Drittes Kapitel
Es ist unwahrscheinlich, dass sich ein
Gentleman ohne die angemessene Ermutigung verliebt. Oft muss die
Dame ihr Schicksal – und auch das seine – in ihre Hände
nehmen.
Eine anonyme Dame
Ratgeber für heiratswillige junge Damen
Ratgeber für heiratswillige junge Damen
Nachdem sie ihren leichten Phaeton vor Fanny
Irwins eleganter Residenz am Crawford Place angehalten hatte,
übergab Eleanor die Zügel ihrem Diener und stieg aus dem
Wagen.
»Ich werde nicht länger als eine Stunde bleiben,
Billy. Führen Sie bitte die Pferde herum, und kommen Sie mich dann
abholen.«
»Sehr wohl, Mylady«, antwortete er eifrig, glaubte
er doch, den morgendlichen Zwischenfall wiedergutmachen zu
müssen.
Crawford Place war ganz in der Nähe des Hyde Parks
und wurde von zwölf Stadthäusern umstanden, die geschmackvoll und
teuer aussahen. Nummer elf war Fannys privates Wohnhaus, neben dem
sie eine andere Londoner Residenz unterhielt, in der sie ihre
vornehme männliche Kundschaft empfing. Ungeachtet dessen wollte
Eleanor nicht allzu offensichtlich machen, dass sie Londons
führende Kurtisane besuchte, indem sie ihren Phaeton vor dem Haus
stehen ließ.
Ihre Freundschaft mit Fanny durfte nicht allzu
öffentlich werden, solange Eleanor bei ihrer Tante lebte und sich
verpflichtet fühlte, Lady Beldons Ansprüchen
zu genügen. Und dennoch schätzte Eleanor ihre neue Freundin, die
sie erst letzten Monat auf Lily Lorings Hochzeit kennenlernte, über
die Maßen.
Eleanor verstand, warum die Loringschwestern sich
weigerten, ihre Freundin aus Kindertagen zu schmähen, bloß weil es
der Anstand verlangte. Die wunderschöne Fanny war nicht bloß
entzückend charmant und voller Leben, sondern trug auch noch einen
sehr klugen Kopf auf ihren grazilen Schultern. Manchmal neidete
Eleanor den anderen vier Frauen ihre Vertrautheit und hoffte
inständig, sie könnte eines Tages richtig zu ihrem Kreis
gehören.
Sie überließ Billy die Kutsche, dem sie vollends
vertraute, ihr Geheimnis für sich zu behalten, und sprang die
wenigen Stufen hinauf zur Tür. Ein sehr förmlicher Butler öffnete
ihr und führte sie in einen eleganten Salon, wo Fanny gerade an
ihrem Sekretär saß und schrieb.
»Ah, willkommen, Lady Eleanor«, begrüßte Fanny sie
mit einem herzlichen Lächeln. »Ich brauche nur noch einen kleinen
Moment. Bitte, setzen Sie sich, wo immer Sie wollen. Thomas bringt
uns Tee, und dann können wir plaudern.«
Der Butler verneigte sich, ging hinaus, und Eleanor
setzte sich auf ein rosa Samtsofa.
Kurz darauf legte Fanny ihre Schreibfeder beiseite,
blies zart über die Seite, um die Tinte zu trocknen und stand auf,
um sich zu Eleanor zu gesellen.
»Verzeihen Sie«, sagte sie, als sie Eleanor
gegenüber in einen Sessel sank. »Ich war ganz in eine Szene im
siebzehnten Kapitel eingetaucht. Mir scheint, dass ich endlich die
richtige Richtung für die Handlung
gefunden habe, und ich musste es unbedingt aufschreiben, solange
alles noch frisch in meinem Kopf war.«
»Ihre Handlung?«, fragte Eleanor neugierig.
»Schreiben Sie ein neues Buch?«
Fanny lächelte geheimnisvoll. »Ja, obgleich ich
ungern jemandem davon erzählen möchte, solange ich nicht sicher
bin, dass es mir gelingt. Ich versuche mich im Schreiben eines
Schauerromans.«
»Wie faszinierend«, sagte Eleanor ehrlich
interessiert. »Ich würde meinen, dass einen Roman zu schreiben für
Sie etwas gänzlich anderes ist als Ihre erste
Veröffentlichung.«
»Oh ja, und sehr viel schwieriger, als Rat zu geben
bezüglich des Umgangs mit dem männlichen Geschlecht. Doch mein
Verleger sagte, dass Schauerromane von Damen zurzeit sehr gefragt
sind und überdies höchst lukrativ. Ann Radcliffe konnte in den
letzten Jahren ein großes Publikum gewinnen, und Elizabeth Helme
und Regina Roche, unter anderen, sind in Radcliffes Fußstapfen
getreten.«
»Ich weiß! Ich habe sie alle drei gelesen.«
Nun lehnte Fanny sich vor. »Und haben sie Ihnen
gefallen?«
Eleanor schürzte die Lippen. »Also, sie haben
fraglos meine Aufmerksamkeit gebannt, doch muss ich zugeben, dass
ich einzelne Szenen bis zur Unglaubwürdigkeit übertrieben fand. Ich
bezweifle, dass sich solche Melodramen im wahren Leben häufig
ereignen«, sagte sie und lächelte. »Andererseits bezeichnet man
deshalb ja Romane als ›Fiktion‹.«
Der Butler kam mit einem Teetablett herein, das er
auf dem Tisch vor seiner Herrin abstellte. Nachdem
Fanny ihn entlassen und ihnen beiden eingeschenkt hatte, fuhr sie
fort: »Wie es scheint, haben Sie einen ähnlichen Geschmack wie
Tess.«
»Miss Blanchard?«
»Ja. Seit Arabella, Roslyn und Lily in Frankreich
sind, liest Tess meine Manuskripte und sagt mir, was sie davon
hält.«
Wie Eleanor wusste, war Miss Tess Blanchard
ebenfalls eine gute Freundin der Loringschwestern und unterrichtete
an deren Akademie für junge Damen. Darüber hinaus war sie eine
entfernte Verwandte Damons – eine Cousine dritten oder vierten
Grades mütterlicherseits, soweit Eleanor erinnerte.
Fanny nippte an ihrem Tee. »Wie es der Zufall will,
läge mir an einer zweiten Meinung, Lady Eleanor. Wären Sie
vielleicht bereit, meinen Entwurf zu lesen, wenn er fertig
ist?«
»Selbstverständlich! Es wäre mir eine Ehre.«
»Nur müssen Sie mir ehrlich sagen, was Sie denken,
ohne Rücksicht auf meine Gefühle.«
Eleanor schmunzelte. »Ihnen, Fanny, dürfte
mittlerweile geläufig sein, dass ich für meine Unverblümtheit
bekannt bin.«
»Ist es, aber Sie sind überdies ausgesprochen
freundlich, und Sie könnten sich genötigt fühlen, Ihre Kritik
abzumildern. Will ich hingegen diese Laufbahn einschlagen, muss
sich meine Arbeit gut verkaufen. Ich will offen mit Ihnen sein. Ich
hoffe, dass ich irgendwann hinreichend mit dem Schreiben verdiene,
damit ich den Mann heiraten kann, den ich will.«
Eleanor hatte anfänglich überrascht, zu hören, dass
Fanny die Halbwelt verlassen wollte. Aber
sie verstand, dass die bezaubernd schöne Kurtisane sich Gedanken
über die Zukunft machte, denn Schönheit und Jugend waren flüchtige
Güter. Und in jüngster Zeit hatte sich eine höchst ungewöhnliche
Romanze zwischen Fanny und ihrem langjährigen Freund und früheren
Nachbarn aus Hampshire, Basil Eddowes, einem ernsten und gelehrten
jungen Mann, ergeben, der seinen Lebensunterhalt als Rechtsgehilfe
verdiente.
»Wie ich hörte, hegt Mr Eddowes große Zuneigung für
Sie«, sagte Eleanor. »Aber ich wusste nicht, dass Sie eine Heirat
erwägen.«
Fannys makelloser Elfenbeinteint färbte sich
zartrosa. »Ich sollte anfügen, dass er mir noch keinen Antrag
machte und es vielleicht auch nie tun wird. Aber ich hoffe, ihn
letztlich zu überzeugen. Dem stehen natürlich noch gewisse Fragen
der Praktikabilität im Wege. Natürlich würde Basil nicht wünschen,
dass ich nach der Hochzeit meinem bisherigen Gewerbe nachgehe –
ebenso wenig wie ich. Und wir müssen uns der heiklen Lage bewusst
sein, die uns erwartet, sollte ich ihn ohne Einkommen ehelichen.
Dank der Großzügigkeit von Lord Claybourne konnte Basil eine
Anstellung als Sekretär eines Adligen finden, was ihm ein bedeutend
größeres Einkommen als das Bisherige beschert. Aber auch ich muss
einen Teil zu unserem Unterhalt beisteuern. Sie waren übrigens
äußerst freundlich, mein Ratgeberbuch zu bewerben, Lady
Eleanor.«
»Es war mir ein Vergnügen, und das meine ich ernst.
Sie ahnen gar nicht, wie viele Leserinnen Ihnen unendlich dankbar
sind, weil sie Ihre Ratschläge mit Erfolg anwenden konnten. Mehrere
meiner
Freundinnen sagen, ihre Ehemänner wären noch nie so hingebungsvoll
gewesen wie seither.«
»Ich bin froh, wenn ich ihnen helfen konnte«, sagte
Fanny. »Damen haben so wenig Macht über Männer, insbesondere in der
Ehe. Es tut meinem Herzen gut, zu denken, dass ich Ehefrauen helfen
konnte, ein wenig glücklicher zu werden.«
»Meine unverheirateten Bekannten«, ergänzte
Eleanor, »haben große Erleichterung geäußert, weil Ihr Rat ihnen
ermöglicht, sich nicht einzig auf Schönheit oder Vermögen zu
verlassen, um das Interesse eines Gentlemans zu gewinnen.«
Fanny nickte bedächtig. »Schönheit und Vermögen
können einen Mann anfangs anziehen, aber Wesen und Verhalten sind
es, die sein Interesse binden. Also«, sagte sie und wechselte das
Thema, »wie steht es um Ihre Romanze mit Prinz Lazzara, wenn ich
fragen darf?«
Die Frage kam keineswegs überraschend, hatte
Eleanor doch bei ihrem letzten Besuch um Rat bezüglich des Prinzen
gefragt. Doch nichts schien planmäßig zu verlaufen, und so rümpfte
Eleanor die Nase. »Wenn ich ehrlich sein soll, ich dachte, alles
ginge bestens, bis heute Morgen …«
In möglichst wenigen Worten erzählte sie Fanny von
dem morgigen Kutschenunglück und wie Lord Wrexham zu ihrer Rettung
herbeigeeilt war – und wie sie ihr Bestes gab, um des Prinzen
beschädigten Stolz wiederherzustellen.
Fanny erkannte das Problem sofort und sagte höchst
amüsiert: »Welch ein Glück, dass niemand zu Schaden kam! Aber was
für ein Unglück, dass der Prinz in solch misslicher Lage
ertappt wurde, in der
er Ihrem früheren Verlobten überließ, sich nachgerade heroisch zu
zeigen. Ich würde meinen, Sie haben es sehr gut verstanden, den
Groll des Prinzen zu mindern. Und vor allem hoffe ich, dass Ihnen
weitere Begegnungen mit Lord Wrexham erspart bleiben, wenn Sie
gerade bemüht sind, all Ihre Aufmerksamkeit einem anderen Gentleman
zu widmen.«
»Ja, ich hoffe es ebenfalls«, beteuerte
Eleanor.
Fanny zögerte. »Lord Wrexhams Rückkehr ausgerechnet
jetzt bereitet Ihnen keinen Verdruss?«
Etwas zu betont gelassen winkte Eleanor ab. »Aber
nein. Der Zeitpunkt ist fraglos ungünstig, aber mehr auch
nicht.«
Als Eleanor an ihrem Tee nippte, kam ihr der
Gedanke, Fanny könnte möglicherweise Damons frühere Geliebte
kennen, die schöne Witwe Mrs Lydia Newling, von der häufiger in den
Gesellschaftsspalten der Zeitungen zu lesen war. Die Wege der
beiden Frauen könnten sich hier und dort gekreuzt haben.
Andererseits war es ein viel zu pikantes Thema, als
dass Eleanor es offen ansprechen wollte. Außerdem war ihr
vollkommen gleich, ob Damon ein Dutzend Mätressen unterhielt,
damals wie heute. Sie empfand nichts mehr für ihn, folglich ging es
sie auch nichts mehr an, wie oder mit wem er sich vergnügte.
Und sollte sie trotz allem noch einen Funken
zärtlicher Neigung für ihn hegen … nun, dann würde sie diese
umgehend überwinden.
Das Problem war, dass sie Damon weniger leicht
vergessen konnte, als sie wollte. Nachdem sie mit
Fanny ihre weitere Strategie beim Prinzen Lazzara besprochen
hatte, verabschiedete sie sich wohlgemut von der neuen Freundin.
Einen kleinen Dämpfer erfuhr ihr Optimismus jedoch, als bei dem
Konzert, das sie abends mit ihrer Tante besuchte, weit und breit
nichts vom Prinzen zu sehen war.
Und ganz besonders ärgerlich war, dass Damon sie
die zweite Nacht in Folge in ihren Träumen heimsuchte. Schlimmer
noch, sie träumte von jenem Tag, als sie Damon an ihren ganz
besonderen Ort führte – den Rosengarten, den ihr Bruder ihr
schenkte – und ihm idiotischerweise ihre Liebe gestand …
Beschämt von der Erinnerung und wütend, weil sie
weder ihren Verstand noch ihr Herz zu kontrollieren schien, wachte
Eleanor früh am nächsten Morgen auf. Damon war nicht mehr der Mann
ihrer Träume, also warum zum Teufel konnte er ihnen dann nicht
fernbleiben?
Entsprechend groß war ihr Schreck, als das Objekt
ihrer Verärgerung vom Butler angekündigt wurde. Eleanor hatte eben
ihr einsames Frühstück eingenommen und sich in den Morgensalon
zurückgezogen, um ein Kapitel in Fannys Buch nachzulesen.
Damon betrat das Zimmer mit derselben Gelassenheit
wie während ihrer Verlobungszeit, als er das Recht hatte, sie zu
besuchen.
Beinahe hätte Eleanor ihr Buch fallen gelassen. Er
trug seine Reitkleidung und sah in dem blauen Rock und der
Hirschlederkniebundhose unglaublich gut aus.
Eleanors verräterisches Herz machte einen Hüpfer.
Als sie sich vom Sofa erheben wollte, hob Damon eine Hand.
»Behalten Sie bitte Platz, Lady Eleanor. Ich bleibe
nicht lange.«
»Myl-lord«, stammelte sie. »Was tun Sie
hier?«
»Ich wollte Sie sprechen, bevor Sie zu Ihrem
morgendlichen Ausritt aufbrechen.«
Sie wollte erwidern, dass sie heute Morgen nicht
ausreiten würde, als ihr Blick auf den Butler fiel.
»Das ist alles, danke, Peters.«
Ein Anflug von Missfallen zeigte sich auf der Miene
von Lady Beldons strengem Diener, der sich stumm verneigte und die
Tür schloss.
Eleanor legte ihr Buch zur Seite. »Sie sollten
nicht hier sein, Mylord.«
Damon kam näher und lüpfte eine Braue. »Ein
morgendlicher Besuch ist kein Vergehen, soweit ich weiß.«
»Vielleicht kein Vergehen, aber eindeutig eine
Übertretung gesellschaftlicher Konventionen, welchen zufolge Ihnen
nicht das Recht zukommt, mich um diese Stunde zu besuchen.«
»Ich möchte mich lediglich vergewissern, dass du
den gestrigen Kutschenunfall unbeschadet überstanden hast.«
»Wie du siehst, geht es mir recht gut. Hattest du
erwartet, der Zwischenfall könnte meine zarten Nerven über Gebühr
strapaziert haben?«
»Wohl kaum. Ich kenne dich zu gut.«
Als er amüsiert lächelte, hatte Eleanor ihre liebe
Not, ernst zu bleiben, konnte jedoch nichts gegen die wohlige Wärme
tun, die sie erfüllte.
»Du siehst fürwahr wie der Inbegriff körperlichen
Wohlbefindens aus«, bemerkte Damon.
In Ermangelung einer spitzen Erwiderung schwieg
Eleanor.
»Ich vermute, der Drachen ist noch nicht
aufgestanden«, sagte er und blickte gen Decke.
Eleanor gefiel nicht, wie er ihre Tante titulierte.
Schließlich war Beatrix ihr eine bessere Mutter gewesen als ihre
leibliche, weshalb sie sich provoziert fühlte, sie zu verteidigen.
»Du betrachtest sie lediglich als Drachen, weil sie sich vor zwei
Jahren auf meine Seite stellte, als unsere Verlobung endete.«
Damon zog übertrieben den Kopf ein. »Meine Ohren
klingeln bis heute von der Gardinenpredigt, die sie mir
hielt.«
»Und die du verdientest.«
»Das ist wahr. Andererseits hielt sie mich von
Anfang an für einen wenig wünschenswerten Verehrer.«
»Aufgrund deiner Reputation. Meine Tante kann sich
nun einmal nicht für Lebemänner oder Rebellen erwärmen.«
Damon lachte leise und setzte sich neben Eleanor
auf das Sofa. »Desgleichen für niemanden, der es versäumt, sich
ihrer Vorstellung von angemessenem Verhalten zu beugen oder vor den
Stützen der feinen Gesellschaft zu buckeln. Mich erstaunt, dass sie
unsere Verlobung überhaupt tolerierte.«
»Dein Titel und Vermögen sprachen für dich,
Mylord«, sagte Eleanor trocken.
»Und dennoch können sie meine Fehler nicht mehr
aufwiegen.«
»Nein, können sie nicht. Meine Tante wünscht,
dass ich keinen Umgang mit dir pflege, denn sie glaubt, dass eine
Dame gar nicht vorsichtig genug sein kann, will sie ihre Reputation
schützen.«
»Und du möchtest eine brave Nichte sein und dich
nach dem richten, was deine Tante wünscht.«
»Richtig.«
Damon schüttelte betrübt den Kopf. »Ich hätte
deinem rebellischen Geist mehr zugetraut, Elle. Da wir aber gerade
bei Anstand sind, denke ich, ich sollte Lady Beldon meine
Aufwartung machen.«
»Nachdem, was zwischen uns vorfiel, wird sie es
keineswegs begrüßen.«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass sie mir
niemals vergeben will?«
»Zumindest würde ich es bezweifeln.«
»Und du, Elle?«, fragte er ein wenig leiser und sah
sie forschend an. »Wirst du mir vergeben?«
Eleanor schluckte, weil es in ihrem Hals brannte.
»Ich glaube, ich erwähnte bereits, dass ich den unangenehmen
Zwischenfall vergessen habe, Lord Wrexham. Ich denke nur noch sehr
selten an unsere Verlobung. Selbiges gilt auch für dich.«
»Ich habe oft an dich gedacht, als ich fort
war.«
Sie wollte ihn zurechtweisen, doch leider sah er in
diesem Moment Fannys Buch neben ihr und griff danach, ehe sie ihn
abhalten konnte.
»Ratgeber für heiratswillige junge Damen.
Liest du das?«
»Ja, ich lese es«, antwortete Eleanor, deren Wangen
glühten.
Sie wollte ihm das Buch entreißen, aber Damon hielt
es von ihr weg, bis sie schließlich aufgab.
Interessiert blätterte er darin und grinste, als
ihm
ein Absatz ins Auge fiel. »›Schmeicheln Sie ihm auf subtile
Weise‹«, zitierte er, »›allerdings sollten Ihre Schmeicheleien
zumindest ein Körnchen Wahrheit enthalten. Übertreiben Sie seine
angenehmen Eigenschaften, und ignorieren Sie die anderen.‹« Nun
blickte er zu Eleanor auf. »Ich schätze, das ist ein weiser
Ratschlag, aber ich hätte niemals erwartet, dass du so tief
sinkst.«
Sie wurde noch röter. »Man kann gewiss nicht
behaupten, ich würde ›tief sinken‹, weil ich den Rat einer klugen
Autorin befolge.«
»Du bist ehrlich und offen, nicht scheu und
verlogen. Mithin geht es schon gegen deine Natur, ein solches
Handbuch mit Listen zum Bräutigamfang überhaupt zu lesen.«
»Es ist nichts Verlogenes daran! Das Buch möchte
lediglich helfen, das männliche Temperament zu verstehen.«
»Kannst du denn nicht ohne Hilfe einen Bräutigam
gewinnen?«, fragte Damon amüsiert.
»Selbstverständlich kann ich«, konterte Eleanor
erbost. »Aber ich möchte nicht irgendeinen Ehemann. Ich wünsche mir
einen, der mich liebt, und dieses Buch könnte mir helfen, seine
Zuneigung zu gewinnen.«
Plötzlich wurde Damon ernst. »Hast du etwa vor,
Lazzaras Zuneigung zu gewinnen?«
»Und wenn schon! Es wäre keine solch abwegige
Verbindung.«
»Du würdest eine anbetungswürdige Prinzessin
abgeben, ohne Frage. Die Rolle ist dir sozusagen in die Wiege
gelegt worden.«
Sein Tonfall machte sie misstrauisch. »Aber du
glaubst nicht, dass ich den Prinzen gewinnen kann,
stimmt’s?«
»Zweifellos wird er sich zu dir hingezogen fühlen.
Du bist charmant, warmherzig, leidenschaftlich. Alle beten dich an,
und ganz sicher wird er deine Schönheit wie deinen Esprit zu
würdigen wissen.«
»Es ist unnötig, dass du mir zu schmeicheln
versuchst«, erwiderte sie gereizt. »Dein unwiderstehlicher Charme
kann mich nicht mehr beeindrucken.«
»Was für ein Jammer. Allerdings wäre es keine
Schmeichelei festzustellen, dass seine Hoheit deinen Reichtum
höchst anziehend finden dürfte.«
»Er ist kein Mitgiftjäger. Der Prinz besitzt drei
Paläste und ein eigenes Königreich.«
»Jeder, der sein Vermögen so herausschleudert wie
Lazzara, dürfte erfreut sein, wenn ihm eine wohlhabende Braut
hilft, seinen extravaganten Lebensstil zu finanzieren.« Als Eleanor
protestieren wollte, hob Damon die Hand. »Aber ungeachtet seiner
Motive, dir den Hof zu machen, muss ich mich über deine Wahl
wundern. Dieser Hasenfuß würde dich zu Tode langweilen. Du brauchst
einen Mann, der dich ebenso herausfordert wie du ihn.«
Eleanor konnte nicht leugnen, dass sie diese
Auseinandersetzung mit Damon genoss. Kein anderer Mann, den sie
kannte, war so belebend, reizvoll und provokant. Selbst wenn sie
sich stritten, empfand Eleanor ein wohliges Kribbeln bei der
Herausforderung, ihren Esprit mit seinem zu messen.
»Prinz Lazzara ist ganz sicher kein Hasenfuß«,
widersprach sie.
»Wie du meinst. Aber ich kenne Lebemänner
wie ihn, charmante Vergnügungssüchtige mit wenig Charakterstärke.
In seinem Land ist Lazzara als Herzensbrecher bekannt. Ich möchte
nicht, dass er dich verletzt, Elle.«
»Mutet es nicht ein wenig bizarr an, dass
ausgerechnet dich diese Sorge umtreibt?«, fragte sie
zuckersüß.
Damons Zusammenzucken wirkte diesmal sehr echt.
Trotzdem fuhr er mit einem entschiedenen Tonfall fort: »Dein Prinz
ist nicht bloß eine königliche Hoheit, sondern er wurde in einem
Land erzogen, in dem man Damen im Allgemeinen sehr wenig Respekt
zollt und sie gemeinhin nicht als den Männern ebenbürtig ansieht.
Lazzara fordert Unterordnung und Gehorsam von seinen Untertanen, zu
denen er dich ebenfalls zählen wird, sobald sein Werben erfolgreich
war. Er wird von dir erwarten, ihm in allem und jedem zuzustimmen
und zu gehorchen. Beides dürfte dir gleichermaßen schwerfallen,
Elle.«
Eleanor zögerte, denn sie wusste, dass Damon Recht
hatte. Gegenwärtig gab sich Prinz Lazzara ihr gegenüber
ausschließlich charmant und freundlich, aber sie wusste bereits,
wie fordernd und arrogant er zu seinen Bediensteten und sogar zu
seinem älteren Verwandten, Signor Vecchi, sein konnte.
»Falls du meinst, den Prinzen nach der Heirat an
der Nase herumführen zu können, wie du es jetzt mit all deinen
Verehrern zu tun pflegst, erwartet dich ein böses Erwachen.«
»Ich tue nichts dergleichen«, entgegnete sie. »Dich
habe ich sicherlich nie an der Nase herumgeführt.«
»Was einer der Hauptgründe gewesen sein dürfte,
weshalb du unsere Verlobungszeit genossen hast. Du konntest nicht
über mich bestimmen.«
Dem musste Eleanor zustimmen, was sie
selbstverständlich nicht laut aussprechen würde.
»Dir würde es keine Freude bereiten, dich
unterzuordnen, Elle«, sagte Damon. »Eine Heirat mit Lazzara wäre
katastrophal für dich.«
Eleanor verzog das Gesicht, weil er sie nur Elle
nannte, um sie zu provozieren. »Deine Meinung interessiert mich
nicht im Geringsten, Lord Wrexham.«
Er seufzte. »Warum bestehst du darauf, mich mit
meinem Titel anzureden, als wären wir Fremde?«
»Wir sind jetzt Fremde.«
»Mitnichten, meine Liebe. Wir kennen einander nach
wie vor sehr gut.«
Damons Lächeln war eine höchst gefährliche Waffe,
wie Eleanor abermals feststellte. »Du irrst, Mylord. Mir scheint
eher, dass ich dich nicht einmal kannte, als ich es glaubte.«
»Wenn du darauf bestehst, dann sagen wir eben,
Lazzara kennst du genauso wenig.«
»Aber was ich von ihm weiß, gefällt mir. Er ist
außerordentlich rücksichtsvoll und charmant. Zudem besitzt er den
italienischen Hang zur Romantik, was sehr für ihn spricht.«
»Weil du einen leidenschaftlichen Liebhaber zum
Ehemann willst.«
Sie stritt nicht ab, dass sie sich einen Mann
wünschte, der sie fiebrig vor Verlangen machte, für den sie
entbrannte, wie sie einst für Damon entbrannt war. »Vielleicht,
aber ich möchte mehr als
Leidenschaft. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, Liebe
in einer Ehe zu finden.«
Damons Blick verfinsterte sich. »Dann hältst du
deinen Romeo für leidenschaftlich? Hat er dich schon
geküsst?«
Eleanor reckte das Kinn. »Wie bitte? Das geht dich
nichts an.«
»Also hat er nicht«, folgerte Damon sichtlich
zufrieden. »Sonst fiele deine Antwort nicht so gereizt aus.«
»Ich bin nicht gereizt!«
»Hegst du die Absicht, ihn in einem Springbrunnen
zu versenken, sollte er sich Freiheiten bei dir
herausnehmen?«
Eleanor musste tief durchatmen, um die Fassung zu
wahren. »Ich beabsichtige nicht, ihn zu versenken. Schließlich ist
er ein Prinz. Und ich bezweifle, dass er sich irgendwelche
Freiheiten herausnähme, denn er ist ein Gentleman.«
»Meinst du damit, ich wäre keiner?«
Eleanor lächelte. »Deute es, wie immer du willst,
Lord Wrexham.«
»Na schön …« Damon beugte sich zu ihr, so dass sein
Mund nur noch Zentimeter von ihrem entfernt war.
»Was hast du vor?«, hauchte sie.
»Man nennt es küssen, Eleanor. Du hast es schon
gemacht – mit mir, um genau zu sein. Mehrmals.«
Ehe sie etwas einwenden konnte, neigte er sich noch
näher zu ihr. Zunächst streifte sein Mund sie nur ganz sacht, worin
jedoch eine Andeutung von weit mehr lag. Was wiederum das
schockierende Verlangen erklärte, das Eleanor durchfuhr.
Pochenden Herzens wich sie zurück. »Damon! Du
kannst mich nicht einfach küssen, weil dir der Sinn danach
steht.«
»Nein, aber ich möchte etwas beweisen.«
Als sie Anstalten machte, aufzustehen, hielt er sie
bei den Schultern fest. »Lass es mich noch einmal versuchen
…«
Eleanor wusste, dass sie es verhindern sollte, war
aber unfähig, sich gegen Damon zu wehren.
Wie schaffte dieser teuflische Schurke es wieder
und wieder, dass sie in seiner Nähe alle Vernunft in den Wind
schlug? Eleanor wollte sich ohrfeigen für ihre Schwäche. Sie sollte
ihn wegstoßen, aber seine Wärme sprach einen femininen Urinstinkt
in ihr an, während sein wunderschöner, verwegener Mund sie
bezauberte …
Regungslos beobachtete sie, wie er noch näher kam.
Als sein Atem über ihre Lippen wehte, wollte sie stöhnen. Dann
fühlte sie auch schon die federleichte, verlockende
Berührung.
Sein Mund war so köstlich, wie sie ihn erinnerte,
sein Aroma so schwindelerregend. Eleanor schmolz dahin, während er
den Kuss sehr langsam intensivierte.
Gleichzeitig glitten seine Hände von ihren
Schultern zu ihren Armen, was zur Folge hatte, dass ihre Haut
überall zu kribbeln begann. Damon vertiefte den Druck seiner
Lippen, ließ sie vollständig mit ihren verschmelzen und zog Eleanor
an seinen harten Körper.
Als seine Zunge in ihren Mund drang, jagte eine
Hitzewelle durch ihren Leib.
Von selbst legten sich ihre Hände auf Damons
Schultern, und sie fühlte die harten Muskeln unter ihren
Fingerspitzen.
Derweil wagten sich seine Finger bis zu ihrem
Mieder vor, wo sie die Unterseite ihrer Brüste streiften. Als er
sie mit beiden Händen umfing, erschauerte Eleanor.
Ein hilfloser Seufzer stieg in ihrer Kehle auf,
sobald er begann, sie mit erstaunlicher Sinnlichkeit zu streicheln.
Seine langen Finger umfassten ihren Busen, und seine Daumen neckten
die Spitzen unter dem Musselin, die sich schmerzlich
aufrichteten.
Eleanor wimmerte atemlos, was Damon offenbar hörte,
denn er hielt inne und löste dann die Umarmung.
Sie war benommen und zitterte, als er sich wieder
aufrichtete.
Mit vor Hitze glühenden Augen sah er sie an. »Du
hast es gefühlt, nicht wahr?«, murmelte er heiser.
»W-was gefühlt?«
»Die Funken zwischen uns.«
Oh ja! Mochte der Himmel ihr beistehen. Die
Funken waren nach wie vor da, kitzelten auf ihrer Haut, entfachten
ihr Inneres. Eleanor wollte nicht glauben, wie übermächtig sie
waren.
Sie schluckte.
»Fühlst du dieselben Funken, wenn du mit deinem
Prinzen zusammen bist?«
Hierauf konnte sie nur eine Antwort geben: Nein.
Damon entzündete ein Feuer in ihr, wie es kein anderer Mann jemals
vermocht hatte, auch nicht Prinz Lazzara. Zum Teufel mit
ihm!
Doch sie musste dem Spuk ein Ende setzen. Damon
belegte sie mit demselben Zauber wie vor zwei
Jahren, und sie war so unsagbar dumm, es zuzulassen, obwohl sie
doch wusste, welchen Schmerz es ihr letztlich bescheren
würde.
Sie stand auf und ignorierte, dass ihre Knie
beschämend weich waren. Auf keinen Fall dürfte sie dem Charme ihres
früheren Verlobten ein zweites Mal erliegen. Dass sie außerstande
war, Damon zu widerstehen, machte sie wütend. Und vor allem ärgerte
sie, dass er sie absichtlich geküsst hatte, weil er ihr beweisen
wollte, wie sehr sie ihn bis heute begehrte und wie wenig ihr
gegenwärtiger Verehrer ihm in puncto Leidenschaft entgegenzusetzen
hatte.
Ihr Zorn wuchs mit ihrer Verzweiflung, aber Eleanor
bändigte ihn, denn sie konnte bei Damon nur bestehen, wenn sie kühl
und gefasst blieb.
»Lord Wrexham, Sie dürfen jetzt gehen«, sagte sie
und war stolz, dass ihre Stimme fast normal klang.
Leider saß er bloß da, als wäre er von dem Kuss
ebenso verzaubert wie sie. Kurz entschlossen betätigte Eleanor den
Klingelzug neben der Tür. Peters erschien sofort. Er musste draußen
gewartet haben.
»Lord Wrexham möchte gehen, Peters, aber er kann
die Haustür nicht allein finden. Würden Sie ihm bitte den Weg
zeigen?«
»Sehr wohl, Mylady. Übrigens haben Sie noch einen
weiteren Besucher. Prinz Lazzara ist soeben gekommen.«