5. Buch

Die Gefangene

121. Di, 21.11., Berlin

Auch daß der Drucker sozusagen »Kanon« heißt, ist eigentlich ein gutes Zeichen.

Die Gefangene, S. 5–25

Ein neuer Band, offenbar hat sich die wirtschaftliche Lage der DDR damals verschlechtert, denn das Papier ist etwas grauer und grober geworden. Ich bin ein wenig mutlos, wenn es jetzt nur noch um Marcels Eifersucht auf Albertine geht, wäre das für mich im Moment nicht die richtige Lektüre.

Er ist zurück aus Balbec, die Mutter ist für ein paar Wochen nach Combray gefahren, und Albertine hat ein Zimmer in der Wohnung von Marcels Eltern bezogen, wo sie »jeden Abend sehr spät, bevor sie mich verließ, noch ihre Zunge in meinen Mund schob wie das tägliche Brot, eine stärkende Nahrung«. Am Morgen hört er sie schon durch die dünne Badezimmerwand, sofern er denn aufsteht: »Zu andern Malen blieb ich auch liegen und träumte, solange ich wollte, denn ich hatte angeordnet, daß niemand in mein Zimmer kommen dürfe, bevor ich geläutet hätte; das aber dauerte, weil die elektrische Klingel über meinem Bett recht unbequem angebracht war, oft so lange, daß ich, müde, nach ihr zu tasten, und ganz zufrieden, allein zu sein, fast wieder eingeschlummert noch ein paar weitere Minuten liegenblieb.« Zu faul, nach der Klingel zu tasten, die den Diener herbeiruft. Was soll ich da sagen? Ich muß mich ja sogar alleine anziehen, sogar die Socken.

Er wird immer noch nicht müde, sein Desinteresse an Albertine zu betonen, »die ich übrigens kaum noch hübsch fand, bei der ich mich langweilte und die ich im Grunde nicht mehr liebte, wie ich deutlich empfand«. Der für einen Menschen wie Marcel sicher prekäre Zustand ehelichen Zusammenlebens wird also in der Wohnung der Eltern erprobt. »Ihr etwas unbequemer Charme bestand darin, im Hause nicht eigentlich wie ein junges Mädchen, sondern eher wie ein Haustier anwesend zu sein, das in ein Zimmer eintritt und es wieder verläßt, sich überall befindet, wo es nicht erwartet wird.« Sie stört, sieht häßlich aus und ist auch noch geistig unter seinem Niveau. Was reizt ihn an Albertine, die »ungeachtet törichter Sprachgewohnheiten, die sie noch beibehielt, sich doch erstaunlich entwickelt hatte. […] Es war mir an sich völlig gleichgültig, denn überlegene geistige Qualitäten haben mich bei einer Frau immer sehr wenig interessiert«.

Bewußtseinserweiterndes Bild:

– Wenn sie ihre blauen Augen schloß, »so war es, als hinderten einen Vorhänge daran, auf das Meer zu blicken«.

Verlorene Praxis:

– Als Mutter in so sanftem Ton mit der Schwiegertochter sprechen »wie eine Mutter, deren Sohn gerade schwer verwundet worden ist, und die der jungen Geliebten Dank weiß, daß sie ihn mit Aufopferung pflegt«.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »Jede gesellschaftliche Klasse hat ihre eigene Pathologie.«

122. Mi, 22.11., Berlin, Internetcafé Netzwerk, Knaackstraße

Seneca hat gut reden mit seiner despicientia rerum externarum. Wie man die erwirbt, würde ich gerne einmal wissen. Er soll ja zur Übung immer auf einer harten Matratze geschlafen und dadurch am Ende sogar seinen vom Kaiser angeordneten Selbstmord mit Gleichmut hingenommen haben. Allerdings hatte er eine Frau, die freiwillig mit ihm sterben wollte und von Nero gegen ihren Willen wiederbelebt werden mußte. Ob die auch auf der harten Matratze geschlafen hat? Hier eine harte Matratze, da eine Frau fürs Leben und nicht zu vergessen der Sklave, der immer in die Thermen mitkommt, um auf die Sachen des Herrn aufzupassen. (Wozu also noch das Vorhängeschloß erfinden?) Die Römer waren ein widersprüchliches Volk.

Die Gefangene, S. 25–46

»[D]afür, daß ich es abgelehnt hatte, mit meinen Sinnen diesen Vormittag in mich aufzunehmen, genoß ich in der Einbildung alle gleichen vergangenen oder auch nur möglichen Vormittage.« Ein gefährliches Verfahren, und die Frage ist, ob das auch mit Schnitzel und Bratkartoffeln funktioniert, vor allem mit möglichen.

»Da unser Wohlbefinden sehr viel weniger aus unserem guten Gesundheitszustand als aus dem ungenutzten Überschuß unserer Kräfte resultiert, können wir ebensogut wie durch Vermehrung der letzteren durch Beschränkung unserer Aktivität dazu gelangen.« Das habe ich unbewußt immer so gehalten, aber ich hatte dabei auch manchmal den Verdacht, daß es eine Milchmädchenrechnung ist. Man wird doch eher krank, wenn man wenig tut. »Diejenige, von der ich überströmte und deren Potential ich in meinem Bett liegend intakt erhielt, machte mich springlebendig im Innern, so wie eine Maschine, die sich nicht vom Platz rühren kann, in sich selber schnurrt.« Und das vor der Erfindung der Fernbedienung!

Marcel fragt sich, »ob eine Heirat mit Albertine nicht mein Leben ruinieren würde, einerseits, weil ich damit die für mich zu schwere Aufgabe übernehmen müßte, mich einem anderen Wesen zu widmen, andererseits aber auch dadurch, daß sie mich zwang, infolge der unaufhörlichen Gegenwart einer Frau, abwesend von mir selbst zu leben und mich für immer der Freuden der Einsamkeit beraubte«. Irgendwie scheint für Autoren um die Jahrhundertwende das Heiraten problematisch geworden zu sein. Dabei kann man doch auch bei unaufhörlicher Gegenwart der Frau einsam sein.

Nicht nur der Freuden der Einsamkeit sähe er sich beraubt, sondern auch des Zuwachses an Freude, der einem durch den Anblick von Frauen zuteil wird, die man sich »unmöglich a priori hätte vorstellen können«. Es reicht ein Blick aus dem Fenster, denn da sind eine Wäscherin, eine Bäckersfrau, ein Milchmädchen und »irgendein hochgemutes blondes junges Mädchen in Begleitung der Erzieherin«. Ihnen allen folgt Marcels Blick, und er leidet darunter, daß er ihnen seinen Körper nicht wie aus einer Arkebuse geschossen hinterherschleudern kann.

Unklares Inventar:

– Tragreff, Kleider von Fortuny.

Katalog kommunikativer Knackpunkte:

– »[…] jene mehr als gleichgültige, feindliche, verächtliche Miene […], die das Zeichen ohnmächtigen Wünschens bei stolzen, leidenschaftlichen Naturen ist.«

Verlorene Praxis:

– Sich versöhnen und die Bande »in einer anderen, elastischeren Form« knüpfen.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »Die Sonne kam bis zu meinem Bett und durchdrang die durchscheinende Wandung meines überzart gewordenen Körpers, wärmte mich und machte mich glühend wie Kristall.«

– »Ich fühlte, daß das Gespräch eine unangenehme Wendung nahm und bemühte mich schnellstens, es wieder auf die Kleiderfrage zu bringen.«

123. Do, 23.11., Berlin

Es ist wieder soweit, die Bibliothek stellt schriftlich Geldforderungen. Ich hatte lange nichts mehr ausgeliehen und war froh, von diesem Joch befreit zu sein, denn ich kann nichts pünktlich zurückbringen. Ich habe deshalb in meinen Jahren als Bibliotheksnutzer schon so hohe Mahngebühren bezahlt, daß ich mir für das Geld alle ausgeliehenen Bücher hätte kaufen können. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich einmal Machwerke wie »Du hast angefangen – Nein du«, in denen absurde Wendungen wie »Du Schmarrer!« vorkommen, verlängern würde. Auch das in der Erinnerung hell leuchtende »Wie Putzi einen Pokal gewann« erwies sich bei der Revision als leistungsverherrlichend und faschistoid. Die Behauptung, daß man besser Dame spielen könne, wenn einem nicht mehr die Nase laufe, was man wiederum durch Sport und Übungen in »bewußter Muskelentspannung« erreiche, ist unsympathisch, auch wenn sie nur für Mäuse aufgestellt wird. Am Ende benutzt die Mäusemutter den von Putzi gewonnenen Pokal als Suppenschüssel, ganz wie es der praktische Sinn einer Hausfrau gebietet. Kein Wunder, daß man so geworden ist und bei den modernen Frauen auf Granit beißt.

Die Gefangene, S. 46–67

Zwei Dinge sind heute hervorzuheben, zunächst, daß die Nichte des Westenmachers Jupien den Ausdruck »einen Tee spendieren« benutzt und sich damit angeblich in peinlicher Weise kompromittiert, und dann, daß Marcel von Andrée erfährt, daß Albertine keinen Jasmingeruch mag, was damit auch geklärt wäre.

Sonst bleibt nicht viel zu sagen. Albertine ist wahrscheinlich die Frau, über die in der Geschichte der Literatur am meisten und mit dem geringsten Gewinn für die Allgemeinheit reflektiert wurde. Und wenn die Zellteilung fortschreitet, wird bald noch über wesentlich mehr Albertines zu berichten sein, denn »ich hatte eine erste Albertine gekannt, dann hatte sie sich plötzlich in eine zweite verwandelt, die gegenwärtige. Für die Verwandlung aber konnte ich einzig mich selbst verantwortlich machen«.

Sie hat übrigens sein »inquisitorisches Verlangen […], das wissen will, dennoch aber darunter leidet, daß es weiß, und gleichwohl mehr in Erfahrung zu bringen versucht« schon bemerkt und sagt ihm deshalb nicht mehr alles.

Wäre Andrée eine Alternative? Auch sie hat ihre Fehler: »Genoß ich aber eine so bedeutungslose Befriedigung wie die, mich mit behaglicher Miene zu strecken, ein Buch zu schließen und dabei zu sagen: ›Ah! ich habe eben zwei bezaubernde Stunden mit Lesen zugebracht, was für ein amüsantes Buch!‹, so riefen diese Worte […] bei Andrée eine Art von Mißbilligung, vielleicht auch einfach von nervösem Unbehagen hervor.« Kann man sich ein Zusammenleben mit einer Frau vorstellen, die ein nervöses Unbehagen erfaßt, wenn man sich einmal behaglich streckt? Da ich das bereits ausprobiert habe, kann ich sagen: Nein.

Unklares Inventar:

– Goldchevreau, Tuberose.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »Was gibt es Poetischeres als Xerxes, den Sohn des Darius, wenn er mit Ruten das Meer peitschen läßt, dem seine Schiffe zum Opfer gefallen sind.«

– »Man kann im übrigen feststellen, daß die Beständigkeit einer Gewohnheit im allgemeinen im direkten Verhältnis zu ihrer Sinnlosigkeit steht.«

124. Fr, 24.11., Berlin

Ich sehe eine Dokumentation über den Fall von Vukovar und muß die ganze Zeit denken, wie schrecklich es wäre, im Krieg auch noch Liebeskummer zu haben. Wie ein Gift wirkt die tägliche Dosis Proust im Moment, dieses mit phantasmatischer Monotonie ausagierte Psychodrama. Wenn man noch an so etwas wie die Möglichkeit von Glück zwischen zwei Menschen geglaubt hat, muß man vor Prousts Argumenten die Waffen strecken. Gibt es eine Welt, in der Proust nicht recht behält? Ist irgendein Leser hier, der mit seinem Partner glücklich ist und bestätigen kann, daß es so etwas wie reziproke Gefühle gibt?

Die Gefangene, S. 67–88

Wir freuen uns immer noch gemeinsam mit Albertine und Marcel über ihre neuen, goldenen Hausschuhe und die hübschen Morgenröcke. Je ärmer man sei, umso eher könne man sich ja auch noch freuen, weil »die Armut, großherziger als der Überfluß, den Frauen viel mehr schenkt«, nämlich das Verlangen nach Toiletten, die man gar nicht beachten würde, wenn man sie besäße.

Endlich sagt sie auch die Worte, die jeder Mann gerne hört: »Ich bin ganz entsetzt bei dem Gedanken, wie dumm ich ohne dich geblieben wäre.«

Solange man liebt, kann man sich kein richtiges Bild von der Geliebten machen: »Immer wieder gleicht ein junges Mädchen so wenig dem, was sie das letzte Mal war […]. Ein unverrückbares Bild von ihr wird aus unserer Gleichgültigkeit geboren, die sie der Beurteilung durch den Verstand anheimgibt.« Im Gedächtnis sind die verschiedensten Bilder aufbewahrt, die dem Wesen, das man kennt, ziemlich unähnlich sind, und »man begreift dann, welche Modellierarbeit täglich die Gewohnheit vollzieht«. Die verschiedenen Albertines aus Balbec I und Balbec II. Wenn ich denke, daß ich sechsmal nach Bulgarien gefahren bin und meine Freundin bei jedem Aufenthalt jemand anderes war, dann müßte ich, wenn ich das wie Proust protokollieren wollte, mit ein paar Jahren Arbeit rechnen.

Man weiß nie, ob ein Satz wie der folgende noch eine Schlüsselfunktion haben wird, im Moment scheint er mir das Buch nur unnötig aufzublähen: »An den Abenden, an denen Albertine mir nicht vorlas, musizierte sie oder fing mit mir eine Partie Dame oder ein Gespräch an, die ich alle beide unterbrach, um sie zu herzen und zu küssen.«

Ein schöner Titel für ein Buch wäre: »Das schläfrige Anschlagen der Brandung an den Strand in Vollmondnächten«.

Eine Möglichkeit, das Bedürfnis nach ihr und nach der »Macht zu träumen, die ich nur in ihrer Abwesenheit besaß«, zu versöhnen, ist, sie im Schlaf zu beobachten. Dann ruht ihr Blick nicht länger auf ihm, und »ich hatte nicht mehr nötig, an meiner eigenen Oberfläche zu leben«. Dann schmiegt er sich manchmal an sie und ihr Atem hebt ihn leicht empor, »ich hatte mich auf dem Schlummer Albertines eingeschifft«. Aber nicht nur das, manchmal läßt er sein »Bein an dem ihren entlanggleiten wie ein Ruder, das man schleppen läßt und dem man von Zeit zu Zeit eine leise Schwingung mitteilt«.

Und endlich geschieht es zum ersten Mal in diesem Buch, daß offiziell der Name »Marcel« fällt, allerdings eigenartig verklausuliert: »[S]ie sagte ›Mein‹ oder ›mein lieber‹, jeweils gefolgt von meinem Taufnamen, was, wenn man dem Erzähler denselben Vornamen verliehe, den der Verfasser dieses Buches trägt, ergeben hätte: ›Mein Marcel‹.«

Unklares Inventar:

– Ein Mantel aus Zibeline, ein Morgenrock von Doucet, die siamesischen Schwestern Rosita und Doodica.

Verlorene Praxis:

– Sich aus einer Schar blühender junger Mädchen mit nicht geringer Genugtuung die schönste Rose pflücken.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »Vielleicht müssen menschliche Wesen imstande sein, uns viele Leiden zu bereiten, damit sie uns in den Stunden, da diese nachlassen, einmal die gleiche befriedigende Ruhe schenken wie die Natur.«

125. Mo, 27.11., Berlin

In diesem Jahr verzichte ich auf alle Maßnahmen zur Stärkung meines Immunsystems, die im letzten Jahr so kläglich versagt haben: täglich Echinacea, frischgepreßter Saft von zwei Orangen am Morgen (mit einer Messerspitze Vitamin-C-Pulver), dreimal die Woche Joggen, viel Obst und Gemüse, Wechselduschen, einmal die Woche Sauna, Schlafen mit den Füßen zur Wand, weil dort immer ein leichter Luftzug von oben zu kommen und meinen Kopf zu verkühlen schien. Obwohl ich das alles in diesem Jahr vernachlässige, bin ich so wenig krank wie lange nicht. Gestern war ich aber, um mich von meinem Kummer abzulenken, nach einem halben Jahr wieder einmal in der Sauna und habe dort Proust gelesen, was im Bademantel eine bessere Sauna-Lektüre ist als Houellebecqs »Plattform«, bei dem man ständig in der Auto-Bild blättern muß, um sich von den »Stellen« abzulenken. Das künstliche Vogelgezwitscher im Saunaraum, die nun schon im dritten Jahr laufende »Oh, Champs-Elysées …«-CD im Ruhebereich, die alten BUNTE-Ausgaben im Zeitungsständer, die schlechten Witze beim Aufguß, die Salzstangen, all das hatte mir doch gefehlt. Bei den kalten Wassergüssen aus dem unter der Decke hängenden Eimer fiel mir ein, daß Wasser ja früher eine beliebte Behandlungsmethode bei psychischen Erkrankungen war, und ich hätte gerne mit Eis und Elektroschocks alle Emotionen aus mir herausgefräst. Zumindest hat mich die Sache müde gemacht, schlafen zu können ist ja ein Segen, aber den folgenden Vormittag mußte ich dann doch wieder mit E-Mail-Schreiben verbringen, weil ich mich wegen einer Frau nicht auf mein an sich beneidenswertes Dasein konzentrieren konnte. Dabei ist mir aufgefallen, daß ich manchen Bekannten nur schreibe, wenn ich in ein aussichtsloses Geschlechterschlamassel geraten bin, also inzwischen ungefähr alle ein bis zwei Jahre. Monate später werde ich diesen Mails, wie auch diesem Eintrag hier, mit Unverständnis begegnen. Es ist alles Biochemie, und es hört, wie mir meine Mutter versichert hat, mit vierzig langsam auf (andere Koryphäen aus meinem Sozialleben behaupten allerdings das Gegenteil). Aber wozu schleppt man sich immer weiter durch dieses Leben? Zu Markus Wolfs Begräbnis sind eintausendfünfhundert Menschen gekommen, wieviele würden es bei mir sein? Und werden es mehr, wenn ich noch etwas durchhalte, oder kann man den Moment zum Absprung auch verpassen? Vielleicht sollte man, wie beim Blog, Subscriber für sein Begräbnis sammeln, damit man weiß, wann der beste Zeitpunkt gekommen ist?

Die Gefangene, S. 88–109

Ein Beispiel, welcher Gehirnwäsche ich mich hier unterziehe, kein Wunder, wenn man dann immer das Falsche macht: »[D]adurch weist das Leben der Liebe die größten Kontraste auf, es ist dasjenige, bei dem ein unvorhersehbarer Pech- und Schwefelregen nach den strahlendsten Augenblicken niedergeht und bei dem wir, ohne Mut und Kraft, aus dem Unglück eine Lehre zu ziehen, unmittelbar an den Wänden des Kraters, aus dem die Katastrophe kommen kann, von neuem zu bauen beginnen.«

Es ist jetzt immer öfter von der Arbeit die Rede, an die er sich nicht begibt. Sogar der Begriff »Prokrastinieren« fällt. Aber kein Tag scheint der richtige zu sein. Nicht einmal der Morgen, an dem er sich »zu einem Duell begibt«, der zwar die plötzliche Einsicht in den Wert des Lebens schenkt und den Vorsatz, in Zukunft jede Minute zu nutzen, aber, unverletzt vom Duell heimgekehrt, begegnen dem Duellanten die gleichen Hindernisse wie vorher. Außerdem wird man sich gerade am Abend nach einem glücklich überstandenen Duell am ehesten mit gutem Gewissen eine Pause zugestehen.

Statt zu arbeiten, liegt er im Bett: »An diesem strahlenden Sonnentag von morgens bis abends mit geschlossenen Augen liegenzubleiben war eine ebenso erlaubte, gebräuchliche, heilsame, angenehme, der Jahreszeit entsprechende Sache, wie die Fensterläden gegen die Hitze geschlossen zu halten.« In dieser Zeit schifft er »träge von Tag zu Tag« und läßt sich von Gedächtnisbildern überraschen.

Eine Liste von Wünschen, die er noch hegt:

– ein wohlerzogenes Mädchen

– ein Mädchen, das Stundenhotels besucht

– schöne Kammerjungfern, insbesondere die der Baronin von Putbus

– Frühlingsanfang auf dem Land

– Weißdorn, blühende Apfelbäume, Stürme

– Venedig

– sich an die Arbeit zu setzen

– ein Leben wie alle anderen zu führen

Aber die nagende Eifersucht: »Daher hat man auch in der Liebe nicht wie im gewöhnlichen Leben nur die Zukunft zu fürchten, sondern sogar die Vergangenheit, die oft erst nach der Zukunft Gestalt annimmt, und wir denken dabei nicht nur an eine Vergangenheit, von der wir erst nachträglich etwas erfahren, sondern an diejenige, die wir schon lange in uns getragen haben, in der wir aber mit einem Male erst zu lesen lernen.« Ja, die gemeinsame Vergangenheit plötzlich entziffern zu können, ist eine quälende Angelegenheit. Erst recht, wenn man die Tendenz hat, alles immer gegen sich auszulegen. Dann braucht man nicht einmal zu beobachten, daß sie jemand anderem Blicke zuwirft, es reicht schon, zu beobachten, daß sie es nicht tut. Denn daraus schließt man, wie angestrengt sie zu verbergen versucht, was in ihr vorgeht.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »O große Gebärden des Mannes und der Frau …«

126. Mo, 27.11., Berlin

Noch 1991 bin ich mit einer blutenden Hand in die benachbarte Apotheke gerannt statt zum Arzt, so groß war mein Respekt vor diesen Damen im weißen Kittel, die einem zu helfen vorgeben, während sie einen doch nur ausnehmen. Ein eigenartiges Zwischenwesen, nicht befugt zu heilen, aber doch eher als andere Händler dazu verpflichtet, sich mit dem Leid des Kunden zu identifizieren. Je nach Schwere des Falls werden einem dann ungefragt eine oder mehrere Packungen Gratis-Taschentücher in die Tüte gesteckt.

Gestern habe ich in einem dieser Geschäfte spätabends verräterische Dinge eingekauft: »Weleda Balsamischer Melissengeist«, Acesal, Baldrian-Dispert mit Hopfen, und dazu wollte ich Johanniskraut-Kapseln. Die junge Apothekerin sah mich mitfühlend an, und wir überlegten gemeinsam, welche Dosierung die richtige wäre, es gab nämlich verschiedene, von schwach bis äußerst stark. Wie schlimm es denn sei, fragte sie und vermied das böse Wort »Depression«. »Das ist es gar nicht«, sagte ich lächelnd, wie ein Alkoholiker, der noch nicht zu seiner Krankheit steht. Aber wofür dann das Johanniskraut? »Ja, ich weiß auch nicht, eigentlich kam der Tip von meiner Mutter.« »Die kleinere Dosierung reicht eigentlich bei normalen Herbstdepressionen.« »Die hab ich ja gar nicht, das soll gegen Liebeskummer sein.« Sie ließ sich nichts anmerken und nahm eine fast noch diskretere Haltung an als sonst, wenn ich Perenterol, Immodium und Tannacomp kaufe.

Eigentlich war mir das Mittel ja viel zu teuer, 35 Euro für 60 Pastillen, und die Wirkung stellt sich erst nach drei Wochen ein. Die geringere Dosierung war etwas billiger, aber als ich ihr verraten hatte, worunter ich leide, pochte sie mit dem Finger auf die Baldrian-Dispert-Packung, das sei schon das Richtige. Mir fiel im übrigen auf, daß es nicht so schlimm um mich bestellt sein kann, wenn ich bei meinen Heilmitteln noch um den Preis feilsche.

Die nette junge Dame hat mir dann noch unbemerkt ein ausgleichendes »Bagno effervescente aromatico« mit Lavendelgeruch dazugesteckt und ein »Gute-Nacht-Einschlaf-Tuch« mit ätherischen Ölen. »Anwendung: Legen Sie das getränkte Tuch vor dem Schlafengehen auf die Brust oder befestigen Sie es am Hemd.« Und so lag ich wenig später statt mit einer duftenden Frau im Arm mit einem stinkenden Tuch auf der Brust im Bett und wartete auf den auf der Packung versprochenen »erholsamen Schlaf«.

Die Gefangene, S. 109–130

Eifersucht, wie wenig es doch dazu braucht: »Eine Frau aber, die uns während einer gewissen Zeit gesagt hat, wir seien alles für sie, ohne daß sie dabei auch alles für uns gewesen wäre, eine Frau, die wir mit Vergnügen sehen, küssen, auf unseren Knien halten, versetzt uns in größtes Erstaunen, wenn wir auch nur an einem plötzlichen Widerstand spüren, daß wir nicht ganz und gar über sie verfügen.« Am besten man ist ganz unsensibel für ihre Regungen, dann hat man auch keinen Ärger, außer, daß sie einen irgendwann aus heiterem Himmel verläßt. Aber bis dahin hatte man ein ruhiges Leben.

»Die Enttäuschung weckt dann manchmal in uns die vergessene Erinnerung an eine frühere Angst, von der wir gleichwohl wissen, daß sie nicht durch diese, sondern durch andere Frauen hervorgerufen worden war, deren treulose Handlungen sich in unserer Vergangenheit aneinanderreihen.« Und die jetzige muß dann stellvertretend für alle vorigen büßen. Nicht mehr lange, und wir werden »selber List anwenden und uns hassenswert machen«.

Noch einmal wird über das Telefon nachgedacht und die Frage gestellt, warum die Salonmaler nicht statt Bildern wie »Am Spinett« Szenen in der Art von »Am Telephon« malen. Marcel ruft Andrée an und schweigt eine Weile, bis das Telefonfräulein sagt, daß sie die Verbindung trennen wird, wenn er nichts sagen will. Das waren noch Zeiten, als die Telefonfräulein mitgehört haben. Heute könnte man tagelang Anrufe führen, ohne ein Wort zu sagen, der Telefongesellschaft ist das ganz gleich. Es ist doch eigentlich eine Frechheit, daß der Tarif nach Zeittakt berechnet wird und nicht nach der Bedeutung des Besprochenen. Ein denkbares System wäre, für banale Gespräche, die es in großen Stückzahlen gibt, Rabatt einzuführen oder solche zu subventionieren, die von Interesse für die Allgemeinheit sind. Auf jeden Fall müßte jedes Gespräch von einem hochqualifizierten Telefonfräulein mitgehört werden, das darüber entscheidet, was es kosten soll und ob man es fortsetzen darf.

Und noch etwas Technikgeschichte, die »an mythologische Vorzeiten erinnernde Begegnung mit einem Flieger, bei der mein Pferd gescheut hatte« (aus dem vorigen Band), war nur die Ankündigung eines ganz neuen Wirtschaftszweigs gewesen: Inzwischen sind »rings um Paris Flugzeughallen entstanden«, und seltsamerweise wird gerade für solche Menschen, die das Meer lieben, das »Herumbummeln an der Peripherie von Luftlandeplätzen« zu einem – heute undenkbaren – Freizeitvergnügen.

Aber zurück zum Menschen und seinem Elend. »Ich glaube wirklich, daß ich an diesem Tage soweit war, unsere Trennung zu beschließen und nach Venedig zu reisen.« Was ihn aber wieder an sie »kettete«, ist die Entdeckung einer kleinen Lüge aus Balbec. Bei Proust wird die Liebe nämlich ausdrücklich aus der Lüge geboren. Der Betrogene, der die Wahrheit wissen will, nimmt eine interessante Verhaltensweise an, denn er dreht sich auf der Türschwelle noch einmal um und stellt ganz beiläufig eine Frage. Die »geistesabwesende Miene und die gleichsam in Klammern und in der letzten Minute hingeworfene Frage« kennt man ja von Inspektor Columbo. Hätten dessen Opfer Proust gelesen, wären sie nicht darauf reingefallen.

127. Di, 28.11., Berlin

Der Serotonin-Spiegel soll schuld sein, vor allem an den abendlichen Krisen. Um mehr davon zu verstehen, müßte man allerdings noch einmal auf die Welt kommen, dann aber mit einem Gehirn, das in der Lage ist, sich für Chemie zu interessieren. Jedenfalls scheint es ein Neurohormon zu sein, das in der »Raphe« ausgeschüttet wird, eines der Organe, die man bisher nie vermißt hatte. Wenn es eine Tablette gegen diesen Zustand gäbe, würde man sie nehmen? Vielleicht gleich auch gegen alle anderen unangenehmen Gefühle wie Neid, Angst, Ungeduld, Gier? Als Mensch, der vollständig davon befreit wäre, müßte man auf die anderen wie ein Roboter wirken. Aber ich weiß nicht, warum man sich alles Schlechte im Leben immer dadurch schönreden muß, daß es angeblich den Reiz unserer Existenz ausmacht, ich wäre lieber eine Pflanze oder ein Otto-Motor. Es ist doch wie mit Zahnschmerzen, man hat längst verstanden, was der Körper einem sagen will, man hat sogar schon einen Zahnarzttermin, also ist es doch nicht nötig, die ganze Zeit an seine Karies erinnert zu werden. Wenn Emotionen sinnlos sind, warum können sie nicht einfach aufhören?

Was alles nicht hilft:

– Die Namen der römischen Kaiser wiederholen

– Zwanzig Klimmzüge

– Baldrian-Dispert

– Rotwein

– Abitur

– Sich selbst auf einer Videoaufnahme Fußball spielen sehen

– Die neue C&A-Dessous-Kampagne

– Schokolade

– Sätze wie: »Es ist doch schön, wieder zu spüren, daß man noch Gefühle hat.«

– Einmal die Woche an ihrem Fenster vorbeijoggen

– Ein neues Handy

– Nichtraucher sein

– Proust lesen

Die Gefangene, S. 130–152

Jeden Abend bekommt er einen Gutenachtkuß von Albertine, aber Kuß ist nicht gleich Kuß: »Heute abend jedoch ließ mich ihr Kuß – in dem nichts von ihr selber lag und der mich innerlich nicht bewegte – so angstvoll, mit so heftig pochendem Herzen zurück«, daß er nach einem Vorwand sucht, sie zurückzurufen. Wird er auf diese Weise unweigerlich zum emotionalen Bettler? »[I]ch sprang aus dem Bett, als sie bereits in ihrem Zimmer war, ich ging im Korridor auf und ab, in der stillen Hoffnung, daß sie mich rufen werde« (nur ein Wahnsinniger kann solche absurden Hoffnungen hegen, sie weiß ja von nichts und selbst wenn, dann hat sie schon ihre Gründe), »ich stand reglos vor ihrer Tür, um beileibe nicht eine noch so leise Aufforderung zu überhören« (sollte eine Aufforderung ihrerseits nicht klar und deutlich geäußert werden? Sie würde schon dafür sorgen, daß er sie nicht überhört, wenn ihr wirklich etwas daran läge), »ich kehrte einen Augenblick in mein Zimmer zurück, um nachzusehen, ob meine Freundin nicht zu meinem Glück dort etwas vergessen hätte«, aber er findet nichts, und so steht er regungslos Posten vor ihrer Tür, »von Hoffnung auf ich weiß nicht was erfüllt, was jedenfalls nicht eintrat; erst lange danach kehrte ich durchfroren zurück, streckte mich unter meine Decke und weinte die ganze Nacht«.

Um solche Situationen zu vermeiden, greift er zu einer List, er lädt sie abends in sein Zimmer, wo sie sich, wie er weiß, auf sein Bett legen wird, sobald er unter einem Vorwand kurz hinausgeht. Da sie sehr schnell einzuschlafen pflegt, liegt sie bei seiner Rückkehr schlafend da, und er kann sich in ihre Arme mogeln. Sobald sie morgens »die Augen lächelnd halb geöffnet hatte, bot sie mir ihren Mund, und ehe sie noch etwas sagte, hatte ich schon seine kühle Frische gespürt, die so friedevoll war wie ein Garten, der noch schweigend ruht vor dem Erwachen des Tages.« Der aufmerksame Leser wird hier zweifelnd anmerken, daß niemandes Mund beim Erwachen eine »kühle Frische« birgt.

Wieder wird über die Natur des Schlafs nachgedacht. Daß man beim Aufwachen noch nicht weiß, wer und wo man ist. Spricht man dann ein paar vernünftige Worte zu jemandem, statt einfach das zu sagen, was einem traumbedingt noch auf den Lippen liegt, bedeutet das »die gleiche Anstrengung einer Wiederherstellung des Gleichgewichts für mich wie für einen Menschen, der aus einem bereits fahrenden Zug abspringt, dann, wenn er einen Augenblick in der Fahrtrichtung weiterläuft, der Akt, trotzdem nicht hinzufallen«. Das hat meine Tochter noch nicht verstanden, wenn sie mit mir morgens gleich nach dem Aufwachen lange Gespräche führen will.

Ein überraschendes Bekenntnis: »In jedem Augenblick muß man zwischen der Gesundheit, der Vernunft auf der einen und den subtilen Genüssen des Geistes auf der anderen Seite wählen. Ich habe immer die Feigheit besessen, mich für die ersteren zu entscheiden.« Ich weiß nicht, ob es Feigheit ist. Der Schluß liegt nahe, daß der Autor in Marcel spürt, daß er so etwas wie ein Schicksal braucht. Und statt sich zu diesem Zweck wie andere freiwillig für den Ersten Weltkrieg zu melden, läßt er sich mit einer Frau ein, die ihn nicht liebt. Man könnte sich ihr sicher auch entziehen, aber das darf man nicht, wenn man die Abgründe menschlicher Leidensfähigkeit studieren will. Zum Glück müssen wir das nicht mehr tun, die Erkenntnisse, die Proust gewonnen hat, liegen für alle Zeiten vor. Man kann sich heute statt dessen anderen Themen widmen und zum Beispiel einfach wieder über Kriege schreiben statt über Beziehungen.

Unklares Inventar:

– Kartenschlägerin, Volubilis, Porzellankitter.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »[S]o bleibt die Welt des Wachseins doch darin überlegen, daß sie jeden Morgen eine Fortsetzung finden kann, nicht aber allabendlich der Traum.«

128. Mi, 29.11., Berlin

Das Mädchen, das letztes Jahr nicht wollte, hatte dann am Ende doch gewollt, als ich nicht mehr richtig wollte. Ich weiß nicht, wie ich sie überzeugt habe und warum sie mich irgendwann nicht mehr überzeugt hat. Aber der Kummer ist eigentlich vergleichbar, so wie man wahrscheinlich dasselbe fühlt, egal an welchen Gott man glaubt. Das ist ja, was Proust dauernd behauptet, daß die Liebesgefühle gar nichts mit demjenigen zu tun haben, der sie auslöst. Ich weiß nicht, ob das stimmt, vielleicht ist »Liebe« in dem Fall das falsche Wort. Ich wüßte nur gerne, wie man das Drama beim nächsten Mal vermeidet.

Es war damals von Anfang an aussichtslos, man brauchte ein Flugzeug, um sich zu sehen, aber man glaubte an ein Recht auf Unvernunft, wenn es um »Höheres« ging, also Gefühle, die heutzutage und in meinem Alter doch eine seltene Ressource sind. Es wäre sozusagen Gotteslästerung gewesen, diesen nicht alles zu opfern. Ob sie mich in Berlin besuchen würde, hatte ich sie am Anfang gefragt: »Too cold«, war ihre Antwort gewesen, die mich natürlich traf, weil ich ihr sofort glaubte, daß sie schon aus klimatischen Gründen kein Interesse an meiner Stadt hatte, außerdem stand der Winter vor der Tür. Statt ins langweilige Deutschland zu fahren, wollte sie bei nächster Gelegenheit ihre Cousins im sonnigen Argentinien besuchen, die wie der Che aussähen. Mehr Pläne für die Zukunft hatte sie nicht.

Man sollte bei Frauen, in die man sich verlieben möchte, immer darauf achten, daß sie keinen gut googlebaren Namen haben, sonst kann man sich später nie von ihnen lösen. Von ihr gibt es nur wenige Einträge, anfangs gab es sogar gar keinen. Jetzt liefert Google aber ein neues Ergebnis, dem ich entnehme, daß sie seit November für acht Monate als Sprachlektorin an einer Schule arbeitet, in einer der nördlichsten norwegischen Provinzen. Nordnorwegen! Wo man einen Schuhfön braucht! Ich las in dem Blog-Eintrag einer Person, die dort anscheinend ihre WG-Nachbarin ist, mehrmals ihren Namen, konnte mir das Geschriebene aber nicht übersetzen, weil ich nur ein Dänisch-Wörterbuch hatte, mit dem ich nicht hinkam.

Norwegen …

Die Gefangene, S. 152–173

»Als Albertine sich entfernt hatte, spürte ich, wie ermüdend für mich ihre unaufhörliche Gegenwart, ihr unersättliches Verlangen nach Bewegung und Leben war, das meinen Schlaf in Frage stellte, mich wegen der ständig geöffneten Türen in dauernder Erkältungsgefahr leben ließ.« Oh, in dieses Horn möchte man auch stoßen, diese Frauen mit ihrer Manie, sich auch am Wochenende den Wecker auf acht Uhr morgens zu stellen, ihrem unausrottbaren Bedürfnis, trotz draußen stattfindender Bauarbeiten bei offenem Fenster zu schlafen (und womöglich mit elektronischer Musik im Hintergrund), ihrem ständigen Drang, einen bei ihren Appetitschüben mit ins Verderben zu reißen! Aber die hormonellen Vorteile, die eine stabile Partnerschaft für das Immunsystem mit sich bringt, könnten die Risiken von Zugluft eventuell ausgleichen.

Nun hat Albertine einen Tag in Versailles verbracht, und in seiner Eifersucht phantasiert Marcel deshalb schon wieder. Er läßt sich vom Chauffeur beruhigen, der dabei gewesen war und ihm versichert, sie sei die ganze Zeit nur mit dem Führer vor Augen die Bilder abgegangen. »Ich glaube dennoch, daß jene Erklärungen des Chauffeurs, die mir Albertine, in dem sie sie unschuldiger darstellten, gleichzeitig langweiliger erscheinen ließen [Unglücklicher!], nicht genügt hätten, mich so rasch zu beruhigen. Zwei kleine Pickel, die meine Freundin ein paar Tage lang an der Stirn hatte, brachten es noch besser zuwege, die Gefühle meines Herzens ein wenig zu dämpfen.« Gesegnete Hautunreinheiten, letzte Rettung der Liebeskranken!

Dummerweise hat sie ihm Ansichtskarten aus Versailles mitgebracht, und jedesmal, wenn er diese beim Aufräumen findet, hat er »ein unangenehmes Gefühl«. Und so wird durch eine kurze, unglücklich verlaufene Affäre ein großer Teil unserer Welt zu einer Gefahr für die Nerven. Man staunt, von wievielen Seiten man an sie erinnert wird, denn nur weil man einmal über Pilates gesprochen hatte, schreit es jetzt von allen Wänden »Pilates«, nur weil sie einen Schal gestrickt hat, tragen alle Menschen Stricksachen, und wenn sie Spanierin war, wird man immer wieder von spanischen Reisegruppen angerempelt. Man muß sich sein Leben mühsam wieder zurückerobern, und vielleicht hilft dabei nur die von Proust so oft erwähnte anästhesierende Wirkung der Gewohnheit.

Vielleicht, denkt er, kann es aber auch hilfreich sein, sich eines der Milchmädchen, der Putzfräulein oder eine der Lieferantinnen näher anzusehen, die die Wohnung frequentieren und die er nie beachtet hat? Berufstätige Frauen haben ihren eigenen Reiz. Man wünscht sich, daß die Frau »einem ganz speziellen Beruf obliegt, so daß wir mit ihrer Hilfe in eine Welt entweichen können, von der wir auf Grund ihrer besonderen Kostümierung romantischerweise annehmen, daß sie eine ganz andere ist«. Sie soll so weit wie möglich von uns entfernt sein, sich dann aber vollständig erobern lassen. »Wir wollen Bildhauer sein. Wir wollen eine Frau zu einer Statue modeln, die sich vollkommen von dem unterscheidet, was sie selber schon ist.« Und das geht so: »Wir haben ein gleichgültiges, schnippisches junges Mädchen am Strande erblickt, wir sind einer ernsthaften, geschäftigen Verkäuferin begegnet, die an ihrem Ladentisch steht und uns vielleicht sehr spröde Auskunft gibt, wäre es auch nur, um nicht zum Gespött ihrer Kolleginnen zu werden, oder haben es mit einer Obsthändlerin zu tun, von der wir mit Mühe eine Antwort erhalten. Dann aber geben wir keine Ruhe, bis wir ausprobiert haben, ob das hochfahrende junge Ding am Strande, ob die Verkäuferin, die nur daran denkt, was jemand von ihr sagen könnte, oder die uns so zerstreut bedienende Obsthändlerin nicht möglicherweise doch nach geeigneten Maßnahmen von unserer Seite ihre geradlinige Haltung verlassen, unseren Hals mit den Armen, die eben noch Fruchtkörbe trugen, umschlingen, auf unseren Mund mit gewährendem Lächeln bislang eisigkühle oder andern Dingen zugewandte Blicke lenken werden.«

Ob es so wünschenswert wäre, wenn uns die Obsthändlerinnen plötzlich umschlängen? Jedenfalls scheint solch eine Inszenierung etwas Pathologisches zu haben, und ich wüßte gerne, wie man dieses Syndrom bezeichnet.

So übel ist das Milchmädchen nicht, das er sich aufs Zimmer kommen läßt: »Ich hob den Blick zu ihrem gelblich quellenden, künstlich gelockten Schopf und spürte, wie sein Wirbel mich mit klopfendem Herzen in die lichtdurchzuckten Stürme eines Orkans der Schönheit entführte.« Doch unglücklicherweise bringt ihm diese rettende Nymphe den Figaro, in dem er ja Tag für Tag vergeblich nach seinem ersten kleinen Text sucht, und in dem er jetzt liest, daß eine »Léa« bei der Matinée auftreten wird, zu der er Albertine geschickt hat. »Es war, als risse jemand in brutaler Weise von meinem Herzen den Verband, unter dem es seit meiner Rückkehr von Balbec zu vernarben begann.« Denn Léa war mit den beiden freizügig lesbischen jungen Mädchen aus Balbec befreundet gewesen. Gegen solch eine Einladung zur Eifersucht kann das Milchmädchen nichts ausrichten. Eile ist geboten, aus der Entfernung muß verhindert werden, daß Albertine hinter den Kulissen des Theaters auf Léa trifft.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »O Schönheit der strengen Augen in den Stunden der Tagesfron.«

129. Do, 30.11., Berlin

Vor meinem Fenster wird ein Film gedreht, sie haben vor einer leeren Kaufhalle eine Dönerbude aufgebaut, in Berlin ist das, als würde man für Dreharbeiten in der Wüste Sand aufschütten. Wieviel Aufwand Filme verlangen und wie schwer es für den Regisseur sein muß, sich bei der Verantwortung für solch einen Apparat an Menschen und Technik noch auf den Film zu konzentrieren, von dem er träumt. Eine gigantische Scheinwerferbatterie beleuchtet von einem Kran aus quer über den Platz den Drehort. Das Licht hat jedenfalls etwas Tröstliches. Sie kommen zu mir, um hier zu drehen, also kann mein Leben ja nicht ganz bedeutungslos sein. Man sieht mich zwar nicht im Bild, aber der Film wäre ohne mich trotzdem ein anderer.

»Feras, non culpes, quod mutari non potest.« Wie gut, daß ich mit Latein schon so weit bin, sonst hätte ich selbst darauf kommen müssen. Im Lateinkurs bin ich bis auf zwei Sechzigjährige der Älteste, immerhin jünger als der Lehrer. In der Namensliste habe ich meine Semesterzahl und meine Studienfächer trotzdem ausgespart als sei es eine Schande, im Alter noch neugierig zu sein. Man nimmt niemandem den Platz weg, denn nach wenigen Wochen kommt nur noch die Hälfte. Das Vergnügen am Lernen ist so groß, daß ich mir Sorgen mache, was einmal werden soll, wenn ich im Februar die Latinumprüfung bestehen sollte. Wo soll ich dann hin? Vielleicht setze ich die Prüfung einfach in den Sand, dann kann ich den Kurs nochmal machen.

Steigerung im Ausdruck des Wünschens (»Grundwortschatz Latein nach Sachgruppen«): optare – desiderare – cupere – velle – appetere – petere.

Worunter leide ich also im Moment? Voluntas, studium, cupido, libido, appetitus oder impetus?

Die Gefangene, S. 173–194

»[I]ch knackte mit den Fingergliedern […], sei es, daß ich meinen Körper ganz und gar bereithielt […] als sei er nur mehr eine Waffe, aus welcher der Schuß losgehen müsse, der Albertine von Léa und ihren beiden Freundinnen würde trennen können.« Nicht viele Autoren vor ihm werden das Motiv des Fingerknackens bemerkt haben, um es dann gleich so kühn umzudeuten.

Wieder fällt ihm ein, wie intensiv Albertine schon in Balbec immer Mädchen angeschaut hatte, »ein so nachdrücklicher, derart zehrender Blick, daß man meinte, er müsse, wenn er sich wieder abwendete, die Haut der Passantin mitnehmen«. Im Grunde kommt seine Eifersucht gerade im rechten Moment, denn seine Glut droht ja ständig zu erkalten. Die »Heftigkeit meines Schmerzes« ist dann wieder ein Beweis.

Mit Françoises Hilfe gelingt es dem kleinen Intriganten, der er ja ist (auch wenn er als Autor bisher noch daran scheitert, eine Intrigue zu schürzen), Albertine aus der Matinée zu holen. Die beiden sind auf dem Heimweg, bald wird Albertine eintreffen, und da die Gefahr einer Begegnung mit Léa erfolgreich abgewendet wurde, scheint es ihm sofort wieder, als würde er seine Zeit lieber alleine verbringen. All die kleinen Arbeiterinnen, Putzmacherinnen und Kokotten aus dem Bois, die er wegen Albertine auch heute nicht besuchen können wird …

In dieser Zwickmühle setzt er sich ans Klavier und spielt noch einmal Vinteuils Sonate, wodurch Erinnerungen an die Spaziergänge nach der Seite von Guermantes wachwerden, damals, als er selbst Künstler werden wollte. »Als ich in der Tat auf diesen Ehrgeiz verzichtete, hatte ich da etwas Wirkliches aufgegeben? Konnte das Leben mich über den Verlust der Kunst trösten?« Oft wird man gefragt, warum man schreibt, aber mich interessiert eher, wie man es aushält, es nicht zu tun. »Was wird aus den Menschen, die keine Künstler werden? Nichts wird aus ihnen, das Nichts wird aus ihnen« (E. E. Cummings).

Nach Vinteuil spielt er Tristan: »Von Wagner durch eine Wand von Tönen getrennt, hörte ich verstärkt sein Frohlocken, vernahm ich seine Aufforderung, seine Freude zu teilen.« (Wann hat er eigentlich Klavier geübt? Ist uns das entgangen? Man fühlt sich ja wie eine Ehefrau, die nach vierzig Jahren, also vermeintlich im Besitz erschöpfender Kenntnisse über sein Leben, zu ihrem Gatten sagt: »Das hast du mir nie erzählt, daß du früher mal ein Motorrad hattest!«) Wagner intonierend wandern seine Gedanken zu diesem eigenartigen Morel, der sich, zu Charlus’ Mißvergnügen, abends frei nimmt, um an einem Algebrakursus teilzunehmen. So eine Ausrede hört wohl kein Liebhaber gerne.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »Eine halbe Stunde darauf läutete das Telephon, und in meinem Herzen erhob sich ein Tumult von Hoffnung und von Angst.«

Nichts läutet, das Nichts läutet.

130. Fr, 1.12., Berlin

Meine Beraterinnen sind sich nicht einig, welche Politik in meinem Fall zum Erfolg führen könnte. »Wenn man was will, hat man das Recht, sich zum Klops zu machen«, »Sich mit Absicht nicht mehr melden, so was steht doch nur in alten Mädchenhandbüchern«, »Hak sie ab«. Das Gute ist, daß man ja tatsächlich keinen Einfluß hat, weil man es Menschen, bei denen man im richtigen Moment das Richtige tun muß, auch in Zukunft nie recht machen würde. Man müßte ja auch eigentlich, statt in Kontaktforen Profile zu verfassen, Geruchsproben versenden, wenn der Geruch tatsächlich so entscheidend ist.

An größere Zusammenhänge zu glauben, ist ein paranoider Zug. Aber es gibt faszinierende Zufälle. Man hält es tagelang durch, sich nicht zu melden, und dann trifft man sich zum ersten Mal zufällig, an einer Stelle, an der man einmal in der Woche vorbeikommt auf dem Weg zum Stadion, noch dazu rasend schnell auf dem Fahrrad. Sie hat Bastelzeug für Weihnachtsgeschenke gekauft und sieht traurig aus. Ich soll sie umarmen. Danach geht sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, nach Hause. Immer noch kann sie mir beim Abschied nicht sagen, wann wir uns wiedersehen werden. Ich bin danach die drittschnellste Zehn-Kilometer-Zeit meines Lebens gelaufen. Das brachte mich nach dem Zieleinlauf für ungefähr dreißig Sekunden auf andere Gedanken.

Die Gefangene, S. 194–215

Er sitzt mit ihr im Auto und bedauert, daß er nicht halten kann, um sich eine junge Obsthändlerin, ein Milchmädchen, die an der Kasse stehende Tochter des Weinhändlers oder eine Wäscherin näher anzusehen, die alle »allein durch mein Verlangen in köstliche Abenteuer verstrickt, gleichsam an der Schwelle eines Romans zu stehen schienen, den ich niemals kennenlernen würde«. Das Problem des modernen Menschen, die paralysierende Vielfalt der Optionen. Und jede für sich ist unwiderstehlich! »Wir waren jetzt in volkstümlichere Viertel gelangt, in denen das Standbild einer ›dienenden Venus‹ jeden einzelnen Ladentisch zu einem suburbanen Altar umschuf, vor dem ich gern mein Leben hätte verbringen mögen.« Möglicherweise ist sein Beziehungsmodell auch einfach zu konservativ: »Wie man es am Vorabend seines vorzeitigen Todes macht, stellte ich bei mir die Liste der Vergnügungen auf, die mir dadurch vorenthalten wurden, daß Albertine einen Schlußpunkt hinter meine Freiheit setzte.« Vielleicht hätte sie ja gar nichts dagegen, wenn er einmal in der Woche mit den Kumpels Skat spielt oder am Wochenende im Keller Balsaholzflugzeugmodelle bastelt, wenn sie ihn liebt, wird sie das schon verstehen.

»Wer den Wunsch weiterzuleben und den Glauben an etwas, was köstlicher ist als die gewohnten Dinge, in sich unterhalten will, muß spazierengehen, denn Straßen und Avenuen wimmeln von Göttinnen.« Nur Pech, wenn man in Nienburg oder Nauen lebt, dann sind die Straßen und Avenuen nicht ganz so dicht von Göttinnen bevölkert.

Eigentlich scheitert Proust immer wieder an denselben Aporien, die bis heute in jeder Liebeskomödie verhandelt werden: »Man findet harmlos, daß man selbst nach etwas verlangt, aber unerträglich, daß ein anderer es tut.« Wenn ich das richtig verstanden habe, sieht Houellebecq ja in Swingerclubs einen Ausweg aus diesem Dilemma.

Und nun kommen wir zu einem Kernsatz, den man sich in einen Wandteppich weben kann: »Die Wesen aber, die uns nicht verstehen, sind die einzigen, bei denen es für uns von Nutzen sein kann, ein Prestige zu wahren, das bei höher gearteten Menschen schon unsere Intelligenz uns verschafft.« Am besten man lernt das auswendig und sagt es sich auf, wenn man das nächste Mal zu einem beruflichen Termin muß.

Heute geht es kreuz und quer: »[D]as Mißgeschick eines entflammten Liebhabers besteht darin, daß er sich nicht darüber klar ist, wie, während er ein schönes Gesicht vor sich sieht, seine Geliebte nur das seine vor sich hat, das nicht schöner, sondern ganz im Gegenteil von der Lust entstellt wird, welche der Anblick der Schönheit in ihm erregt.« Das ist auch das Mißgeschick des enthemmten Gelegenheitstänzers, der meint, seine Losgelöstheit von den Fesseln der Selbstkontrolle würde ihn schöner machen. Leider ist das bei uns Europäern nicht der Fall.

Der Künstler kann, was ihm vorschwebt, immerhin zuweilen in seinem Werk sichtbar machen: »Daher kommt es, daß die Bewunderer dieses Werkes von seinem Urheber enttäuscht werden, in dessen Antlitz so viel innere Schönheit nur unvollkommen widergespiegelt erscheint.« Es wäre ja auch bedenklich, wenn mein Antlitz mehr bewundert würde als mein Werk. – Allerdings habe ich eben doch noch einmal im Spiegel nachgesehen, und ich finde, ein geschultes Auge kann durchaus eine Menge innerer Schönheit auf dem Antlitz des Autors dieser Zeilen widergespiegelt sehen.

Unklares Inventar:

– Midinette, Peri.

Verlorene Praxis:

– Als Frau zum Freund sagen: »Wie nett du bist! Wenn ich jemals so klug werde, so verdanke ich es nur dir!«

131. So, 3.12., Berlin

An der Pinnwand des Sprachenzentrums hing die auf Russisch verfaßte Anzeige eines Franzosen, der eine gute und anziehende russische Frau zur Gründung einer Familie sucht. Ob das wirklich die beste Idee ist, sei einmal dahingestellt, aber wenn ich schon selbst kein Glück in der Liebe habe, kann ich ja wenigstens für andere den postillon d’amour spielen, weshalb ich die Anzeige hier veröffentlichen möchte:

»FRANZUS (GOWORIT PO-NEMJETZKIJ), ISCHTSCHOT DOBRUJU, PRIWLJEKATJELNUJU RUSSKUJU SCHENSCHTSCHINU DLJA SOZDANIJA SEMI. TEL: 030-0615570«

So einfach kann es sein, zwei Menschen glücklich zu machen!

Die Gefangene, S. 215–236

Wenn Albertine sich gefügiger zeigt, quält ihn sofort wieder der Gedanke, sich an sie gebunden zu wissen: »Es ist furchtbar, wenn man die Existenz einer anderen Person an sich geheftet sieht wie eine Bombe, die man festhalten muß und nicht fallen lassen darf, ohne damit ein Verbrechen zu begehen.« Wollen wir hoffen, daß sie nicht heimlich in seinen Aufzeichnungen liest, die Stelle findet und selbst eine Bombe wirft.

Für die Leichtigkeit, mit der sie lügt, hat er inzwischen Beweise: »Was sie sagte, was sie gestand, trug so sehr den Charakter der Evidenz […], daß sie dergestalt in die Zwischenräume ihres Daseins Episoden eines anderen Lebens säte.« Aber ist es Lüge, wenn man selbst daran glaubt?

Der Tod von Swann war zwar angekündigt, dann aber so beiläufig vermeldet worden, daß man dachte, es würde noch ausführlicher darauf eingegangen, was aber nicht der Fall war. Man darf gespannt sein, welche der Figuren das Romanende überleben werden. Die Eltern, Gilberte, Saint-Loup, Charlus, Albertine, Marcel selbst? Von einem neuen Opfer wird nun berichtet, denn Bergotte ist verstorben, aber – wie es sich für einen Künstler gehört – auf exzentrische Weise. Der Tod ist ja nur dann gelungen, wenn er die gängigen Interpretationen des Werks auf den Kopf stellt, wenn man mit der Todesgeste seine Verehrer verunsichert und seine Feinde nachdenklich stimmt.

Bergotte hat die letzten Jahre zum größten Teil in seiner Wohnung verbracht und nur manchmal viel Geld für kleine Mädchen ausgegeben, weil die Liebe, oder wenigstens das etwas tiefer gehende Vergnügen, auch wenn sie mit Enttäuschungen enden, seine schriftstellerische Tätigkeit vor der Stagnation bewahrt haben. Und die Rechnung geht ja auch ökonomisch auf: »Ich gebe mehr als Multimillionäre für kleine Mädchen aus, aber die Freuden und Enttäuschungen, die sie mir bereiten, ermöglichen mir, ein Buch zu schreiben, das mir Geld einbringt.« Dafür schlief er nur noch schlecht, in seinen Alpträumen wischte ihm eine böse Frau das Gesicht mit einem feuchten Lappen ab, oder ein wütender Kutscher stürzte sich auf ihn, zerbiß ihm die Finger und sägte sie ab – »einige Jahre relativer Besserung hatte er nur dem Umstand verdankt, daß er sich vollkommen auf seine Wohnung beschränkte«.

Eine Leihgabe des Museums Den Haag, das für eine Ausstellung Vermeers »Ansicht von Delft« zur Verfügung gestellt hat, lockt ihn schließlich doch noch einmal aus dem Haus. Ein Kritiker hatte auf dem Bild eine bemerkenswerte »kleine gelbe Mauerecke« erwähnt, die ihm selbst entgangen war. Vor dem Bild bekommt er einen Schwächeanfall, muß sich setzen und rollt schließlich auf den Boden, wo Museumsaufseher den Verstorbenen umstehen.

Verlorene Praxis:

– Bei seinem Gegenüber einen raschen Rückfall in den Zustand der Ungebändigtheit fürchten.

132. Mo, 4.12., Berlin

Nun doch eine Staffel von »Curb Your Enthusiasm« besorgt und nicht widerstehen können, mir hintereinander alle zehn Folgen und das Bonus-Material anzusehen. (Enthu-siasm heißt es also, nicht enthusi-asm. Enthu-siasm, enthu-siasm …) Ich hatte die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen, obwohl ich es als Englischübung oder einfach als Recherche verbuchen könnte. Außerdem hat es ja Spaß gemacht.

Eine neue Sitcom zu entdecken ist ein eigenartiger Moment, dessen historische Bedeutung einem erst später bewußt wird, wie bei einer ersten Begegnung mit einem Menschen. Man erinnert sich noch genau, wie das war, und daß man womöglich gar kein Interesse am anderen hatte und dann noch ein halbes Jahr verstrichen ist, bis man plötzlich Feuer fing. Ich bin der Serie jedenfalls schon verfallen und laufe seitdem so staksig durch die Wohnung wie Larry David. Leider versteht niemand die Anspielung, weil »Curb Your Enthusiasm« (enthu-siasm …, enthu-siasm …) in Deutschland nicht gezeigt wird, diesem Neandertal der Television.

Nachher schaltete mein Kopf beim Proust-Lesen automatisch auf Sitcom, so daß ich ständig Motive sah, die vom Autor nicht genutzt wurden. Die »Recherche« wäre mit Sicherheit für zehn Staffeln gut, für eine Million Dollar würde ich das Skript schreiben. Allerdings brummt mir erstmal der Kopf vom Fernsehen, und ich kann für heute nichts mehr machen, weil mir alles minderwertig vorkommt. Larry David verwirklicht ja eigentlich, wovon ich immer geträumt habe: Er verwandelt sein Leben in eine Sitcom und wird reich mit seinen Ticks, seinem radikalen Gerechtigkeitssinn und seiner sozialen Unflexibilität. Bei »Curb«, wie die Macher es anscheinend nennen, werden alle Szenen improvisiert, es gibt nur eine von Larry David genau ausgearbeitete »Outline«. Die Dialoge sind also nicht vorformuliert, und man fragt sich, warum das nicht bei mehr Filmen so ist.

Es war wie in alten Zeiten, man sieht ausländisches Fernsehen, lernt Wörter und vergißt seine Sorgen. Ich verstehe nicht, wie die Amerikaner es schaffen, wie selbstverständlich Vokabeln zu benutzen, die sie vielleicht einmal alle fünf Jahre brauchen und die mir noch nie begegnet sind. Heute habe ich gelernt: hell-bent, hitman, harbor a grudge, tampering, huff, pew, eulogy, to pry into, henchman, unbeknownst. Dazu kommt, daß im Englischen manche Wörter eine absurde Bandbreite an Bedeutungen haben, bei »pit« stand noch nicht mal »Olivenkern«, sondern nur: »Grube«, »Pockennarbe«, »Tierfalle«, »Box«, »Maklerstand« – wo ist da der Zusammenhang?

Das Konzept der Show ist, daß der Autor sich selbst spielt. Wahrscheinlich spielt er gar nicht, er zeigt sich nur so kompromißlos, wie man es im Leben nicht sein kann. Das ist die Verwirklichung der von Kafka am Ende von »Amerika« beschriebenen Utopie eines Theaters, in dem jeder sich selbst spielt. Ich hatte sofort den dringenden Wunsch, so etwas mit der »Chaussee der Enthusiasten« ein paar Wochen lang auszuprobieren, wobei solche einleuchtenden Ideen ja nicht sehr widerstandsfähig sind.

Die Gefangene, S. 236–257

»Aber andererseits hatte ich auch wie am Nachmittag das Gefühl, daß ich eine Frau bei mir zu Hause vorfinden und bei der Heimkehr nicht die beschwichtigende Kräftigung durch Einsamkeit würde erfahren können.« Ein echter Proust-Satz, aber würde ich ihn vorlesen, würden die Zuhörer lachen.

Mitten ins Gespräch zwischen Marcel, Charlus und Brichot zwängt sich eine klein gedruckte, fast dreiseitige Fußnote, die nicht viel zur Handlung beiträgt, die man aber als zwanghafter Mensch (fluchend) Wort für Wort lesen muß. Es soll wohl eine Lücke zwischen zwei Sätzen geschlossen werden, die wir gar nicht bemerkt hätten, also wird eigentlich auch keine Lücke geschlossen, sondern eher eine Falltür geöffnet, unter der sich ein Unterboden mit einer Welt von Details und noch genaueren Ausführungen befindet, die der Autor sonst anscheinend ausspart. Man schaudert bei dem Gedanken, was er in der »Recherche« alles nicht gesagt haben könnte und wie lang das Buch dann wäre, wo er doch kaum den Eindruck vermittelt, viel weggelassen zu haben.

Unklares Inventar:

– Fotografien von »Otto«, Frisuren von »Lenthéric«, Kakoschnik. Peridot, Markasit, Labrador (Steine). Ataxie.

133. Di, 5.12., Berlin

So! Nach und nach paßt sich der Körper meiner seelischen Misere an. Beim Fußball einen Moment nicht aufgepaßt und umgeknickt, jetzt ist mein linker Knöchel dick angeschwollen, und ich humpele durch die Wohnung wie Jack Nicholson in »Shining«. Und das, wo in den nächsten zwei Wochen zwei Großfeldspiele und ein Hallenturnier mit der Autorennationalmannschaft angestanden hätten. Ich weiß gar nicht, wie ich ohne Sport leben soll, ich kann doch nichts anderes. Vielleicht sieht man mich demnächst auf dem rechten Bein hüpfend durch den Humboldthain joggen.

Wenigstens kann man bei Zerrungen, Verstauchungen und Muskelfaserrissen ziemlich genau voraussagen, wie lange die Heilung dauern wird. Und auch die Mittel sind erprobt: hochlegen, kühlen, ruhigstellen. Bei emotionalen Verletzungen sieht das anders aus. Mein Cousin, der in einer psychiatrischen Klinik arbeitet, sagte mir, daß sie viele Durchgangspatienten hätten, die nur kurz bei ihnen bleiben, der längste Fall war jemand, der nach zwei Jahren entlassen wurde. Sollte ich einfach zwei Jahre in eine Klinik gehen und danach von vorn anfangen?

Der Fuß hätte natürlich auch gebrochen sein können oder eine Sehne gerissen. Deutschland könnte der Welt morgen den Krieg erklären und ich einen Einberufungsbefehl bekommen. Meine Wohnung könnte abbrennen, ein Meteorit könnte meinen Computer treffen, bevor ich abgespeichert habe, der Fernsehturm könnte in Westberlin stehen. Ich könnte zwanzig statt sechs Lipome in den Armen haben und immer noch Jungfrau sein. Ich könnte kein Englisch und »Curb Your Enthusiasm« nicht sehen können. Ich könnte im Ruhrgebiet geboren sein, hinter einer Autobahnschallschutzmauer, als fünfter Sohn des Betreibers eines Bowling-Paradieses.

Man müßte es schaffen, dankbar zu sein, ohne sich deshalb gehirngewaschen zu fühlen.

Die Gefangene, S. 257–278

Liegt es daran, daß man anderes im Kopf hat? Der heutige Abschnitt war für mich der bisher unergiebigste. Man fühlt sich wie bei einem Verwandtenbesuch, wo man endlos Geschichten anhören muß, während man in Gedanken bei Dingen ist, die man niemandem erklären könnte.

Interessant war immerhin, daß nun auch die Pariser Untergrundbahn zum ersten Mal erwähnt wurde.

Albertine hat wieder einmal gelogen, sie hatte ja zu den Verdurins gewollt, was ihr von Marcel ausgeredet worden war. Statt dessen ist er selbst dorthin unterwegs um herauszufinden, aus welchem Grund es Albertine dorthin gezogen hatte. Nun erfährt er, daß für heute bei den Verdurins die Tochter Vinteuils und ihre Freundin angekündigt sind, also die beiden fatalen Mädchen, die ihm schon längere Zeit Kopfzerbrechen bereiten. Die Nachricht setzt ihm zu: »Sie werden ja ganz grün«, sagt der Baron.

Nun hat er wieder einen neuen Grund gefunden an Albertines Tugend zu zweifeln. »Bei jedem neuen glaubt man, das Maß sei voll, man könne ihn nicht mehr ertragen, dann aber findet man trotz allem auch noch für ihn einen Platz.« Wir haben nun mal dieses übersensible Herz bekommen. »Von unserm Gehirn wollen wir gar nicht reden, denn unser Denken mag während dieser Anfälle zwar unendlich lange mit sich selbst debattieren, es hat keinen größeren Einfluß auf sie als unsere Aufmerksamkeit auf einen Zahnschmerz, der uns namenlos quält.«

Die Freunde, die einen womöglich sogar bewundern, leiden darunter, daß einen solche Nichtigkeiten ins Grab bringen: »Aber was können sie dabei tun? Wenn ein Dichter an einer infektiösen Lungenentzündung dahinsiecht, kann man sich dann vorstellen, daß seine Freunde den Pneumokokken erklären, dies sei ein hochbegabter Mann und sie müßten ihn Heilung finden lassen?« Allerdings sollte man es vielleicht, nur weil es so verrückt klingt, ja doch nicht unversucht lassen, man weiß ja nie. Also, liebe Freunde, erklärt den Influenza-Viren bitte, welche Bedeutung ich für euch habe, und daß es ihnen keine Ehre macht, sich an einem kranken Mann zu vergreifen.

Dieses elende Hin und Her: »Nachdem die im Trocadéro lauernde Gefahr gebannt war, hatte ich ein Gefühl vollkommenen Friedens verspürt, ich glaubte, ihn für immer wiedergewonnen zu haben.« Das ist das Eigenartige an diesen beiden Zuständen, daß sie immer absolut auftreten. Als Eifersüchtiger oder Liebeskranker kann man sich, obwohl man es besser weiß, nicht vorstellen, jemals wieder zu gesunden, erlebt man aber einmal einen Moment des Friedens, weil von ihr das richtige Wort kam (oder weil man es im Moment noch nicht so interpretiert, daß das Gutgemeinte einen verunsichert), dann schüttelt man den Kopf, wie man erwogen haben konnte, sein Leben hinzugeben, nur um sich eine Woche Leiden zu ersparen.

Es gibt wieder ein paar Todesfälle unter unseren Roman-Bekanntschaften. Morel hat für Charlus kleine Gemeinheiten über die Gräfin Molé in die Zeitungen lanciert. »Die junge Frau starb darüber.« Auch der Tod der Fürstin Scherbatow wird nebenher erwähnt, allerdings hatte sie die Unhöflichkeit, um sechs Uhr zu sterben, also vor dem Salon bei den Verdurins, weshalb ihr Ableben erst einmal ignoriert wird, um die Stimmung nicht zu trüben.

Unklares Inventar:

– Entrefilets.

Katalog kommunikativer Knackpunkte:

– »›Aber sicherlich wird er wiederkommen, wir verlangen es einfach, er darf nicht fehlen‹, erklärte Monsieur de Charlus mit dem autoritativen und verständnislosen Egoismus der Liebenswürdigkeit.«

Verlorene Praxis:

– In jedem Restaurant vom Kellner zärtliche Briefchen von mindestens drei Damen gebracht bekommen.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »Da er im übrigen sehr klug war, lag ihm an der Unterhaltung eines ebenfalls klugen Menschen nicht viel.«

134. Mi, 6.12., Berlin

Wegen der »Curb«-Staffel stand der Fernseher noch aufgebaut, ich habe also schließlich doch noch die WM-Dokumentation gesehen und bin unter meinem Niveau gerührt gewesen. Es gab doch auch gute Kriegsbücher von reflektierten Menschen, warum gibt es keine Fußballer, die sich zu dem, was sie erleben, anders als mit Floskeln äußern können, die sie selbst aus dem Fernsehen übernommen haben? Wenn ich eine Gruppe von Menschen um ein gemeinsames Ziel kämpfen sehe, werde ich aber immer weich. Erstaunlich, wie die Erinnerung an die Zeit der WM schon wieder verblaßt, unsere Gegenwart hallt einfach nicht nach, es ist alles zu banal.

Je herrlicher der Sommer leuchtete, umso mehr machte er mir Angst vor dem kommenden Winter, ich hatte also wenig Freude daran. Man bekam nur Panik, das Geschenk einer solchen Pracht nicht richtig zu nutzen. Jeder allein verbrachte Abend weckte Schuldgefühle. Immerhin konnte man diesmal Fußball gucken gehen, und der Rest war die Zeit zwischen den Spielen. Ich habe fast alle Spiele am selben Tresen gesehen, und es war hart, danach allein nach Hause zu gehen, wenn die Straßen sich mit immer mehr Frauen füllten, die immer weniger anhatten. Aber die Zuteilung stimmte nicht, denn schon rein rechnerisch mußte irgendeine davon mit mir zusammen sein. Im Stadion schwenkte die Kamera ständig auf ekstatische Frauen, die Bikinis in den Farben der beteiligten Nationen trugen, und man zählte im Kopf ängstlich die verbleibenden Spiele durch, weil für die Zeit danach noch keine Lösung gefunden war.

Es war eigentlich eine sehr bedrückende Zeit, was durch die Perfektheit der äußeren Bedingungen noch unterstrichen wurde. Ohne Liebe fehlte die Lebensfreude. Deshalb muß man es sportlich sehen, wenn es jetzt nicht klappt, und für die Gefühle dankbar sein, auch wenn sie einem den Schlaf rauben, wenigstens hat man mal wieder mitgespielt. Es gehört eben auch Glück dazu, ein großes Turnier zu gewinnen. Und es gibt keine leichten Frauen mehr.

Mir tut es nur leid für meinen Trainer, dem ich so viel verdanke. Er hat hier wirklich einen tollen Job gemacht, auch wenn es am Ende nicht ganz gereicht hat. Wie er mich immer wieder motiviert hat: »Junge, die hat die Hosen voll! Die spürt deinen Atem im Nacken! Das ist dein Ding hier, und das läßt du dir von niemandem nehmen, von niemandem auf der Welt! Die anderen, die da auch noch mitmachen dürfen, die interessieren uns gar nicht, weil das deine Party ist! Wichtig ist, daß du deine Gefühle durchsetzt. Du hast dir sieben Wochen den Arsch aufgerissen, und jetzt willst du die Belohnung dafür! Und wenn du hundertzehn Prozent gibst, dann packst du das auch. Du bist ein Team! Du bist ein Team! Du bist ein Team!«

Und auch nach der kurz vor dem Ziel erlittenen Niederlage (einen Moment der Unaufmerksamkeit hatte sie genutzt, um sich meiner Bewachung zu entziehen), fand er noch in der Kabine die richtigen Worte: »Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst, du bist natürlich wahnsinnig enttäuscht. Aber es gibt gar keinen Grund, den Kopf hängenzulassen. Ich bin wirklich stolz auf dich, wie du hier aufgetreten bist, und du merkst ja, was du für eine Euphorie ausgelöst hast, das gab’s noch nie in Deutschland, das ist der Hammer! Aber wirklich der Hammer! Vielleicht wirst du später mal sehen, daß es dir wahnsinnig was gebracht hat, wie du hier an ein Ziel geglaubt hast und wie du dich reingehängt hast. Und egal, ob du sie nun bekommst oder ob du Dritter oder Vierter wirst, da ist was entstanden in diesen Wochen, das spürt man einfach. Und jetzt komm, da draußen warten 70 000 Verrückte, die dich feiern wollen. Und das kann dir niemand mehr nehmen.«

Die Gefangene, S. 278–299

Madame Verdurin reagiert auf Musik nicht nur seelisch, sondern auch physisch. Hört sie Vinteuils Kompositionen, muß sie weinen. Böse Zungen behaupten allerdings, in Wirklichkeit schlafe sie, »was niemand übrigens genau entscheiden konnte, denn sie hörte solche Musik mit dem Kopf in den Händen an, und gewisse schnarrende Geräusche mochten immerhin als verhaltenes Schluchzen passieren«. Jedenfalls behauptet sie, weinen zu müssen und davon Schnupfen zu bekommen, wodurch ihre Schleimhaut anschwelle und sie tagelang inhalieren müsse. Die Lösung ist einfach: Jemand fettet ihr, bevor die Musik beginnt, die Nase ein.

Wieder wird ganz beiläufig ein Tod vermeldet: Doktor Cottard hat es erwischt. Madame Verdurins Kommentar dazu: »Ja, aber was wollen Sie, er ist gestorben, wie alle Menschen sterben; er hat genug Leute umgebracht, daß es nun Zeit für ihn war, seine Streiche gegen sich selbst zu führen.« Und weiter im Text, ein Salon kennt keine Sentimentalitäten.

Die eigenartige Stimmung auf einer Party, wenn man nicht richtig weiß, wie man das Verhalten der Gäste einordnen soll: »Es gibt keine große gesellschaftliche Veranstaltung, die nicht, wenn man einen Schnitt in gehöriger Tiefe hindurchlegt, sich jenen Soireen ähnlich erweist, zu denen Ärzte ihre Patienten einladen, die dann höchst vernünftige Reden führen, ausgezeichnete Manieren an den Tag legen und ihre Verrücktheit nur dadurch offenbaren, daß sie einem mit einem Blick auf einen vorübergehenden alten Herrn zuraunen: ›Das da ist Jeanne d’Arc‹.« Komischer Typ, der Napoleon für Jeanne d’Arc hält. Vielleicht sollte man auch noch einen Zug nehmen.

Marcel ist hier, weil er wissen will, warum Albertine kommen wollte. Aber alle anderen wollen Morel spielen hören. Bevor es losgeht, schleudert Charlus den Gästen flammende Blicke zu, um ihnen »das religiöse Schweigen, jene Loslösung von jeder Beschäftigung mit weltlichen Dingen, nahezulegen, die hier am Platze sei«. Das funktioniert auch, man verstummt. Und die Hausherrin, Madame Verdurin, »saß ganz für sich allein wie eine Gottheit da, die ein musikalisches Weihefest durch ihre Anwesenheit konsekriert, eine Muse des Wagner-Kultes und der Migräne zugleich«.

Unklares Inventar:

– Rhinogomenol, Die Mauern von Gaëta.

– Überaus viele Namen: Reinach, Hervieu, Madame Pipelet, Madame Gibou, Madame Joseph Prudhomme, Herr Alberti, Fürstin Jurbeletschew, Picquart, Labori, Zurlinden, Loubet, Oberst Jouaust, Potel und Chabot (Festbankettlieferanten), die Herzogin von Alençon, Prinz Albert von Belgien.

Verlorene Praxis:

– Unter Ludwig XIII. aus der Hefe des Volkes aufsteigen.

– Nicht zur Nacht essen, um gelenkiger zu sein.

– Als Opernhaushabitué Tänzerinnen subventionieren.

– Als junges Mädchen die Atmosphäre mit Lächeln durchweben.

– Seine weißbehandschuhten Hände zur Stirn emporführen und so zu einem Symbol ernster Sammlung werden.

135. Do, 7.12., Berlin

Mit der Post kam die neue Ausgabe einer kleinen Literaturzeitschrift, mit einer längeren Erzählung von mir »Ein Leben ohne Phlox ist ein Irrtum«. Eigentlich hatte ich damit in diesem Jahr den Bachmannpreis gewinnen wollen, aber ich bin wieder nicht eingeladen worden und habe auch nicht erfahren, ob es am Text lag, an mir oder am fehlenden Glück. Im Moment wüßte ich nicht, wie ich noch einmal ein so großes Thema finde. Jeder Absatz sollte in größter Verdichtung eine der brutalen Pointen erzählen, aus denen das Leben besteht. Kindheit, Tod, Krieg, Natur, Schreiben, Zeit, Nostalgie. Ich glaube, ich habe noch nie so lange an einem Text gefeilt.

Jetzt steht er in diesem Heft, das kaum jemand kennt, und wird die Welt nicht verändern. Das würde er natürlich auch nicht, wenn er jeden Abend in den Nachrichten verlesen würde. Das Traurige ist aber, daß man überhaupt nichts mehr empfindet, während ich mich bei meiner ersten Publikation in der Zeitschrift »Boxsport« (»Die Ballade vom Eisernen Mike, der seinem Gegner Heiligfeld ein Ohr abbiß«) vor Aufregung erst zu Hause getraut hatte, das Blatt aufzuschlagen. Die Realität des Literaturbetriebes hat den Büchern ihre Aura genommen. Ich muß wieder lernen, von meinen eigenen Büchern zu träumen.

Die Gefangene, S. 299–320

Eine neue Kategorie: Bücher, in denen fiktive Kompositionen detailgenau beschrieben werden. Über Musik zu schreiben ist ja schon eigenartig genug, aber dann auch noch über Musik, die gar nicht existiert? Für meinen Geschmack fällt die »Recherche« in diesem Punkt gegen »Doktor Faustus« ein bißchen ab. Immerhin hat Proust einen ironischen Blick auf die spitzweghaften Musikfreunde, die dem Werk lauschen: »Ich blickte auf die Padrona, deren leidenschaftliche Unbewegtheit dagegen zu protestieren schien, daß die Damen des Faubourg die jeder Ahnung baren Köpfe wiegend den Takt angaben.«

Genauso habe ich neulich bei Yo La Tengo im Postbahnhof gestanden, vor mir wie immer ein Bataillon nach Aftershave riechender Zwei-Meter-Kerle, zu denen ich gerne Abstand gehalten hätte, wenn die Lücke, also der Raum um mich, der meiner Meinung nach zu mir gehört wie mein Körper, nicht immer sofort wieder gefüllt worden wäre. Da mich die Musik nicht richtig berührte, konnte ich nicht verhindern, daß mich das Mit-dem-Kopf-Wippen der anderen aggressiv machte. Manche schlossen sogar die Augen, was ich auch irgendwann tat, aber aus Müdigkeit und weil mein Rücken schmerzte. Meine größte Angst war, man könnte das pathetische Die-Augen-Schließen der anderen mit meinem verwechseln. Meine leidenschaftliche Unbewegtheit war ein einziger Protest. Ich glaube, ich habe dadurch auf die Bewegungen der gesamten Zuhörerschaft eingewirkt, wie sich das Wasser ja auch schon weit vor der Klippe kräuselt.

Die musiktheoretischen Überlegungen wirken etwas abgestanden. Vinteuils Septett, wie kommt ein Komponist zu seinem Tonfall, »getrennt von dem anderer Komponisten durch einen weit größeren Unterschied, als wir ihn zwischen den Stimmen zweier Personen oder zwischen dem Brüllen und dem Schrei zweier Tierarten wahrnehmen können«? Die musikalische Spekulation des Komponisten, ein nichtanalytisches Denken aus der Welt der Engel, das wir »ebenso wenig in eine menschliche Sprache zu überführen vermögen, wie vom Körper längst befreite Geister es könnten, wenn sie von einem Medium beschworen und nach dem Geheimnis des Todes befragt werden«.

Muß man sich in den Pausen wieder den Menschen zuwenden, empfindet man die Diskrepanz zwischen deren ungeheurer Banalität und der »Offenbarung eines unbekannten Freudentyps« in der Musik. Verspielt wie das Leben ist, verdankt Marcel diese Offenbarung ausgerechnet der Freundin von Vinteuils Tochter, die die hieroglyphengleichen Notizen des verstorbenen Komponisten rekonstruiert hat. Das heißt, Marcel leidet wegen dieser Frau und ihrer vermuteten früheren Beziehung zu Albertine Höllenqualen, aber andererseits verdankt er ihr das Höchste. Denn er versteht den »seltsamen Anruf« durch das Stück, »der wie ein Versprechen war, daß es noch etwas anderes gebe – etwas, was zweifellos die Kunst verwirklichen kann, etwas anderes als das Nichts, das ich in allen Vergnügungen und in der Liebe selbst gefunden hatte – und daß, wenn mein Leben mir eitel schien, es wenigstens noch nicht an seinem Ende angekommen war«. Also adé, Hoffnung auf Glück, auf Liebe, ja, auch nur auf Vergnügen, ab jetzt ist das alles nur noch im künstlerischen Schaffen zu finden.

Zum Schluß gibt es noch einen weiteren Tod zu vermelden, die Unglücksfälle in der Bekanntschaft häufen sich, wie bei alten Menschen, man würde sonst auch kaum merken, wie im Roman die Zeit vergeht. (Ist uns der Erste Weltkrieg eigentlich unterschlagen worden?) Den gebeutelten, von den Verdurins immer wieder in sadistischer Weise gedemütigten Saniette trifft, nachdem er wegen einer angeblich unpassenden Bemerkung über Vinteuils Musik des Hauses verwiesen worden war, im Hof der Schlag.

Unklares Inventar:

– Theorbe, Drommete.

Bewußtseinserweiterndes Bild:

– Der Cellist »neigte sich über die Saiten, er betastete sie mit der gleichen hausfraulichen Geduld, als putze er einen Kohlkopf ab«.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »Jeder Künstler scheint so der Bürger eines unbekannten Vaterlandes zu sein, das er selbst vergessen hat und das von jenem völlig verschieden ist, aus dem ein anderer großer Künstler zur Erde herniedersteigt.«

136. Fr, 8.12., Berlin

Es war mir immer wichtig, möglichst unabhängig zu sein, erst die Zentralheizung hat mich bestechlich gemacht. Aber auch die Bedeutung, die die »Chaussee der Enthusiasten« inzwischen für meine Psychohygiene hat, ist beunruhigend. Gestern habe ich jede Minute der Show genossen und versucht, mir das Gefühl für die kommenden Tage zu merken, in denen man wieder der an allem zweifelnde Einzelkämpfer sein würde, der sonnabends freiwillig vier Stunden Lateinkurs mitmachen muß, um seine Dämonen zu besänftigen. Wenn es die Römer nie gegeben hätte und ich ihre Sprache nicht lernen könnte, müßte ich Tabletten nehmen. Meine Klagen sind natürlich eigentlich ein Mißverständnis, ich vergesse immer, daß ich als Autor Glück nur im Schreiben erwarten darf.

Als wir vor sieben Jahren die »Chaussee« gegründet haben, war ich am Tag nach der Show immer niedergeschlagen. Lief es gut, hatte man Angst, es nie wieder so hinzukriegen, und wenn nur zwanzig Zuschauer gekommen und die Texte verpufft waren, grübelte man, wie es weitergehen sollte. Außerdem ging schon am Freitag die Suche nach den beiden Texten für die nächste Woche los. Heute bin ich traurig, wenn die Show vorbei ist und alle gehen. Für mich mit meiner leisen Stimme ist es eine große Erleichterung, durch ein Mikrophon zu sprechen, ich würde mir das auch im Alltag wünschen. Wenn ich auf dem Alexanderplatz die Republik ausrufen würde, bekäme es niemand mit. Manchmal wird man gefragt, ob es einem nicht peinlich sei, auf der Bühne zu stehen und vorzulesen, dabei ist das eine der wenigen Sachen im Leben, die mir nicht peinlich sind. Es ist viel leichter, als im Café die Kellnerin heranzuwinken. (In »Curb« stattet Larry David in seinem Restaurant jeden Tisch mit verschieden tönenden Klingeln aus, weil er auch immer vom Personal ignoriert wird.)

Im Winter wärmt einen auf der Bühne angenehm das Scheinwerferlicht, und man kommt ja sonst kaum noch unter Menschen. Es ist doch absurd, daß so viele Zuschauer kommen, um so wenigen zuzuhören, dabei bin ich überzeugt, daß die Zuschauer viel interessanter sind als wir. Die Aufhebung der Trennung von Bühne und Zuschauerraum ist ja eine Utopie des Theaters, nur daß man sich das als Zuschauer gar nicht wünscht. Wir haben schon einen Zuschauer ausgelost, der als Ehrengast auf der Bühne sitzen mußte, wir haben Zuschauer interviewt, es gibt das Offene Mikrophon, wir haben ein Gästebuch und gucken an der Kasse jedem in die Augen, um zu ergründen, was ihn zu uns treibt. Aber das wird mir irgendwann nicht mehr reichen, und dann werde ich die Zuschauer wirklich von zu Hause abholen, wie wir es manchmal im Scherz ankündigen.

Die Gefangene, S. 320–341

Die von Charlus für Madame Verdurin organisierte musikalische Soiree war ein Erfolg. Er übersieht aber, daß die von ihm geladenen Gäste, von denen er sich die Verbreitung von Morels Ruhm als Solist erhofft, die Hausherrin bei der Begrüßung und beim Abschied ignorieren und statt dessen ausschließlich ihm Komplimente machen. Und dann kritisiert er auch noch die »Eiskaffeetassen« der Verdurins. Wenn man die im Salon sehe, könne man »sich vergessen und meinen, man habe sich im Raum getäuscht, sie sehen wie Nachttöpfe aus«. Die Gäste, die er eingeladen hat, sind enttäuscht über die Räumlichkeiten und halten sich »in Ermangelung von etwas Besserem an die Bilder von Elstir, vor denen sie in mühsam unterdrücktes, prustendes Lachen ausbrachen«.

Charlus gesteht Madame Verdurin gerade noch »die Rolle eines Bindestrichs« bei der »Fusion zwischen Vinteuils Werk und seinem genialen Interpreten« zu. Berauscht von seiner gesellschaftlichen Position, provoziert er Madame Verdurin. Denn ihr geht es wie vielen, »sie fand für ihren Kummer einzig Trost darin, das Glück der anderen zu zerstören«. Schon ist sie entschlossen, Morel und Charlus auseinanderzubringen, indem sie den Geiger zwingt, zwischen Charlus und ihr zu wählen. Sie wird Morel warnen, daß Charlus’ Homosexualität für seine Reputation eine ernste Gefahr darstellt (sogar von Polizei ist die Rede). Sie hat eben Beziehungen nicht gern, die ihre Getreuen außerhalb des »kleinen Kreises« unterhalten. Sie hatte ja damals schon Brichot und seine Wäscherin auseinandergebracht, wofür dieser ihr auch noch dankbar ist, obwohl er in der Folge »beinahe völlig erblindet und, wie man behauptete, Morphinist geworden war«.

Aus persönlichen Gründen setzen mir die über das Buch verstreuten Schicksale Eifersüchtiger besonders zu. Zum Beispiel Monsieur d’Argencourt, »der sehr eifersüchtig, aber nicht auf der Höhe seiner Manneskraft war«. Er vernachlässigt seine Frau zugunsten einer Dame der Gesellschaft und umgibt sich mit »ungefährlichen«, also homosexuellen Männern, die diese Geliebte zerstreuen, ohne ihm gefährlich zu werden. So wird aus dem einstigen Schwulenhasser ein Vorbild an Toleranz.

Wie kommt es eigentlich, daß der bereits vor etlichen Seiten verstorbene Cottard wieder lebt? Ein General bricht auf, »nachdem er noch Cottard um einen Rat gebeten« hat. Nur ein Pedant könnte das hier erwähnen.

Verlorene Praxis:

– Wissen, daß jeder glücklich ist, einen Augenblick länger mit einem zu sprechen.

– Seinen Fächer zerbrechen, wenn Wagner ausgepfiffen wird.

137. So, 10.12., Berlin

Dann steht man auf einer Party direkt neben der Anlage und kämpft mit seiner Stimme gegen die eines lächerlichen Rocksängers an, um jemandem, den das gar nicht interessiert, zu erklären, worüber man schreibt. Immerhin ein Gespräch, eben hatte man sich noch zwischen den Grüppchen hin- und herbewegt, wie ein freies Elektron im Metallgitter, und sich gefragt, ob es nicht doch besser gewesen wäre, heute zu Hause zu bleiben. In solchen Momenten leidet man darunter, nichts aufschreiben zu können, weil das eigenartig wirken würde. Man müßte, wie die Russen ihren Machorka in der Hosentasche drehen, mit den Händen in den Taschen heimlich Notizen machen können.

Meine frühere Flamme, wegen der ich hier bin, trifft viel später als angekündigt ein, sie hat jetzt ihr eigenes Sozialleben und man genießt nicht mehr das Privileg, auf Partys als erster begrüßt zu werden. Es kann auch passieren, daß sie mitten im Gespräch die Gläser füllen geht und verschwunden bleibt. Später findet man sie draußen im Garten mit einem Bekannten, und sie zeigt mit dem Finger auf das Glas, das sie für einen irgendwo abgestellt hat.

Es war wie früher mit ihr, man konnte nichts sagen, ohne daß sie es wertete. Sie hält sich für den einzig wahren Smiths-Fan und rümpft bei Morrisseys Soloplatten die Nase. Sein Konzert, zu dem ich gehen will, interessiert sie nicht. Früher haben mich diese apodiktischen Urteile immer provoziert, jetzt erinnern sie mich daran, warum wir nicht mehr zusammen sind.

Seit Dienstag hatte ich auf einen Anruf gewartet und es schon damit versucht, das Telefon stundenweise auszuschalten, um nicht ununterbrochen zu hoffen. Und so stehe ich, die Hand am Handy, in einem Mädchen-Kinderzimmer mit Pferdebüchern und bunten Mädchengegenständen und erörtere einer Verflossenen endlos meinen traurigen Zustand (und das noch ohne den geschwollenen Knöchel zu erwähnen), worauf es heißt, ich würde wie immer nur von mir reden.

Dann stehe ich auf der Rykestraße, enttäuscht, weil es mal wieder nichts gebracht hat, sich unter Leute zu begeben. Ich erinnere mich, Ende der Achtziger zum ersten Mal hier gestanden zu haben, eine meiner von mir heimlich Verehrten feierte in der Wohnung ihrer großen Schwester Geburtstag. Die Gegend war für mich ein einziges Versprechen, ich wohnte ja im Neubauviertel und sah zum ersten Mal eine Wohnung im Prenzlauer Berg. Wir hatten PVC-Linoleum mit Holzmaserung, hier waren die Dielen weiß gestrichen. (Es gab ja nur zwei Dielenfarben in der DDR: Ochsenblut und das seltenere Weiß.) Daß ein Nachbar nachts an der Tür des Mädchens zu scharren pflegte, konnte mich nicht abschrecken, es war klar, daß ich hier wohnen wollte, schon weil nicht alle Wände rechtwinklig zueinander standen.

Ich trank roten und weißen Sekt durcheinander. Mir wurde schlecht, ich ging an die Luft, weil man immer nachts rausgehen wollte, auf Dächer steigen oder einsam an ausgesuchten Punkten der Stadt stehen, um höhere Einsichten zu empfangen. Ich setzte mich in den Torbogen der Synagoge, die einen ja immer anzog, weil die jüdische Gemeinde wie ein Biotop in der DDR wirkte, man wäre gerne Jude gewesen, um auch so interessante Gemeindemitglieder zu haben. Von der Kälte wachte ich auf und ging ohne neue Klarheiten zurück in die Wohnung. Die Zukunft war eine einzige Drohung. Am nächsten Morgen, es war Sonntag und die anderen schliefen noch, mußte ich um sechs aufstehen, weil meine Schule irgendwo südlich von Berlin eines dieser vormilitärischen Manöver durchführte. Die Lehrerin registrierte mißbilligend, daß ich die grüne ZV-Uniform, die aussah wie Gefängniskleidung, erst vor Ort anzog und nicht schon in der S-Bahn getragen hatte. Leider waren die Gewehre nur aus Holz.

Die von ferne Angebetete soll übrigens gar nicht so uninteressiert gewesen sein, habe ich später erfahren. Schade, daß einen die guten Nachrichten immer erst mit zwanzig Jahren Verspätung erreichen.

Den Vorwurf wiederkäuend, ein Egozentriker zu sein, enttäuscht über die Grobheit der alten Freundin, stehe ich auf der Rykestraße (deren Anblick nach den Renovierungen für mich nur zu ertragen ist, weil ich sie noch vor mir sehe, wie sie früher war), neben dem Elefanten, den meine Tochter so gerne hat, schiebe das Fahrrad an den beiden nackten Männerskulpturen vorbei (»Ein Papa! Ein Papa!«) und bin emotional auf dem Niveau eines Siebzehnjährigen, nur daß ich mir den Alkohol inzwischen besser einteilen kann und deshalb immer nüchtern bleibe. Außerdem ist die Synagoge jetzt nachts bewacht.

Die Gefangene, S. 341–362

Noch einmal Betrachtungen über die identitätsstiftende Qualität des Gedächtnisses. Jener Teil der Welt, der »Zuflucht in unserer Seele« findet, »die durch ihn einen Wertzuwachs erhält«, weil Gegenstände, Menschen, Häuser sich mit ihr vermischen und sich alles »in jenen durchscheinenden Alabaster unserer Erinnerungen verwandelt, dessen Farbton wir nicht vermitteln können, da nur wir ihn sehen«. Und sieht man etwas wieder, sieht man eben mindestens zwei Rykestraßen und fragt sich, welche realer ist, »wir selbst aber vermögen diese Dinge in uns nicht ohne eine gewisse Ergriffenheit zu betrachten, wenn wir daran denken, daß ganz und gar von der Existenz unsres Bewußtseins das Weiterleben – noch für eine gewisse Zeit – des Widerscheins längst erloschener Lampen und des Duftes von Weißbuchenhecken abhängig ist, die nie mehr blühen werden«. Schon deshalb muß man jeden Menschen achten, weil er das Speichermedium solcher nur noch in ihm lebendigen Wahrnehmungen ist.

Professor Brichot gedenkt auf diese Art des alten Salons der Verdurins, vor ihrem Umzug in die neue Wohnung. Seine Erinnerung setzt dem neuen Salon »in den Augen des Professors eine Schönheit hinzu, die er für einen Spätergekommenen aus sich selbst nicht zu entfalten vermochte«. Er sieht ja auch genau, welche Möbelstücke schon damals da waren, so daß der neue Salon für ihn durchsetzt ist von Teilen des alten. (So geht mein Vater durch meine Wohnung und interessiert sich nur für die Sachen, die noch von ihm stammen. Aber ich bin ja genauso, wenn ich durch Deutschland gehe.)

Der Abend neigt sich dem Ende zu, der Baron möchte die Unterhaltung aber noch in die Länge ziehen, er gehört zu den Menschen, die, da sie »ihrer Intelligenz keine andere Betätigungsmöglichkeit eröffnen als die der Konversation, das heißt eine nur sehr unvollkommene Betätigung, auch nach in Gesellschaft verbrachten Stunden unbefriedigt bleiben und sich immer begieriger an den erschöpften Zuhörer heften«. – Bis der die Gläser füllen geht …

Um mit Albertine wenigstens so lange zusammenzusein, bis er seine Seelenruhe wiedergefunden hat, faßt Marcel den Plan, jeder Anwandlung bei ihr, mit ihm zu brechen, zuvorzukommen und vorzugeben, selbst mit ihr brechen zu wollen.

Fast drängt sich eine neue Rubrik »Verstorben« auf, denn jetzt ist plötzlich auch Elstir tot, und wenige Seiten später erfahren wir dasselbe über Madame de Villeparisis. Jeweils ohne erzählerische Ausbeute, abgesehen vom Effekt der schockierenden Beiläufigkeit, mit der vermeldet wird, daß so gute Bekannte uns plötzlich verlassen haben sollen.

Unklares Inventar:

– Die Philosophen von Couture, Leute »von der Art eines Vaquerie oder Meurice«, der von Leverrier entdeckte Planet.

Katalog kommunikativer Knackpunkte:

– Er ließ sich am Flügel nieder »mit lächelndem Brauenrunzeln, einem in die Ferne schweifenden Blick und leichtem Verziehen des Mundes (was alles zusammen er für ›die‹ Künstlermiene hielt)«.

– »Sowie Brichot angefangen hatte, über den guten oder schlechten Ruf von Männern zu sprechen, hatte Monsieur de Charlus auf seinem Antlitz jene besondere Art von Ungeduld gezeigt, die man bei einem Experten auf medizinischem oder militärischem Gebiet konstatiert, sobald Laien, die nichts davon verstehen, törichte Meinungen über gewisse therapeutische oder strategische Einzelheiten zu äußern sich unterfangen.«

Erstaunliche Behauptung:

– »Ich hatte von meiner Großmutter die Eigenschaft geerbt, in einem Maße, das leicht zu Mangel an Würde hätte führen können, frei von Eigenliebe zu sein.«

Verlorene Praxis:

– Ein Fis spielen, bei dem Enesco, Capet und Thibaut vor Neid erblassen.

– Bezaubernde, immer wiederkehrende Rückfälle in Einfachheit und Ergebenheit zwischen seine rauschhaften Anfälle von Größen- und Verfolgungswahn schieben.

138. Mo, 11.12., Berlin

Meine Proust-Erfahrung läßt mich Bekannten Fragen stellen, die ich ihnen sonst nie gestellt hätte, nämlich ob sie Proust gelesen haben oder bei welchem Band sie steckengeblieben sind. Ich kenne bis jetzt drei Komplettleser und könnte mir vorstellen, daß sie sich in der Straßenbahn instinktiv erkennen würden, so wie Charlus »Invertierte« ausmachen kann. Komplettleser sind die Ausnahme, aber erstaunlich viele haben es einmal versucht. Einer hat beim fünften Band aufgehört, kurz vor dem Ziel, manche schon im zweiten. Ein Kollege hat sogar die Uni mit einer Arbeit über Proust abgeschlossen, er hat das Buch zweimal gelesen, erst auf Deutsch, dann in Paris im Original. (So habe ich es mit »Borat« gemacht, allerdings war das nicht geplant, ich hatte nur nicht auf den fehlenden OmU-Hinweis geachtet, weil ich nie darauf gekommen wäre, daß man diesen Film synchronisieren könnte. Er war auf Deutsch nicht komisch, wogegen Proust auf Deutsch vielleicht sogar noch an Komik gewinnt.)

Mein Kollege hat sich damals so intensiv mit Proust befaßt, daß er ihn eifersüchtig für sich allein haben wollte. Zum Glück gehen solche Gefühle Büchern gegenüber meist nicht so weit wie bei Menschen, sonst würde man in fremden Wohnungen Proust-Ausgaben nachspionieren und erst beruhigt sein, wenn sie offensichtlich unberührt im Regal verstauben. Buchhandlungen wären dann so etwas wie Bordelle, in denen sich das käufliche Buch einer Unzahl von Kunden zur Schau stellt, für jeden, der einen Autor liebt, eine unerträgliche Vorstellung. Man könnte wie Jack Lemmon in »Irma la Douce« enden und nachts im Schlachthof arbeiten, um mit dem Geld die Exemplare der Bücher seines Lieblingsautors aufkaufen zu können, bis sie sich geschlagen geben und endlich keine neuen mehr drucken.

Mein Kollege hat zur Zeit der Lektüre die für ihn intensivste Liebesgeschichte erlebt und wie ich fragt er sich, ob das am Buch lag. Während wir darüber sprechen, gehen wir in der Dämmerung die Kastanienallee entlang, und er bleibt plötzlich stehen, weil die Paletten des Obsthändlers so intensiv nach Holz riechen. Das hätte ich mal wieder gar nicht bemerkt, was bin ich für ein plumper Mensch.

Er hat damals für seine Proust-Arbeit stapelweise Karteikarten beschrieben, deren Rückseite er inzwischen als Notizzettel verwendet. Jetzt dreht er manchmal in der Kaufhalle seinen Einkaufszettel um und liest ein Proust-Zitat. Das ist eine gute Verwendung für die eigenen Werke, vielleicht sollte ich meine Manuskripte, statt sie an Verlage zu schicken, auch zerschneiden und als Schmierzettel benutzen, auf diese Art würde sich Proust noch auf Jahre in meinen Alltag mischen. Man könnte natürlich auch das Buch zerschneiden. Oder ich versteigere Ende Januar meine annotierte Proust-Ausgabe bei eBay und finanziere mit dem Erlös den Druck (mindestens meine Eltern würden ja aus Mitleid heimlich mitsteigern).

Die Gefangene, S. 362–382

Das Buch ist noch nicht zu Ende gelesen, und schon verblaßt die Erinnerung an die ersten Teile. Ich weiß noch, daß Swann seinen Freund Charlus früher dazu abgestellt hatte, mit Odette auszugehen, aber der Charlus des ersten Bands ist inzwischen ein ganz anderer für mich, wir sind gemeinsam alt geworden. In beschwingter, nachfestlicher Laune deutet Charlus im Gespräch an, er habe mit Swann in Internatszeiten … »nun, Sie werden mich nicht dazu bringen, Dummheiten zu erzählen«. Das sind Neuigkeiten! Wieder einmal wird beiläufig eine Information eingestreut, die alles bisherige in ganz neuem Licht erscheinen läßt, immer mehr Gründe sammelt man, das Buch noch einmal von vorn zu lesen.

Nichts von der drohenden Verdurinschen Verschwörung gegen sich ahnend, läßt Charlus sich auf ein gelehrtes Gespräch mit Professor Brichot über die Geschichte der Homosexualität ein und erweist sich auf diesem Gebiet als wahrer Kenner. Er ist weiß gepudert, hat rot geschminkte Lippen und glaubt einerseits, daß niemand ihn durchschaut, kann aber dem Bedürfnis sich mitzuteilen im Alter immer schlechter widerstehen. Im übrigen fühlt er sich inzwischen schon etwas aus der Zeit gefallen, wenn sogar schon im Kreise seiner Familie Tango getanzt werde. Auch die Kubisten werden erwähnt, wohl damit man ungefähr weiß, in welchem Jahr wir uns befinden.

Nach allen Regeln der Kunst wird intrigiert, um Morel von Charlus’ Falschheit zu überzeugen und die Trennung der beiden zu erreichen. Madame Verdurin harrt »mit Ungeduld der Emotionen«, die der geplante Schlag gegen Charlus ihr bereiten würde, auf den sie nicht einmal mehr verzichten könnte, wenn sie es sich noch einmal überlegen würde: »Es gibt gewisse, häufig auf den Mund beschränkte Wünsche, die, wenn man sie einmal hat anwachsen lassen, nach Befriedigung lechzen, welches auch immer die Folgen sind. Ebensowenig, wie man darauf verzichten kann, eine dekolletierte Schulter zu küssen, die man allzulange angeschaut hat und auf die schließlich die Lippen wie der Vogel auf die Schlange niederfallen, oder unter der Faszination des Heißhungers in ein Stück Kuchen zu beißen, kann man sich versagen, durch unvorhergesehene Mitteilungen Staunen, Verwirrung, Schmerz oder Heiterkeit in einer Seele zu entfesseln.« In eine dekolletierte Schulter könnte ich auch mal wieder beißen.

Unklares Inventar:

– Heliogabal, sich auf Französisch empfehlen.

Verlorene Praxis:

– Im Voraus von dem Drama trunken sein, das man heraufbeschwört.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »Man erträgt nicht immer leicht die Tränen, die man anderen erpreßt.«

139. Di, 12.12., Berlin

Wo man auch hinsieht, dieselbe Geschichte. Sogar die Beispielsätze aus dem Kapitel Verabredung/Flirt im Marco-Polo-Sprachführer »Polnisch« ergeben ein bedrückendes Dramolett, wenn man sich die fehlenden Repliken dazudenkt:

– »Hast Du für morgen schon etwas vor?« (»Co robisz jutro?«)

– …

– »Wollen wir zusammen hingehen?« (»Czy moglibysmy pojsc tam razem?«)

– …

– »Ich habe mich den ganzen Tag auf dich gefreut.« (Caly dzien cieszylem sie na spotkanie z toba.«)

– …

– »Du hast wunderschöne Augen.« (»Ty masz przesliczne oczy.«)

– …

– »Ich habe mich in dich verliebt.« (»Zakochalem sie wo tobie.«)

– »Es tut mir Leid, aber ich bin nicht in dich verliebt.« (»Przykro mi, ale ja nie jestem w tobie zakochana.«)

– »Gehen wir zu dir oder zu mir?« (»Czy pojdziemy do ciebie, czy do mnie?«)

– …

– »Ich möchte mit dir schlafen.« («Chcialbym sie z toba przespac.«)

– »Ich habe keine Lust dazu.« (»Nie mam na to ochoty.«)

– …

– »Hör sofort auf.« (»Natychmiast przestan!«)

– …

– »Aber nur mit Kondom.« (»Ale tylko z kondomem.«)

– …

– …

– »Darf ich dich nach Hause bringen?« (»Czy moge cie odprowadzic do domu?«)

– »Bitte geh jetzt.« (»Prosze idz teraz!«)

– …

– »Laß mich in Ruhe!« (»Prosze zostawic mnie w spokoju!«)

– …

– »Hau ab!« (»Odwal sie!«)

– …

Die Gefangene, S. 382–402

Was für ein Schlag! Als der nichtsahnende Charlus in bester Laune an Morel herantritt, bricht dieser öffentlich mit ihm. Einmal im Leben scheint Charlus seine Beredsamkeit im Stich zu lassen. »Was ihn verstummen ließ, war vielleicht (als er Monsieur und Madame Verdurin die Blicke wegwenden und niemand ihm zu Hilfe kommen sah) das gegenwärtige Leiden und vor allem das Grauen vor allem, was noch kommen würde.« Einen seiner hilfreichen Zornesausbrüche hätte er innerlich vorbereiten müssen, man hat ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Statt dessen stammelt er, vor dem immer alle gezittert haben: »Was soll denn das bedeuten? Was ist denn los?« Und auch im Moment größter Erschütterung verfügt man als Mensch nur über ein begrenztes Arsenal von Ausdrucksmöglichkeiten. Man könnte sich auch Masken aufsetzen: »Die ewige Pantomime panischen Schreckens aber hat sich so wenig gewandelt, daß dieser alte Herr, dem in einem Pariser Salon ein unangenehmes Erlebnis zustieß, unbewußt in das Schema der nur wenige Figuren umfassenden Attitüden verfiel, in welchen die griechische Bildkunst der ersten Jahrhunderte das Entsetzen der vom Gotte Pan verfolgten Nymphen stilistisch festgelegt hat.«

Rührend, wie die Königin von Neapel noch einmal erscheint, um ihren vergessenen Fächer zu holen, die Szene überblickend sofort alles durchschaut, die Verdurins durch Nichtachtung straft und ihrem armen, alten Vetter den Arm reicht: »Lehnen Sie sich auf meinen Arm. Seien Sie gewiß, daß er Sie immer stützen wird.« Ach, wie schön es sein muß, noble Freundinnen zu haben, die so vergeßlich sind, daß sie immer noch einmal auftauchen, wenn man sie braucht.

Anders als man hätte erwarten können, wird Charlus in der Folge keine Repressalien gegen die Verdurins in die Wege leiten. Er zieht sich eine lebensgefährliche Lungenentzündung zu. In diesem Zustand ist ihm seine Rache gleichgültig, »nachdem Monsieur de Charlus einen Augenblick an die Verdurins gedacht hatte, fühlte er sich zu erschöpft, wendete sich zur Wand und dachte an gar nichts mehr«.

Marcel verläßt nun endlich das Haus der Verdurins, er denkt ja ohnehin schon die ganze Zeit nur an die bei ihm wartende Albertine. So auch unterwegs, wo er nur sehr oberflächlich auf das Gerede von Professor Brichot achtet (was Proust nicht davon abhält, es Wort für Wort zu protokollieren). Er sieht Albertines von elektrischem Licht schwach beleuchtetes Fenster. Gleich wird er das Zimmer betreten. Früher, wenn »für mich die Stunde der Zärtlichkeit kam«, wäre er nach Venedig gefahren oder wenigstens in einen Winkel des nächtlichen Paris, jetzt findet er das Gewünschte zu Hause. Das ist für ihn eine äußerst bemerkenswerte Reform der Lebensführung. Kehrte man früher heim von Menschen, »die von außen her dem Denken Nahrung zutrugen«, und war dann zu Hause gezwungen, diese Nahrung in sich selbst zu suchen, so wartet nun die Person, »bei der ich am vollständigsten aufs Denken verzichtete«, hinter der Wohnungstür. Und deshalb sehen die von den Fensterläden herausgeschnittenen parallelen, hellen Streifen aus wie »das leuchtende Gitterwerk, das sich hinter mir schließen würde und dessen unverbiegbare goldene Stäbe ich für eine ewige Knechtschaft selbst geschmiedet hatte«.

Eine Liebeserklärung klingt anders.

Unklares Inventar:

– Eine toryhafte Form der Güte, der Teich Bethesda, Peary, spanische Kreide, Monseigneur d’Hulst.

Verlorene Praxis:

– Den Namen des Athleten, den man liebt, in den Ring der Zeusskulptur ritzen, die man geschaffen hat.

140. Mi, 13.12., Berlin

Wenn man mit siebzehn schon wüßte, was das Liebesleben für einen bereithält, vielleicht würde man dann wie Michel in »Elementarteilchen« gleich verzichten. Wenn ich zurückschaue, kommt es mir rätselhaft vor, wie ich so viele Niederlagen überstanden haben soll. In der Jugend dachte man vielleicht, der Kummer gehöre dazu und man müsse sich das spätere Glück verdienen, an das man glaubte wie an eine Erlösung. Heute sorgt das Schmerzgedächtnis dafür, daß man Frauen, die einen überfordern könnten, aus dem Weg geht, aber natürlich findet man vor allem solche Frauen reizvoll. Früher dachte ich immer, ich könnte alle Frauen von ihren Dämonen befreien, ich müßte ihnen nur die Hand auf die Stirn legen, dann würden sie schon so berechenbar wie ich, vernünftig essen und sich nicht die Arme aufritzen. Aber man weiß nichts von anderen Menschen. Ich habe in einem Buch das Foto einer sehr attraktiven Serienmörderin gesehen, wie kann diese Frau gemordet haben? Ich glaube, selbst bei ihr hätte ich mir eingebildet, sie durch meine beruhigende Ausstrahlung zur Vernunft zu bringen.

Die Pankowerin hat mir mein schönstes Geburtstagsgeschenk seit dem Schaumstoffußball von meiner Tante aus Hamburg gemacht, ich sollte die Kerzen auspusten und erst Tage danach ist mir aufgefallen, daß ich mir in dem Moment nicht gewünscht habe, daß es mit ihr klappt, sondern daß nach zwei Mißerfolgen mein nächstes Manuskript angenommen wird. Jetzt denke ich, daß es vielleicht an dieser Unaufmerksamkeit gelegen hat, denn gestern haben wir unser letztes Gespräch geführt, das sich immer noch anfühlte wie ein Gespräch zwischen Liebenden, nur daß sie danach vermutlich erleichtert war.

Und heute kam mit der Post mein neuer Vertrag.

Die Gefangene, S. 402–422

Was nun zwischen Albertine und Marcel folgt, klingt sehr verwirrend, es ist schade, daß wir nur seine Version kennen. Er lügt, um sie zu halten, und weil er lügt, geht er davon aus, daß auch sie lügt. Aber lügt sie wirklich, oder ist er nur unfähig, ihr zu vertrauen? Es geht immer noch um weit zurückliegende Episoden aus Balbec. Tatsächlich hatte sie dort dem Chauffeur zuliebe, der etwas erledigen mußte, eine Reise vorgetäuscht und war drei Tage irgendwo untergeschlüpft, um sich schrecklich zu langweilen. Doch bei ihm bewirkt das Geständnis, »daß ich mich nun wie in einer völlig zerstörten Stadt fühlte, in der kein Haus mehr steht«. Denn er kann einfach nicht glauben, daß Albertine in den drei Tagen Langeweile nicht auf den Gedanken gekommen sein soll, kurz zu ihm zurückzukehren oder ihm zu schreiben. Reicht das, um an ihrer Liebe zu zweifeln? Selbstverständlich.

Und was hatte sie nun mit der Freundin von Mademoiselle Vinteuil? Angeblich hat sie ihr gutes Verhältnis übertrieben, um sich interessant zu machen, weil er über Vinteuils Kompositionen so begeistert gewesen war und sie sich zurückgesetzt fühlte. Aber gleich darauf sagt sie ein Wort, das ihn seitenlang nicht losläßt. Sie würde sich nicht mit den Verdurins treffen wollen, »dann wäre mir schon lieber, ich wäre einmal frei und könnte es mir besorgen …«. Errötet hält sie sich die Hand vor den Mund. Wie hätte sie den Satz beenden wollen? Hat sie ein »… lassen« unterdrückt? Er wird es nicht erfahren.

Er will Schluß machen, angeblich, um ihr zuvorzukommen. Er verbietet ihr, ihm in diesem Leben wiederzubegegnen. (Daß ich das an dem Tag lese, an dem mit mir Schluß gemacht wurde, wer soll mir das glauben?) Und sie sagt: »Besser, als sich einen Finger nach dem andern abschneiden zu lassen, ist es, man legt gleich den Kopf auf den Block.«

Dieser gerissene Wortklauber, Intrigant und Zwecklügner behauptet, die Lehrmeisterin solcher Doppelzüngigkeit sei gerade die Liebe, die einen zwinge, nie das zu sagen, was man empfindet, weil man damit nichts erreichen würde: »Was ich als Kind mir als das Süßeste an der Liebe vorgestellt hatte und was mir zu ihrem innersten Wesen zu gehören schien, war, daß man bei der Geliebten seine Zärtlichkeit, seine Dankbarkeit für ihre Güte, sein Verlangen nach einem immerwährenden gemeinsamen Leben freimütig verströmen könne. Aber auf Grund eigener Erfahrung sowie der meiner Freunde war ich mir nur allzuschnell darüber klargeworden, daß der Ausdruck solcher Gefühle keineswegs ansteckend ist.« Und auch ich werde den Teufel tun, noch einmal auszuplaudern, was ich empfinde.

Erstaunliche Behauptung:

– »[D]u weißt, daß ich nicht die Fähigkeit habe, mich lange zu erinnern.«

141. Do, 14.12., Berlin

Oder Lutze, der in der Krebsforschung arbeitet, vielleicht, weil sein Vater an dieser Krankheit gestorben ist (auch wenn er das nie so sagen würde). Als Lutzes Freundin eine Stelle als Cellistin in London bekam, hat er sich dort ein Promotionsstipendium besorgt. Wenig später hat sie ihn verlassen, und er blieb allein in London. (Neulich hatte ich eine Diskussion, Menschen welcher Berufsgruppen schwieriger sind. Anscheinend eindeutig Musiker, danach Schauspieler, Tänzer, Maler und Schriftsteller.) In den Urlaub nach Griechenland mußte er jetzt allein fahren. Auf der Akropolis setzen sich zwei Tamilinnen neben ihn. Er zählt rückwärts, bis er den Mut faßt, sie anzusprechen. Bei »eins« fällt sein Blick auf seine nackten Arme und er fragt sie nach der Zeit. Sie gehen einen Kaffee trinken, dann verabschiedet er sich und bereut es sofort. Er nimmt sich vor, sie am nächsten Tag wie zufällig in der Altstadt zu treffen und tigert treppauf treppab von Restaurant zu Restaurant. Drei Tage hält er Wache auf der Akropolis. Er weiß, daß sie nach Mykonos wollten, doch er fährt auf seine Lieblingsinsel, auf der er einmal mit einer Freundin war, aber der Strand ist inzwischen zugebaut worden. Mit Ouzo und Wein verbringt er die Nacht auf einem Berg in einer leerstehenden Hütte. Er fühlt sich elend und fährt auf die Insel, auf die die beiden Tamilinnen am Ende ihrer Reise wollten, wo es den schönsten Sonnenuntergang der Welt gibt. Aber die Fähre verspätet sich um Stunden, und er sieht vom Schiff aus die Sonne versinken. Dann ist es wie eine Vorahnung, sie am Ende einer Straße zu treffen, und tatsächlich entdeckt er sie dort. Es stellt sich heraus, daß die beiden in Athen in einem deutschen Restaurant essen gewesen waren, und er hatte die griechischen abgesucht! Sie gehen in einen Irish Pub, und die beiden führen indische Tänze auf, so daß Griechen und Italiener sie umschwärmen. In dem Trubel steckt ihm die Richtige kommentarlos ihr Portemonnaie in die Brusttasche. Als sie gehen, summt sie unterwegs ein Lied aus der Bar. Er sagt, er achte bei Liedern nie auf den Text. Plötzlich nimmt sie ihm ihr Portemonnaie wieder weg und steigt in einen Bus. Er versteht die Welt nicht mehr, verbringt noch einen Tag auf der Insel und irgendwann fällt ihm das Lied aus der Bar ein: »Do you wanna come with me?« Er schlägt sich dreißig Mal mit der flachen Hand an die Stirn, fährt auf eine andere Insel, steigt dort auf den höchsten Berg und schreit eine halbe Stunde lang Flüche in die antike Landschaft. Braungebrannt und blond von der Sonne kehrt er nach London zurück und atmet auf, weil alles sehr kräftezehrend gewesen ist. Er fühlt sich wie der Messias, weil ihm die Passanten auszuweichen scheinen. Er erinnert sich nicht mehr an ihren Namen, er weiß nur noch, daß er »Gnade« bedeutete. Er sucht zwei Wochen im Internet nach einem tamilischen Wörterbuch, findet die Übersetzung von »Gnade« und findet auch eine Spur des Mädchens im Internet, einen Brief an einen Guru. Anscheinend hatte sie es doch ernst gemeint mit dieser Sekte, von der sie gesprochen hatte.

Die Gefangene, S. 422–442

Ein schmerzhaftes Prüfen der Möglichkeit einer Trennung, ein Durchleben des Kummers, obwohl es sich nur um eine »Trennungskomödie« handelt. Die Unmöglichkeit zusammenzuleben und die Unmöglichkeit, allein zu bleiben, aufgelöst in ein (von Marcel inszeniertes) Wechselspiel von vollständiger Unterwerfung der Frau (»Versklavung«), Eifersucht und Unsicherheit, die der Mann ihrer vermeintlichen Lügenhaftigkeit wegen durchlebt. Oder waren »nicht dennoch meine argwöhnischen Vermutungen Fühlfäden gleich, die die Wahrheit ertasteten«? »Außerdem spüren wir sehr wohl, daß in solchen Lügen ein Stück Wahrheit liegt, daß, wenn das Leben in unsere Liebeserfahrungen keine Veränderungen trägt, wir selbst eine solche hineinbringen oder wenigstens erfinden und von Trennung sprechen möchten, so sehr fühlen wir, daß alle Liebeserlebnisse und alle Dinge überhaupt in rasender Eile dem Abschied entgegentreiben«.

Für ihn ist diese Trennungskomödie »die große Schlacht«, in der er ein »Scheinmanöver« unternimmt. Er darf nur nicht zu hoch pokern, sonst nimmt sie seine Behauptung ernst, sich gleich morgen für immer trennen zu wollen. Tatsächlich verspricht sie ihm, ihn nie wiederzusehen, wenn er das doch wünsche, denn sie wolle ihm keinen Kummer bereiten. Im letzten Moment wird aber die Reißleine gezogen und Zusammenleben für weitere Wochen vereinbart. »Ich setzte sie auf meine Knie, nahm das Manuskript von Bergotte, das sie sich so sehr wünschte, und schrieb auf den Deckel: ›Für meine kleine Albertine zur Erinnerung an die Erneuerung unseres Abkommens.‹« Wofür Manuskripte so alles gut sein können …

Sie geht zu Bett und möchte ihn in fünf Minuten noch einmal sehen, aber als er dazutritt, schläft sie schon: »Bald hörte ich ihre regelmäßigen Atemzüge. Ich ließ mich am Rande ihres Bettes nieder, um die beruhigende Kur einer nur von diesem Hauch gewiegten Kontemplation auf mich wirken zu lassen.« (Mit anderen Worten: Er sieht ihr beim Schlafen zu.) »Ich versuchte, mir klarzumachen, welches die wirkliche innere Verfassung Albertines wohl sei.« Das ist wohl überhaupt der Kern der Angelegenheit, man kann in den anderen nicht hineinsehen, vielleicht gibt es dort drinnen gar keine »echte« Albertine, schließlich besteht sie auch aus dem, was er sich über sie denkt. Vielleicht kann man deshalb so schwer erklären, was man fühlt, weil es gar keine buchbare Gefühlssubstanz gibt, nur das Reden darüber.

Er sieht sich aber in guter Gesellschaft mit Nationen, die sich mit Krieg bedrohen, um Zugeständnisse zu erzwingen, während keine der beiden Seiten weiß, ob die andere wirklich ernsthaft zum Krieg bereit gewesen wäre, wenn man nicht eingelenkt hätte.

Unklares Inventar:

– Monsieur Delcassé, Tattersall.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »[…] weil bei einer Trennung derjenige, der nicht mit wahrer Liebe liebt, die zärtlichen Dinge sagt, während wahre Liebe sich nicht deutlich ausspricht.«

142. Fr, 15.12., Berlin

Die Kunstgeschichte läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die Megalithkulturen stellen Steine in die Landschaft, Phallussymbole. Dann bekommen die Steine Köpfe gemeißelt und es handelt sich um Krieger oder Götter. Dann sieht man genauer hin und bildet den Menschen nach. Bilder bleiben nur erhalten, wenn sie auf Haushaltsgeschirr gemalt werden. Die Römer kopieren noch einmal alles. Dann beschränkt man sich darauf, vorwiegend Jesus und seine Familie zu malen. Die individuelle Sicht des Künstlers auf unsere Existenz drückt sich darin aus, welchen Winkel der Oberkörper des Jesuskinds zum Kopf der Maria einnimmt. Die Avantgarde amüsiert sich damit, auch Jesus Hände leicht anzuwinkeln. Dann malt man wieder Götter, diesmal die antiken. Dann wird in Holland, statt auf Geschirr zu malen, Geschirr gemalt. Dann kommen Bilder von Naturkatastrophen, Vulkanausbrüchen, Unwettern, Schiffsuntergängen, eine Art Hollywood für die Wände. Und dann kommt das zwanzigste Jahrhundert, jeder, der eine Idee hat, walzt sie sein Leben lang aus, nur Picasso hat ungefähr fünf Ideen und walzt sie jeweils für zehn Jahre aus.

Heute läßt sich, was in den Galerien angeboten wird, nicht mehr von Designermöbeln unterscheiden, die ja auch möglichst keinen Zweck erfüllen, sondern bei Partygästen Fragen aufwerfen sollen. Jede neue Bildsprache erinnert nur an einen Video-Clip, den man noch nicht gesehen hat. Yves Klein hat sein Leben lang Leinwände blau angemalt und behauptet, der Himmel sei sein Meisterwerk, weshalb er über jedes Flugzeug beleidigt war. Das ist natürlich sehr originell und richtig, aber ich halte seine Leistung trotzdem für begrenzt.

So dachte ich, bis ich vor zwei Jahren in der großen Sophie-Calle-Ausstellung war und Werke wie »Countdown to Unhappiness« sah. Sophie Calle hatte ein dreimonatiges Japan-Stipendium bekommen und es, weil sie gerade frisch verliebt war, ausschlagen wollen. Sie beschloß, eine möglichst lange Anreise zu wählen, um möglichst wenig Zeit in Japan verbringen zu müssen, und nahm die transsibirische Eisenbahn. In der Ausstellung sieht man nun ihr Fototagebuch, in dem sie die neunzig Tage rückwärts zählt und jedes Bild ein Stempel schmückt: »90 days to unhappiness«, »89 days to unhappiness«, und so weiter. Sie fotografiert die Landschaft, Abteilnachbarn, einmal hat sie ein aufgeschlagenes Buch archiviert, ihre Reiselektüre dieses Tags. Dazwischen liest man Briefe an ihren Geliebten. Man spürt wie sie immer ungeduldiger die Tage zählt. Aber die Aktion heißt nicht umsonst »Countdown to Unhappiness«, denn einen Tag vor ihrem vereinbarten Treffen in New Dehli schreibt ihr der Geliebte, daß er nicht kommen wird, und im Hotel erhält sie einen Anruf, daß er sie verläßt. Deshalb ist ihr Reisetagebuch, ohne daß sie es geahnt hatte, ein Countdown ins Unglück gewesen.

Sie reagiert mit einer Aktion: »Countup to Happiness«. Denn sie bleibt in New Dehli und fotografiert jeden Tag das verfluchte Telefon, über das sie die Nachricht erhalten hatte. Neben das Bild kommt die Beschreibung dieses Moments. Immer der gleiche Bericht ein bißchen anders, wie man sich solche Dinge eben ständig wiederholt. Dazu protokolliert sie jeden Tag, was ihr ein Passant als seinen größten Schmerz im Leben schildert. Während ihr eigener Schmerz langsam nachläßt, wird die Schrift der Berichte immer blasser, bis am Ende nur die graue Fläche bleibt.

Die Ausstellung hat das Beste erreicht: daß man Lust bekommt, auch so etwas zu machen. Man braucht kein Geld, man muß nichts können, man muß nur Ideen haben.

Auf dem Nachhauseweg dachte ich mir Aktionen aus: Man könnte den Passagieren eines U-Bahnwagens ihre Lektüre abkaufen und alle zu einem Abend einladen, bei dem sie die Bücher der jeweils anderen lesen müssen.

Man könnte aus den Wohnungen seiner Freunde unbemerkt Gegenstände entwenden und daraus ein geheimes Schatzkabinett arrangieren.

Man könnte beim Großelterndienst anrufen und sich als Großvater für ein fremdes Kind verpflichten, denn dafür gibt es doch sicher kein Mindestalter.

In den nächsten Wochen empfahl ich jedem die Ausstellung mit dem Resultat, daß niemand hinging. Die Kunst hat sich anscheinend nachhaltig diskreditiert. Oder meine Empfehlungen waren nichts wert. Ich traf einen Bekannten, der selbst freischaffender Künstler ist. Er fand Sophie Calle »ganz gut«, es war ihm aber suspekt, daß sie sich »so wichtig nimmt«, ihr Privatleben auszustellen. Für mich ist es eher ein Zeichen dafür, daß mich jemand besonders wichtig nimmt, wenn er aus Schrott Objekte schweißt, sie an gutgläubige Gemeinden verkauft und auf diese Art öffentlichen Raum besetzt.

Die Gefangene, S. 442–462

»Jedesmal, wenn ich eine Tür gehen hörte, zuckte ich in ganz der Weise zusammen wie meine Großmutter in ihrer Agonie, sobald geläutet wurde.« Denn er muß immer befürchten, Albertine könnte ihn verlassen haben. Ach, wäre die Großmutter doch noch am Leben …

Überraschenderweise ist plötzlich von ein paar Blättern zwischen seinen Papieren die Rede, »in denen ich eine Erzählung über Swann und die Unmöglichkeit seines Verzichts auf Odette aufgezeichnet hatte«. Die Arbeit, an die er sich angeblich nie begibt, scheint also nicht mehr ganz ergebnislos gewesen zu sein.

Ebenso überraschend, daß nach Cottard nun auch Elstir aufersteht, um die beiden bei der Innenausstattung einer eventuell zu kaufenden Jacht zu beraten. So ein gottgleicher Umgang mit dem Romanpersonal verwundert doch etwas.

Und als drittes ist zu bemerken, daß ein kompletter Gedanke aus einer Fußnote auf der gegenüberliegenden Seite im Text auftaucht, was die Fußnote überflüssig macht. Ich hoffe, es gibt darüber schon eine Doktorarbeit.

Etwas für meine Sammlung unnützen Wissens, also Wissens, das nicht mit anderem Wissen vernetzt ist: »Aber antikes Tafelsilber ist – da es in Frankreich zweimal eingeschmolzen wurde, zuerst nach dem Frieden von Utrecht, als der König selbst, dem seine großen Herren darin folgten, das seine opferte, dann 1789 – außerordentlich selten.«

Um Albertine die Gefangenschaft angenehmer zu gestalten, werden Kleider besorgt, die ihn an Venedig erinnern, wohin er ja angeblich ihretwegen nicht reisen kann. Dennoch war sie »nicht mehr die gleiche Albertine, weil sie nicht mehr wie in Balbec unaufhörlich auf ihrem Rad zur Flucht gerüstet schien« und »weil der Wind des Meeres nicht mehr ihre Kleider schwellte«. Jetzt war sie »zu einer beschwerlichen Sklavin geworden, von der ich mich am liebsten frei gemacht hätte«.

Albertine spielt ihm auf dem Pianola Stücke von Vinteuil vor, und er erklärt ihr im Gegenzug das Wesen der Kunst, das darin bestehe, »daß die großen Schriftsteller immer nur ein einziges Werk geschaffen oder vielmehr ein und dieselbe Schönheit, die sie der Welt bringen, gebrochen durch verschiedene Medien, uns vor Augen geführt haben«. Wichtigstes Beispiel ist Dostojewski, aber beim kurzen Streifzug durch die »Brüder Karamasow« beunruhigt mich, daß ich mich an fast nichts erinnere, wozu habe ich das Buch dann überhaupt gelesen? Vielleicht ja nur, damit sich mir der Ort fest einprägen konnte, an dem ich es gelesen habe. Ein winziges Zimmer in einem Haus auf dem Dorf, das vom Kachelofen schon fast ausgefüllt wurde, das Bett, in dem ich schon als Kind geschlafen hatte, schwer lastendes Winterdunkel, ein alter Wartburg, mit dem ich nur am Wochenende zurück nach Berlin fuhr, so daß meine Freundin sich leichter ihre Zeit zwischen mir und ihrem aktuellen Verehrer einteilen konnte. Das Gute war, daß ich nicht an Eifersucht litt, mir wurde eher eine Entscheidung abgenommen. Vielleicht sollte man immer nur Beziehungen mit Menschen führen, die man nicht richtig liebt, dann leidet man weniger unter diesen anscheinend unvermeidlichen Dreiecksgeschichten.

Schließlich wird der beglückende Geruch von altem Holz auf den Champs-Elysées erwähnt, und ich frage mich, ob mein Kollege, der neulich auf der Kastanienallee neben mir stehenblieb, um den Geruch von Holzkisten vor einem Obstgeschäft einzuatmen, mit dieser Geste nur Proust imitiert hat.

Unklares Inventar:

– Die Silberschmiedemanufaktur von Pont-aux-choux. Theaterdekorationen von Sert, Bakst und Benoist. Dogaresse.

Erstaunliche Behauptung:

– »Ich bin kein Romancier.«

Verlorene Praxis:

– Werke über die Silberschmiedekunst und die Echtheitszeichen der alten Ziseleure studieren.

– Nie so gut aussehen, wie wenn man schwarzen Samt mit Diamanten trägt.

– Über seine Miene wachen.

Selbständig lebensfähige Sentenz:

– »[…] wobei ich nicht weiß, ob ich mich nun an seine Häßlichkeit gewöhnt oder seine Schönheit entdeckt hatte.«

– »Komm, kleines Mädchen, ich muß dich erst küssen, weil du dich noch so gut an meine Worte erinnerst; du darfst dann wieder zurück an dein Pianola.«

143. So, 17.12., Berlin

Die als Trost gemeinte Versicherung, er werde eines Tages glücklich sein, ist für den Unglücklichen natürlich eine Beleidigung, weil sie die Aufrichtigkeit und Haltbarkeit seiner Gefühle in Frage stellt. Lieber verwandelt man sich in ein Mahnmal seiner Leiden und widmet sein Leben wie der letzte Überlebende eines Völkermords dem Gedenken an die mißachteten Gefühle. Die Tatsache, daß man allein durch die Zeit darüber hinwegkommen könnte, scheint die Empfindungen zu relativieren. Wie kann man ernsthaft verliebt gewesen sein, wenn man es irgendwann nicht mehr ist? Man sieht es vor sich, wie sie einen dann zufällig trifft und sagen wird: »Na, siehst du …«, in demselben Ton, wie die Mutter, wenn man seinen Widerstand gegen ein Kleidungsstück aufgegeben hatte. Man zieht es an und ist vielleicht sogar schon halb überzeugt, daß es ja wirklich nicht so schlimm aussieht, aber gegen dieses »Na, siehst du …« lehnt man sich noch einmal mit gespielter Gereiztheit auf. Man will einfach nicht glücklich sein mit dieser Schlaghose.

Als könnte die Echtheit der Gefühle sie zum Einlenken bewegen. Ein Fußballtrainer muß ja auch gehen, wenn er »die Mannschaft nicht mehr erreicht«, egal ob seine Methoden modern sind und er der ideale Mann für den Verein ist. Man sollte nicht warten, bis man entlassen wird. Aber wie kann man das einseitige Verhältnis beenden und sie gleichzeitig durch die übermenschliche Anstrengung beeindrucken, die dieser Schritt bedeutet? Daß man dazu fähig war, scheint ja zu beweisen, daß alles nicht so dramatisch gewesen ist, ein Widerspruch in sich. Man kann sich ja auch nicht entscheiden, nicht mehr krank zu sein. Manchmal ist man aber so verrückt zu denken, eine Krankheit könnte einem Gerechtigkeit verschaffen. Ein hartnäckiger Husten wäre das mindeste. Zu oft ist man als Hypochonder belächelt worden, endlich ist der Beweis erbracht, daß man nicht übertrieben hat. Aber selbst, wenn man aus Liebe sterben würde, würde sie einen deshalb nicht lieben, sondern im Grunde erleichtert sein.

Man könnte die letzte SMS, die man von ihr erhalten hat, und von der man sich immer noch eine Wende erhofft, einfach ungelesen aufbewahren. Wozu soll man sich vergewissern, daß sie nichts Hoffnungsvolles enthält? Solange man sie nicht liest, kann sie ja alles enthalten. Also warum dann nicht die vagen, unbegründeten Hoffnungen auf das feste Fundament einer nicht gelesenen SMS stellen? Man könnte dann sein Leben mit der Hoffnung verbringen, daß sie doch noch zur Vernunft gekommen ist, daß man eben nur leider nie davon erfahren hat.

Wie kann man es überwinden, ohne damit seinen Zustand zu verraten wie ein Renegat? Warum erntet immer nur derjenige Bewunderung, der seinen Überzeugungen treu bleibt, während der Reformwillige vermeintlich Schwäche zeigt? Der anästhesierende Einfluß der Gewohnheit, ist er nicht in Wirklichkeit ein Geschenk des Himmels? Warum wird er dann so selten gewürdigt? In der Kunst widmet man sich immer nur dem Ausnahmezustand, warum gibt es so wenig Literatur über die segensreiche Macht der Gewohnheit?

Die Gefangene, S. 462–482

Manchmal spielt Albertine auch Rameau oder Borodin, und er fühlt sich dann entweder ins achtzehnte Jahrhundert versetzt, oder es breitet sich für ihn auf den Wänden des Zimmers die östliche Steppe aus, »in der alle Klänge in der Unendlichkeit der Entfernungen und der weichen Dämpfung durch den Schnee ersticken«. Komponiert man eigentlich anders, wenn man in einem Land lebt, wo Geräusche im Schnee ersticken? Kann man die Räume und Gerüche, das Klima und die akustischen Verhältnisse ihrer Zeit aus den Kompositionen von Beethoven oder Bach extrahieren?

Und da sitzt sie, »ein gezähmtes Wild, ein Rosenstock, dem ich Stab und Stütze, das Spalier gleichsam, lieferte, an dem sein Leben sich festranken konnte«. Es folgt das Hohelied des Marcel auf seine Freundin Albertine: »Ihre Schultern, die ich immer nur herabhängend und schmollend weggewendet gesehen hatte, wenn sie die Golfschläger heimtrug, lehnten sich jetzt an meine Bibliothek.« Oh wie schön das aussehen muß! Eine an eine Bibliothek gelehnte Golfspielerin! Ihre Beine, die »während ihrer ganzen Kindheit die Pedale eines Fahrrads bedient haben mochten«, stecken in den Schuhen, die er ihr herstellen lassen hat. Was sie natürlich auch nicht endgültig zu seinem Besitz macht, aber es ist nur konsequent für den Liebenden, über die Kleidung der Geliebten bestimmen zu wollen. Wie fühlt sich eigentlich Karl Lagerfeld, wenn er Frauen seine Kreationen tragen sieht? Oder jemand, der Dessous entwirft und sich vorstellen darf, daß täglich hunderttausende schöner Frauen in sein Werk schlüpfen und dabei eine Gänsehaut bekommen?

Ihre Finger, ihr Hals, ihre Augen, ihr Haar … Sein Zimmer ist jetzt »eine Krippe für diesen musizierenden Engel«, der wie ein Kunstwerk auf ihn wirkt. Aber wenn er sich auch »zu ihrem Besitz beglückwünschte, dauerte es nicht lange, bis sie mir wieder gleichgültig wurde. Ich langweilte mich sehr rasch mit ihr, doch hielt auch dieser Zustand nicht allzulang an. Man liebt nur da, wo man einem Unzugänglichen nachspürt, man liebt nur, was man nicht besitzt«.

Vielleicht könnte er sich ihre Untreue ja gar nicht vorstellen, wenn er nicht selbst unter Formen von Untreue leiden würde (was für ihn heißt: Blicke auf junge Radfahrerinnen zu werfen). »So wie es keine Kenntnis gibt außer der, die man aus sich selber hat, gibt es beinahe auch keine andere von der Eifersucht. Beobachtung spielt keine Rolle dabei. Nur aus der Lust, die man selbst verspürt hat, kommt einem Wissen und Schmerz.«

Diese elende Distanz zwischen den Menschen. Es gibt Regionen in ihren Augen, die ihm »unzugänglich wie der Himmel waren«. Leider kann man sich nicht aufessen, man muß sich also mit dem Betasten der Oberfläche begnügen. »Ich konnte sie streicheln, meine Finger lange über sie hingleiten lassen, doch, als betastete ich einen Stein, der noch den Salzgehalt unvordenklicher Ozeane oder den Strahl eines Sternes in sich birgt, spürte ich, daß ich nur die undurchdringliche Hülle eines Wesens berührte, das sich im Innern ins Unendliche verlor.« Der Fehler liegt bei der Natur, die zwar eine Art körperlicher Vereinigung vorgesehen hat, aber »nicht darauf bedacht gewesen ist, eine gegenseitige Durchdringung der Seelen vorzusehen«. Wäre es also besser wie von Swann empfohlen das Leben eines Sammlers zu führen und auf Frauen zu verzichten? Aber Skulpturen und Kunstwerke hätten ihn nie wie die Frau »aus mir selbst hinaus auf jenen ganz privaten Verbindungsweg zu der großen Stadt gewiesen, auf welcher vorüberzieht, was wir erst von dem Tage an kennen, da wir gelitten haben: das Leben der anderen«. Man muß also leiden, um ein Mensch zu werden.

Wie schön, sie bei sich zu haben und nachts wecken zu können! Sofort schlingt sie ihm heiter lachend die Arme um den Hals: »Als ich sie weckte, bewirkte ich nur, wie bei einer Frucht, die man aufbricht, daß der erquickende Saft daraus hervorgequollen kam.« Es sei denn, sie sagt: »Wollen wir nicht schlafen, ich muß morgen früh raus, bitte, ich bin so müde, ist das ok für dich, wenn der erquickende Saft heute nicht hervorquillt?«

Jeden Tag ist er sicher, »daß ich am folgenden mich gleichzeitig an die Arbeit machen, mich aus dem Bett erheben, das Haus verlassen und die Abreise nach irgendeiner Besitzung vornehmen könnte«. Und es bleibt rätselhaft, warum er sich eines Tages wirklich an die Arbeit gemacht hat und das ohne die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, Frauen zu beeindrucken oder seiner Familie etwas zu beweisen.

Immer noch forscht er ihren alten Lügen nach. Was hat er schon gewonnen, wenn er herausbekommt, daß sie also doch in einem Ort namens »Buttes-Chaumont« war? Aber das Gedächtnis ist geräumig: »Es ist wie eine Apotheke oder ein chemisches Laboratorium, in dem man durch Zufall ebensogut eine beruhigende Droge wie ein gefährliches Gift in die Hand bekommt.« Wieder einmal wird die Vergangenheit umgedeutet. War sie zur gemeinsamen Abreise aus Balbec nur so plötzlich bereit gewesen, weil sie in Paris Andrée treffen wollte? Er erinnert sich an diesen Tag, »wie sie den Direktor beiseite gestoßen hatte, durch dessen Bemühungen, uns zurückzuhalten, wir um ein Haar den Omnibus verpaßt hätten«. Das Den-Direktor-beiseite-Stoßen der Freundin ist doch wieder eine echte Kafka-Geste.

Angeblich wartet er nur noch auf den richtigen Moment zur Trennung. Die Jahreszeit muß passen, damit er möglichst wenig leidet und sie nicht an irgendwelche Orte reisen kann, wo sie Vergnügungen ohne ihn erleben würde. »Ich fühlte, daß mein Leben mit Albertine, soweit ich nicht eifersüchtig war, nichts als Langeweile, soweit ich es aber war, nur Leiden bedeutete.« Und vor die Wahl zwischen Langeweile und Leiden gestellt, wofür wird man sich wohl entscheiden?

Unklares Inventar:

– Ein Opal, der noch in der Matrix ruht.

Erstaunliche Behauptung:

– »[…] da ich über keine Gabe der äußeren Beobachtung verfügte und niemals wußte, was ich eigentlich sah.«

144. Mo, 18.12., Berlin, Schwedter Straße, Café Haliflor

Morrissey in der »Arena«, das Begehren von 10 000 Zuschauern richtet sich auf einen Menschen. Immer noch gelingt es mir nicht, meine Identifikation auf Konzerten so weit zu treiben, mit den anderen Zuschauern mitzusingen. Wenigstens kann man Lieder immer wieder singen, während mir noch kein Text gelungen ist, den ich nicht nach einem Dutzend Vorträgen satt gehabt hätte.

Dreimal wechselt er sein Hemd. Eigenartig gedrungene Figur, aber anscheinend nicht zur Jugend verurteilt. Selbst die Treue zur Frisur hat Stil. Einmal wischt er sich mit seinem Hemd den Schweiß von der Stirn und wirft es ins Publikum. Wenn die Menschen sich darum prügeln, von einem mit schmutziger Wäsche beworfen zu werden, hat man es wahrscheinlich geschafft. Die Zuschauer revanchieren sich, Geschenke fliegen auf die Bühne: »Thats how I receive gifts, they don’t hand them to me, they throw them.«

Eine Stimme zu besitzen, die man gegen keine andere austauschen könnte, was ist das Pendant dazu beim Schreiben?

Es war überstürzt gewesen, sich zwei Monate vorher schon zwei Konzertkarten zu kaufen.

Die Gefangene, S. 482–502 (Schluß)

Eigentlich klingen die Gründe, die in Marcels Augen für Albertines Bleiben sprechen, nicht sehr überzeugend: In acht Tagen sollen ihre neuen Kleider von Fortuny eintreffen, seine Mutter wird am Wochenende zurückkehren (es wäre unhöflich, vorher zu gehen), und sie wollten sich in den nächsten Tagen venezianische Glaswaren ansehen. Wenn man bedenkt, daß eine Karte für ein Morrissey-Konzert eine Frau nicht dazu bewegt, eine Trennung um eine Woche zu verschieben, ob man es mit venezianischen Glaswaren hätte versuchen sollen? Oder zur Sprache bringen, daß meine Mutter diese Woche nach Berlin kommt?

Aber sein Instinkt weiß schon mehr als sein Verstand. Er spürt, daß sie seinen Kuß nicht auf die gewohnte Art erwidert. »Angstvolles Grauen« erfaßt ihn, und er ruft sie noch einmal zurück, denn »solange sie da war, hatte ich das Gefühl, ich könne der Zukunft gebieten«. Als sie dann aber auf ihrem Zimmer ist, pocht sein Herz so stark, daß er nicht einschlafen kann: »Wie ein Vogel, der von der einen Ecke des Käfigs zur anderen flattert, schwankte ich unaufhörlich zwischen der Beunruhigung, daß Albertine fortgehen könne, und relativer Ruhe hin und her.« Immer wieder geht er im Kopf die Kette der Argumente durch, die für ihr Bleiben oder ihr Gehen sprechen: »So wie ein Kranker unaufhörlich in einer im Innern vollzogenen Bewegung das Organ betastet, das ihm Schmerzen bereitet.« So wie ich die letzten zwei Wochen immer wieder meinen linken Knöchel betastet habe.

Dann geschieht etwas Unerhörtes, mitten in der Nacht wird ihr Fenster jäh geöffnet. Dabei war es »eine Übereinkunft unseres gemeinsamen Lebens, daß, da ich mich vor Luftzug fürchtete, niemals des Nachts ein Fenster geöffnet wurde«. Vielleicht will sie ja damit sagen, daß sie bei ihm zu ersticken droht? So aufgelöst war er nicht mehr, seit ihm die Mutter in Combray den Kuß verweigert hat. Er geht »die ganze Nacht im Korridor auf und ab in der Hoffnung, ich werde durch das Geräusch meiner Schritte die Aufmerksamkeit Albertines auf mich lenken und erreichen, daß sie mich mitleidig zu sich rief«. Aber solche Selbstdarstellung als Schmerzensmann hilft nicht viel. Vor Jahren habe ich einmal eine Nacht auf den kalten Dielen neben dem Bett verbracht, von dem ich gerollt war, nachdem die Frau eingeschlafen war. Ich dachte, sie müßte vor meinem Extremismus erschaudern. Aber sie hat es gar nicht gemerkt. Es wäre der richtige Moment gewesen, um von Außerirdischen entführt zu werden.

Inzwischen trifft der Frühling ein, die Lust auf Venedig, den Louvre und das Luxembourg erwacht. Man geht nach Versailles, in luftiger Höhe zeigt sich wieder ein Aeroplan. Bei der Rückkehr scheint hell der Mond: »Ich wagte ihr nicht zu sagen, daß ich ihn allein oder auf der Suche nach einer Unbekannten stärker genossen hätte.« Schade, man hätte gerne gewußt, wie sie auf solch eine Bemerkung reagiert hätte. Stattdessen hält er ihr einen Vortrag über das Motiv des Monds in der französischen Dichtung und zitiert am Ende zu diesem Thema ganze Gedichte aus dem Gedächtnis. Das hat der Mond nicht verdient.

Früh wacht er auf und spürt den Benzingeruch eines Automobils: »Er mag zartempfindenden Menschen […] als ein bedauerliches Übel erscheinen, ebenso wie gewissen Denkern, die […] sich einbilden, der Mensch würde glücklicher und zu höherer Poesie imstande sein, wenn seine Augen mehr Farbe zu sehen […] vermöchten.« Nein, der Benzingeruch »beruhigte mich wie ein Landduft«. Und nicht nur das, er gibt sogar eine überraschende Madeleine ab, denn er erinnert ihn an Ausfahrten, die er in Balbec unternommen hat, während Albertine Kirchen zeichnete und er das Gefühl hatte, »an neuen Stätten einer unbekannten Frau in Liebe zu nahen«. So ist das mit der mémoire involontaire, auch Benzingeruch kann dafür herhalten. Oder in »Oedipus Wrecks«, wo Woody Allen ganz selbstvergessen an einem fettriefenden Hühnerschenkel riecht, weil er ihn an seine Geliebte erinnert.

Immer noch liegt er im Bett, und der Benzingeruch leitet ihn weiter zu einem Tagtraum von Venedig. Venedig! Wo das in Arme zerteilte Meer »eine aufs höchste entwickelte städtische Zivilisation umschlang, die sich aber, hinter ihrem azurblauen Gürtel isoliert, völlig abseits entwickelt«. Wenn das kein Selbstporträt des Autors als Stadt ist. »Jetzt, da das Leben mit Albertine wieder möglich geworden war, fühlte ich, daß mir daraus nur Unglück erwachsen könnte, da sie mich nicht liebte: besser war es, sich in der milden Süße ihrer Einwilligung von ihr zu trennen«. Ja, er geht so weit, nach Françoise zu schellen, die ihm einen Reiseführer von Venedig kaufen soll. Aber was erfährt er von dieser? Weil er den ganzen Morgen von Venedig geträumt hat, hat er nicht mitbekommen, daß Albertine das Haus verlassen hat, und zwar mit ihren Koffern! Françoise, die ja schon immer gegen das Fräulein war, hat nicht gewagt, Marcel zu wecken, weil das einen Tabubruch bedeutet hätte. So ist das Mädchen ohne Abschied verschwunden. Da aber »stockte mir der Atem, ich mußte mein Herz mit beiden Händen festhalten«. Albertine ist fort und der Band zu Ende.

Unklares Inventar:

– Gruyèrekäse.

Verlorene Praxis:

– Nicht wagen, ihr zu nahe zu kommen, »um den schönen Stoff nicht zu zerdrücken«.

– Fürchten, daß gewisse laszive Posen auf Gemälden ihr »Verlangen oder Sehnsucht nach volkstümlichen Genüssen einflößen könnten«.