doch versichert, dass in der 5. Klasse so gut wie niemand hängen bleiben würde, weil wir uns ja erst mal an all die neuen Mitschüler, die neuen Fächer und Lehrer gewöhnen müssten.
Oje, jetzt hatte ich Frau Hasemann überhaupt nicht richtig zugehört! So ein Mist, anscheinend hatte ich gerade irgendeine wichtige Ankündigung verpasst!
»... sollt ihr euch also ein Märchen aussuchen, das ihr dann in der Gruppe, also zu zweit oder zu dritt, bearbeitet, um es anschließend hier in der Klasse vorzustellen«, sagte Frau Hasemann und blickte erwartungsvoll in die Runde. »Na, gibt es schon jemand, der weiß, welches Märchen er gern übernehmen möchte? - Ein Lieblingsmärchen habt ihr doch bestimmt alle. - »Ja, du?« Die Überraschung in Frau Hasemanns Stimme über Kevins unverhoffte Wortmeldung war nicht zu überhören. »Welches Märchen möchtest du uns denn vorstellen?«
»Superman«, sagte Kevin. Und er sagte es so knapp und cool, als würde er gleich selbst zum Fenster rausflattern, um mal eben schnell die Welt zu retten.
»Superman ist leider keine Märchen-, sondern eine Comicfigur«, erklärte Frau Hasemann.
»Hä? Wieso denn nicht?«, fragte Kevin. »Da gibt’s doch einen Superhelden und es passieren lauter verrückte, unmögliche Sachen! Wie im Märchen.«
»Das stimmt schon«, sagte Frau Hasemann geduldig. »Sicher weist Superman viele märchenhafte Elemente auf, aber es ist nun mal kein -«
»Okay, dann nehm ich eben ›Spiderman‹«, sagte Kevin.
Frau Hasemann seufzte.
»Ich würde gerne ›Die Prinzessin auf der Erbse‹ vorstellen«, sagte Sissi, ohne Kevin auch nur im Geringsten zu beachten. »Machst du mit, Diana?«
Ich blickte sie unschlüssig an. Klar, ich hatte große Lust, mit Sissi zusammenzuarbeiten. So würden wir uns schnell besser kennenlernen. Aber »Die Prinzessin auf der Erbse« war meiner Meinung nach das bekloppteste Märchen überhaupt! Als Oma mir die Geschichte zum ersten Mal vorgelesen hat, hab ich kein Wort davon kapiert. Was soll so toll daran sein, durch zwanzig Matratzen hindurch eine minikleine Erbse zu fühlen und davon jede Menge blaue Flecke zu kriegen? Ich habe bis heute nicht begriffen, wieso eine solche Anstellerei beweist, dass jemand eine »echte« Prinzessin ist! Ich meine, das beweist doch höchstens, dass so jemand nie im Leben campen gehen könnte und schon ein harmloses Frühstück im Bett lebensgefährlich wäre. Wegen der spitzen Krümel! Die würden einem ja die ganze Haut aufreißen, wenn man so empfindlich wäre.
Sissi stieß mich leicht in die Seite. »Nun sag schon Ja, Diana!«
Na gut, weil sie es war. Ich wollte Sissi wirklich gern zur Freundin haben. Also nickte ich. »Okay, dann mache ich mit Sissi ›Die Prinzessin auf der Erbse‹.«
»Prima«, freute sich Frau Hasemann. »Dann haben wir ja unser erstes Team beisammen.«
Plötzlich ging am Tisch nebenan ein Finger hoch.
»Ich... äh... also, ich würde da auch gerne mitmachen! Bei der ›Prinzessin auf der Erbse‹.«
Emma. Das blasse Pagenkopf-Mädchen wollte mit uns zusammenarbeiten! Irgendwie war ich nicht mal überrascht.
Sissi musterte Emma kritisch. Es war klar, dass sie nicht sonderlich scharf darauf war, ein weiteres Gruppenmitglied aufzunehmen. Und schon gar kein Gruppenmitglied wie Emma. Für einen Moment entstand ein peinliches Schweigen.
Dann setzte Emma zögernd hinzu: »A-a-aber natürlich nur, wenn die beiden anderen einverstanden sind.«
Sie errötete.
Ich sah Emmas flehenden, unsicheren Blick und hatte plötzlich ein ganz schlechtes Gewissen. Wenn Emma wirklich sitzen geblieben war, fühlte sie sich heute wahrscheinlich sowieso nicht allzu toll. Und ihre Klammer-Eltern hatte sie sich schließlich auch nicht selber ausgesucht!
Ich stieß Sissi warnend in die Seite, bevor ich Emma aufmunternd zulächelte. »Also, ich würde mich freuen, wenn du bei uns mitmachst!«
Da strahlten Emmas Augen wie kleine Sterne.
 
»Haben meine Augen wirklich so gestrahlt?«, fragt Emma mich leise.
Nachdem sie meine letzten Seiten mit sichtlichem Unbehagen gelesen hat, lächelt sie nun. Puh, zum Glück! Ich hatte insgeheim schon befürchtet, dass Emma mich im Namen unserer Prinzessinnenfreundschaft zwingen würde, den Abschnitt über sie (und vor allem den über ihre Eltern) zu streichen.
Ich lasse mich neben Emma aufs Sofa fallen und lege meinen Kopf an ihre Schulter. Emma hat weiche, runde Schultern. Da kann man sich schön anschmiegen. Dann sage ich: »Ja, deine Augen haben wirklich geleuchtet wie Sterne! Ich erinnere mich genau daran, weil ich in dem Augenblick wusste, dass wir Freundinnen werden würden.«
»Ich auch«, mischt sich Sissi jetzt eifrig ein. »Ich wusste es auch.«
»Quatsch«, sagt Emma ungewohnt grob. »Wenn es nach dir gegangen wäre, hätte ich bei Kevins Superman-Referat mitmachen können. - Du wolltest Diana für dich alleine haben.«
»Stimmt ja gar nicht«, ruft Sissi wütend aus.
»Stimmt ja wohl«, gibt Emma ruhig zurück.
Und Sissi widerspricht ihr nicht mehr.