101. So, 29.10., Berlin
Heute bin ich unruhig, weil mir schon morgens wieder klar geworden ist, daß ich emotional keinen Schritt weiter bin als Proust, und das fast hundert Jahre nach seinem Tod. Ich habe mich zum Beispiel immer noch nicht ganz von dem Gedanken verabschiedet, irgendeine Hollywoodschauspielerin könnte sich bei einem Berlin-Besuch in mich verlieben, wenn sie mich in der U-Bahn ein Buch lesen sieht. Sie würde sich dann wie vom Pferd gefallen fühlen, sich aus ihrer Entourage lösen und mir ihr Leben zu Füßen legen, als gehe sie ins Kloster.
Vielleicht wird das aber nie passieren, oder ich bin, wenn es soweit ist, schon verheiratet, oder ich kenne die Schauspielerin gar nicht, weil ich nicht mehr ins Kino gehe, oder sie sieht nicht aus wie Elizabeth Taylor, oder ich habe das Buch vergessen, oder ich bin beim Lesen eingenickt, oder an dem Tag unserer Begegnung ist Pendelverkehr zwischen Senefelder und Danziger. Vor meinem Lebensglück stehen zu viele Fragezeichen.
Außerdem werde ich heute keine Zeit für meinen Mittagsschlaf haben. Leider gilt der Mittagsschlaf in Deutschland immer noch als Müßiggängerprivileg oder Zeichen von Senilität, dabei teilt er den Tag in zwei gleichwertige Hälften, in denen man sich doppelt so intensiv für die Gemeinschaft aufopfern kann. Für mich ist Schlaf Arbeit, man kann auch kein Rennpferd dauernd gleich stark belasten, also warum dann mein Gehirn? Regeneration ist ein wichtiger Bestandteil des Trainings, das weiß jeder Ausdauersportler. Die Ohren verstöpselt, die Augen von einer Outdoor-Schlafmaske abgeschirmt, bin ich wenigstens einmal am Tag konzentriert. In den Minuten vor dem Einschlafen ergibt plötzlich alles einen Sinn. Ich denke dann an meine künftigen Erfolge, rechne meine Jahreseinnahmen aus, zähle durch, wieviel Bücher ich bis vierzig noch veröffentlichen kann, halte provokante Preisreden und nehme versöhnliche Ehrendoktorwürden entgegen. Ich sehe mich ein harmonisches Leben im Kreise meiner Assistentinnen führen, die mir zujubeln, während ich, für einen Amateur völlig überraschend, den New-York-Marathon gewinne. Diese Bilder aus so unterschiedlichen Lebensbereichen fügen sich in den kostbaren Minuten vor dem Einschlafen zu einem erstaunlich harmonischen Ganzen. Eine Viertelstunde nachdem ich eingeschlafen bin, tauche ich dann, wie aus einem Strudel gerissen, wieder auf. Das leichte Kopfweh, das mir den Vormittag verdorben hatte, ist verflogen, die vom Training müden Beine brennen nicht mehr. Ich sehe ungläubig auf die Uhr, dem Gefühl nach habe ich Stunden geschlafen, so weit weg war ich von allem, es sind aber nur fünfzehn Minuten vergangen. Und der heutige Tag, an dem ich diese fünfzehn Minuten nicht haben werde, erscheint mir jetzt schon verloren.
Sodom und Gomorra, S. 253–273
Genau wie ich muß Albertine in fünf Minuten los, allerdings um eine Dame in Infreville zu besuchen, die jeden Tag um fünf Uhr empfängt. Natürlich macht Marcel das eifersüchtig, zumindest regt sich in ihm die »latente Liebe, die man unentwegt in sich trägt«. Er nimmt Albertine vier Seiten lang ins Kreuzverhör und beweist ihr, daß es keinen Grund gibt, ihm diese mysteriöse Dame vorzuziehen. Dabei hat Albertine ihn eben noch »aufs leidenschaftlichste« ihrer Liebe versichert. Natürlich hindert einen das nicht, kurz darauf zu einem von einer kleinen Lüge gedeckten Rendezvous zu verschwinden. Er weist ihr ihre Widersprüche nach, aber es ist auch ein bißchen ungerecht, der Autor läßt ihm ja das letzte Wort, so daß die Sympathien bei ihm liegen. Man träumt von der sehr unwahrscheinlichen Konstellation, daß ein Autor vom Rang Prousts mit einer gleichrangigen weiblichen Autorin zusammenlebt und am Ende ihres Lebens zwei ebenso umfangreiche und einander ebenbürtige Romanzyklen vorliegen, in denen nichts die gleiche Deutung erfährt.
Marcel wechselt in seiner Haltung zu ihr von Zorn zu einem »Zustand der Waffenruhe« bis zu »freundlicher Geneigtheit«, die aber auch nicht lange anhält. Inzwischen ist er nämlich hellhörig geworden für ihre latenten lesbischen Anwandlungen, und er registriert genau, wenn ihr Blick, sobald sie ein entsprechendes Mädchen sieht, »die jähe und tiefe Aufmerksamkeit verriet, die manchmal dem Gesicht des schelmischen jungen Mädchens ein gesetztes, ja ernstes Aussehen gab«. Oder wenn Andrée »schmeichelnd den Kopf an Albertines Schulter lehnte und sie mit halbgeschlossenen Augen in die Beugung des Halses küßte«. Andere Männer mögen solche Kleinigkeiten zur Kenntnis nehmen, »ohne daß ihre Gesundheit oder ihre Stimmung dadurch beeinträchtigt wird, während sie Krankheits- und Leidensträger für in dieser Hinsicht anfällige Wesen darstellen«. Aber sein Gedächtnis spielt seiner Leidensbereitschaft zu, weil er retrospektiv noch Albertines kleinste Gesten umdeutet. Für diese Form von Eifersucht braucht man dann gar keine Realität mehr, es ist eine »Selbstintoxikation«. Sollte er Albertine jemals lieben, so wird er viel zu leiden haben, das ist ihm jetzt schon klar. Also nichts wie weg und auf die nächsten drei Bände verzichten?
Nun kommt für Marcel und seine Mutter ebenso wie für den Leser eher ungelegen der Besuch Madame de Cambremers, die über die Vor- und Nachteile ihrer beiden Landsitze und über ihre Lieblingsmaler reden will. Man geht dazu ins Hotel: »Der bequemste Raum im Hotel, um jemanden zu empfangen, war der Lesesaal, jener einst so erschreckende Ort, den ich jetzt zehnmal am Tage betrat und als mein freier Herr wieder verließ, wie jene leichtkranken Irren, die schon seit langer Zeit Pensionäre eines Heimes sind und denen der Arzt den Schlüssel des Hauses anvertraut hat.«
Die Madame hat – was bisher als einziges ihre Aufnahme ins Buch entschuldigt – ein schadhaftes Gebiß: »Jedesmal, wenn sie von Ästhetik sprach, traten ihre Speicheldrüsen, wie diejenigen gewisser Tiere im Augenblick der Brunst, in eine Phase der Hypersekretion ein, so daß der zahnlose Mund der alten Dame im Winkel ihrer mit einem leichten Bärtchen bedeckten Lippen ein paar Tropfen durchsickern ließ, die nicht dort hingehörten. Sofort schluckte sie sie auch schon wieder mit einem tiefen Seufzer zurück wie jemand, der eben zu atmen beginnt.« So eine körperliche Eigenheit hat den Vorteil, daß die durch die Lippen sickernden und aufgeschluckten Tropfen das Echtheitssiegel ihrer Äußerungen sind.
Monet, Manet oder gar Le Sidaner, wer ist das größere Genie? Sogar man selbst ändert ja im Lauf der Zeit seine Meinung: »Sie bewies ebensoviel Gewissenhaftigkeit wie Entgegenkommen darin, mich über die Entwicklung ihres Geschmacks zu informieren. Man hatte dabei das Gefühl, daß die Phasen, durch die dieser ihr Geschmack hindurchgegangen war, ihrer Meinung nach nicht weniger wichtig waren als die verschiedenen Manieren von Monet selbst.«
Aber wie soll man Menschen in Geschmacksfragen überzeugen, wenn sie den langen Weg zu dem uns eigenen verfeinerten Geschmack selbst zurücklegen müßten, um mehr als nachzuplappern? Man kann ihnen diese Arbeit am eigenen Urteil ja nicht abnehmen. Deshalb ist es eigentlich sinnlos, darüber zu sprechen. »Dennoch mußte sie sich ja bewußt sein, daß sie mit den Worten: ›Aber nein, es ist ein kleines Meisterwerk‹ bei der Person, die sie damit zurechtwies, nicht den gesamten Ablauf einer künstlerischen Kultur improvisieren konnte, an deren Ende sie sich dann geeinigt hätten, ohne noch weiter diskutieren zu müssen.«
Ach, wenn Proust sich doch öfter auf seinen Humor verlassen würde! »›Das ist ganz wie in Pelléas‹, sagte ich, um ihrer Neigung zur ›Moderne‹ entgegenzukommen, ›dieser Rosenduft, der bis zu den Terrassen aufsteigt. Es kommt einem so machtvoll aus der Partitur entgegen, daß ich selbst, da ich an Heuschnupfen und an Rosenfieber leide, jedesmal niesen mußte, wenn ich diese Szene hörte.‹« Vielleicht kommt einem das aber nur komisch vor, weil solche kostbaren Frechheiten von narrativen Schlackebergen umstanden sind.
Zuletzt wird Albertine wieder ein wenig vorgeführt, weil sie die Frage, ob sie in Holland »die Vermeers« gesehen habe, verneint, »sie glaubte, es handle sich um irgendwelche lebenden Menschen«. Ja, wir verlieben uns immer unter Niveau.
Unklares Inventar:
– Dolman.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– »›Es ist ganz merkwürdig‹, setzte sie hinzu, während sie einen durchdringenden und entzückten Blick auf einen unbestimmten Punkt im Weltall heftete, wo sie offenbar ihr eigenes Denken abgezeichnet fand.«
Verlorene Praxis:
– Sich nicht anmerken lassen, wie man nicht ohne Vergnügen einzelne Tränen in ihren Augen hängen sieht, von den schonungslosen Dingen hervorgelockt, die man ihr gesagt hat.
– Jeden Morgen im Morgenkleid durch ein Pförtchen das Pfarrgärtchen aufsuchen, um die Pfauen zu pfüttern.
102. Mo, 30.10., Berlin
Die Redaktionssitzung der kleinen Literaturzeitschrift, für deren aktuelle Ausgabe ich Gastredakteur bin, fand im Wedding statt. Der Flur des Hauses wirkte wie unsere Flure früher im Osten, als hätte man einfach die Seiten vertauscht, was man durch Umbenennung der Himmelsrichtungen auch einfacher hätte haben können. Das Abendlicht, das durch die gemusterten Preßglasscheiben fiel, der Geruch von abgestandener Erbsensuppe, das alte, blankgescheuerte Linoleum, die Fassade auf dem Hinterhof, von der der Putz abblätterte. So hatte ich es haben wollen, als ich aus dem Neubau in den Altbau zog, und so war es damals auch noch bei uns.
Da die anderen Redakteure seit fast zwanzig Jahren mit Einsendungen für ihr Heft zu tun haben, kennen sie ihre Pappenheimer. Es gibt, das kann man sagen, wenige Texte, die nicht so sind, wie sie nicht sein sollten. Ich weiß jetzt, was nicht gut ankommt: Texte, in denen über die Bahn geschimpft wird, Texte, in denen der Autor behauptet, die Welt wäre besser, wenn alle Menschen wären wie er, Texte über junge Väter, Texte, in denen am Ende aufgewacht wird, Katzentexte, Märchen, Texte über peinliche Prominente, Texte über Drogen, Texte übers Schreiben, lange Texte.
Prousts Text ist ja lang, es wird hier und da aufgewacht, es geht ganz entschieden ums Schreiben, es kommen viele peinliche Prominente vor, der Autor denkt mit Sicherheit, die Welt wäre besser, wenn alle Menschen wären wie er (wie könnte man andernfalls auch weiterleben?), allerdings wird die Bahn mit Wohlwollen betrachtet, der Text ist kein Märchen, der Held wird voraussichtlich nicht Vater werden und Katzen kamen bisher erfreulich selten vor. Wenn man ihn überreden könnte, alles auf drei- bis viertausend Zeichen zu kürzen, hätte er eine Chance, von uns gedruckt zu werden.
Sodom und Gomorra, S. 273–293
Madame de Cambremer und ihre Schwiegertochter Madame de Cambremer-Legrandin sind sich uneinig über Chopin, die ältere ist »noch in der Verehrung Chopins erzogen worden« und hat ihren Anschlag bei einer Lehrerin erlernt, die Chopin noch hat spielen hören.
Marcel möchte sich gegenüber Madame de Cambremer-Legrandin für Chopin einsetzen und wendet dabei eine interessante Gesprächstechnik an: »Ich machte mir ein Vergnügen daraus, sie darüber zu belehren – doch nur, indem ich mich in dieser Absicht an ihre Schwiegermutter wendete, so wie man beim Billardspiel, um eine Kugel zu treffen, über die Bande spielt –, daß Chopin, weit entfernt, aus der Mode zu sein, der Lieblingskomponist Debussys sei.«
Madame de Cambremer-Legrandin hat bei den Cambremers übrigens eingeheiratet, um das Vergnügen auskosten zu können, dann einen Onkel namens »de Chenouville« zu haben, und ihn, einer Familientradition gemäß, »Onkel de Ch’nouville« auszusprechen. Ein etwas dürftiger Anlaß für eine Eheentscheidung, möchte man meinen.
Leider kann niemand verhindern, daß die Madame Marcel eine Einladung ausspricht, sie will ihm Chopin vorspielen. Vielleicht findet er ja noch eine Ausrede, es würde dem Buch guttun. Als sie schließlich endlich in ihre Kalesche steigt, heißt es: »Der Gerichtspräsident erwies mir, ohne es zu wollen, einen sehr großen Dienst, indem er die Marquise am Arm faßte, um sie zu ihrem Wagen zu führen.«
Albertine folgt ihm auf sein Zimmer und will wissen, was er gegen sie habe, weil er so oft unfreundlich zu ihr sei. Der Schlingel sucht aber nicht die Versöhnung, sondern setzt noch einen drauf, mit dem Ziel, »meine Freundin zu mir in eine Situation von Furcht und demütigem Flehen zu bringen«. Er lügt ihr nämlich vor, insgeheim eine große Leidenschaft für Andrée zu hegen, ein falsches Geständnis, bei dem ihm dennoch die Tränen kommen. Um noch glaubwürdiger zu erscheinen, gesteht er zudem ein, sich früher einmal fast in Albertine verliebt gehabt zu haben. Dieses widersprüchliche Verhalten findet er typisch für Menschen wie ihn, die zu sehr an sich selbst zweifeln, um an die Liebe einer Frau glauben zu können. Sie wissen, »daß ihre Gefühle, ihre Handlungen in keinem nahen und notwendigen Zusammenhang mit der geliebten Frau stehen, sondern neben ihr herlaufen, sie zuweilen mit kleinem Wellenschlag berühren oder sie rings umfluten wie die Woge, die sich an den Felsen bricht; das Gefühl ihrer eigenen Wandelbarkeit aber vermehrt bei ihnen noch die mißtrauische Befürchtung, daß diese bestimmte Frau, von der sie so gern geliebt sein würden, sie gewiß nicht liebt«. Und wenn der Zufall dem »Anbranden unserer Wünsche« so ein beliebiges Objekt bereitgestellt hat, verwirrt einen zudem, »daß die Sprache, die wir ihr gegenüber verwendet haben, nicht eigens für sie erschaffen ist, sondern uns schon für andere gedient hat und wieder dienen wird«. Und es ist ja nicht nur immer dieselbe »Sprache«, die uns bei jeder aufs neue dienen muß! Man kann sich natürlich immer in Frauen aus dem Ausland verlieben, dann muß man sich wenigstens sprachlich nicht wiederholen. Oder man lernt gemeinsam mit seiner Geliebten eine ausgestorbene Sprache, die man dann ausschließlich zu zweit spricht, nur um die ärgerlichen Klischees und Tautologien der Liebessprache zu vermeiden. Oder man verzichtet aufs Sprechen und drückt seine Gefühle anders aus, zum Beispiel mit Stepptanz.
Unklares Inventar:
– Ranunculacee, Chiné-Seide.
Verlorene Praxis:
– Mit einer sanften Freundlichkeit zu ihr sprechen, die man sich seit so langer Zeit versagt hat und die einem nunmehr köstlich scheint.
103. Di, 31.10., Berlin
Zur traditionellen »Traumzaubernacht«, in der die Kinder von Freitag bis Sonnabend im Kindergarten übernachten werden, sollen getrocknete Blätter mitgebracht werden. Es regnet aber, und ich bin zu faul, Laub zu sammeln. Ich weiß auch gar nicht, wo man Löschpapier zum Pressen kaufen kann. (Sachen, von denen ich nicht weiß, wo man sie bekommt: Schaumgummiüberzug für Kopfhörer, Schlafmützen.) Diese Maßnahme erinnert mich an die Methode, mit der einem in der Schulzeit immer die großen Ferien verdorben wurden, weil man zum ersten Schultag für den Biologieunterricht ein Herbarium anfertigen sollte. Ich habe das bis zum letzten Ferientag vor mir hergeschoben, um dann an einem trüben Sonntagnachmittag über nasse Wiesen zu irren, in der Hoffnung, vielleicht doch noch mehr als nur das gemeine Wiesengras zu finden, alles andere hätte man früher sammeln müssen. Zu Hause mußte man die kümmerlichen Fundstücke pressen und bestimmen.
Pflichten schob man prinzipiell vor sich her, so daß man eigentlich immer bedrückt war und sich nie richtig frei fühlte. Heute sind es andere Pflichten, aber das Gefühl ist dasselbe, es liegt immer irgend etwas Unangenehmes an. Denkt man an damals, fragt man sich, warum man so gelitten hat, es war doch alles nicht so wichtig. Die anderen hatten natürlich die schöneren Herbarien (vom Familienurlaub im Ausland), manche hatten West-Tesafilm (der sogar klebenblieb), meine Schrift war die krakeligste von allen, die Bleistifthilfslinien ließen sich nicht richtig wegradieren. Aber wer spricht heute noch von seinen Herbarien?
Ein ähnlich bedrückendes Gefühl kam auf, wenn man seine Mütze vergessen hatte und noch einmal zur Schule gehen und den Hausmeister danach fragen sollte. So einen schrecklichen Gang war mir eine Mütze natürlich nicht wert, aber meine Eltern fanden, ich müßte das lernen. Dabei gab es in unseren Schränken Mützen wie Sand am Meer. Aber man wurde dazu erzogen, unangenehme Pflichten hinter sich zu bringen, danach würde man sich besser fühlen, hieß es. Zweifellos fühlt man sich besser, wenn man es hinter sich hat, aber noch besser fühlt man sich, wenn es jemand anderes für einen macht.
Dieselben Pflichten kehrten Jahr für Jahr wieder: sich eine Erfindung für die »Messe der Meister von Morgen« ausdenken, ein Objekt für die »Galerie der Freundschaft« basteln, Dankesbriefe für die Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke schreiben, beim Erntedankfest nach dem Gottesdienst mit den anderen Gemeindekindern singend durch die Altersheime ziehen und Obstkörbe verteilen, Geburtstagsbriefe an die Paten schreiben, am Klamottenaussortiertag stundenlang zu enge, knisternde Pullover überstreifen. Dazu jede Woche fünf Mülleimer und Papierkörbe, die einen schon auf dem Hausflur erwarteten, wenn man am Sonnabend aus der Schule kam, und die man leeren und auswaschen mußte, weil sie nach ausgelaufener Milch und Kartoffelschalen stanken, trotz Zeitung am Boden. Besser, man brachte sie gleich runter, aber man konnte es auch aufschieben und erstmal fernsehen. Oder man versuchte, den Müll irgendwie zu komprimieren oder heimlich in der Wohnung zu verteilen, was viel länger dauerte, als ihn wegzubringen, aber darum ging es nicht, es war irgend etwas am Müllwegbringen, was einen existenziell quälte, vielleicht, daß man dafür die Wohnung verlassen mußte.
Faulheit? Oder wollte mich eine innere Stimme in die richtige Richtung lenken, nicht daß ich am Ende an solchen Dingen Freude empfände und vergäße, wozu ich eigentlich bestimmt war? Aber wenn man sich einmal ansieht, zu welchen Tätigkeiten ich nicht erst mühsam angetrieben werden mußte, was wollte mir meine innere Stimme dann damit sagen? Es waren Fußballspielen, Fernsehen, Kokeln und Topfschlagen. Wie konnte man aus diesen Interessen ein passendes Berufsbild ableiten?
Sodom und Gomorra, S. 293–313
In dem Moment, wo in Albertines Gesicht Trauer und Niedergeschlagenheit verschmelzen und es nicht mehr »die wache, lebensfrische Miene einer widerspenstigen, verderbten Katze mit kleiner rosa Stupsnase zeigte«, fühlt er, wie Güte ihn durchströmt. Das ist die Strategie von Zuckerbrot und Peitsche, dem »rhythmischen Schwanken zwischen Liebeserklärung und Bruch (dem sichersten, dem so außerordentlich wirksamen und gefährlichen Mittel, um durch aufeinanderfolgende, entgegengesetzte Bewegungen einen Knoten zu schürzen, der sich nicht mehr lösen läßt und uns fest an eine Person bindet)«.
Er wirft ihr und Andrée offen vor, wie gewisse lasterhafte Frauen von »schlechtem Genre« zu sein. Aber was nützt es, sie zur Rede zu stellen? Sagt sie die Wahrheit, glaubt man ihr nicht, lügt sie, läßt man sich gern belügen. Gespräche mit der Geliebten laufen außer Konkurrenz: »Es liegt übrigens im Charakter der Liebe, daß sie uns gleichzeitig mißtrauischer und leichtgläubiger macht, uns dazu bringt, leichter als jede andere die Geliebte zu beargwöhnen, ihren Beteuerungen aber auch desto bereitwilliger Glauben zu schenken.« Soll er sie so beurteilen, wie er sie erlebt oder sich daran erinnern, wie es Swann mit Odette ergangen ist? Jeder Mensch will ja einzigartig sein, aber gibt es wirklich so viele unterschiedliche Charaktere? Die Szene, die er ihr gemacht hat, hat sich jedenfalls gelohnt, denn am Ende ihres Zerwürfnisses »fuhr sie leicht mit der Zunge über meine Lippen, die sie dabei ein wenig zu öffnen versuchte«. Und ich hätte gedacht, sie wären eigentlich schon viel weiter gewesen.
Noch ist es nicht zu spät! Er kann sich immer noch ein nettes, unkompliziertes Mädchen suchen: »Ich hätte an jenem Abend abreisen sollen, um sie nie mehr wiederzusehen. Damals schon fühlte ich voraus, daß man in einer nicht erwiderten Liebe – man kann ebensogut sagen, in der Liebe überhaupt, denn für manche Wesen gibt es keine erwiderte Liebe – vom Glück nur dies Trugbild erleben kann, wie es mir in einem jener einzigartigen Augenblicke zuteil wurde, bei dem die Güte einer Frau, oder ihre Laune, oder der Zufall unseren Wünschen in vollkommener Harmonie mit den gleichen Worten und Handlungen entgegenkommt, als würden wir wirklich geliebt.«
Fürchte die heißen Tage, denn bei Marcel ist es so, daß, wenn es so heiß ist, daß »von der Stirn der auf dem Hof arbeitenden Knechte in der Sonnenhitze ein Tropfen Schweiß ganz senkrecht regelmäßig in gewissen Abständen niederfiel wie ein Wassertropfen aus einem Reservoir« – man könnte vielleicht auch kürzer sagen: »bei vierzig Grad im Schatten« –, er dazu neigt, Verabredungen abzusagen, um die Bekanntschaft einer Frau zu machen, von der man ihm bisher lediglich erzählt hat. In der Stadt und bei kaltem Wetter würde man sich in die gleiche Frau nicht verlieben.
Aber, wenn er ein geeignetes Opfer ausmacht, »so befand sich doch zwischen meinem Wünschen und dem Handeln, das in diesem Falle in der Bitte, sie küssen zu dürfen, bestanden hätte, ein undefinierbarer weißer Fleck aus Zögern und Schüchternheit«. Dafür gibt es natürlich Abhilfe. Er geht zum Konditor und nimmt acht (!) Glas Portwein zu sich. Danach scheint es ihm, »daß das junge Mädchen mir einfach zufliegen müsse«. Der Nachteil an dieser Methode ist lediglich, daß das junge Mädchen ja seinerseits keinen Portwein getrunken hat und deshalb nicht so klar wie der Junge erkennt, was ansteht.
Technikgeschichte: Die ersten Briefe einer Frau, als man noch Briefe schrieb: »Man möchte sie unaufhörlich bei sich haben wie Blumen, die man noch ganz frisch als Geschenk erhalten hat und die man unaufhörlich betrachten und deren Duft man aus immer größerer Nähe genießen kann.« Man liest sie immer wieder, man möchte »von neuem feststellen, in welchem Maße der eine oder andere Ausdruck von geheimer Zärtlichkeit zeugt«. Und man löscht sie erst vom Handy, wenn die nächste Frau aktuell wird, dann aber radikal und ohne Bedauern. Dabei sind die Arten des Verlangens weniger zahlreich als die Mädchen, denen sie gelten, so auch die anschließenden »Enttäuschungen und […] Traurigkeiten, die große Ähnlichkeit untereinander hatten«.
Zwei private Bedienungen von ländlicher Abstammung kommen manchmal auf sein Zimmer und reden auf ihn ein, während er sein »Hörnchen in die Morgenmilch tauchte«. Aber die »mit ungebärdiger Natürlichkeit«, und dadurch schon fast »literarisch« vorgebrachten »aufrichtigen kritischen Bemerkungen« über ihn lesen wir erst morgen. Wenn dazu dann Zeit ist, wir müssen ja noch buntes Laub für die »Traumzaubernacht« pressen, den Müll trennen und dem Hausmeister zum Geburtstag gratulieren.
Unklares Inventar:
– Ballettratte.
Verlorene Praxis:
– Als Mutter fürchten, in ungeschickter Weise in das Leben des Sohns einzugreifen.
– Als Frau die Lektüre eines jungen Mannes nicht nach dem beurteilen, was einen selbst schockiert.
– Lust bekommen, ein herrliches Geschöpf in eine Tamariskenallee zu führen.
– Sich in einer dunklen Ecke des großen Tanzsaals auf einem Sofa genausowenig genieren, als sei man zu Hause in seinem Bett.
104. Mi, 1.11., Berlin
Von heute auf morgen ist ein Kommando von Bauarbeitern aufgetaucht, um am Kollwitzplatz meine Laternen auszutauschen, ohne die ich nicht mehr leben kann. Die RSL 1 (Rostocker Straßenleuchte) ist seit den Sechzigern vom VEB »Pößnecker Außenleuchten« hergestellt worden. Die neuen Masten stehen schon, sind aber noch in Zellophan verpackt, als seien sie ein Geschenk an die Bürger. Ich würde dem für diese Maßnahme Verantwortlichen gerne den Hals umdrehen. Vom Preis einer einzigen Laterne könnte ich einen Dreipersonenhaushalt vermutlich ein Jahr lang zum Essen einladen, und es bliebe am Ende sogar noch etwas übrig. Ich frage mich, warum ich ständig wählen gehen soll, wenn ich gegen solche Eingriffe in mein Leben nichts tun kann. Wie soll man die Klagen über die wirtschaftliche Misere dieser Stadt ernst nehmen, wenn man auf Schritt und Tritt beobachten muß, wie Dinge gegen Dinge ausgetauscht werden?
Von mir aus können sie die ganze Stadt mit ihren Laternen spicken, aber müssen die alten Laternen verschwinden, wo es schon nur noch so wenig gibt, was es schon gab? Oft haben gerade die Laternen überlebt, weil sie dort oben keiner beachtet hat, sonst wäre der Fernsehturm vermutlich auch nicht mehr da. Vor unserem Haus in Berlin-Buch stand natürlich auch eine RSL 1, und wir haben immer vom Balkon aus versucht, den runden Blechdeckel mit Kartoffeln zu treffen. Sie hatte etwas Anthropomorphes, ein einbeiniger Mann mit Blechscheibe als Mütze. Es gibt ja kaum Lampen, die nicht scheußlich aussehen, und Laternen sind oft so abstoßend, daß man sich nicht mal daran aufknüpfen würde. »Nein! Nicht die Laternen!« möchte man rufen, wie im Film, wenn Soldaten eine Wohnung plündern und sich die Mutter schützend vor ihre Kinder stellt. Sie werden trotzdem verschleppt, und die Mutter sinkt schluchzend zusammen, sie wird ab jetzt nichts mehr essen und im Lauf des Films den Verstand verlieren. Ich habe kurz überlegt, ob ich es mit so einer Nummer beim Verantwortlichen der Laternenliquidierung versuchen sollte, aber ich finde immer, die Menschen sollen ihre Fehler selber einsehen und sich schämen, das ist doch wirksamer, als wenn man sie belehrt.
Mit solchen Themen begeistert man vermutlich kein Massenpublikum. Ich habe mal vorsichtig in der Branche angefragt, ob Interesse bestände, diesen Proust-Kommentar eines Tages zu drucken. Nein, hieß es, höchstens, wenn ich alles über Proust weglasse. Es wird wohl darauf hinauslaufen, daß ich mit »Suchen und Ersetzen« für »Proust« und »Recherche« überall »Hitlerbrüste« und »Nazi-Diät« einsetze, man muß ja sehen, wo man bleibt. Die wenigen, die das Buch wegen Proust kaufen sollten, könnten das dann ja wieder rückgängig machen.
Sodom und Gomorra, S. 313–333
Endlich erfährt man, wie Marcel aussieht, und zwar aus dem Mund von Céleste, einer der beiden Dienerinnen ländlicher Abstammung, die ihn so gern auf seinem Hotelzimmer besuchen: »›Ach, diese Stirn, die so rein aussieht und doch so viele Dinge verbirgt, diese Wangen, die so freundlich und frisch sind wie das Innere einer Mandel, die kleinen samtweichen Hände, die dabei doch Nägel haben wie Krallen … Sieh nur, Marie, jetzt trinkt er seine Milch mit einer Andacht, die mir Lust macht, ein Gebet zu sprechen.‹« So etwas hat noch keine zu mir gesagt, dabei sehe ich bestimmt genauso aus beim Milchtrinken.
Außerdem erfahren wir, daß er es nicht leiden kann, wenn man ihm eine Serviette umbindet. Aber zu wissen, was jemand nicht leiden kann, sichert einem natürlich noch nicht unbedingt seine Sympathien, er weiß ja nicht, daß man es unterläßt und ihm ganz bewußt keine Serviette umbindet, wenn man ihm begegnet, es ist eine dieser heimlichen Aufmerksamkeiten, die immer unentdeckt bleiben werden. »Was für ein angenehmer Zeitgenosse, er hat mir keine Serviette umgebunden«, so denkt man ja nicht.
Marcels »sorgenvolle Voreingenommenheit in Richtung Gomorra« wird noch befestigt, weil sich eine schöne, schlanke, bleiche junge Frau am Strand aufhält, die eigentlich etwas für ihn wäre: »Ich stellte mir vor, wieviel schöner sie eigentlich sei als Albertine und wieviel vernünftiger es doch wäre, auf diese zu verzichten.« Aber im Kasino wirft diese Person Albertine sehr intensive Blicke zu: »Man hätte meinen können, sie gebe Signale wie ein Leuchtturmwärter.« Er ist sich sicher, daß sich die beiden schon von früher kennen, für ihn sind es nämlich »erinnerungsgesättigte Blicke«. Außerdem ist er ja ein großer Kenner der weiblichen Kommunikation, und er weiß deshalb, daß, wenn zwei junge Mädchen »diese ganz spezielle Art von Interesse« füreinander zeigen, sich ein optisches Phänomen vollzieht, »indem eine Art von phosphoreszierender Bahn von einer zur anderen lief«.
Aber Albertine reagiert nicht, und so empfindet die schöne, schlanke, bleiche junge Frau das Erstaunen eines Ausländers in Paris, der »seinen ständigen Wohnsitz nicht in dieser Stadt hat und, wenn er dort einmal wieder einige Wochen zu verbringen gedenkt, an der Stelle des kleinen Theaters, in dem er so hübsche Abende zu verleben gewöhnt war, den Neubau eines Bankgebäudes erblickt«. Ich erkenne dich gar nicht wieder. Wo früher ein kleines Theater war, steht heute eine Bank.
Listig, wie er ist, rät Marcel Albertine, wieder zu malen: »Wenn sie arbeitete, würde sie sich nicht fragen, ob sie glücklich sei oder nicht.« Deshalb hat man ja früher so viel gestrickt. Das hätte die Frau von Mika Häkkinen ihm mal vorschlagen sollen, aber statt dessen hat sie ihm geraten, wieder ins Tourenwagengeschäft einzusteigen, weil er zu Hause so trübsinnig wurde.
Marcel freut sich darauf, Albertine in der Bahn die ganze Fahrt über zu küssen, er kommt aber dann nicht dazu, weil im Waggon eine Frau sitzt, die er dem Aussehen nach für eine Puffmutter hält. Da diese weder in Egreville, noch in Montmartin-sur-Mer, noch in Parville-la-Bingard, noch in Incarville, noch schließlich in Saint-Frichoux aussteigt, beginnt er, Albertine einfach trotzdem zu umarmen.
Auf dem Bahnsteig sehen sie Monsieur Nissim Bernard, Blochs Onkel, der jeden Mittag ins Hotel kommt, um sich von einem Diener, auf den er ein Auge geworfen hat, das Essen bringen zu lassen. Nun hat er es außerdem auch noch auf einen Bauernburschen abgesehen, dessen Gesicht wie eine Tomate aussieht und der einen für ältere Herren unempfänglichen Zwillingsbruder hat. Da Monsieur Nissim Bernard die beiden nicht auseinanderhalten kann, holt er sich immer wieder eine Abfuhr vom Falschen, was ihn verdrießt, und: »Auf die Dauer faßte er auf Grund einer Ideenassoziation eine […] Abneigung gegen Tomaten.« So wird uns Gemüse auf Gemüse verleidet, weil die eine Verflossene wie ein Kürbis aussah und die andere wie eine Kartoffel. Es ist traurig, am Ende werden wir uns geschmeidig und ähnlich akrobatisch durchs Leben bewegen müssen wie Vincent Cassel in »Ocean’s Twelve« durch die Lichtschranken des Bankgebäudes, um den Assoziationen auszuweichen, die uns an Frauen erinnern, mit denen wir nicht glücklich geworden sind.
Unklares Inventar:
– Coldcreme.
Verlorene Praxis:
– Nie die Hand gegen jemanden erheben müssen, weil man mit seinen Augen alles erreicht, was man will.
– Wege finden, während man sich mit einem Hund abgibt, immer wieder dessen Herrn zu streifen.
105. Do, 2.11., Berlin
Ohne Grund fiel mir gestern ein, wie der Schienenersatzverkehrbus auf dem Weg von Kahla nach Jena immer in Göschwitz hielt und die Fahrgäste geduldig warteten, während der Busfahrer am Kiosk einen Kaffee trank, und man durchs Fenster den Mechanikern von der Autowerkstatt nebenan zusah, die gemeinsam einen Abschleppwagen einwiesen und danach noch beieinanderstanden, um Männergespräche zu führen. Als sich die Runde aufgelöst hatte, ging der Chef wieder nach hinten, blieb aber noch einmal kurz stehen, bückte sich mit seinem kaputten Rücken und sammelte ein paar Zigarettenkippen aus der mickrigen Blumenrabatte. Ich stelle mir dann immer zwanghaft vor, wie ich mich in solch einem Leben machen würde. Vermutlich habe ich mir das Bild nur gemerkt, weil ich ein Jahr lang an den Kippen vorbeigegangen wäre, ohne den Entschluß zu fassen, mich danach zu bücken. Wenn man sich immer nur merkt, was für einen nicht selbstverständlich ist, hat man am Ende natürlich ein eigenartiges Bild der Welt im Kopf.
Der Bus fuhr dann weiter durch den Industriepark vor Jena, und man sah mit Bedauern, wie sich heute in solchen Gewerbegebieten, die früher einmal Gegenden mit Charakter waren, nur noch mit Firmen gefüllte Schuhkartons aneinanderreihten. Gewindefabrik. Feuerverzinken. Jenoptik. Spedition. Präzisionsteile. Lithotec. Für das Angenehme im Leben gab es einen »Schlemmer-Treff« und einen »Vicious-Loveclub«.
Nach Jena mußte ich, weil ich wieder am Rumänisch-Intensivkurs teilnahm. Bei Rumänisch gucken immer alle ungläubig und wollen einen plausiblen Grund wissen, warum man diese Sprache lernt. Ich sage dann, daß »vrajitor« auf Rumänisch »der Zauberer« ist, und wenn man bedenkt, daß »wratch« im Russischen der Arzt ist, aber in den anderen slawischen Sprachen der Arzt immer etwas Ähnliches wie »lekar«, dann reicht das doch als Grund. Wie sich die Semantik verschiebt, Wörter »frei« werden, und andere Bedeutungsnuancen in den Mittelpunkt rücken. Es wäre doch traurig, wenn man nur die Hälfte der Geschichte kennen würde, weil man sich die Nachbarsprachen nicht ansieht.
Auf dem Hof der Uni in Jena verrosten verklumpte Schrottberge, die von Frank Stella zusammengeschweißt wurden und die er dieser Kleinstadt in einem sicher von den Nachwendewirren verursachten Moment der Unaufmerksamkeit andrehen konnte. Ich habe immer Angst, daß der normale, Kunst nicht für selbstverständlich nehmende Mensch denken könnte, er müßte das jetzt respektieren. Gerade die, die mit Kunst nichts am Hut haben, glauben ja oft noch daran, daß es so etwas wie Kunst gibt. Die Kunst wird von den Künstlern diskreditiert.
Auf einem Bücherwühltisch vor der Mensa gab es die Memoiren von Simone Signoret: »La nostalgie n’est plus ce qu’elle était«. Und die Frau am Kaffeestand im Parterre der Mensa hat sich schon am zweiten Tag mein Gesicht gemerkt und kesse Bemerkungen gemacht: »Bei dem jungen Mann zuckt nichts mehr, der braucht Zückli.«
Bei unserer rumänischen Lehrerin konnte ich ein paar Deutschfehler sammeln, die ich so mag, weil sie mir nie einfallen würden. Richtig reden kann ja jeder, dafür gibt es schließlich Regeln. Sie sagte »das Gespül« für »das Geschirr« und »Adler« für »Adliger«, »Das war sehr beeindrucksvoll«, »Das ist schwer durchzuschauen«. Ich habe ihr zum Abschied zwei Tassen mit Samtgriff aus der Kahlaer Porzellanfabrik besorgt, aber weil ich rechtzeitig zur Brillenschlangenparty nach Berlin mußte, habe ich mich bei der schriftlichen Prüfung beeilen und vor dem Schluß gehen müssen und mich nicht getraut, ihr vor den Augen aller Teilnehmer mein Geschenk zu überreichen. Jetzt stehen die Tassen im Küchenschrank. Ich habe auch noch eine eingewickelte Barock-CD (ein Geschenk meiner Mutter für meine erste Freundin), und, ebenfalls in Geschenkpapier, »Murphy« von Beckett, in dem vorne steht: »Viel Spaß mit meinem Lieblingsbuch«, aber ich weiß nicht mehr, wem ich dieses Geschenk am 12. Februar 2000 nicht gegeben habe.
Sodom und Gomorra, S. 333–353
Kümmerlich wird man für seine Geduld belohnt, schon die Hälfte von »Sodom und Gomorra« ist vorbei, und nach starkem Auftakt war weder von Sodom noch von Gomorra viel zu lesen. Zum Glück hat es damals in Frankreich ab und zu geregnet: »Beim Anblick von Albertines Regenmantel, in dem sie eine andere Person geworden zu sein schien, die unermüdliche Wandrerin der Regentage, dieses Mantels, der dicht an ihr haftend, geschmeidig und grau, in diesem Augenblick weniger ihr Kleid gegen Nässe zu schützen als vielmehr von ihr selbst durchweicht dem Körper meiner Freundin sich anzulegen schien, als wolle ein Bildhauer danach einen Abdruck von ihren Formen nehmen, riß ich die Hülle von ihr fort, die so eifersüchtig ihre ersehnte Brust umschmiegte, und zog Albertine dicht an mich heran.« So weit so gut, aber was tut er jetzt mit ihr? Er nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und zeigt ihr die stummen Wiesen, »die sich im sinkenden Abendlicht bis an den Horizont erstreckten«. Das ist doch pervers, aber auf eine ganz perverse Art.
Am Mittwoch darauf fährt Marcel mit der Bahn zu Madame Verdurin, und »der kleine Kreis« ihrer Getreuen steigt zu, angeführt von Doktor Cottard. Es sind immer noch dieselben Gestalten, und man weiß immer noch nicht, was der Reiz an solch einem Salon sein soll. Die strenge Patronin hat es nicht gern, wenn jemand, weil seine Mutter stirbt, weil er Grippe hat oder weil er verliebt ist, einen der Besuchstage verpaßt. Gerade bei den Verliebten versteht sie sich darauf, »die Wunde auszubrennen«, damit sie bald wieder vollwertige Salongäste sind.
Saniette, der wegen Langweiligkeit aus dem Kreis vergrault worden war, ist wieder mit von der Partie, wenn sich an seiner Langweiligkeit auch nichts geändert hat. Immerhin kann die Beschreibung der Langweiligkeit eines Langweilers kurzweilig sein: »Da er sich bewußt war, daß er oft langweilig wirkte und daß man ihm nicht zuhörte, versuchte er, anstatt, wie Cottard es getan hätte, seine Rede zu verlangsamen und die Aufmerksamkeit durch eine gebietende Miene zu erzwingen, für den zu ernsthaften Charakter seiner Gespräche durch einen scherzhaften Ton Verzeihung zu erlangen, auch sprudelte er seine Erzählungen viel zu rasch hervor, haspelte sie herunter, gebrauchte Abkürzungen, um weniger langatmig oder auch vertrauter mit den Dingen, von denen er sprach, zu erscheinen, erweckte aber dadurch nur, indem er sie vollends unverständlich machte, den Anschein, als vermöge er nie ein Ende zu finden.« Es kommt durchaus einmal vor, daß ein gutherziger Mitgast ihm für einen seiner mißlungenen Scherze ein Lächeln schenkt, »aber nur ganz verstohlen, ohne die Aufmerksamkeit der anderen zu erregen, so wie man jemandem einen Geldschein zusteckt. […] Lange nachdem die Geschichte beendet und unter den Tisch gefallen war, sah man Saniette noch betrübt und einsam in sich hineinlächeln, als genieße er in sich selbst und ganz für sich allein noch deren Köstlichkeit, die ihm, so tat er wenigstens, genügte, auch wenn die anderen nichts daran gefunden hatten«.
Neu im Kreis ist der Bildhauer Ski, den man so nennt, weil sein polnischer Name zu schwer auszusprechen ist. Er hat mit Elstir ein paar wenige Äußerlichkeiten gemein: »Sie genügten jedoch, damit Elstir, der ihm einmal begegnet war, gegen Ski eine tiefe Abneigung faßte, welche uns, mehr noch als extrem andersgeartete Wesen, diejenigen einflößen, die uns ähnlich sind, nur in geringerer Ausführung, bei denen alles offen zutage liegt, was wir an Unerfreulichem in uns haben, die unsere inzwischen abgelegten Fehler noch einmal vor uns ausbreiten und uns aufs fatalste in Erinnerung rufen, wie wir wahrscheinlich in den Augen anderer gewirkt haben, ehe wir wurden, was wir nunmehr sind.« Diejenigen, die unsere inzwischen abgelegten Fehler ständig vor uns ausbreiten, sind ja eigentlich unsere Eltern, die einerseits einfach so bleiben, wie wir nicht sein wollten, und uns andererseits dauernd erzählen, wie wir angeblich einmal waren.
Unklares Inventar:
– Supraporten, Piston.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– »Er suchte beim Sprechen seine Worte, um glauben zu machen, daß es sich um einen ganz besonderen Eindruck handle, den er beschreiben wolle.«
Verlorene Praxis:
– Von dem Eisenbahnbeamten in Doville sehr tief gegrüßt werden.
– Für jemanden einen »Nachsommer der Zuneigung« empfinden.
106. Fr, 3.11., Berlin
Warum muß ich, wenn ich »9.« und »10.« lese, immer noch kurz nachdenken, um welchen Monat es sich dabei handelt?
Kann man jemanden lieben, der Loriot und die Sesamstraße nicht mag?
Wieso kann ich mir den Unterschied zwischen »succubus« und »incubus« nicht merken?
Warum
steht fast immer ein Blutspendebus vor den Schönhauser-
Allee-Arcaden, mit einem Stromkabel, das quer über den Fahrradweg
führt und von einem Plastebalken geschützt wird, über den man mit
dem Rad stürzt. Demnächst pieksen sie einen einfach ungefragt auf
der Straße an und zapfen einem Blut ab, das wäre ja vielleicht
sogar die elegantere Lösung.
Warum gibt es bei Extra den Haloumi zum Braten nicht mehr, nachdem ich ihn zum ersten Mal gekauft habe und er aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken schien?
Wie oft muß man sich sehen, um noch zusammen zu sein? Wo liegt der Rekord in dieser Disziplin? »Als erstes Paar weltweit haben Gregor und Peggy es geschafft, sich freiwillig zwanzig Jahre nicht zu sehen, und trotzdem noch zusammen zu sein.«
Sollte man ein Video von der eigenen Geburt besitzen?
Lohnt es sich »De la grammatologie« zu lesen?
Warum lerne ich immer nur eingefleischte Vegetarierinnen kennen?
Wie kann ich verhindern, daß mein Kollege an seine Hämorrhoiden denkt, während er mit mir spricht?
Warum sind alle Gesellschaftsspiele von 6–99, und man wird von allem ausgeschlossen, was Spaß macht, sobald man 100 ist?
War Celan clean?
Ist es nicht viel anstrengender, der erste Mohikaner zu sein?
HABE ICH DIE CAPS_LOCK_TASTE JE ABSICHTLICH GEDRÜCKT?
Soll ich heute noch aus dem Haus gehen und wird dann alles anders?
Sodom und Gomorra, S. 353–373
Cottard ist ein treuer Getreuer von Madame Verdurins »kleinem Kreis«, er würde nur für eine sehr wichtige Konsultation auf den wöchentlichen Besuch verzichten, »wobei die Wichtigkeit im übrigen mehr von der sozialen Stellung des Kranken als von der Schwere des Falles abhing. Denn obwohl ein guter Mensch, verzichtete Cottard auf die Annehmlichkeit des Mittwochs nicht zugunsten eines Arbeiters, der vom Schlag getroffen war, wohl aber wegen eines Ministers, der am Schnupfen litt«. Während einer einzigen Fahrt mit der Bahn ruft Cottard gleich zweimal »Sapristi!« aus, einmal wegen der bemerkenswerten Höhe der von Madame Verdurin gemachten Erbschaft und einmal, als er hört, daß Madame de Cambremer ebenfalls heute abend bei den Verdurins erwartet wird. »Sapristi« war eines der Wörter, die mir zuerst in »Tim und Struppi« begegnet sind, dem anderen großen Epos aus dem französischen Sprachraum. Andere Wörter und Konzepte, die ich von »Tim und Struppi« kenne: Saufaus, Fata Morgana, Yeti, Elmsfeuer, Boxeraufstand, Syndikat, Cahare-Gift, liquidieren, Guano, Tapir, Chloroform, Komplott, Piranhas, Pipeline (damals noch wie ein weiblicher »Piepel« gesprochen) und Steward (damals noch wie »stehen« und »warten« gesprochen).
Ein Beispiel dieses emblematischen Erlebnisses der Moderne, wenn man einem Menschen begegnet, nicht mit ihm spricht, schon weiß, daß man ihn nie wiedersehen, aber nie vergessen wird: Ein Mädchen mit »magnolienhaftem Teint«, schwarzen Augen und »wundervollen Formen« steigt zu, öffnet das Fenster, raucht eine Zigarette und springt an einer der nächsten Stationen »gewandt vom Trittbrett«. »Oft noch, wenn ich an sie denke, fühle ich mich von tollem Verlangen erfaßt«, sagt Marcel/Proust, und man denkt an Heiner Müllers »Quartett«: »die Parade der jungen Ärsche […] alle können wir nicht haben.«
Mit ein bißchen Glück könnte das Mädchen mit den wundervollen Formen ja heute noch leben, aber natürlich sei sie schon bei der Niederschrift dieser Episode, zehn Jahre später, wohl nicht mehr ganz so frisch gewesen (man muß also wohl schon noch weitere zehn Jahre warten und hoffen, ihrer Tochter zu begegnen). Aber man muß sich ja nicht wiederbegegnen, man findet sowieso mit zunehmendem Alter in den Gesichtern der Menschen Züge anderer Gesichter wieder und fühlt sich ihnen deshalb manchmal auf irrationale Weise verbunden oder von ihnen abgestoßen. Tragischer als das Altern der anderen ist auch immer noch das eigene. Denn es kommt der Tag, »der so unabsehbar und traurig wie eine Winternacht ist, […] da man weder diese junge Person noch eine andere sucht, ja, wo es einen sogar erschrecken würde, wenn man sie wiederfände. Denn man spürt, daß man nicht mehr über genügend Reize, um zu gefallen, noch über genügend Kraft, um sie zu lieben, verfügt«. Dann sitzt man, wie Trintignant in »Drei Farben: Rot«, in seinem Haus und wartet auf den Tod. Woody Allen hat auch gerade wieder einmal in dieser erschreckenden Weise über das Alter geredet, aber immerhin hat er täglich Scarlett Johansson vor der Kamera und, wenn er so alt wird wie seine Eltern, kann er auch noch mit ihrer Tochter drehen.
Ein bitterer Moment, man spürt richtig, wie die Verfassung des Autors durchschlägt. Als Vorbote des Todes lege »die ewige Ruhe« schon Intervalle bei uns ein, Zeiten, während derer man nichts mehr unternimmt: »Einen Fuß auf eine Stufe setzen, wenn es nötig ist, scheint bereits ein Erfolg, als wäre einem ein gefahrvoller Absprung gelungen.« Aber irgendwann gibt man auf und setzt keine Füße mehr auf Stufen: »Man kann nicht mehr die ermüdende Anstrengung auf sich nehmen, mit der Jugend Schritt zu halten.« Zumal die Jugend ja in die falsche Richtung rennt.
Aber ich habe auch einmal irgendwo gelesen, daß man durch Tippen geistig länger frisch bleibt, weil die Finger durchblutet werden oder durch die Bewegung der Finger das Gehirn. Man muß also nur immer fleißig tippen, dann hält man Schritt mit der Jugend. Man hat dann zwar nicht mehr viel Zeit für diese, aber man könnte die Jugendlichen ja zum Beispiel zu sich einladen und Partys für sie geben, bei denen man natürlich ununterbrochen tippen müßte, um nicht auf der Stelle zu Staub zu zerfallen.
Daß dieser »kleine Kreis« etwas Besonderes ist, erfährt man immer nur als Behauptung, nie aus der Anschauung, denn gewöhnlicher, hartherziger und dümmer als die Getreuen kann man eigentlich nicht sein. Die Patronin »hielt den ›kleinen Kreis‹ für etwas so Einzigartiges auf der Welt, eine jener vollkommenen Gemeinschaften, wie sie nur alle Jahrhunderte einmal zustande kommen, daß sie bei dem Gedanken zitterte, irgendwelche Leute aus der Provinz bei sich eindringen zu sehen, die nichts vom Ring und den Meistersingern wußten, die sicherlich in dem Konzert der allgemeinen Unterhaltung ihren Part nicht durchzuführen verstanden und womöglich, wenn sie Madame Verdurin besuchten, einen der berühmten Mittwochabende, das heißt ein unvergleichliches und so empfindliches Meisterwerk, daß, ähnlich wie bei den zarten venezianischen Glaswaren, ein falscher Ton genügte, um es zu zerbrechen, gründlich verderben könnten«. Meine Partys waren dagegen immer eher aus Jenaer Glas gemacht, falsche Töne konnten ihnen nichts anhaben. In diesem Jahr wird es gar keine geben.
Marcel fragt Professor Brichot nach seiner Meinung zum ortsnamenkundlichen Werk dieses Priesters aus Combray, und Brichot führt sechs Seiten lang aus, wie fehlerhaft die Broschüre sei. Es geht dabei darum, wie man Namensendungen wie »bricq«, »fleur«, »vieux«, »hon«, »dun«, »ai«, »tuit«, »graignes« richtig entschlüsselt.
Wieder ein Beispiel für die Technik, mit der Proust Figuren einführt: Oft begegnen sie Marcel ein erstes Mal, bevor er erfährt, um wen es sich gehandelt hat. Man weiß also nie, ob eine Nebenfigur, die kurz porträtiert wird, später einmal ganze Bände erforderlich machen wird. So war es bisher mit Gilberte, Charlus und Albertine. Und jetzt zeigt sich auch, daß die vermeintliche Puffmutter, die ihn am anderen Tag beim Küssen von Albertine im Zug gestört hatte, in Wirklichkeit die russische Fürstin Scherbatow war. Es hat also schon Tradition, den Bekleidungsstil bestimmter russischer Frauen als leicht nuttig zu empfinden.
Wozu wird das alles berichtet? Eigentlich passiert nicht mehr, als daß der »kleine Kreis« für den Rest der Fahrt im Abteil der russischen Fürstin Platz nimmt. Ich weiß bis jetzt noch nichts über die Genese der »Recherche«, aber ich will hoffen, daß der Verfasser sich, je mehr er sich der Gegenwart nähert und je besser er sich an das Geschehene erinnert, nicht auch entsprechend ausführlich äußert.
Unklares Inventar:
– Einen »Kasten« bekommen, Botokuden.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– »Ah! Wir werden also die Marquise de Cambremer sehen? sagte Cottard mit einem Lächeln, das er mit einem gewissen Zug von sentimentalem Schwerenötertum zu untermalen für nötig hielt, obwohl er gar nicht wußte, ob Madame de Cambremer hübsch sei oder nicht.«
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– »›Liegt Néhomme‹, fragte ich, ›nicht ganz nah bei Carquethuit und Clitourps?‹«
107. Sa, 4.11., Berlin
Als ich 2003 über die Bretagne schreiben mußte und mich dort – während das Mädchen, in das ich verliebt war, mit einem Freund durch Andalusien reiste und meine E-Mails nicht beantwortete – wochenlang von Kreisverkehr zu Kreisverkehr katapultierte, von einer »petite ville de caractère« zur nächsten, habe ich im von Studenten und Touristen überschwemmten Schmuckkästchenzentrum von Rennes in einem Comicgeschäft »Pjöngjang« von Guy Delise entdeckt und trotz des Preises sofort kaufen müssen. Es war ein Trost, im Paradies des Tourismus diesen Comic über einen Aufenthalt in der touristischen Hölle zu lesen. Der Autor hatte eine sympathische Perspektive, weil er in einem Buch über Nordkorea das Vergnügen, sich im Hotel mit Schuhen aufs Bett legen zu dürfen, für mitteilenswert hielt. Weil kaum einer meiner Freunde französisch sprach, hätte ich das Buch gerne übersetzt, es ist so traurig, seine Freuden nicht teilen zu können. Der einzige in Frage kommende Comicverlag, den ich vom Namen her kannte, war Reprodukt, und es stellte sich heraus, daß sie sowieso planten, »Shenzhen« zu machen, das vorige Buch von Guy Delisle, in dem der Autor in eine boomende chinesische Metropole reisen muß, um dort französische Trickfilmproduktionen zu überwachen. Ich durfte »Shenzhen« übersetzen und habe bei Besuchen im Kreuzberger Büro das Programm von Reprodukt entdeckt und schon auf dem Heimweg verschlungen. Es ist traurig, daß diese Comics in deutschen Buchhandlungen nicht unter »Literatur« stehen, sondern, wenn überhaupt, irgendwo in der Ecke für infantil gebliebene Erwachsene.
Nächstes Jahr nun soll bei Reprodukt endlich auch »Pjöngjang« erscheinen, das Buch zum Atombombenversuch. Man bekommt seltene Informationen über dieses Land. Ich sammle ja immer Extravaganzen von Diktatoren. Es ist nicht einfach, sich im Wettstreit der Exzentriker hervorzutun. Ryszard Kapuscinski, der dieses Jahr beim Nobelpreis wieder übergangen worden ist: »Wenn ich über meine Diktatoren schreibe, lese ich Lehrbücher über Kinderpsychologie.«
Kim Il-Sung, der Vater des jetzigen Präsidenten Kim Jong-Il, ist 1994 gestorben, gilt aber der Verfassung nach auch nach seinem Tod noch als Präsident. Die Zeitrechnung in Korea beginnt mit seiner Zeugung (was skurril klingt, aber womit beginnt eigentlich unsere Zeitrechnung?). Man darf ins Land keine Radios einführen, es gibt nur ein (staatliches) Fernsehprogramm (sonntags auch zwei), das vorwiegend Aufmärsche und raubkopierte Dokumentationen sendet (andererseits: Braucht man Fernsehen? Ich habe keines mehr). Jeder Ausländer wird ständig von einem Dolmetscher und einem Führer begleitet (in anderen Ländern bezahlt man für solch einen Service). Überall arbeiten »Freiwillige« an der Verschönerung der Stadt oder helfen bei der Reisernte aus (bei uns helfen »Freiwillige« bei der Spargelernte und pflegen Grünflächen). Die internationalen Hilfslieferungen werden vom Regime, nachdem man genug zum eigenen Profit abgezweigt hat, je nach Loyalität an die Bevölkerung verteilt (in anderen Ländern sind die Ungerechtigkeiten nicht staatlich monopolisiert). Kim Jong-Il hat seinem Vater zum Siebzigsten einen Turm aus 25 550 Granitblöcken geschenkt, für jeden Lebenstag ein Block. Dieser »Juche-Turm« ist der höchste seiner Art weltweit. Er steht für die »Juche«, die offizielle Ideologie, die Kim Il-Sung »um die Erwartungen seines Volks zu erfüllen« als Weiterentwicklung von Marxismus und Maoismus ausgearbeitet hat. Aus Pjöngjang heraus führt eine fast unbefahrene Autobahn (kaum jemand hat Autos, nachts gibt es keine Straßenbeleuchtung), hin zum »Museum der Freundschaft«, wo die Geschenke für Kim Il-Sung aus aller Welt gezeigt werden. Das Museum ist atombombensicher in einen Berg gebaut. Kim Jong-Il soll angeblich während des Studiums 1 200 Bücher publiziert und sechs Opern geschrieben haben. Bei seiner ersten Partie Golf soll er elf von achtzehn Löchern mit einem Schlag getroffen haben. Überall finden sich Stilisierungen seines »perfekten Gehirns« in Form einer Blume, der Kimjongilia. Offiziell gibt es keine Behinderten, weil Korea eine sehr homogene Nation sei und alle Menschen gesund geboren würden. Weil Kim gesagt hat, daß Fahrradfahren ungesund für Frauen sei, fahren sie auf Dreirädern. Während seine Bevölkerung von der Außenwelt abgeschirmt ist, soll er ein großer Fan des französischen Kinos sein.
Jedenfalls habe ich die Übersetzung jetzt fertig (zuletzt war noch zu klären, was »Lé la?« heißt) und kann mich nun endlich dem Nachruf auf Frau Vampiros Schützling widmen. Vielleicht bleibt ja nebenbei sogar noch die Zeit, mich endlich mal wieder zu waschen.
Sodom und Gomorra, S. 373–393
Im von den Verdurins zum Bahnhof geschickten Wagen nähert man sich der Steilküste. Marcel hat »noch niemals etwas so Schönes gesehen«. Er läßt sogar die Scheibe herab, wobei man vor allem darüber staunt, daß man das in damaligen Wagen schon konnte. Sein Enthusiasmus fällt auf, Cottard sagt, er lasse sich »zu sehr von Gefühlen beherrschen«, und es würde ihm »guttun, Beruhigungsmittel einzunehmen« oder sich »mit Stricken zu beschäftigen«. Man stutzt etwas, wenn Marcel plötzlich behauptet: »Ich liebte die Verdurins.«
Madame Verdurin leidet nicht nur an »den unvermeidlichen Verheerungen des Alters«, zudem hat die Musik, die ja im Mittelpunkt ihrer Salons steht, ihren Gesichtsausdruck zu einer dauerhaft überwältigten Miene geformt: »Unter der Einwirkung der zahllosen Neuralgien, deren Ursache jeweils die Musik von Bach, von Wagner, von Vinteuil, von Debussy gewesen war, hatte die Stirn von Madame Verdurin enorme Proportionen angenommen wie Glieder, die der Rheumatismus schließlich deformiert.« Das Ergebnis ist ein »grandios verwüstetes Antlitz«.
Der »kleine Kreis« ist eine Institution zur Verdrängung des Todes. Das Verscheiden selbst der langjährigsten Getreuen wird übergangen, da diese ja nicht mehr teilnehmen können und man sie mit Worten auch nicht wieder lebendig macht. Ein anderer natürlicher Feind des »kleinen Kreises«, den Madame Verdurin bekämpft, ist die Familie mit ihren irrationalen und nicht durch individuelle Wahl geknüpften Banden.
Der neue Stern bei den Verdurins ist Charles Morel, Violonist und Sohn eines Dieners von Marcels Onkel. Auch er scheint mit Charlus ein Verhältnis zu haben. Jedenfalls benimmt er sich Marcel gegenüber eigenartig, was diesem aber nichts ausmacht, da er »Vergnügen an der Vielfalt der Menschen fand, ohne etwas von ihnen zu erwarten oder ihnen deswegen böse zu sein«. Im Idealfall erreicht man als Autor dieses Niveau von Gelassenheit, man steht dann nur noch in der Ecke wie diese Luftfeuchtigkeitsmeßgeräte in Museen und registriert ganz emotionslos die Stimmungsschwankungen anderer.
Unklares Inventar:
– Camyeumalerei.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– Er war ein Bursche »mit einem jener melancholischen Gesichter, deren allzu starker Blick darauf hinweist, daß sie sich um ein Nichts furchtbar grämen, ja in Schwermut verfallen können«.
Verlorene Praxis:
– Weil es einen langweilt, über einen Todesfall zu sprechen, so tun, als sei man so erschüttert davon, daß man aus gesundheitlichen Gründen nicht darüber sprechen könne.
– Als Klaviervirtuose Freund Hein mit einem Triller begrüßen.
– Als Hausherr einen Gast, der keine Tischdame hat, scherzhaft unter den Arm fassen.
– Jemanden im Theater lorgnieren und ihn beim Inhaber des Nachbarfauteuils verleumden.
Heilsame Praxis:
– »[…] sich von der Schönheit eher umspülen zu lassen, als daraus ein tiefergehendes Anliegen zu machen.«
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– »Wenn die Medizin nicht wirklich zu heilen vermag, gibt sie sich damit ab, den Sinn der Verben und Pronomina abzuwandeln.«
108. So, 5.11., Berlin
Seit ich vor sieben Jahren dort selbst einen guten Tag hatte, sehe ich mir manchmal den jährlichen Open-Mike-Literaturwettbewerb an, um mich ein wenig in dem Gefühl zu sonnen, ihn schon gewonnen zu haben. Ich bin natürlich immer enttäuscht, daß ich es in den Presseankündigungen, die sie vorher verschicken, nie in die Aufzählung der ehemaligen Preisträger schaffe, geschweige denn einmal für die Jury eingeladen werde. Wahrscheinlich gibt es solche Sehnsüchte in jedem Beruf, und auch der russische Zollbeamte, der einen extra lange warten läßt, will nur beachtet werden. Nur daß es nicht viel bringen würde, wenn ich die Leser extra lange auf meine Texte warten lassen würde. Man braucht ein wenig Anerkennung, selbst der Mann von der freiwilligen Feuerwehr träumt von einem zusätzlichen Pickel auf seinem Schulterstück. Wenn Autoren Schulterstücke tragen würden, wäre meins vermutlich noch ganz glatt, und ich müßte immer für die anderen das Klo schrubben.
In diesem Jahr fand der Open-Mike in der Wabe am Thälmannpark statt, wo gleich Erinnerungen an ganz verschiedene Epochen hochkamen. Tiefster Osten, weil dort Bands auftreten, von denen man gar nicht wußte, daß es sie noch gibt. Und in den Neunzigern habe ich hier einmal mit Deborah Salsa getanzt, wir hatten den großen Saal für uns und konnten die Schritte nicht, aber sie hat sich immer so schön herumwirbeln lassen. Im letzten Herbst habe ich hier die Choreographin Sommer Ulrickson bei den Proben zu einer neuen Inszenierung begleiten dürfen. Ich bin immer zu spät gekommen, war erkältet und hatte Angst vor den Schauspielern.
Die Tür zum Saal, in dem jetzt gelesen wurde, befand sich praktisch direkt neben dem Lesepult, man mußte sich durch die auf dem Boden Sitzenden einen Weg zum Rand bahnen, um aus dem Blickfeld der Zuschauer zu kommen. Weil ich nicht wollte, daß die vorlesenden Autoren es auf sich bezogen, wenn ich gleich wieder ging, mußte ich bis zum Ende stehen und bekam sofort Schweißausbrüche, weil mir das so peinlich war. Andere gehen in meinem Alter gar nicht mehr unter Menschen. Obwohl die Vorauswahl bei diesem Wettbewerb aus anonymen Einsendungen getroffen wird, kamen fast alle Teilnehmer von den großen Literaturschulen und schrieben ihre Texte im Präsens. Gewonnen haben drei Mädchen, wobei man keiner der drei vorwerfen kann, daß die anderen beiden auch Mädchen waren.
Hinterher habe ich jemanden kennengelernt, der in den achtziger Jahren nach einem abgelehnten Ausreiseantrag in der Stadtbibliothek Mitte als Pförtner untergekommen ist. Ich hätte ihn gern überredet, sofort darüber ein Buch zu schreiben. Ich war in der Zeit dauernd in der Stadtbibliothek, um für eine Arbeit über jüdische Mathematiker zu recherchieren, die ich mir aufgehalst hatte. Das Thema der Arbeit war ein Trick, eigentlich galt solches Philologenzeug an unserer mathematisch orientierten Schule nicht als wissenschaftlich, und ich hätte irgendwelche komplexen Gleichungen lösen oder chemische Elemente entdecken sollen, aber ich setzte darauf, daß sie nichts dagegen sagen durften, wenn ich etwas über Juden machte. Heute befremdet es mich, wie befriedigend ich es in diesem Alter schon fand, mich bis in den späten Abend hinein, wenn schon die letzten den Lesesaal verlassen hatten, in Lexika und alte Zeitschriften zu vertiefen, statt in der Zeit mit den anderen Jugendlichen vor der Kaufhalle zu sitzen und Prasselkuchen zu essen.
Die Karteikästen, das Gefühl, alles Wissen der Welt zur Verfügung zu haben, einen eigenen Schreibtisch mit Büchern füllen zu dürfen, vielleicht fand ich das ja erwachsen. Kopiergeräte gab es natürlich nicht, man mußte seine Kopien einzeln bestellen und holte sie am nächsten Tag ab. Es war so eigenartig bläuliches Papier, das nach Chemie roch. Der Mann an der Garderobe wirkte ein wenig durchgedreht, manchmal schrie er eine Klotür an, ich ahnte ja nicht, daß hier eine stadtbekannte Klappe war. Im Lesesaal saß immer ein dicker Junge mit Hasenscharte, der Tag für Tag murmelnd große Stapel einer Eisenbahnerzeitschrift studierte.
Mein neuer Bekannter, an dem ich damals vielleicht Dutzende Male vorbeigegangen bin (Pförtner waren ja irgendwie Prominente, spätestens, wenn man sah, daß sie in ihrer Bude oppositionelle Schriften lasen, bestimmt ist der Rockmusiker oder Dichter, dachte man dann), hat mir nun geschildert, wieviele Verrückte und Aussteiger die Bibliothek damals bevölkert haben, irgendwo mußte ja jeder unterkommen in der DDR, denn arbeitslos durfte man nicht sein. Es sollen sogar welche im Gebäude gelebt haben. Oben sei immer einer in Frauenkleidern rumgelaufen. Die Kopierer seien aus Russland gewesen. Er hat immer morgens um vier Zeitschriften gelesen, die man sonst nicht bekam. Es ist faszinierend, etwas über einen Ort zu hören, an dem man zu dieser Zeit auch war. Das ist eben Heimat, solchen Menschen zu begegnen.
Schade, daß ich das Material nicht für mich habe, eine Bibliothek in der Endzeit der DDR, das wäre ein gutes Thema. Ich war neidisch, weil ich damals zu jung gewesen bin, um in der DDR tiefer in solche Mikrokosmen eingedrungen zu sein. Aber ich hatte ja noch die Hoffnung auf ein Studium, und meine Eltern hatten mir die Angst vor dem Aussteigen eingeimpft. Dabei war die späte DDR vielleicht die beste Zeit für Hilfsarbeiter und Pförtner in der Geschichte der Menschheit. Aber genau kann ich es nicht wissen, weil ich es nicht erlebt habe. Ich habe nur diese kümmerlichen achtzehn Jahre DDR. Bestimmt gibt es zur Zeit schon Journalisten, die an Projekten recherchieren, für die sie sich länger als achtzehn Jahre irgendwohin begeben oder sogar ins Gefängnis stecken lassen, um hinterher darüber einen Bestseller zu schreiben. Immersion journalism, damals war es mein Leben.
Gerade leuchtet der Himmel über die ganze Breite des Horizonts rosa, mit violetten Wolkentupfern. Jedesmal, wenn ich zu den Bäumen auf dem Platz vor dem Haus sehe, wippen ihre Spitzen ein wenig als würden sie sich wünschen, daß ich sie mehr beachte. Mit meiner neuen Maus fühlt sich die Arbeit an, als sei ich von einer chronischen Arthritis geheilt, die alte hatte noch so eine altmodische, klemmende Kugel im Boden. Jetzt gehorcht der Pfeil, ich kann genau die Links anklicken, die ich sehen will, und muß nicht mehr irgendwo rumsurfen, nur um überhaupt etwas zu machen. Das macht das Leben einfacher, aber natürlich auch berechenbarer.
Sodom und Gomorra, S. 393–413
Der »kleine Kreis« ist bei den Verdurins eingetroffen, die ihren Salon in den Ferien im von den Cambremers gemieteten Anwesen »La Raspelière« betreiben, das zweihundert Meter über dem Meer liegt. Auch Charlus ist anwesend und zieht Marcel in eine Ecke, »um ein Wort zu mir zu sagen, wobei er meine Muskeln abtastete, was eine deutsche Sitte ist«. Diese Sitte kenne ich eigentlich nur aus Westdeutschland.
Während Madame Verdurin ihre Vermieter nur eingeladen hat, um eventuell für die Zukunft Vergünstigungen herauszuschlagen, sind sie ihr für ihren kleinen Kreis eigentlich nicht würdig genug. Madame de Cambremer-Legrandin, die angeheiratete Schwiegertochter der Chopin-Liebhaberin Madame de Cambremer, ist wiederum nur sehr unwillig mit von der Partie, denn für sie sind die Verdurins unter ihrem Niveau: »Sie trat hochmütig und mürrisch mit der Miene einer großen Dame ein, deren Schloß im Verlauf eines Krieges von Feinden besetzt worden ist, die sich aber gleichwohl darin zu Hause fühlt und den Siegern zu zeigen gedenkt, daß sie Eindringlinge sind.« Die Begegnung von Vermietern und Untermietern fühlt sich für beide Seiten seltsam an. Madame de Cambremer beschäftigt sich damit, »die Veränderungen festzustellen, welche die Verdurins in La Raspelière vorgenommen hatten, damit sie die einen kritisieren, andere davon in Féterne einführen, vielleicht auch angesichts der gleichen alles beides tun könne«.
Charlus wird neben Cottard plaziert, und Cottard zwinkert ihm zu, um das Eis zu brechen. »Der Baron, der sehr leicht überall seinesgleichen vermutete, zweifelte nicht, daß Cottard einer davon sei und ihm schöne Augen zu machen versuche. Sofort legte er dem Professor gegenüber die Härte des Invertierten an den Tag, der ebenso verachtungsvoll denjenigen entgegentritt, denen er selbst gefällt, wie er sich eifersüchtig um die anderen bemüht, welche ihm gefallen.« Das ist zwar eigentlich ein Klischee, aber Proust muß es ja wissen.
»Zweifellos ist es, obwohl jeder heuchlerisch von der immer vom Schicksal verwehrten Wohltat des Geliebtwerdens spricht, dennoch ein allgemeines Gesetz, dessen Herrschaft sich keineswegs auf Leute wie Monsieur de Charlus beschränkt, daß uns ein Wesen, das wir selbst nicht lieben, welches aber uns liebt, unerträglich erscheint.« Wir ziehen solch einer Frau »die Gesellschaft jeder beliebigen anderen vor, auch wenn sie weder deren Charme noch ihre angenehmen Umgangsformen, noch ihren Geist besitzt«. Und da uns in der Regel die charmanten, angenehmen und geistvollen Frauen lieben, sind wir dazu verurteilt, unsere Zeit mit unausstehlichen Schnepfen zu verbringen.
Madame de Cambremer vertieft sich auf ihrem Wohnsitz Féterne übrigens in immer esoterischere Philosophie und in immer schwierigere Musik. Sie setzt »in dem Maße, wie ihr Glaube an die Realität der Außenwelt abnahm, ein immer leidenschaftlicheres Bemühen daran, sich vor ihrem Tode in dieser letzteren noch eine gute Stellung zu sichern«. Und einen Platz in »Sodom und Gomorra« hat sie sich ja immerhin gesichert.
Unklares Inventar:
– Ein Beschließer, Chintzbezüge, Araukarien, Hauswurz, Barbedienne-Bronzen.
Verlorene Praxis:
– Sich des öfteren einen Scherz erlauben, durch den man, gleichzeitig bescheiden und schlagfertig, seine Unwissenheit bekennt und sein Wissen dartut.
– Zur Begrüßung zwei Finger ausstrecken.
– In einem Urlaubsort auf jemanden, der unter den vielen Touristen, die seine Kreise nicht kennen, zu ersticken meint, wie ein Riechsalzflakon wirken.
– In dem Bewußtsein, eine einem selbst geistig überlegene Frau geheiratet zu haben, sehr wenig sprechen.
– In seinem Schloß im Osten Frankreichs von der Invasion überrascht werden und »vier Wochen lang den Kontakt mit den Deutschen ertragen müssen«.
– Als vollkommene Gastgeberin an allen Unterhaltungen gleichzeitig teilnehmen.
109. Mo, 6.11., Berlin
Andere verreisen, um eine unglückliche Liebe zu vergessen, das geht für mich zeitlich und emotional nicht mehr. Aber bei Wohlthats gab es Gustav Fischers »Landmaschinenkunde«, ein Buch aus den Zwanzigern, und Fachwortschatz ist ja für einen Autor auch so etwas wie Urlaub: Glockengöpel, Sielengeschirr, Schwungkugelregler, Klauenkupplung, Rübenköpfer Siedersleben, Zentralschmierapparat mit Tropfölern, Staufferbuchse, Schmierpumpe, Vorgelege mit Riemenausrücker, Stotzsche Stahlbolzenkette, Dibbelmaschine, Dauermilcherhitzer, Ringschmierlager, Fuderablader, Haspelheuwender, Hordentrocknung, Ölkuchenbrecher, Schwingschüttler, Pommritzer Rübenrodepflug, Hederichspritze, exzentrisches Planetengetriebe, Auflöseapparat, Kettendüngerstreuer mit Streudüngerkette, Tiefkrümelpflug, Entleerungsstellung …
Man atmet richtig auf. Die deutsche Sprache kann so viel mehr, als meine Seele zu beschreiben.
Aber wenn man dann Sätze liest, wie: »Da die Streuwelle den Dünger nicht immer sicher durch den unter ihr liegenden Schlitz hindurchschiebt«, wird einem plötzlich der Subtext klar. »Von der Bodenwalze wird der Dünger unterhalb des Streuschlitzes durch einen straff gespannten, starken Draht abgestreift und der noch haftende Rest durch eine angeschärfte Messerschiene entfernt. Damit sich die Lage der Rührwelle zum Schlitz nicht verändert, wird der Stellschieber nicht geradlinig verschoben, sondern um die Rührwelle geschwenkt.« Wer fünfhundert Seiten in diesem Stil schreibt, der dürfte eine gewaltige sexuelle Sublimierungsleistung vollbracht haben. Offensichtlich hat Gustav Fischer keine glückliche Ehe geführt. Diese Landmaschinenkunde ist in Wirklichkeit nichts als ein rührender Schrei nach Liebe: »Jedesmal, wenn ich das Sielengeschirr anlege und in Entleerungsstellung gehe, kommt dieser Fuderablader mit seinem Glockengöpel und führt sich auf wie eine Dibbelmaschine. Das nächste Mal kriegt er es mit meiner Stotzschen Stahlbolzenkette zu tun! Ich bin ein exzentrisches Planetengetriebe und kein Ringschmierlager für seinen Schwingschüttler! Der wird sich wundern, wie schnell aus einem Dauermilcherhitzer ein Rübenköpfer wird!«
Sodom und Gomorra, S. 413–435
Soll man in Albertine verliebt sein oder nicht? Die Frage muß man sich immer dazudenken, denn sie geht Marcel vermutlich nicht aus dem Kopf, auch wenn er nicht darüber spricht. Die Mutter würde diese Bindung begrüßen, wenn sie ihn glücklich macht. Aber genau das macht ihn unglücklich, wie schon damals, als der Vater sich so überraschend einverstanden erklärte, ihn ins Theater gehen und Literat werden zu lassen. Plötzlich war er selbst für sein Schicksal verantwortlich und spürte »die gewisse Schwermut, die einen überfällt, wenn man nicht länger Befehlen gehorcht, die von einem Tag zum anderen die Zukunft verdecken«. Vielleicht hätte er sich in Nordkorea ja wohler gefühlt, wo es nie an Befehlen mangelt, die einem die Zukunft verdecken.
Professor Brichot, einer von Madame Verdurins Getreuen, die sie »meine Kinder« nennt, kommt nach seinen Ausführungen zu den Ortsnamen nun auch auf die Etymologie der Personennamen zu sprechen. In vielen Familiennamen stecke ein Baum, wie etwa in Freycinet »fraxinetum«, die Esche. Da wir nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert leben, dürfen wir es uns erlauben, den Monolog in Form einer Liste abzukürzen:
Saulces – salix – Weide
Selves – silva – Wald
Houssaye – Stechpalme
d’Ormesson – Ulme
La Boulaye – Birke
d’Aunay – Erle
Bussière – Buchsbaum
Albaret – Splint (helles, junges Holz)
Cholet – Kohl
La Pommeraye – Apfelbaum
Ein berühmter norwegischer Philosoph ist übrigens auch zugegen, wurde aber bisher noch nicht erwähnt. Er spricht wie viele Ausländer sehr langsam, weil er »bei jedem Ausdruck ein inneres Wörterbuch zu Rate ziehen mußte«. Dafür zeichnet er sich durch das Tempo aus, mit dem er sich immer davonmacht, nachdem er Adieu gesagt hat: »Seine überstürzte Eile rief beim ersten Mal den Eindruck hervor, er leide an einer Kolik oder einem noch dringenderen Bedürfnis.«
Die Beschreibung des Abends läuft so ein bißchen wie in »Short Cuts«, Schnitt folgt auf Schnitt. Jetzt erfährt Cottard von Ski, daß Charlus »einer von der Bruderschaft« ist, »der das Leben auch von der anderen Seite kennt«. Aber Cottard konstatiert: »Immerhin hat er keine Speckröllchen um die Augen.« Die Geschichte der Vorurteile ist um eine interessante Unterstellung reicher.
Saniette läßt man konsequent auflaufen, man braucht ihn ja nur, um ihn zu quälen. Wenn er einmal einen halbwegs gelungenen Spruch anbringt, dann wird er des Plagiats beschuldigt, weil die Runde diesen Spruch bereits aus dem Mund eines anderen kennt, dem er ihn früher einmal verraten hatte.
Schließlich wird Elstirs gedacht, der dem »kleinen Kreis« früher einmal angehört hatte, dessen Heirat mit einer von ihr als unwürdig erachteten Frau Madame Verdurin nicht verhindern konnte und der seitdem als abtrünnig gilt. Im übrigen habe er sein Talent an Riesenschinken verschleudert, sagt sie. Schon damals war er damit negativ aufgefallen, daß er Cottard mit lila Haaren porträtiert hatte.
Die Frage des Abends ist, ob Charlus oder Monsieur de Cambremer an der Hand des Hausherren zu Tisch gehen soll, wer also vom Rang her der erste Ehrengast ist. Charlus betont mit scheinheiliger Bescheidenheit, daß es doch keine Bedeutung habe, wenn er nach Monsieur de Cambremer plaziert worden sei: »Er hängte ein kleines Lachen an, das eine Besonderheit von ihm war – ein Lachen, das wahrscheinlich von irgendeiner bayerischen oder lothringischen Großmutter stammte, welche es in ganz der gleichen Form von einer Ahnin übernommen hatte, so daß es dergestalt unverändert seit vielen Jahrhunderten an alten kleinen Höfen Europas aufgeklungen war und man seinen kostbaren Ton wie den gewisser, überaus selten gewordener alter Instrumente genoß. Es gibt Fälle, in denen zur Vervollständigung der Personenbeschreibung eine phonetische Wiedergabe unerläßlich wäre.« Oder der Link zu einer Sound-Datei.
Unklares Inventar:
– Odeonien, Pikettpartie, Toile-de-Jouy-Bezüge.
Verlorene Praxis:
– Sich »an verworrenen Reminiszenzen« berauschen.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– »Fast jede Neuigkeit, die wir erfahren, bewirkt, daß wir irgendeine unserer Äußerungen bedauern.«
– »Er weiß zuviel, er langweilt mich.«
110. Di, 7.11., Berlin
Als ich einmal in Petersburg über eine Newa-Brücke ging, strich ich mir durchs Haar und hatte plötzlich einen Angelhaken in der Hand. Es war auch noch ein bißchen Sehne dran. Ich konnte mir nicht erklären, wie der Haken auf meinen Kopf gekommen war. Ich konnte bisher auch niemandem davon erzählen, die Beobachtung paßte einfach in kein Gespräch.
Sodom und Gomorra, S. 435–456
Es gibt also eine »Regel der drei Adjektive«, wenn man einem lobenden Adjektiv zwei weitere folgen läßt. Bei Madame de Cambremer bilden diese Adjektive ungewöhnlicherweise keine Steigerung, sondern ein Diminuendo. Wenn Marcel zum Abendessen komme, werde sie »›entzückt – glücklich – zufrieden‹« sein, schreibt sie. Ein Adjektiv mehr, vermutet er, und von der Eingangsliebenswürdigkeit würde nichts mehr übrigbleiben.
Charlus spricht sich ganz freundlich über Kaiser Wilhelm aus, diesen »Edelmann letzten Ranges«. Allerdings verstehe er nichts von Malerei und habe »Herrn Tschudi angewiesen, die Elstirs aus den nationalen Museen zu entfernen«. Das ist nun eine eigenartige Vermischung von Fiktion und Realität, weil es doch keinen Herrn Elstir gibt, aber einen Herrn Tschudi. Außerdem ist der Vorgang ja nachprüfbar. Man kann aber als Autor nicht erwarten, daß der Leser deshalb den fiktiven Maler für echter halten würde. Wenn Proust konsequent wäre, müßte er zu Balbec, Elstir, Combray, Bergotte, Vinteuil und Charlus eigentlich auch einen eigenen deutschen Kaiser für seinen Roman erfinden.
Korrekterweise dürfte man ja die ganze Zeit nicht »Marcel« sagen, der Name ist bis jetzt noch nicht gefallen. Aber mein Ich und das meiner Figuren sind doch in gleichem Maß fiktiv. Es irritiert, wenn der Erzähler behauptet, er könne »heute« nicht sagen, wie Madame Verdurin »an jenem Abend« gekleidet war, »über Beobachtungsgabe verfüge ich nicht«. Ist das kokett?
Madame Cottard erliegt, mitten im Raum sitzend, der »unweigerlich bei ihr auftretenden Wirkung der Stunde nach dem Essen« und überläßt sich nach vergeblichem Widerstand einem leichten Schlummer. »Sei es, daß ein Wille, dem Schlaf zu widerstehen, bei Madame Cottard weiterbestand, sogar wenn sie schlief, sei es, daß der Fauteuil nicht genügend Stütze für ihren Kopf bot, jedenfalls schaukelte dieser mechanisch von links nach rechts und von oben nach unten im Leeren wie ein willenloses Objekt, und derart schwankenden Hauptes erweckte Madame Cottard bald den Eindruck, sie höre eine musikalische Darbietung an, bald aber, sie befinde sich in der letzten Phase der Agonie.« Dieses Schwanken, das ich in der S-Bahn so oft bei anderen beobachtet habe, wenn sie in den Mittelgang zu kippen drohten, sich aber ohne aufzuwachen immer wieder aufrichteten. Ich bin selbst so müde, wenn ich jetzt auch noch über Müdigkeit nachdenken soll, schaffe ich mein Seneca-Pensum für morgen nicht mehr, und ich will doch meinen Ruf als Streber festigen, jetzt, wo ich nicht mehr darauf angewiesen bin, bei meinen Mitschülern beliebt zu sein, sondern so viele Freunde im Internet habe.
Unklares Inventar:
– Affäre Eulenburg, die Ingalli, Trional.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– Jemandem »den rasch wieder abgewendeten Blick eines Kurzsichtigen und eines Philosophen« zuwerfen.
– Verstohlen einen Blick gleiten lassen, »den ein Redner heimlich jemandem spendet, der in einer Versammlung sitzt und dessen Name er gerade zitiert«.
Verlorene Praxis:
– Anderen fossil vorkommen.
– Zu jemandem mit Vorreitern mit erhobenem Stab anreisen.
– In der gleichen Art wie gute Parlamentsredner niemals auf einen Zwischenruf antworten.
111. Do, 9.11., Berlin
Sollte man am Geburtstag einfach aufs Dach steigen und nicht mehr mit dem Psychologen reden, bis das Urteil gegen einen aufgehoben wird? Wie immer kamen gleich morgens mit der Post die ersten Glückwünsche vom Sparkassenberater, aber auch web.de ließ sich nicht lumpen: »Als kleine Überraschung möchten wir Sie einladen, 3 Monate lang alle Vorteile des WEB.DE Club zu genießen: Premium E-Mail, exklusive Funktionen, Sicherheitspaket und vieles mehr.« Aber wenn man auf »Überraschung auspacken« klickt, mußte man die Nutzungsbedingungen für das Geschenk akzeptieren, bevor man überhaupt erfuhr, wie es aussah.
Der traditionelle Anruf des Ahnungslosen kam diesmal von einem Redakteur. Er riet mir, kein Staatsbegräbnis anzustreben, sonst würde ich nie eines bekommen. Ich weiß nicht, wieso ich mit allen immer gleich auf dieses Thema zu sprechen komme. Neu war in diesem Jahr der eiskalte Regen, der mich auf dem Fahrrad erwischte. Dafür wußte ich bei Latein den PPP-Abl.abs. von »Sole occidente«. Wenn ich mich statt in die Uni in die Vorschule setzen würde, hätte ich noch viel mehr solcher Erfolgserlebnisse. Leider driften irgendwann im Leben die Ansprüche, die an einen gestellt werden, und die Fähigkeiten, die man hat, auseinander, man müßte sich mal wieder an der richtigen Stelle eintakten.
Meine Mutter hat gefragt, ob ich denn ein Grammophon hätte, sie meinte einen Plattenspieler. Ich hatte nämlich erzählt, daß ich mit ihrer Enkelin unsere alte »Der Wolf und die sieben Geißlein«-Platte gehört habe. Wir haben damals immer den Schluß hören wollen, wo die Geißlein singen: »Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot, määääh!« Was in der Erinnerung ein längerer Spottgesang ist, war in Wirklichkeit ein rasch ausgeblendetes leises Meckern. Außerdem identifiziere ich mich inzwischen natürlich mit dem Wolf. Trotzdem ist es eine hervorragende Platte, die heute zu Unrecht kaum noch gespielt wird. Der Sprecher ist Joseph Offenbach, der Vater aus »Die Unverbesserlichen«. Rätselhaft, daß man einen Text, in den man ja kaum seine tiefsten Gefühle legen kann, so mitreißend sprechen kann. Vielleicht ist es auch nur seine Stimme, die man gerne hört, und der Schauspieler muß gar nichts machen.
Am Morgen einen Bekannten auf dem Fahrrad gesehen und nicht angesprochen. Er war mal ein Idol, weil er Malerei studierte, jetzt programmiert er Webseiten und ist damit viel glücklicher, weil es besser bezahlt ist. Die Fähigkeit, Menschen zu idealisieren, nimmt im Alter ab. Beim Zeitunglesen überlegt, ob ich meinen Geburtstag dazu nutzen sollte, mal die US-Bundesstaaten auswendig zu lernen, das wäre wenigstens etwas Konkretes und an einem Tag zu schaffen. Auf der Post stellte sich die Frage: Pritt oder Uhu? Warum können zwei identische Produkte auf demselben Markt überleben? Irgendwie war ich den ganzen Tag über zittrig, weil meine Tochter morgens geschrien hatte, ich hatte den Turm nicht noch mal bauen wollen, den sie eingerissen hatte: »Ich kann das nicht!« sagt sie immer, ohne es überhaupt probiert zu haben. »Sie will, daß du dich mit ihr beschäftigst«, erklärt man mir. Aber es wäre doch viel effektiver, nett zu mir zu sein, als mich gleich morgens anzuschreien. Die nächste Frau, die zu mir sagt: »Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum?« schmeiße ich in einen Brunnen.
Sodom und Gomorra, S. 456–477
Als Madame Cottard wieder aufwacht, streicht sie sich mit der Hand über die Stirn, mit »der Geschicklichkeit einer Frau, die ihr Haar wieder ordnet«. Sie ist bemüht, die Peinlichkeit, eingenickt zu sein, zu entschuldigen: »Ihr Lächeln aber wurde schnell traurig, denn der Professor, der wußte, daß seine Frau ihm zu gefallen suchte und zitterte, es möge ihr nicht gelingen, rief ihr soeben zu: ›Sieh dich nur im Spiegel an, du bist so rot, als littest du an einem Ausbruch von Akne, du siehst aus wie eine alte Bäuerin.‹« Madame Verdurin verbucht das unter »schalkhafter Gutmütigkeit«. Ein trauriges Bild, solche Eheleute, und irgendwie wurde einem davon ja schon immer die Lust aufs Zusammenleben genommen.
Viel hat die Schlafende nicht verpasst, höchstens Gespräche darüber, was so alles in Familienwappen vorkommen kann: Wiederkreuze, Fasces, Wechselzinnen, Kleeblattschnitt, fußgespitzter Pfahl, Hermelin.
Die Herren spielen Écarté. Charlus versucht, Morel, »da er es mit der Hand nicht konnte, mit Worten zu berühren, die ihn gleichsam abtasteten«. Cottard macht fade Wortspiele. Madame Verdurin möchte Marcel vom Besuch bei den Cambremers in Féterne abhalten. Lungenentzündung und dauerhaften Rheumatismus würde er riskieren, und die Luft sei dort nicht gut für seine Erstickungsanfälle. Alles aus Angst, man könne sie versetzen. Deshalb rät sie auch Charlus ab, in Rivebelle zu essen. Von dem »Dreckzeug«, das sie einem dort als »galette normande« vorsetzten, habe ein armes Mädchen eine Bauchfellentzündung bekommen und sei innerhalb von drei Tagen gestorben.
Beim Abschied ist der norwegische Philosoph, wie angekündigt, spurlos verschwunden, vielleicht von einem »Aeroplan entführt« oder »auf übernatürliche Weise in den Himmel entrückt« oder er hatte wieder »einen Kolikanfall«.
Das alles berührt mich weniger, als daß Marcel sich eine Seite lang darüber ärgert, daß Madame de Cambremer d.J. Saint-Loup »Saint Loupp« ausspricht, mit hörbarem p am Ende.
Unklares Inventar:
– Siele.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– »›Bleiben Sie noch einige Zeit in dieser Gegend, Madame?‹ fragte Monsieur de Cambremer Madame Cottard, was als eine unbestimmte Absicht, sie einzuladen, gelten konnte, aber für den Augenblick eine präzisere Form der Verabredung überflüssig machte.«
112. Fr, 10.11., Berlin
In der Urania in Westberlin bei einem bunten Revue-Nachmittag für Senioren. Der Saal ist auch am zehnten Tag hintereinander bis auf den letzten Platz ausverkauft. Nirgends wurde die Veranstaltung angekündigt, es läuft alles über die Bezirksämter, eine richtige Subkultur. Den Conférencier kennt man irgendwie von Fernsehabenden aus der Kindheit, aber sicher ist man nicht. Es sei schon die 248. Ausgabe dieser bunten Nachmittage. Das Publikum lacht herzlich, sobald es schlüpfrig wird. Es sind ja Individuen, aber als Rentner ist man doch in der Wahrnehmung ein Kollektivwesen, genau wie Jugendliche. Die Band lädt ein zu »einer kleinen musikalischen Reise um die Welt«, und wenn man ehrlich ist, geht die Musik sogar in die Beine. »Im Sommer scheint die Sonne und im Winter da schneit‘s, in der Schweiz, in der Schweiz, in der Schweiz.« Alle anderen kennen den Text, ich fühle mich ausgeschlossen. Was werde ich hier in fünfzig Jahren mit meinen Altersgenossen singen? Oder auch: »Das ist Berlin, Berlin, Berlin … genau im Mittelpunkt der Welt, hat dich der Herrgott hingestellt«?
Der Conférencier zitiert Jean Paul: »Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.« Wer solche Sprüche klopft, hat es verdient, bis ans Ende aller Tage in Rentner-Variétés zitiert zu werden. Zustimmendes Raunen, die gehbehinderte Oma neben mir, die unförmig wie eine Qualle in ihrem Sessel zerfließt, sagt: »Ditt stimmt.« An welche Paradiese sie wohl dabei denkt?
Chris Howland, der als »cleverer englishman« angekündigt wurde, singt: »Dann hau ich mit dem Hämmerchen mein Sparschwein kaputt.« Wieder kenne ich den Text nicht. ’48 sei er nach Deutschland gekommen und habe hier eine phantastische Erfindung entdeckt, über die man überall in der Welt spreche. »Kennen Sie nicht?« Jemand ruft: »Arbeit!«, aber er meinte »Das deutsche Fräulein«, von dem sein nächstes Lied handelt. Danach wieder Scherze: An den Euro könne man sich nicht gewöhnen, das Kleingeld sei so schwer, »das hängt so tief in meiner Hose. Nein, gnädige Frau, nicht, was sie meinen, das Geld.« Der Saal tobt.
Meine Pankowerin tanzt auf der Bühne, und ich bin sprachlos vor Bewunderung, zögere aber, sie zu filmen, weil mir diese Aufnahmen eines Tages, sollte ich wirklich kein Glück bei ihr haben, wehtun könnten.
Sodom und Gomorra, S. 477–498
Das dritte Kapitel des Bandes beginnt mit: »Ich fiel um vor Müdigkeit«, ein Satz, mit dem jedes Kapitel beginnen sollte. Wieder ein guter Titel für meine Memoiren.
Manchmal fragt man sich, ob man sich zuviel dazudenkt oder im Gegenteil zu harmlos ist. Der schielende Page erzählt von seiner Schwester, »witzig ist sie auch. Nie verläßt sie ein Hotel, ohne daß sie dem Zimmermädchen, das hinterher aufräumen muß, in einem Schrank oder einer Kommode ein duftendes Andenken hinterlassen hat«. Eben will ich mich genüßlich über die Stelle hermachen und böswillig eine skatologische Anspielung herauslesen, aber dann geht es weiter: »Manchmal macht sie das sogar in einem Wagen, nachdem sie die Fahrt bezahlt hat; dann versteckt sie sich in einer Ecke und lacht sich tot, wenn der Kutscher tobt, weil er noch einmal von vorn anfangen muß, seine Kutsche zu waschen.« Also was nun? Scheißt sie wirklich in Hotels und Autos?
Diese Schwester hat einen reichen Liebhaber gefunden und würde es deshalb bedauern, wenn es keine Armen mehr gäbe: »›[…] damit ich, jetzt, wo ich reich bin, sie gelegentlich ansch… kann.‹« Fortschrittlich sind natürlich immer nur die Reichen, die anderen wollen nicht die Verhältnisse ändern, sondern lediglich selbst zu ihren Nutznießern gehören.
Zurück von La Raspelière ist Marcel immer müde, »ich trat dann in den Schlaf ein, der wie eine zweite Wohnung ist, über die wir verfügen und in die wir, nachdem wir die erste verlassen, uns für die Nacht begeben«. Und mitten in den Überlegungen über die verschiedenen Arten des Aufwachens und darüber, daß man kurz danach zwar noch seinen Plotin kenne, aber noch nicht »das Vermögen, in kleinen Dingen zu handeln« wiedererlangt habe, heißt es: »[I]ch selber bürge dafür, ich, das seltsame Wesen, das, während es darauf wartet, daß der Tod es erlöst, bei geschlossenen Fensterläden, abgeschieden von der Welt, unbeweglich wie eine Eule lebt und wie jene einigermaßen klar nur im Dunkel sieht.« Ein verstörender Einschub, plötzlich meldet sich der Autor zu Wort. Als würde ein Monitor eingeschaltet, auf dem man ihn bei der Arbeit sieht, wie sich in »The Rocky Horror Picture Show« immer dieser Mann einmischt, um die Tanzschritte zu erklären.
Alte Verwicklungen klären sich auf, Charlus war also beim letzten Aufenthalt in Balbec hinter dem Oberkellner Aimé hergewesen. Marcel zitiert einen Brief, den Aimé von Charlus erhalten und nicht verstanden hat. Darf man in seinen Romanen aus fremder Post zitieren? Jedenfalls bedient sich Charlus einer riskanten Liebesbrieftechnik, indem er gleich am Anfang verrät, »daß mir beim ersten Mal, als ich Sie in Balbec bemerkte, Ihr Gesicht schlechthin unsympathisch war«. Aber dann habe er an ihm eine Ähnlichkeit mit einem verstorbenen Freund bemerkt, und die »brachte sogar die unerträgliche Ausbildung ihrer Kinnpartie […] zum Verschwinden«. Das soll man mal einer Frau sagen: Du erinnerst mich so sehr an eine andere, die mir sehr nah war, daß du mir gar nicht mehr so häßlich vorkommst, wie du bist.
Aimé ist »ein wenig gealtert bereits durch den reichlichen Genuß von Champagner und der Stunde nicht mehr fern, da der Brunnen von Contrexéville notwendigerweise dessen Stelle werden einnehmen müssen«. Contrex bekam Herr Tatziet immer kistenweise aus dem Westen geschickt, es stand im Keller, und wir durften die Flaschen nicht anrühren. Ich hoffte immer, das heilsame Westwasser würde ihn wieder rüstiger machen.
Albertine malt und sucht sich dafür eine abgelegene Kirche, zu der Marcel sie im Wagen begleitet. Aber dort angekommen, fühlt er sich außerstande, das Gelände mit ihr zusammen zu besichtigen. Vergnügen empfindet er »angesichts von schönen Dingen nur, wenn ich allein war, oder mich verhielt, als ob ich es sei, das heißt schwieg«. Aber hinterher schreibt man dann umso flotter.
Verlorene Praxis:
– Eine richtige Dame werden und Spanisch sprechen.
– Einen gewissen Stolz dareinsetzen, Fragen nicht zu beachten und geradeaus seinen Weg fortzusetzen.
– Die Plebejer duzen, ohne sich ihnen vorgestellt zu haben.
113. Sa, 11.11., Berlin
Wecken, Joghurtmüsli mit Sojamilch, Kaffee, Ciceros »Cato maior de senectute«, die ersten fünf Absätze. (So langsam, wie das geht, werde ich noch bis zu meiner eigenen senectus dafür brauchen.) Schnell zur Uni, wo vier Stunden Latein rascher vergehen, als in der Schule fünfundvierzig Minuten irgendeines anderen Fachs. Warum konnten sie nicht schon damals versuchen, den Unterricht so zu gestalten, daß man gerne lernte? Ich habe zwölf Jahre Lebenszeit darauf verschwendet, mich zu drücken. Immer hat man im Unterricht heimlich die Hausaufgaben für die nächste Stunde gemacht. Ich war meine ganze Schulzeit genau eine Stunde hinterher. »Hoc enim onere te levari volo«, Ablativus separationis erkannt, was für ein Glücksgefühl!
Bei Dussmann nun doch Jason Lutes »Berlin«, Huysmans »Ganz unten« und einen »Texte und Übungen«-Band Latein, sicher besser als die Lehrbücher aus der Nazizeit, die ich bisher immer benutze. Einer dieser Momente, in denen man denkt, daß man vollkommen glücklich wäre mit nichts als Lektüren und Sprachstudien. Im Nieselregen nach Hause geradelt. Immer eine Art Kontrollgang, welche meiner Erinnerungsorte noch existieren und welche der geistlosen Bautätigkeit zum Opfer gefallen sind. Während ich den Rest von diesem griechischen Fertigteller von Extra esse, Proust zu übertragen versucht, aber ich kann nicht gleichzeitig essen und tippen. Schokolade wäre da praktischer, wie Luhmann sagt, denn dabei könne man umblättern.
Fußball in der »Bornholmer Hütte«, Kartoffelsalat, Boulette, Kaffee »weiß«. In der Pause die Berliner Zeitung überfliegen. (Wieder dieser Koch, der Gemüse geliert und Kaviar in rohe Eier spritzt. Sein Restaurant bekommt jährlich zwei Millionen Anmeldungen. Ich bin immer neidisch auf Menschen, die ihr Leben so konsequent einer Sache opfern.) Daß der 11.11. ist, merkt man an den langen Nasen, die sich manche Kneipengäste aufgesetzt haben. Als ich nach dem Spiel rausgehe, sehe ich draußen einen Opa, der sich langsam der Kneipe nähert. Wollen wir hoffen, daß er nicht vorhatte, es noch zum Anpfiff zu schaffen.
Einkaufen, was braucht man für eine Kartoffelsuppe? Wieviel von den Stier-Untersetzern, die es zum Osborne-Rioja gibt, habe ich schon? Kurze Neidattacke, weil im tip eine Kollegin, die »schon zweimal zu Lesungen dorthin eingeladen war«, über Bukarest schreiben darf. Zu verkünden, daß Rumänisch den anderen romanischen Sprachen ähnele, hätte ich mich nicht getraut. Es sei sogar dem Latein am ähnlichsten. Der Trick ist, ausreichend unreflektiert zu sein, dann bringt man es auch zu etwas. Sicher arbeitet sie schon an einem Rumänien-Roman, während meiner dieses Jahr abgelehnt wurde.
Beim Kassenroulette ein seltener Volltreffer, denn die, an der ich stehe, wird hinter mir zugemacht, ich muß mich also mit dem Einpacken nicht so beeilen wie sonst. Die Verkäuferin mit der tiefen Stimme ist wohl doch eine Frau, ich werde das weiter beobachten. Meinen Bon von der Flaschenannahme wieder einzulösen vergessen. Zu Hause Texte für das »Kantinenlesen« raussuchen. Schnell den Proust-Beitrag durchgehen und das hier schreiben.
Sodom und Gomorra, S. 498–519
Das Auto, dieser »Riese in Siebenmeilenstiefeln«, erlaubt es einem, mehrere Ausflugsziele an einem Tag zu schaffen: »Es wurde uns klar, als der Wagen in einem Ruck zwanzig Schritte eines ausgezeichneten Pferdes zurücklegte.« Wenn Punkte, die früher für sich existierten, in dieser Weise zusammenrücken, was bedeutet dann noch Entfernung? Die verschiedensten Orte gruppieren ihre Türme »rings um unseren Nachmittagstee«. Und was ist dann eine Stadt? Von Buch nach Zehlendorf braucht man mit der S-Bahn länger als von Brest nach Quimper oder Morlaix. Die Landschaft dazwischen ist eigentlich eine Art Park.
Die Verdurins zwingen ihre Gäste nach Likören und Zigaretten zu Ausflügen, »ungeachtet der durch Hitze und Verdauungstätigkeit erzeugten Schläfrigkeit«. An allen Aussichtspunkten steht eine Bank, bis hin zur letzten, »von der aus man die ganze Rundsicht über das Meer beherrschte«. (Wo außerdem der meiste Müll herumliegt und man aufpassen muß, daß man nicht in die Haufen und Klopapierreste der anderen Touristen tritt.)
Das Land stellt einen veränderten Rahmen dar, in dem flüchtige Bekannte, denen man in Paris ausweichen würde, plötzlich unterhaltsam erscheinen und schäbige Jagdwagen das Herz derer, die in Paris edle Gespanne fahren, höher schlagen lassen. Alles, was »die Öde solcher allzu isolierten Daseinsformen unterbricht, in denen sogar die Stunde, wenn der Briefträger kommt, zu einer Annehmlichkeit wird«. Umgekehrt muß man befürchten, daß einem eine Madame Bovary, wenn man ihr außerhalb eines Romans begegnen würde, vielleicht »wie alle übrigen auch« erschiene.
Für Schiffahrt und Eisenbahn bedarf es des Bahnhofs, »jener großen Wohnung, welche niemand bewohnt und die von der Stadt nur den Namen hat«. Mit dem Automobil kommt jeder an, wo er will. »Aber die Kompensation für ein so geheimnisloses Eindringen bilden auf der anderen Seite die tastenden Bemühungen sogar des Chauffeurs, der seines Weges nicht sicher ist und manchmal wieder umkehren muß«. Jede technische Neuerung entzaubert einerseits ein bißchen von der Welt und ermöglicht andererseits neue Erfahrungen.
Charlus und Morel sitzen im Restaurant. Charlus möchte die drei verwelkten Rosen vom Tisch entfernt wissen. »›Mögen Sie Rosen nicht?‹« fragt ihn Morel. »›Ich würde durch das in Frage stehende Anliegen im Gegenteil beweisen, daß ich sie liebe, da das hier ja gar keine Rosen sind‹«, antwortet Charlus, der ein schwieriger Gast zu sein scheint. Auch den Schaumwein läßt er zurückgehen: »›Dies ist ein Brechmittel mit dem Namen “cup”, bei dem gewöhnlich drei verweste Erdbeeren in einer Mischung aus Essig und Selterswasser schwimmen […]‹«. Er sollte sich vorsehen, Kritik hat dem Gast noch nie etwas gebracht, die Kellner sitzen am längeren Hebel und werden ihm in den Champagner spucken.
Die beiden mutmaßen über Invertierte in ihrem Blickfeld, und Morel verrät seinen unmoralischen Traum, ein Mädchen zu entjungfern und ihm noch am gleichen Abend den Laufpaß zu geben, worauf Charlus sich nicht enthalten kann, »Morel zärtlich ins Ohr zu kneifen«. Schon die Vorstellung hat ihm »im Nu zu einem Gefühl vollkommener Lust verholfen«. Danach beruhigt sich seine sadistische Seite wieder und er kommt auf Höheres zu sprechen, Chopin und Beethoven.
Dann versetzt er dem Selbstbewußtsein des Obers den Todesstoß, indem er eine Birne bestellt. Sie führen aber weder die »Doyenné des Comices« noch die »Triomphe de Jodoigne«, die »Virginie-Dallet« oder die »Passe-Colmar«. Nach der »Duchesse-d’Angoulême« muß er gar nicht fragen, die sei ja noch nicht reif. Da muß ich doch gleich damit protzen, schon oft »Josephine von Mechelen« gegessen zu haben.
Während Albertine in der abgelegenen Kirche malt, die Marcel aber nur Genuß verschaffen könnte, wenn er allein wäre, fährt er mit dem Auto durch die Gegend. »Angeblich mit ganz etwas anderem beschäftigt und genötigt, sie zugunsten sonstiger Vergnügungen sich selbst zu überlassen, dachte ich gleichwohl nur an sie.« Und er stellt sich vor, wie dieselbe Meeresbrise, die ihn im Vorbeistreichen berührt, zu ihr gelangt und ihr das Antlitz umfächelt.
Aber die Straßen, die zu ihr führen würden, erinnern ihn an frühere Straßen und Obsessionen, »daran, daß es mein Schicksal war, immer nur Phantome zu verfolgen, Wesen, deren Wirklichkeit zu einem guten Teil nur in meiner Einbildungskraft bestand«. Damit ist er ja schon sehr weit in seiner Selbsterkenntnis, ob es aus diesem Muster einen Ausweg gibt? Andernfalls passiert immer das gleiche. Wenn man ihr Freund geworden ist, hat man »nichts Eiligeres zu tun«, als an eine andere zu denken. Warum dann überhaupt der Aufwand, sie zu gewinnen? Der verstorbene Swann würde nicht so fragen. Wenn Marcel denkt, daß die Birnbäume und Büsche ihn überleben werden, »meinte ich von ihnen den Rat zu empfangen, mich endlich an die Arbeit zu machen, solange die Stunde der ewigen Ruhe noch nicht gekommen war«.
Unklares Inventar:
– Diplomatenschnittchen, »chemin de table« herstellen, Natterkopf, Coreopsis, Wattman, Stamati.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– Eine jener »kollektiven und universalen Arten des Lächelns, welche bei Bedarf – so wie man die Eisenbahn oder für einen Umzug den Möbelwagen benutzt – alle Menschen verwenden«.
Bewußtseinserweiterndes Bild:
– »Wir fuhren ab und wurden einen Augenblick noch von den kleinen Häusern begleitet, die mitsamt ihrem Blumenschmuck an den Weg geeilt kamen.«
114. So, 12.11., Berlin
Weil wir die Eltern zum ersten Mal seit Jahren überreden konnten, zu Weihnachten nach Berlin zu kommen, hat meine Mutter schon seit drei Tagen Migräne, es seien nämlich nur noch vier Wochen, und sie müsse noch so viel einpacken. »Es sind sechs Wochen«, sage ich. »Für mich sind es vier.« Ihr Gepäck soll ja vom Gepäckdienst der Bahn abgeholt werden, aber das Ticket gelte doch erst ab dem 23.12., ob die das Gepäck dann auch einen Tag vorher holen würden? Am selben Tag, das wäre viel zu aufregend, falls sie nicht kommen. »Ruf doch mal an, ob sie das machen.« »Wir haben aber keine Zeit! Papa fährt im Januar zehn Tage nach Japan.« »Dann mach dir nicht jetzt schon Sorgen deswegen, sondern erst zwei Tage vorher.« »Ich hatte das ganze Wochenende Migräne.« »Soll ich mal anrufen?« »Papa will ja auch nur Handgepäck, damit wir nichts aufgeben müssen.« »Also hast du Migräne wegen einer Frage, die man mit einem Anruf klären könnte, und die überhaupt nicht relevant ist für euch?« »Ihr vergeßt immer, daß wir zweiundsiebzig sind.« Sie müsse noch so viel einpacken, die ganzen Medikamente. »Die kannst du doch auch hier kaufen, wenn du welche brauchst.« »Die gibt es doch in Berlin nicht.« »Aber das ist die Hauptstadt.« Im Januar fängt sie eine chinesische Kräuterbehandlung gegen ihre Migräne an, sechzig Euro die Sitzung. Akupunktur wirke nur ein Jahr. Bei Migränepatienten wolle »das Gehirn sich Luft verschaffen«. Am Wochenende hat sie nämlich schon wieder so viele Geschichten von anderen Leuten anhören müssen, die schwirren ihr dann immer alle im Kopf rum, wenn sie die Augen schließt. Es sei so unbequem, nach Berlin zu kommen, weil sie hier für alles verantwortlich sein würden. »Aber bei euch doch auch.« »Aber das ist was anderes. Außerdem die Treppen.« »Aber es gibt einen Fahrstuhl.« »Und wenn der kaputtgeht?« »Aber ihr seid doch gar nicht verantwortlich.« »Und dann ist nichts zu essen da.« »Dann ist eben nichts da.« »Wir schenken sowieso nicht viel, nur eine Kleinigkeit für die Enkel.« »Ich will aber nicht, daß die Enkel alles kriegen.« »Und ihr habt doch keinen Baumschmuck, ach, ich konnte schon wieder ab vier nicht schlafen.«
Sodom und Gomorra, S. 519–540
Marcel und Albertine sehen sich Kirchen an, ganz nebenbei wird die Information eingestreut, daß wir uns im zwanzigsten Jahrhundert befinden, gut zu wissen. Das »lässige Behagen«, das Albertines neuer Seidenschal ihr offensichtlich verschafft, findet er nicht ohne Anmut. Für Architektur entwickele sie erstaunlich schnell Geschmack, »im Gegensatz zu dem jammervollen, den sie in der Musik besaß«. Wie sich die Zeiten gleichen, der Mann klagt über den Musikgeschmack seiner Frau. Viel zu selten sucht man sich ja seine Partnerin nach ihrem Gebäudegeschmack aus.
An einem Bauernwirtshaus wird gehalten, der Cidre aber im davor geparkten Auto getrunken (wenn mit »Zider« Cidre gemeint ist). Der Cidre spritzt sie voll, »die Flaschen brachten wir zurück«. Muß man in einem Roman erwähnen, daß man die Flaschen zurückgebracht hat? »Es war Winter, das Land war im Aufruhr, bald würde es Krieg geben, gleich morgens brachte ich die Flaschen zurück«.
Der Alkohol bewirkt, daß Albertine sich an ihn drängt, blaß, »rot nur an den Jochbeinen unter den Augen, mit etwas Glühendem und Verwelktem dabei, wie es die Mädchen aus den Vorstädten haben«. Was ist das heutige Pendant zu diesen Mädchen aus den Vorstädten?
Der arme Marcel: »Ich konnte Eifersucht sogar verspüren, wenn ich mich neben ihr befand.« Ein Kellner mit schwarzem Haar, »das wie eine Flamme emporzüngelte«, läuft mal näher, mal weiter entfernt durch ihr Blickfeld. »Die beiden sahen aus, als befänden sie sich in einem geheimnisvollen Zwiegespräch, das gleichwohl stumm verlief infolge meiner Anwesenheit und vielleicht bereits eine Fortsetzung früherer Begegnungen war, von denen ich nichts wußte, oder auch nur eines Blickes, den er ihr zugeworfen hatte, bei dem ich aber jedenfalls der störende Dritte war, vor dem man sich verbirgt.« Wieder überlegt er, ob der Augenblick nicht gut gewählt wäre, um endgültig auf sie zu verzichten.
Seine Mutter würde ihn ja gerne zur Arbeit antreiben, aber allein die Ermahnung dazu versetzt ihn schon in solche Aufregung, daß sie ihn am Anfangen hindert, zu dem es aber auch nicht käme, wenn die Mutter schwiege. Keine leichte Ausgangssituation für einen Pädagogen.
Kehrt er am frühen Morgen von Albertine zurück, ist er »noch immer ganz umwebt von der Gegenwart meiner Freundin, und mit einem Vorrat an Küssen bedacht, von dem ich noch lange hätte zehren können«. Zu Hause findet er ein Telegramm von ihr vor, das sie von unterwegs geschrieben hat (»Telegramm« klingt auch besser als »SMS«), und er sagt sich, daß sie sich doch wohl lieben müssen, wenn sie die ganze Nacht mit Küssen zubringen. Aber weiß man’s?
Wenn da nicht ihr Antlitz wäre, das »das Rätsel ihrer Absichten barg«, all ihre Pläne, von denen er ausgeschlossen ist. »Ohne ein Datum dafür festzulegen, wünschte ich, daß dies Leben ein Ende hätte.« Wenn man kein Datum setzt, kann man natürlich getrost davon ausgehen, daß sich dieser Wunsch auch erfüllen wird.
Aus einem Fluchtbedürfnis reitet er einen Wildpfad. Die Felsen erinnern ihn an Elstirs Aquarelle: »Dichter einer Muse begegnend« (was schon hinreißend genug wäre als Bildtitel) und »Junger Mann einem Zentauren begegnend« (was zugegebenermaßen sogar noch etwas neugieriger macht). »Plötzlich scheute mein Pferd.« Er hebt seine »tränenerfüllten Blicke« zur Sonne und sieht ein Flugzeug: »Ich war tiefbewegt, wie es ein Grieche gewesen sein mag, der zum ersten Mal einen Halbgott erblickte. Ich weinte, denn ich war schon in dem Augenblick, als ich das Geräusch über meinem Kopf wahrnahm – Aeroplane waren noch selten in jenen Tagen –, bei dem großen Gedanken zum Weinen bereit, daß das Wesen, das ich zum ersten Mal sehen würde, ein Aeroplan sein müsse.« So wie ich geweint habe, als ich zum ersten Mal eine externe Festplatte gesehen habe. Technische Neuerungen sollten viel öfter mit Tränen begrüßt werden.
Er beneidet den Piloten, weil vor ihm »alle Straßen des Weltenraumes, des Lebens offenlagen«. Minutenlang kreist das Flugzeug wie unentschlossen über ihm und steigt dann senkrecht zum Himmel empor.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– »Doch jedesmal, wenn sie sich seit dem Tode meiner Großmutter so weit vergaß, daß sie lachte, stockte dies Lachen, gleich nachdem es eingesetzt hatte, und endete in einem fast schluchzenden Ausdruck der Qual.«
Verlorene Praxis:
– Sich beruhigende Kompressen aufs Herz legen.
– Sich, um ihrer Vorliebe für den Reitsport zu genügen, mit Mietpferden behelfen.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– »Mir scheint, du könntest auch jemand Besseren zum Freund haben als einen Automechaniker.«
115. Mo 13.11., , Berlin
Ende der Woche beginnt das achte Balkan-Black-Box-Festival, und ich soll für die taz darüber schreiben, wovon ich früher als deren Abonnent nicht zu träumen gewagt hätte. Vor zwei Jahren habe ich mich viele Monate fast ausschließlich mit Jugoslawien und den Jugoslawienkriegen beschäftigt. Ähnliche Phasen gab es mit Bulgarien und Rumänien. Mit einem Festival zu tun zu haben, das die ganze Region abdeckt, sollte mich glücklich machen, alleine schon die Gelegenheit, Gleichgesinnte kennenzulernen. Ich habe damals sogar einmal vor dem Kino »Babylon« ganz nahe neben den Organisatoren gestanden, mich aber nicht getraut, sie anzusprechen.
Jetzt habe ich einen Stapel kopierter DVDs mit Filmen und Dokus aus Bosnien, Serbien und Bulgarien bekommen, die auf dem Festival laufen werden und die ich für den Artikel ansehen will. Vor zwei Jahren habe ich ganze Tage in der Uni-Mediothek vor einem kleinen Fernseher gesessen, mir Dokus zum Balkankrieg und alte jugoslawische Spielfilme angesehen und Notizen gemacht. Jetzt bekomme ich sie mit der Post geliefert und müßte sie nur einlegen, aber alles in mir sträubt sich dagegen anzufangen. Es war immer so: Sobald eine Arbeit nicht mehr freiwillig war, begann man, sie aufzuschieben. Auch wenn der serbische Spielfilm schwach sein sollte, spielt er doch genau zu der Jahreszeit in Belgrad, zu der ich auch dort war, und man sieht dieses eigenartige Genex-Hochhaus in Neu-Belgrad im Winternebel stehen. Und dann gibt es eine autobiographische Doku eines Filmemachers aus Sarajevo, in der er über seine Kindheit und Jugend unter Tito nachdenkt. Es gibt auch einen Film über die Initiatoren des weltweit ersten Bruce-Lee-Denkmals in Mostar und über ein interaktives Computerspiel »Balkan Wars«, bei dem der Krieg nachgespielt werden kann. Nichts wäre leichter, als sich die Filme anzusehen und ein bißchen mitzuschreiben. Aber ich könnte vorher auch nochmal meine Mails checken und gucken, ob es endlich ein »Schmidt liest Proust«-Beitrag vom November in die Top 25 der meistangeklickten Seiten dieses Blogs geschafft hat. Das werde ich jetzt auch tun und mit den Filmen morgen beginnen. Wird das bis an mein Lebensende so weitergehen, immer nur Selbstüberwindung, Versagen und schlechtes Gewissen?
Sodom und Gomorra, S. 540–561
Immer öfter spürt Marcel den Wunsch, sich an die Arbeit zu machen, wobei nicht gesagt wird, was er unter Arbeit versteht. Aber man geht vielleicht nicht zu weit, wenn man vermutet, daß das Ergebnis dieser Arbeit das Buch sein könnte, das wir in den Händen halten.
Dann wieder so eine nebenher eingestreute überraschende Eröffnung, die uns wie unaufmerksame Leser dastehen läßt. Als er sich im Hotel in den Smoking wirft, pfeift er unbewußt eine Melodie und ist »glücklich über die Vielfalt, die ich in dieser Weise auf drei Ebenen meines Lebens feststellen konnte«, denn dieselbe Melodie hatte er auch schon früher auf dem Weg zu den Gelagen in Rivebelle gepfiffen, dann an dem Abend, an dem er Mademoiselle de Stermaria auf der Insel im Bois zu verführen gedachte, und eben auch »ein paar Tage, nachdem ich sie [Albertine] zum ersten Mal besessen hatte«. Ach so?
Auf dem Weg aus dem Hotel macht einer der Gäste eine Bemerkung zu ihm, die jene Befriedigung erkennen läßt, »welche die – wäre es auch durch die dümmste Tätigkeit – beschäftigten Leute daraus ziehen, daß sie ›keine Zeit‹ haben, Dinge zu tun, die andere unternehmen«. Meistens sind es gerade die Beschäftigungen dieser Leute, die einem Zeit rauben, und die ganze Welt würde Zeit gewinnen, wenn sich alle mehr Zeit dafür nehmen würden, weniger zu tun.
Weil er eifersüchtig würde, wenn Albertine nach ihrer Ankunft bei den Verdurins die Treppe hochging, um nach der anstrengenden Anfahrt »Toilette zu machen«, hat er ihr ein Necessaire von Cartier geschenkt, denn damit ist gewährleistet, daß sie sich in Zukunft in seiner Gegenwart pudern kann. Als nächstes wird sie eine Brotbüchse um den Hals gehängt bekommen, damit sie nicht mehr zum Essen verschwinden muß, eine Thermoskanne und schließlich Windeln, um auch diese Abwesenheitszeiten auszuschließen. Dann muß man ihr nur noch Aufputschmittel ins Essen mischen, damit sie sich nicht mehr in den Schlaf verabschiedet, wobei man die Mittel natürlich auch selber nehmen muß, damit man nichts verpaßt.
Wenig später heißt es übrigens: »[I]ch, der ich keine Eifersucht und kaum noch Liebe für sie empfand.« Und kurz darauf: »Aber da ich ganz an das tägliche Bedürfnis, Albertine zu sehen, versklavt war.«
Charlus, der sich die Lippen rot pomadisiert, denkt einerseits immer noch, niemand ahne etwas von seiner Orientierung, unterstellt aber andererseits jedem genau das. Außerdem hat er das Problem jener, die schlecht über andere reden, denn er vermutet, »sobald jemand ihm gegenüber in Gedanken versunken schien, daß man dieser Person irgendeine Bemerkung zugetragen habe, die er selbst über sie gemacht habe«. Da aber in Wirklichkeit alle über seine Vorliebe für Männer Bescheid wissen, wirkt er auf die Gesellschaft wie ein exotisches Gewürz, man sucht seine Nähe, »wegen der einzigartigen, geheimnisvollen, raffinierten und monströsen Erfahrung, aus der er schöpfte«.
Unklares Inventar:
– Hydrophobie, Bajaderenwimpern.
Verlorene Praxis:
– Ängstlich darauf bedacht sein, daß nichts Abträgliches über einen in der Flöten- und Kontrapunktklasse verlautet.
– Sich als Dame, um die Unterhaltung nicht einzuengen, in einer gewissen Entfernung halten.
116. Di, 14.11., Berlin
Ich habe keine Zeit mehr, über den heutigen Tag zu schreiben, zum Beispiel darüber, daß wir auf einem Spielplatz in der Kollwitzstraße ein Lagerfeuer entdeckt haben und beim Abendbrot meine Kartoffelsuppe vom Montag endlich alle geworden ist, daß es so seltsam mild draußen ist und die Bauarbeiter auf dem neuen Gerüst in der Ramlerstraße »Eins … zwo! Eins … zwo!« gerufen haben, als ich morgens vorbeigejoggt bin und gerade Led Zeppelin hörte. Aber ich kann mir dazu heute nichts ausdenken, weil ich schon zu müde bin, die Übersetzung des Seneca-Textes für morgen hat zu lange gedauert, und einen Satz habe ich immer noch nicht verstanden. Da ich seinetwegen jetzt kaum noch Zeit für Proust habe, soll er wenigstens hier wiedergegeben werden: »…nemo iam divum Augustum nec Ti. Caesaris prima tempora loquitur nec, quod te imitari velit, exemplar te quaerit.«
Sodom und Gomorra, S. 561–582
Charlus glaubt also immer noch, daß seine Umwelt nichts von seiner Orientierung ahnt: »So lebte Monsieur de Charlus in Täuschungen dahin wie der Fisch, welcher meint, das Wasser, in dem er schwimmt, breite sich auch jenseits der Glasscheibe seines Aquariums aus.« Ein guter Hinweis, warum sollte der Fisch auch denken, wir schwämmen nicht im Wasser, dann würden wir uns schließlich sofort zu ihm ins Aquarium retten.
Charlus und Brichot streiten, ob Balzac überschätzt ist oder vielmehr wundervoll, was ich auch gerne einmal wüßte, bevor ich mich in das nächste Leseabenteuer stürze. Cottard schaltet sich wie immer nur in fremde Gespräche ein, um irgendeine vermeintlich witzige Floskel anzubringen oder einen der wenigen lateinischen Sprüche, die er beherrscht. Aber so dumm ist es diesmal gar nicht, wenn er bemerkt, daß Sokrates noch für Allerweltssprüche unsterblich werden konnte, während das heute doch etwas schwieriger wäre: »Wenn man bedenkt, daß Charcot und andere tausendmal bedeutendere Arbeiten gemacht haben, die sich wenigstens auf etwas stützen, wie die Aufhebung des Pupillarreflexes als Nebenerscheinung der allgemeinen Paralyse, und daß sie doch fast vergessen sind!«
Die Qualen, die der Emporkömmling Morel seinem Gönner und Verehrer Charlus bereitet, wenn er den beleibten Herrn in geziertem Ton vor Freunden vom Militär oder vor Musikern verleugnet, oder sich sogar selbst öffentlich über ihn lustig macht. Für den Gedemütigten ein Teufelskreis, da »derjenige, welcher liebt, gezwungen ist, immer von neuem einen Versuch zu machen und sein Gebot dauernd zu erhöhen«, während es »im Gegenteil dem andern, der nicht liebt, leichtfällt, eine gerade, unbeugsame und von Eleganz geprägte Linie zu verfolgen«. Dazu kommt die Selbsttäuschung des Liebenden, der, wenn der Geliebte, sobald man dazutritt, geniert den Blick senkt, darin »einen ganzen Roman« sehen will, während der Grund dafür in Wirklichkeit »Gereiztheit und Scham« ist.
Unklares Inventar:
– Cheviotjacke.
Verlorene Praxis:
– Jemandem durch seine graue Toilette die Idee nahelegen, daß man dem Leben abgewandt ist.
– Die Rue Bergère hoch über den Faubourg Saint-Germain stellen.
117. Mi, 15.11., Berlin
Während ich hier im Internetcafé schreibe, starrt mich ein elektronisches Zyklopenauge an, auf dem »Genius« steht. Kann man aus meinem Gesichtsausdruck den Text ablesen, den ich gerade tippe? Das wäre vielleicht auch wieder etwas für »Wetten, dass …?«. Andere Produktnamen in meinem Blickfeld: ein Bildschirm namens »Captiva«, »Die Gefangene«. Da horcht man natürlich als Proust-Leser auf. Welcher Zufall war hier am Werk, daß ich ausgerechnet an »Die Gefangene« meinen Proust-Beitrag schreibe, von »Genius« beobachtet? Neulich war schon eine ähnliche Koinzidenz aufgetreten, als ich, von Eifersucht getrieben wie zuletzt vor fünfzehn Jahren, nachts um drei Klingelschilder nach einem bestimmten Namen absuchte und sofort ausgerechnet auf »Montesquiou« stieß. Man fühlt sich, wie in »The Game«, irgendwann kommt die Auflösung, und wir werden alle aufatmen. Man wartet ja in seinem Leben sowieso ständig darauf, daß sich endlich der Moderator zu erkennen gibt und es heißt: »Verstehen Sie Spaß?«
Die Botschaft des dritten Produkts, das mir heute etwas sagen will, habe ich noch nicht entschlüsselt, ein orangefarbener Kugelschreiber, auf dem »acora – Hotel und Wohnen« steht. Auf der Homepage heißt es: »Cor kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ›Herz‹, cordial aus dem Französischen und heißt ›herzlich, freundlich‹. Von diesen Gedanken haben wir uns im Jahr 1993 leiten lassen, einen Firmennamen für unsere Hotelgruppe zu definieren. Gastfreundschaft von Herzen – das ist acora.« Warum nicht einfach »aherza«? Wenn unsere Vorfahren auch so unbefangen mit den Wortbildungsregeln umgegangen wären, müßten sich Deutschlernende heute ganz schön strecken. »Diese Definition ist nicht nur Platzhalter auf unserer Homepage und in unseren Prospekten, sondern wir bemühen uns täglich, diese Philosophie im Umgang mit unseren Gästen und Mitarbeitern umzusetzen.« Wenn »Gastfreundschaft von Herzen« eine Philosophie ist, dann nenne ich mich in Zukunft auch Philosoph. Sollte der Kugelschreiber darauf hinauswollen? »Der Gast soll sich in jedem acora Hotel und Wohnen einfach wohl fühlen – wie zu Hause.« Hier steckt ein fataler Denkfehler, »wohl fühlen« und »wie zu Hause«? Und selbst, wenn: Warum sollte ich Geld dafür bezahlen, mich in einem Hotel wie zu Hause zu fühlen?
Vielleicht richtet sich mein Kugelschreiber aber auch gar nicht an ein spezielles Publikum, sondern eher an die breite Leserschaft. Dann ist die Botschaft womöglich ganz schlicht: Wenn du irgendwann einmal in Bochum, Bonn, Düsseldorf oder Karlsruhe bist und ein Hotel suchst, das »acora« heißt, dann hol deinen Kugelschreiber hervor, auf dem die Internetadresse von acora steht, sie lautet www.acora.de. Unter dieser Adresse findest du dann auch die richtige Adresse. Bitte schreib nicht so viel, damit der Stift lange hält und du nicht irgendwann in Bochum, Bonn, Düsseldorf oder Karlsruhe auf der Straße übernachten mußt.
Sodom und Gomorra, S. 582–603
Hinweise an die Leser, Marcel wolle demnächst mit Albertine brechen, häufen sich und werden dadurch nicht glaubwürdiger. Denn zugleich findet er »eine gewisse Süße darin […], ihr ganz, als ob sie meine Frau gewesen wäre, in sanftem Ton zu befehlen: ›Geh du nur nach Hause, ich komme heute abend wieder zu dir‹«. Anscheinend kann selbst die gefürchtete Eheroutine als Vorlage für ein erregendes Rollenspiel herhalten.
»Mit der sentimentalen Erfindungsgabe, in der unglückliche Liebe sich gefällt«, phantasiert Charlus ein Duell herbei, in dem er Morels Ehre bei einem Offizier verteidigen will. Das alles, um Morel, den so ein Duell kompromittieren müßte, zu einem Besuch bei ihm zu bewegen. Morel spricht von ihm in seiner Abwesenheit als »altem Widerling«, aber da er durch das Duell in eine peinliche Situation geraten würde, eilt er zu Charlus, um ihn zu beschwichtigen. Wäre Morel nicht gekommen, hätte Charlus sich vielleicht tatsächlich mit irgendwem duelliert, »um seine Trauer wenigstens in Wut auszuleben«. Wie kann er an diesem Mann hängen, er, dessen Blut »reiner als das des Hauses Frankreich war«? Nie wird er sich an die Gepflogenheiten des Pöbels gewöhnen, zum Besipiel an »die tiefeingewurzelte Gewohnheit dieser Leute, auf einen Brief nicht zu antworten«. Weil er erreichen kann, daß Morel ihn anfleht, wird er »von einem Taumel des Entzückens erfaßt«. Zum Schein gibt er nicht sofort nach und schwärmt vom bevorstehenden blutigen Ereignis, das ihn in die Tradition seiner kriegerischen Vorväter stellen wird. Marcel soll gleich Elstir telegraphieren, damit dieser das Ganze im Bild festhält als ein »Beispiel solchen Wiederauflebens alter völkischer Kräfte […]. Es gibt dergleichen in jedem Jahrhundert vielleicht nur ein einziges Mal«.
Unklares Inventar:
– Aufwärterin, Kontraquarten. Mazagran, Gloria (Getränke).
Verlorene Praxis:
– Jemandes Hand einen Augenblick lang mit der Güte eines Herrn streicheln, »der sein Pferd am Maule krault und ihm Zucker gibt«.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– »Die Liebe bringt auf diese Weise im Denken Umwälzungen hervor, wie sonst nur die Erdgeschichte sie kennt.«
118. Do, 16.11., Berlin
Auf der Innenbahn im Stadion lag rücklings eine tote Maus, ein Bein in die Luft gestreckt. Vielleicht war jemand draufgetreten? Oder war sie im Kreis gelaufen und hatte nicht gemerkt, daß der Weg auf diese Art kein Ende nehmen würde? Sollte man sie wegräumen? Aber warum? Damit alles wieder seine Ordnung hat und man nicht an den Tod erinnert wird, während man seine Runden dreht? Wenn ich eines Tages auf der Innenbahn zusammensinke, will ich auch nicht, daß man mich einfach wegzieht und weitermacht, als sei nichts gewesen. Eigentlich beneide ich die Maus, ich quäle mich hier, um meinen Körper zu verbessern, und sie kann relaxen und muß niemandem mehr zu gefallen versuchen.
Sodom und Gomorra, S. 603–624
Geht dem Autor die Luft aus? Oder uns Lesern? Das vierte Buch schleppt sich etwas uninspiriert ins Ziel. Der Erzähler nimmt eine Eisenbahnfahrt mit der normannischen Bahn zum Anlaß, mit jeder Station Episoden aus der Vergangenheit zu assoziieren, deren Erwähnung an sich nicht besonders einleuchtet. Es kommt auch zu keinem der »für jede Eisenbahnfahrt charakteristischen Zwischenfälle«. Das läßt mir Zeit, noch einmal auf den wiederholt angewandten Trick hinzuweisen, mit dem Proust historische Persönlichkeiten einbaut, die wir eigentlich schon in Figuren des Romans porträtiert gefunden zu haben meinten. So behauptet Marcel, Sarah Bernhardt bislang nicht in »Phädra« gesehen zu haben, was schon ein dreistes Manöver ist nach dem Theater um seinen Besuch einer Vorstellung der Berma in ebendiesem Stück.
Die Eifersucht zwischen den Cambremers und den Verdurins: geschenkt.
Marcel richtet es bei der Rückfahrt von den Gesellschaften so ein, daß er im Wagen neben Albertine sitzt, »denn wir beide konnten so mancherlei in einem dunklen Wagen tun, in dem das Holpern bei der Abwärtsfahrt uns im übrigen entschuldigte«. Von mir ist er sowieso entschuldigt, wenn er sich an sie klammert, das ist nicht das Problem.
Unklares Inventar:
– Krätzer. Périer, Comaglia, Dehelly (Schauspieler).
Verlorene Praxis:
– Weine chambrieren lassen.
– Als Hoteldirektor mit einem Blick veranlassen, daß eine Korkscheibe unter den Fuß eines Tisches geschoben wird, der nicht ganz fest steht.
– Als Prinzessin von Geblüt die Herzoginnen zwar hinausgeleiten, jedoch nur bis zur Mitte des nächstfolgenden Zimmers.
– Sich die Puffen überkämmen.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– »[E]r kannte alles, was Paris betraf, bis ins Detail, wie nur Leute, die selten dorthin kommen.«
– »[E]s gibt etwas, was noch schwieriger ist als eine ärztliche Vorschrift strikt zu befolgen, das ist, es anderen nicht auch aufzwingen zu wollen.«
119. So, 19.11., Berlin
Vergangenheit und Gegenwart, wer kann das schon noch unterscheiden? So lesen sich meine Aufzeichnungen vom 20.11. aus den letzten Jahren:
2002
Im Fernsehen ein Toilettenmann von Hagenbeck in Hamburg. Er trinkt ein Glas Wasser aus seiner Kloschüssel, um zu beweisen, wie sauber es bei ihm ist.
2003
18.00 Uhr Sauna, drei Gänge, nach dem zweiten ein Budweiser.
2004
Zug von Chemnitz nach Berlin. Mir gegenüber hört eine Frau ziemlich laut ihre neue Wolfgang-Petry-CD. Mein ungläubiger Blick wandert über dieses Geschöpf. Auf ihrer Trainingsjacke steht »Wolfgang Petry«, sie hat ein Wolfgang-Petry-T-Shirt an, und ihre Sauerkrautlocken sehen bestimmt auch nicht zufällig so aus. Nur Freundschaftsbänder trägt sie nicht. Sie wirkt glücklich, wie sie dort mit geschlossenen Augen der Musik lauscht. Vielleicht ist sie ja glücklich. Kommt es dabei zu anderen chemischen Reaktionen im Gehirn als bei einem Weinkenner, der den Wein seines Lebens verkostet?
2005
Sehnenscheidenentzündung vom ersten Mal Kickern in den letzten zehn Jahren. Telefonieren mit vier Orthopäden, hier müßte ich drei bis vier Stunden warten, dort ginge es nächsten Montag. Ist das nicht unterlassene Hilfeleistung? Alles, weil ich nicht privat versichert bin. In der »Marietta-Bar« unter Schmerzen Notizen. Jedes Wort ein Bekenntnis zum Geist und ein Aufschrei gegen die Diktatur des Leiblichen. Zudem (auch vom Kickern?) flüssiger Stuhl. So habe ich das nicht gegessen.
Sodom und Gomorra, S. 624–644
»Oft, wenn Monsieur de Cambremer mich auf dem Bahnhof anrief, hatte ich bei Albertine die Dunkelheit genutzt, etwas mit Mühe freilich, da sie sich ein wenig sträubte und Bedenken trug, ob die Finsternis auch vollkommen sei.« Was heißt das nun wieder, »bei ihr die Dunkelheit genutzt?« In einem Buch mit dem Titel »Sodom und Gomorra« ist das doch eher mager.
Die ständigen Belehrungen Brichots über die Etymologie der Ortsnamen bringen ernüchternde Erkenntnisse: »Honfleur« kommt nicht von »fleur« wie Blume, sondern »fleur« wie Fjord, also dem normannischen Wort für »Hafen«, und aus »Briqueboeuf« verschwindet der Ochse, wenn »boeuf« von »budh« kommt, das für »Hütte« stehen soll. Wird mit den die Phantasie anregenden Ortsnamen irgendwann auch das Vergnügen an den Orten schwinden?
Als einmal Saint-Loup in ihre Kleinbahn zusteigt, will Marcel Albertine und ihn aus Eifersucht keine Sekunde allein lassen und kann deshalb nicht aussteigen, um Blochs Vater kurz zu begrüßen, was ihm Bloch, der ihn darum gebeten hatte, nie verzeihen wird. So kombiniert das Leben in verzwickter Weise die Umstände und zwingt einen dazu, ein Mißverständnis nicht aufzuklären, um einen Freund nicht noch mehr zu verletzen, indem man zugibt, dass es Absicht gewesen war.
Dafür ist Charlus auf den ersten Blick von Bloch angetan und fragt ganz unbeteiligt: »Wohnt er in Balbec?« Für diese so stark wie möglich im Ton der Teilnahmslosigkeit geäußerte Frage müsse es im Französischen ein eigenes Satzzeichen geben: »Allerdings würde ein solches Zeichen wohl fast ausschließlich für Monsieur de Charlus Verwendung finden.« Und das ist noch keinem Autor gelungen, seiner Sprache ein neues Satzzeichen aufzuzwingen.
Manchmal wartet Monsieur de Cambremer am Bahnhof und versucht, Marcel für ein paar Tage zu ihnen nach Féterne zu entführen, »wo eine ausgezeichnete Musikerin, die den ganzen Gluck singen würde, von einem berühmten Schachspieler abgelöst werden sollte, mit dem ich ausgezeichnete Partien spielen könnte«. Warum nur geben sich alle solche Mühe, Marcel zu sich einzuladen? Ist er besonders amüsant, charmant oder intelligent? Bis jetzt hat man als Leser davon nicht viel gemerkt, und doch reißt man sich um seine Gesellschaft. Eine Musikerin, die den ganzen Gluck singt, mit so etwas bin ich noch nie gelockt worden.
Der »herabziehende Einfluß« der Gegend um Balbec, die ihm jetzt vertraut und ein Zuhause ist, das er ringsherum von Freunden und Bekannten bewohnt weiß. »Die Atmosphäre dort weckte keine Ängste mehr, sondern war einzig mit menschlichen Emanationen erfüllt, leicht einzuatmen und zu beruhigend fast.« Das Kapitel endet mit dem Satz: »Eine Heirat mit Albertine kam mir jetzt wie eitel Torheit vor.« Aber es wird noch ein kurzes Kapitel folgen, das mit der Feststellung schließt: »[E]s geht nicht anders: ich heirate Albertine.« Den Schwankungen nach, denen seine Haltung in diesem Punkt unterliegt, werden die Kapitel irgendwann vielleicht nur noch einen Absatz lang sein und mit der jeweils sich widersprechenden Beteuerung enden.
Noch wartet er auf eine Gelegenheit zum endgültigen Bruch. Außerdem liebt er ja angeblich Andrée. Die will er allerdings auch nicht heiraten, weil er dann nicht mehr frei wäre, nach Venedig zu gehen. Im Zug bemüht er sich, grob zu Albertine zu sein, vielleicht werde er sie morgen versetzen, kündigt er an. Sie ist ihm nicht böse, »denn ich spüre, du bist nervös«. Am nächsten Tag wolle er sich von Madame Verdurin Auskunft über andere Kompositionen Vinteuils erbitten, von dem er nicht glaubt, daß Albertine ihn kennen könnte. Aber hier ist der Moment für eine fatale Wendung gekommen, die die »Recherche« um drei Bände verlängern wird: »Wir können alle nur möglichen Ideen in unserm Kopf haben, die Wahrheit hat sich nie in ihm Bahn gebrochen, aber von außen her, wenn man am wenigsten darauf gefaßt ist, versetzt sie uns ihren furchtbaren Streich, mit dem sie uns für immer verwundet.« Denn Albertine kennt nicht nur die Tochter Vinteuils, sondern hat auch mit deren Freundin eine Seereise unternommen und wird sie wiedersehen. Jetzt versteht der Leser endlich, warum wir im ersten Band Zeugen der lesbischen Szene in Vinteuils Haus geworden sind, denn diese Enthüllung dürfte Marcels Eifersucht befeuern, ist er doch ohnehin schon davon überzeugt, daß Albertines Neigungen nach Gomorra streben, und dort sind ihm als Mann bekanntlich die Hände gebunden.
Unklares Inventar:
– Lamoureux-Konzert.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– »[…] daß die Gewohnheit so sehr unsere Zeit ausfüllt, daß uns nach ein paar Monaten kein freier Augenblick mehr in einer Stadt verbleibt, in der bei unserer Ankunft der Tag uns seine zwölf Stunden zur Verfügung hielt.«
120. Mo, 20.11., Berlin
Der Brief kam vom SOS-Kinderdörfer-Fonds aus München: »Sehr geehrter Herr Schmidt, Weihnachten ist die Zeit, in der kein Mensch gerne alleine ist.«
Und da mußte ich lachen, weil sie mich so freundlich an mein Unglück erinnerten.
Sodom und Gomorra, S. 644–664 (Schluß)
Marcel hatte ja damals in Montjouvain die sadomasochistische Szene zwischen Vinteuils Tochter und ihrer Freundin durchs Fenster beobachtet und in seinem Gedächtnis verwahrt. Als Albertine nun beiläufig erwähnt, daß sie mit ebendieser Freundin befreundet war, taucht das Bild wieder auf, »zu meiner Marter, zu meiner Züchtigung, wer weiß?« Vielleicht eine Strafe für den Tod der Großmutter, den er nicht zu verhindern gewußt hat? »Es war eine furchtbare ›terra incognita‹, in der ich hier landete, eine neue Phase ungeahnter Leiden, welche sich mir eröffnete.« Das klingt schlimm, und man möchte ihm so gerne helfen, aber wahrscheinlich könnte das nicht mal Albertine. Die ahnt nichts von seiner Beunruhigung, geht zur Wagentür und möchte aussteigen: »Aber diese ihre Bewegung, die sie machte, um auszusteigen, zerriß mir unerträglich das Herz, […] daß ich nach ihr griff und sie verzweifelt am Arm zog.« Sie ist auch sofort bereit, die Nacht im Hotel in Balbec zu verbringen, wo Marcel in seinem Zimmer sein Schluchzen unterdrückt, damit ihn die Mutter nebenan nicht hört. Er muß daran denken, wie Albertine Mademoiselle Vinteuil »mit einem Lachen in die Arme fiel, das wie die unbekannte Stimme ihrer Lust zu mir drang«. Er sieht sie vor sich, wie sie »mit keckem Näschen, zusammengerollt wie eine mollige Katze, den Platz der Freundin von Mademoiselle Vinteuil einnahm« und ihre Stimme wollüstig girren läßt.
»Noch hing ich am Leben, dennoch wußte ich, daß ich nur Grausames weiterhin von ihm zu erwarten hätte.« Er läßt Albertine rufen und erklärt ihr, abreisen zu müssen. Eine absurde Geschichte bekommt sie zu hören, etwas von einer Hochzeit mit einer anderen, die er gerade hat platzen lassen, weswegen er sich schlecht fühle. Noch einmal wirkt Albertine als Gegengift gegen sich selbst. Zwei Gifte, »eines süß, eines quälend, kamen sie beide doch von Albertine«. Aber sie ruft in ihm »die weiche Stimmung eines Genesenden« wach. Dennoch begeht er nicht »die Unvorsichtigkeit (falls es eine solche war), die zu Gilbertes Zeiten mir unterlaufen wäre, ihr zu sagen, daß sie, Albertine, das Wesen sei, das ich liebte«. Er glaubt ja inzwischen, daß er sich damit seiner Chancen berauben würde.
Die Eifersucht auf Mademoiselle Vinteuil erweist sich als viel größere Qual als die kurze auf Saint-Loup, denn die Vinteuil »führte andere Waffen«. Mit einer Frau kann man nicht konkurrieren. Der Gedanke, Albertine könne demnächst ohne ihn in ihre Heimatstadt Triest fahren und ihren Neigungen frönen, verströmt eine »feindliche und unerklärliche« Atmosphäre, wie sie damals aus dem Eßzimmer in Combray aufgestiegen war, aus dem die Mutter nicht hochkommen wollte, um ihn noch einmal zu küssen. Die verzweifelte Liebe zur Mutter als Muster lebenslanger Verlustängste, wie verhält man sich da als Mutter richtig, wenn man dem Kind solche späteren Torturen ersparen will?
Er wird also abreisen, und die halbe Welt setzt sich in Bewegung, um diese Tatsache zu betrauern oder zu verhindern. Marie Gineste und Céleste Albaret, seine beiden Verehrerinnen, laufen »mit roten Augen umher« und lassen »das unterdrückte Schluchzen eines Gießbachs hören«. An der Bahn trifft er Monsieur Cambremer, der »beim Anblick meiner Koffer erbleichte«. Monsieur de Crécy würde ihn unweigerlich anflehen zu bleiben, wenn er ihn sähe, ebenso Madame Verdurin. Dazu »die verzweifelten Klagen des Direktors«. Dieser Mensch hinterläßt eine Spur des Begehrens, ohne auch nur einen Finger zu rühren.