3. Kapitel
»Ich bin müde«, sagte sie leise, als sie an mir vorbei in das Wohnzimmer ging. Sie berührte mich nicht, sie ging steifbeinig zum Sofa und setzte sich so entrückt, als habe sie diesen Raum niemals vorher betreten.
»Ich hoffe, du hast in Stuttgart alles erledigen können.« Ich dachte: Ich komme dir nicht entgegen. Nicht einen Zentimeter.
»Ja, habe ich. Hier riecht es nach Emmas Zigarillos.«
»Ja, sie war bis eben hier.« Ich stopfte mir eine gebogene Radford’s, die ideale Konferenz-Pfeife mit einer edlen Straight-Grain-Maserung unter Schiffslack, die ideale Waffe gegen Stress. Ich setzte mich in den Sessel ihr gegenüber und zündete die Pfeife an.
»Also, wir haben viel geredet.« Sie sah mich nicht an, sie spulte ein Programm ab, das sie sich zurechtgelegt hatte. »Da kamen viele Sachen zur Sprache. Er hat gesagt, dass er immer noch nicht versteht, weshalb ich ihn verlassen habe. Da kam dann eines zum anderen.«
»Du musst es dir nicht so schwer machen«, sagte ich.
»Aber ich will es erklären.« Sie wurde heftig. »Du musst mich ausreden lassen.«
»Natürlich. Entschuldige.« Die Pfeife zog nicht, ich fummelte den Tabak mit dem Pfeifenmesser heraus und stopfte sie neu. Ich dachte: Sie ist eine sehr hübsche Frau, aber nicht mehr für mich.
»Also, wir haben viel geredet, und er sagte, er müsse unbedingt darüber sprechen, weshalb ich denn gegangen bin. So fing das alles an. Jedenfalls waren wir sehr fair und haben das alles durchgesprochen, und ich habe in einem Hotel gewohnt.«
Die Katzen kamen von irgendwoher und maunzten sie an.
»Er hat nicht verstanden, weshalb ich gegangen bin, und seine Eltern auch nicht. Und sie haben mir keine Vorwürfe gemacht, und alles verlief sehr harmonisch. Ich habe jedenfalls verstanden, was sie eigentlich wollten.«
»Und jetzt gehst du zu ihm zurück«, sagte ich.
»Doch nicht so einfach«, fauchte sie heftig.
Diesmal zog die Pfeife. »Es ist aber sehr einfach«, nickte ich. »Wir sind seit einem Jahr ein Paar. Irgendwann hast du angefangen, mit deinem Exmann zu telefonieren. Sag jetzt nicht nein, es war einfach so. Besonders um Weihnachten herum. Du hast viel mit ihm gesprochen. Dann bist du zu ihm gefahren. Vor ungefähr zehn Tagen. Angeblich um Erbschaften zu korrigieren und Versicherungen umzuschreiben. Jetzt willst du zu ihm zurück, und ich will dir nicht im Weg stehen. Ich sage also: Fahr zu ihm, wenn du das so willst. Und das ist wirklich sehr einfach, und du musst mir nicht alle deine Gedankengänge verraten, und alles das, was du willst und nicht willst. Du musst auch keine Gespräche schildern. Es hat keinen Sinn, hier zu hocken und darüber zu grübeln, weshalb das so gekommen ist.«
»Du hast das alles aber nicht gewusst!«, stellte sie sehr scharf fest, als sei es wichtig, dass ihr die Überraschung gelungen war. Sie war tatsächlich beleidigt.
Das war die Sekunde, in der ich sauer werden wollte, aber auch die verging. »Nicht alles, nein, aber ich habe schon seit einer Weile verstanden, dass es keinen Zweck hat, um jemanden zu kämpfen, den man ohnehin nicht besitzen kann. Es ist der ewige Sieg des ungeheuerlich Banalen in dieser Welt. Und ich hatte genügend Zeit, das zu verstehen.«
»Du hast es also geahnt?«
»Das ist jetzt doch ganz gleichgültig. Du verlangst die Absolution, ich erteile sie dir.«
»Jaah«, murmelte sie sehr gedehnt. Dann fummelte sie ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Handtasche und zündete sich eine an. »Meine Eltern verstehen das alles natürlich nicht, natürlich denken sie, ich sei total bescheuert, mein Vater hat nur rumgebrüllt, meine Mutter weint dauernd und weiß gar nicht, wohin mit sich selbst.«
»Eltern sind so«, sagte ich beruhigend.
Dann war da ein peinliches Schweigen.
»Tja«, sagte sie und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
»Da ist noch etwas«, sagte ich. »Du hast noch einen Hausschlüssel, und oben ist ein Kleiderschrank voll mit deinen Sachen. Überall im Haus liegt irgendetwas herum. Das könntest du vielleicht abholen, und mir vorher Bescheid geben, damit ich dir nicht im Weg bin.«
Sie sah mich an und nickte, und eine Träne war unter ihrem linken Auge.
»Mach’s gut«, sagte ich.
»Vielleicht sieht man sich noch mal bei Gelegenheit«, murmelte sie.
»Ja, ja, schon gut«, murmelte ich. »Du weißt ja, wie man hier rauskommt.« Ich ging hinaus, die Treppe hinauf in mein Schlafzimmer, blieb vor dem Fenster stehen und starrte in die Nacht. Nach einer Weile hörte ich die Haustür zuklacken, dann startete sie ihr Auto.
Ich war nur ein wenig wütend, es reichte nicht, eine Fensterscheibe einzuschlagen. Das erstaunte mich.
Ich konnte nicht schlafen, ich setzte mich in mein Auto und rollte langsam und betulich nach Hillesheim, querte die schlafende Stadt in Richtung Jünkerath und bog dann nach rechts in die kleine Siedlung ab. Ich erreichte den Wiesenweg, der Am Wegrain hieß, und fuhr weiter geradeaus, bis die Biegung nach links kam, dann weiter bis dorthin, wo der Mercedes mit dem Toten gestanden hatte.
Dort blieb ich eine Weile stehen, sah mir den Bauernhof der Jaaxens zu meinen Füßen an. Ich hörte die dumpf-friedlichen Geräusche der Rinder in dem großen Stall, ansonsten war es totenstill.
Nach einer Weile zog ich wieder ab, fuhr auf die Bundesstraße in Richtung Jünkerath.
Ich wollte wissen, wo Bleckmann sich hätte ausruhen können. Ich fand nur eine als Rastplatz ausgewiesene Stelle auf der linken Seite der Straße, gute drei Kilometer weiter. Dazwischen aber die sehr breiten Einmündungen von mindestens sechs Waldwegen.
Ein Regenschauer ging nieder, ich nahm den Rückweg über Walsdorf und Zilsdorf nach Dreis und blieb zehn Kilometer lang hinter einem Lkw, der erstaunlich schnell fuhr und seinen Weg genau zu kennen schien.
Longerichs Goebbels-Biografie lenkte mich nicht ab, ich löschte das Licht und wartete auf Schlaf. Gegen vier Uhr morgens döste ich ein und wurde erst wach, als das Telefon neben mir unerträglich laut schrillte. Es war sieben Uhr.
Emma meldete sich, sie sagte heiter: »Guten Morgen. Wir haben jetzt noch eine Leiche. Wenn du magst, kannst du mich abholen.«
»Hat die Mordkommission angerufen?«
»Ja, hat sie. Ich stehe bei denen offenbar wieder ganz oben auf der Liste. Seit der Sache mit Bleckmann.« Jetzt feixte sie sogar: »Oder es hat doch mit Rodenstock zu tun. Als wollten die mich beschäftigen. Wenn die wüssten! Sie schicken jedenfalls erst einmal eine Notmannschaft raus zum Fundort, das dauert. Ich soll nur absichern, hat Kischkewitz gesagt, er kann so schnell nicht kommen. Also, was ist, Baumeister? Möchtest du lieber in Ruhe ausschlafen?«
»Bis gleich.«
Fünf Minuten später war ich unterwegs, und froh abgelenkt zu sein.
Emma stand schon in der Haustür und rutschte auf den Platz neben mir.
»Wir müssen zu Rosi eins vor der Autobahnauffahrt auf die Al.«
»Etwa eine Nutte?«
»Nein. Es ist eine alte Frau, sagte er.«
»Schläft die Kleine wenigstens?«
»Die Kleine ist achtunddreißig. Ja, sie schläft. Wie war Gabi?«
»Ende, aus und vorbei.«
Sie schwieg einen Moment, dann fragte sie: »Tut es weh?«
»Ziemlich.«
»Das kommt bei dir in der letzten Zeit häufig vor.«
»Ja, das ist der Teil in mir, der niemals erwachsen wird.«
»Wir werden das schon schaffen«, murmelte sie tapfer. »Hat es lange gedauert?«
»Nur ein paar Minuten. Sind Bullen dort?«
»Ja, eine Streife.«
Unwillkürlich wurde ich so schnell, dass ich in einer Kurve vor Kerpen die Reifen zum Quietschen brachte. »Langsam!«, mahnte Emma.
»Wir sollten übrigens von der Vorstellung Abstand nehmen, dass Bleckmann zufällig auf den Wiesenstreifen oberhalb des Hofes von Jaax gefahren ist«, sagte ich. »Ich traue der Geschichte nicht mehr, ich habe die Begebenheiten vor Ort ausgemessen. Also, egal aus welcher Richtung du kommst und wo du hin willst, du biegst von der Bundesstraße ab in die kleine Siedlung. Die ist exakt 380 Meter lang. Dann beginnt der Feldweg, der Am Wegrain heißt. Wahrscheinlich ist der Weg als Straße ausgewiesen, weil er bereits zum Bauland erklärt wurde. Es geht zweihundert Meter geradeaus. Dann biegt der Feldweg scharf links ab. Bis zu der Stelle, an der Bleckmanns Mercedes stand, sind es weitere 220 Meter. Es sind alles in allem achthundert Meter. Nehmen wir an, er war müde und wollte eine Weile ausruhen. Dann ist der Weg durch die Siedlung auf die Wiesen hoch nicht zu erklären, viel zu lang und viel zu kompliziert. Und du kannst damit auch nicht erklären, wieso Bleckmann am Ende der kleinen Siedlung den Asphalt der Straße verlässt und den Feldweg nimmt. Wenn er aus Richtung Jünkerath kam, ist er an einem Parkplatz drei Kilometer vorher vorbeigefahren, aber auch an sechs sehr breiten Einmündungen von Waldwegen. Kam er aus Hillesheim, konnte er mitten in der Nacht in jeder Nebenstraße ausruhen, sowie auf mindestens drei große ausgewiesene Parkplätze fahren. Ich nehme also an, er hatte einen Grund, genau diesen Punkt anzufahren. Er kannte diesen Punkt.«
Sie schwieg eine Weile. »Gut. Aber er starb. Nehmen wir also an, er fühlte sich unwohl, wusste nicht, was mit ihm los war. Er biegt also in die kleine Siedlung ab, fährt bis zum Straßenende, dann weiter geradeaus auf die Wiese, dann weiter … jetzt verstehe ich, was du meinst.«
»Ich meine, er ist auf diesen Platz gefahren, weil er dorthin wollte. Denn normalerweise würde niemand auf diesen Wiesenweg einbiegen, es sei denn, er weiß genau, wo er hin will.«
»Das könnte sein. Aber weshalb ist ein Bauernhof mitten in der Nacht interessant für ihn?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich und gab Gas auf dem Weg zum Ahrtal hinunter.
Der Wohnwagen von Rosi eins stand genau gegenüber der Einmündung der kleinen, schmalen Straße von Reetz. Er stand auf dem tiefer liegenden Niveau der uralten Landstraße, die zu anderen Zeiten hier in Richtung Tondorf geführt hatte, als eine Autobahn noch undenkbar war, und ein Auto Seltenheitswert hatte.
»Wer hat eigentlich diese komischen Namen verteilt?«, fragte Emma, als wir an den Ort des Geschehens rollten.
»Irgendjemand hat diese Lustbehausungen einfach der Reihe nach aufgelistet. Hier stehen vor der Al Rosi eins bis Rosi vier. Rosi fünf und sechs standen auf der anderen Seite von Daun an der Straße zum Autobahndreieck Vulkaneifel. Die wurden verboten. Sie sind meistens mit ganz billigen Frauen aus Polen oder Tschechien besetzt, Edelsteine sind da nicht zu finden. Die Frauen sind ziemlich mies dran, und sie besitzen nicht das Schwarze unter dem Fingernagel, und ihre Papiere haben die Männer unter Verschluss, die sie laufen lassen. Ziemlich übel.«
»Guten Morgen!«, sagte ein freundlicher, dicker Polizeibeamter mit leuchtend blauen Augen. Sein Kollege begrüßte uns mit einem stummen Nicken. »Wir sind informiert und haben Anweisung von Kriminalrat Kischkewitz, Sie mit den Begebenheiten vertraut zu machen.« Er wies auf den Wohnwagen. »Das ist die Lusthütte. Da drin liegt eine ältere Frau. Wir schätzen, dass sie sechzig ist, wenn nicht älter. Sieht so aus, als wäre sie mit einem Halstuch stranguliert worden, aber das können wir nicht entscheiden, das ist auch keine eindeutige Spur. Gemeldet hat den Fall ein Truckfahrer nach vier Uhr morgens. Er hielt an und wollte wohl schnell mal… Dann hat er die Tür geöffnet und gemerkt, was los war. Der Mann steht mit seinem Truck da drüben auf dem Parkplatz. Er ist mit rund 20 Tonnen alten Computern auf dem Weg nach Osten. Also, der ist clean, würde ich mal sagen. Bulgare, ein lustiger Vogel.«
»Sonst noch irgendetwas, was wir wissen müssen?«, fragte Emma.
»Nein, das ist erst mal alles, was wir sagen können.« Er schniefte und wandte sich seinem Kollegen zu. Die beiden schlenderten ein paar Schritte den Straßenrand entlang und zündeten sich Zigaretten an.
»Erst mal der Wohnwagen«, bestimmte Emma. »Mein Gott, der sieht aus wie der letzte Schrott.«
»Es ist der letzte Schrott, mindestens dreißig Jahre alt. Guck mal, da ist grüner Schimmel dran.«
»Wir gehen nicht rein«, bestimmte sie. »Woher kommt hier das Licht?«
»Schwere Autobatterien. Wenn sie da sind, hängen die Frauen zum Zeichen eine kleine rote Lampe ins Fenster, damit die Truckfahrer wissen, dass sie halten können.«
»Nur Truckfahrer?«
»Natürlich nicht. Viel häufiger Pkw-Fahrer. Pass auf, da steht ein alter Eimer für den Müll und die gebrauchten Kondome.«
»Oh Gott!«, schnauzte sie. »Das brauche ich doch alles gar nicht.« Dann beugte sie sich vor, um in die Behausung hineinschauen zu können. »Lieber Himmel, der Gestank!«
»Du kannst dir deine Kundschaft eben nicht aussuchen.«
»Es ist nicht die alte Frau, es ist das billige, schwülstige Parfüm.« Sie tauchte wieder auf. »Fotografiere mal in den Wagen rein, soweit das geht. Ich möchte nichts verändern, ehe die Spezialisten kommen.«
Ich hatte den Fotokoffer mitgeschleppt und suchte mir die Teile zusammen, die ich brauchte. »Wie lange mag sie tot sein?«
»Nach ihrem Gesicht zu urteilen, würde ich auf mindestens dreißig Stunden tippen. Wer immer das war, er hat auf jeden Fall die Standheizung nicht eingeschaltet. Das erleichtert es etwas. Aber ich kann mich täuschen. Fotografiere sie, dann kommt der Lkw-Fahrer an die Reihe.«
Der Eingang in den eiförmigen Wohnwagen aus Großmutters Zeiten war sehr schmal, der Gestank nach billigem Parfüm überwältigend. Sicherheitshalber fotografierte ich das Schloss an der Tür. Es war nicht aufgebrochen.
Die Tote lag rücklings auf einer Art Liege, auf der mehrere Decken übereinander gelegt worden waren. Ihr Gesicht war ruhig, sehr grau, hatte aber nichts vom Schrecken des Todes. Es war ein zerfurchtes Gesicht, es war alt, es wirkte zermürbt, gezeichnet von sehr viel körperlicher Arbeit. Vielleicht war sie sechzig, vielleicht zehn Jahre älter, ich konnte es nicht einengen. Sie trug überraschenderweise ein Kopftuch. Es war grün mit kleinen, roten Blüten darauf, und oben an der Stirn lugten zwei Strähnen weißes Haar darunter hervor. Ich erinnerte mich an Zeiten, in denen Bauersfrauen bei uns solche Kopftücher getragen hatten. Um den Hals trug sie ein weiteres Tuch. Es war grau und saß unordentlich, als habe jemand daran gezogen. Darunter zwei Pullover, einer rot, einer grün. Dann ein Rock, tiefschwarz mit einem breiten Gürtel aus Plastik, knöchellang. Schwere, hohe, schwarze Schnürschuhe aus einem Lederimitat.
Ich wechselte das Objektiv, um einen möglichst maßstabgetreuen Überblick über das Innere der Behausung zu bekommen, ich fotografierte alle Einzelheiten, die mir auffielen. Von einem Aschenbecher bis hin zu einer kleinen Holzschachtel, in der auf einfachem, weißem Papier Telefonnummern gestempelt waren. Eine kleine Vase, in der eine Rose aus Plastik stand, eine Madonna aus Gips, blaues Gewand, rosiges Gesicht, der segnende Arm abgebrochen, vielleicht zehn Zentimeter hoch.
»Was glaubst du, wie alt sie ist?«, fragte Emma.
»Sechzig, würde ich sagen. Kann auch mehr sein. Ich weiß es nicht. Sie hat keine Handtasche bei sich, aber vielleicht liegt sie drauf. Können wir jetzt den Lkw-Fahrer erledigen?«
»Ja, natürlich. Du willst hier weg, nicht wahr?«
»Ja. Wahrscheinlich, weil das alles so trostlos ist. Die Tote wirkt auf mich wie der ganz arme Teil von Mütterchen Russland. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht hat niemand sie umgebracht, vielleicht ist sie einfach gestorben?«
»In diesem Dings da? Du bist aber optimistisch.«
»Optimismus ist das Einzige, was mir bei dem Anblick bleibt.«
»Das ist das Echo auf Gabi.«
»Du hörst dich an wie eine Familientherapeutin.«
»Ich bin eine, du weißt es nur noch nicht.«
Wir überquerten die Bundesstraße und gingen auf den Lkw zu. Es war ein schwerer Iveco, ein rotes Ungetüm ohne Werbeaufschrift. Als wir uns näherten, sprang ein Mann aus dem Fahrerhaus, strahlte uns an und sagte: »Guten Morgen, die Dame, guten Morgen, der Herr!«
»Na, so was«, murmelte Emma. »Können Sie uns erzählen, wie das hier abgelaufen ist?«
Er war vielleicht vierzig Jahre alt, ein hagerer Typ mit vier Millimeter hohem, rabenschwarzem Haar. Er trug ein blaues Jeanshemd über einem weißen T-Shirt und ausgebeulte Jeans zu schweren, braunen Halbschuhen. Sein Oberkiefer war mit Hauern versehen, die Graf Dracula Ehre gemacht hätten.
Er sah die Kamera vor meinem Bauch baumeln, stellte sich augenblicklich in Positur und grinste teuflisch.
»Habe ich Frau gefunden. Tot. War so vier oder fünf Uhr.«
»Vier oder fünf?«, fragte Emma.
»Weiß ich nicht genau, habe ich nicht Uhr geguckt. Hier sind meine Papiere, hier die Papiere von Truck, und Ladepapiere.« Er hielt Emma alle die Kostbarkeiten unter die Nase. »Wie heißen Sie denn?«
»Zygmunt«, dann folgte ein weiteres Wort, das wie ein hartes Rauschen mit einem langen ihhh am Ende klang. »Bin ich Bulgare.«
»Dann erzählen Sie mal, Zygmunt.«
»Kam ich hier vorbei, habe ich rotes Licht gesehen. Da in dem Wagen. Habe ich hier gehalten, bin ich dort gegangen. Mache ich Tür auf, sehe ich Frau. Tot. Sage ich Jesus, Maria und Joseph! Rufe ich Polizei.« Er breitete die Arme aus und setzte hinzu: »Das alles.«
»Das war nicht das erste Mal?«, fragte Emma.
»Nein. War nicht. Bin ich gewesen am Freitag auf Rücktour. War blonde Frau hier. Jung. Sehr schön, sehr schön. Wollte ich wiedertreffen. War guter Spaß. Heute Morgen alte Frau da, aber tot.«
»Haben Sie die alte Frau jemals vorher gesehen?«
»Nein.«
»Haben Sie irgendeinen anderen Menschen gesehen? Da, an dem Wohnwagen?«
»Nein. Ich allein.«
»Kein Auto hat angehalten?«
»Nein. Zu früh für Spaß. Deutsche erst abends, Bulgaren immer.«
»Wie hieß die junge, blonde Frau?«
»Sie hat Anna gesagt.«
»War sie eine Deutsche?«
»Hat sie gesagt Polen. Schöne Frau. Ist sie hier nicht oft, hat sie gesagt. Nur Aushilfe. Nur Donnerstag und Samstag arbeiten.«
»Wie alt war denn die Aushilfe?«
»Sage ich fünfundzwanzig oder so.«
»Haben Sie ein Handy?«, fragte Emma. »Kann ich die Nummer haben?«
»Aber ja«, murmelte Zygmunt und diktierte sie ihr.
»Ich brauche noch ein Foto«, bat ich. »Stell dich mal vor das Monstrum, genau vor dein Fahrerhaus.«
Zygmunt machte das, er grinste und sagte sehr überzeugend: »Bin ich guter Teamspieler.« Dann lächelte er in meine Kamera, als sei er George Clooney.
Anschließend bestieg er sein Vehikel und rollte in Richtung Autobahn. Dabei ließ er sein Fenster herunter und winkte uns begeistert zu, als sei er dem Schicksal unendlich dankbar, uns kennen gelernt zu haben.
Wir mussten bis neun Uhr warten, ehe jemand erschien.
Kischkewitz kam in seinem uralten, kackbraunen Mercedes herangerollt und sah aus, als habe er zwei Nächte nicht geschlafen. Er stieg aus und dehnte und streckte sich als würde er zum ersten Mal seit Wochen wieder frische Luft atmen.
»Danke für die Vertretung«, brummte er. »Wo ist das Opfer?«
»Da drin«, sagte Emma. »Wir haben nichts berührt.«
»Dann berühre ich mal«, nickte er, und betrat das Wohnmobil.
Das Lustgehäuse ächzte und bewegte sich leicht eine ganze Weile lang, dann erschien Kischkewitz wieder mit hochrotem Kopf und nörgelte: »Einwandfrei eine Tötung. Zungenbeinbruch sehr deutlich. Anschließend hat er das Halstuch benutzt. Wie geht es Rodenstock?«
»Er ist im Krankenhaus, er macht eine Therapie«, antwortete Emma.
»Da bin ich skeptisch«, grinste der Leiter der Mordkommission. »Der findet todsicher eine Ausrede.«
»Dann lasse ich mich scheiden«, stellte Emma nüchtern fest.
»Na, unter dieser Bedingung könnte es klappen.« Er wandte sich an mich »Hast du Fotos? Brauchbar? Kann ich die haben?«
»Ich schicke sie euch auf den Rechner.«
»Du bist ein Schatz. Aber sie erscheinen nicht in der Tagespresse, dass das klar ist! Sonst sind meine Anfragen bei Emma und dir für immer Geschichte!« Er wusste, dass er keinen großen Nachdruck in seine Drohung legen musste. Die Abmachung hatte seit Ewigkeiten Bestand und ließ alle Seiten profitieren. Er konnte sich auf uns verlassen, wenn Not am Mann war. Ich bekam Stoff für meine Geschichten. Und Emma … Emma bekam einen Grund, nicht durchzudrehen wegen Rodenstock. »Muss ich sonst noch etwas wissen?«, fragte Kischkewitz.
»Hier in diesem alten Ding war angeblich eine schöne, junge Frau stationiert«, erklärte Emma. »In der vorigen Woche. Donnerstag und Samstag. Da würde ich mich an deiner Stelle drum kümmern. Ihr werdet ja sowieso den Zuhälter finden, der hier zuständig ist. Der Lkw-Fahrer hat von der Schönen gesprochen. Ich mache dir ein Protokoll. Das hast du heute Nachmittag. Wie geht es deiner Frau?«
»Sie will sich jetzt nicht mehr scheiden lassen. Sie sagt, sie hätte mich so lange ausgehalten, dass ihr nach der Scheidung was fehlen würde. Jetzt weiß ich nicht richtig, ob das ein Erfolg ist.« Er lächelte verkniffen.
»Kluge Frau«, sagte Emma.
»Hast du bei der Toten eine Handtasche gefunden?«, fragte ich.
»Nein, habe ich nicht. In ihrem Rock sind Taschen. Da habe ich einen Zettel gefunden. Da steht ziemlich krakelig: Waclawick, Maria, Köln. Wahrscheinlich hat sie das selbst geschrieben. Dann noch ein kleines Holzkreuz mit einem Corpus Christi aus Plastik, dann noch eine Zwei-Euro-Münze, sonst nichts.«
»Habt ihr irgendetwas im Fall Dr. Christian Schaad ausgraben können?«, fragte Emma.
»Nein, soweit ich weiß nicht. Der hatte einfach Pech, nehme ich an. Der stand zu dicht am Abgrund.«
»Pech hatte er in jedem Fall«, erwiderte Emma spitz. »Was ist mit Norbert Bleckmann?«
»Der Pathologe in Mainz sagt: natürlicher Tod. Herzstillstand. Das kommt vor. Aber sie untersuchen noch auf Gifte.«
»Bei euch hier kommt ziemlich viel vor«, murrte Emma. »Wir verziehen uns, wir fahren heim. Und ruf bitte mal meinen Mann an. Ich denke, der langweilt sich zu Tode.«
»Ich übe Caritas!«, versprach er. Irgendwie wirkte er verloren, als er neben dem alten Wohnwagen stand und uns nachschaute.
Im Wagen fragte sie: »Machen wir einen der Fälle weiter? Norbert Bleckmann? Christian Schaad? Die alte Frau? Interessiert dich etwas daran? Kannst du über einen der Fälle etwas schreiben?«
»Das sieht nicht so aus« erwiderte ich. »Vielleicht wäre der Geologe interessant, weil der Eifel die Berge geklaut werden. Aber dann stehen wir vor dem Problem, dass wir nicht wissen, wen er hier treffen wollte.«
»Und wenn wir alle Naturschützer anrufen? Ich meine, irgendwer muss ihn doch gekannt haben. Oder glaubst du, er ist mutterseelenallein in Walsdorf im Steinbruch herumgekraxelt, bis es ihn erwischte?«
»Vielleicht erinnert sich Nina Schaad noch an dies und jenes.«
»Falls sie noch da ist«, erwiderte sie knapp. »Sie tourt herum, weil sie keine Ruhe findet. Ich habe nicht den Eindruck, dass die junge Frau den Fall schnell aufgibt. Sie ist zäh, und er war ihr Mann.«
Die junge Frau war noch da. Sie saß verloren in Emmas Küche, trank Kaffee und starrte aus dem Fenster.
»Gut geschlafen?«, fragte Emma munter.
»Danke, ja. Ein paar Stunden wenigstens. Es ist mir sogar gelungen, einen Kaffee zu machen. Und ich habe deine Schaumdusche benutzt.«
»Erste Schritte zu einer Zivilisation«, lobte ich und schloss mich sofort dem vertraulichen Ton, der zwischen den beiden Frauen bereits herrschte, an. »Mein Name ist Siggi, und wir müssen reden. Wenn es deinem Mann um die Eifel hier ging, mit wem hatte er Kontakt? Dazu fallen uns Naturschützer ein, also Leute, die aufschreien, wenn hier unsere Berge abgebaut werden. Wir fragen dich also: Hatte er Kontakt zum BUND, zum NABU, zu Leuten vom Eifel-Verein, zu besonders beteiligten Personen, zu irgendwem, der sich über den Abbau stark aufgeregt hat?«
»Er hat diese Organisationen alle genannt, klar, aber er hat keine Namen erwähnt.«
»Aber es ist doch denkbar, dass er sich mit diesen Leuten in Walsdorf in dem Steinbruch traf?«, fragte Emma weiter. »Es gibt ja auch Leute, die nicht irgendwo organisiert sind, sich einfach nur auf Naturschutz konzentrieren, und die besonders scharf sind. Also, zum Beispiel Lehrer, Förster, junge Bauern, die die Natur erhalten wollen. Fällt dir denn absolut kein Name ein? Dein Mann muss doch irgendjemand erwähnt haben, wenn er davon erzählte.«
Ich schloss mich nahtlos an. »Wenn ihr häufig in der Eifel Wanderungen gemacht habt, dann wird er doch Namen erwähnt haben. Selbst ein Vorname würde schon helfen. Wir suchen nach einem winzigen Loch für einen winzigen Schlüssel.«
»Geh diese Wanderungen durch«, trommelte Emma weiter. »Erinnere dich an bestimmte Momente, erinnere dich, wie er dir Einzelheiten der Landschaft erklärte oder Besonderheiten aus Flora und Fauna. Wo habt ihr denn die Nächte verbracht? Wie hießen die Hotels, wie hießen die Kneipen?«
Nina beugte sich auf ihrem Stuhl weit nach vorn, sie setzte den Kaffeebecher mit einem kleinen Klack auf den Tisch. Sie sagte ein wenig atemlos: »Da war Florian! Stimmt, Florian!«
»Florian?«, fragte Emma. »Und wie hieß er weiter?«
»Wie sah er denn aus?«, fragte ich schnell. »Und wo tauchte er auf?«
»Das war bei Michels in Schalkenmehren. Ich weiß noch, ich habe süße Pfannkuchen gegessen.« Dann weinte sie plötzlich ganz still, und beugte ihren Oberkörper weit über den Tisch, um ihr Gesicht zu verbergen.
»Ist ja gut, Kind«, murmelte Emma beschwichtigend. »Tut uns leid. Aber wir kommen in diesem Fall nur weiter, wenn es richtig weh tut.« Sie strich ihr über das Haar.
»Es ist alles Erinnerung«, murmelte Nina stockend. »Einfach alles.«
»Willst du einen Kaffee?«, fragte mich Emma.
»Ja, wenn es geht.« Dann fuhr ich fort: »Niemand will dir hier Böses, niemand ist gegen dich. Natürlich ist alles Erinnerung, natürlich schmerzt das alles, aber wir kommen nur weiter, wenn du versuchst, in deine jüngste Vergangenheit einzusteigen. Da war also dieser Florian. Hast du Erinnerungen an sein Gesicht?«
»Also, er war sehr jung, jünger als ich. Und er war groß wie ein Bär, und er hatte so komische, schwarze Augen. Also, ich weiß nicht, irgendwie wirkte er wie ein Kind. Sein Haar war auch schwarz, nein, sein Haar war hell, irgendwie lockig. Und er lachte dauernd und war unheimlich gut drauf und irgendwie aufgeregt…«
»Nina!«, sagte Emma sanft. »Erinnere dich, woher er kam. Saß er an einem anderen Tisch mit anderen Leuten, oder kam er ins Restaurant von draußen? War Christian mit ihm verabredet, wusste Christian, dass er kommen würde? Oder saß dieser Florian zufällig im gleichen Lokal?«
»Das weiß ich nicht. Plötzlich war er da.«
»Freute er sich, Christian zu sehen?«
»Oh ja, die beiden kannten sich. Die kannten sich sogar gut. Er setzte sich zu uns. Dann sagte er … Ich weiß nicht mehr genau, was er sagte, aber ich weiß noch, dass ich dachte: Der Mann ist wie ein Kind.«
»Warum wie ein Kind, Nina?«, fragte Emma.
»Irgendwie unschuldig, irgendwie … Na ja, er sagte: >Die ziehen ein großes, unheimliches Ding durch!< Daran erinnere ich mich. Ein unheimliches Ding, sagte er.«
»Wie reagierte Christian darauf?«, fragte ich.
»Christian guckte diesen Florian an und sagte: >Genau das meine ich doch die ganze Zeit, Junge. Das Ding ist groß und unheimlich.<«
»Irgendwer zieht also ein großes, unheimliches Ding durch. Wer, bitte, soll das sein?«, fragte Emma behutsam weiter. »Du weißt es doch, Mädchen, du kannst es doch sagen.«
Sie starrte nur vor sich hin und schüttelte dann leicht den Kopf.
»Mal sachlich, Nina«, übernahm ich. »Wie alt war dieser Florian?«
»Dreißig würde ich sagen.«
»Wie sprach er? Lupenreines Hochdeutsch, Eiflerisch, Mosellanisch? Kölsch?«
»Hochdeutsch, würde ich sagen.«
»Hast du auf seine Hände geachtet? War er ein Arbeiter? War er ein Büromensch?«
Wieder nahm sie sich Zeit für ihre Antwort, dann sagte sie: »Eher ein Büromensch.«
»Und wer soll das sein, der da ein Ding durchzieht? Wer sind die?«
»Also, auf jeden Fall die, die weiter die Berge abbauen wollen.« Dann sah sie uns hilfesuchend an. »Wer soll es denn sonst sein?«
»Das ist richtig«, nickte Emma. »Wer soll es sonst sein. Und das Ding, das sie durchziehen wollen, ist einwandfrei ein unheimliches Ding?«
Sie nickte langsam und sah konzentriert zum Fenster hinaus. »Einwandfrei unheimlich. Das Wort ist gefallen. Und das Wort groß ist auch gefallen. Und dieser Florian sagte auch noch, dass es ganz langsam vorbereitet worden sei, er sagte, es wäre eine einwandfreie Langzeitplanung, gegen die kaum etwas zu machen sei, weil kein Mensch den Durchblick habe.« Dann klatschte ihre Hand auf die Tischplatte: »Und es wurde auch gesagt, dass der Seeth dabei draufgehen würde. Ich weiß gar nicht, wer das ist.«
»Wer ist Seeth?«, fragte Emma.
»Der Unternehmer, der zur Zeit in den meisten Lavagruben fördert«, antwortete ich. »Man hat ihm schon den Spitznamen >der Bergdieb< verpasst. Hat dreißig, vierzig Lkws laufen, baut Basalt und Lava ab und macht natürlich das Geschäft seines Lebens. Da kann gar nichts schiefgehen, weil beim Straßenbau, beim Autobahnbau, beim Landschaftsbau, beim Sportstättenbau diese natürlichen Zutaten in riesigen Mengen gebraucht werden. Und die Holländer ziehen damit ihre Buhnen in die Nordsee, um Land zu gewinnen, und die Macht der Stürme zu brechen.«
»Ach, du lieber Gott«, murmelte Emma. »Goldgrube.«
»Das ist richtig«, pflichtete Nina bei. »Christian sagte immer, die Gemeinden hätten nicht die geringste Vorstellung, für welchen Spottpreis sie dieses Erbe verscherbeln.«
»Wir werden diesen Florian finden«, sagte ich. »So viele Florians kann es in der Eifel nicht geben.«
»Bestenfalls eine Kompanie«, sagte Emma spöttisch. Dann meldete sich ihr Handy. Sie nahm das Gespräch an und verzog sich in den großen Wohnraum, sprach leise.
»Nina«, sagte ich, »wir brauchen dringend das Handy deines Mannes. Wir müssen wissen, mit wem er gesprochen hat. Kannst du den Amtsleiter anrufen und darum bitten?«
»Und was soll ich sagen?«
»Dass er tot ist, und der Vater deines Kindes. Ganz einfach. Wenn er Zicken macht, rücken wir ihm auf die Bude.«
Sie sah mich mit einem zaghaften Lächeln an, die Idee schien ihr zu gefallen.
Emma kam zurück und hatte ein verspanntes Gesicht, ihr Mund war verkniffen, die Falten zwischen den Augen tief. »Wir haben ein Problem, Baumeister«, sagte sie leise. »Erinnere dich bitte an die tote, alte Frau bei Rosi eins heute Morgen. Erinnerst du dich an den Gürtel, den sie über dem langen Rock getragen hat?«
»Ja«, nickte ich. »Sehr billig, sehr breit, aus irgendeinem Plastikmaterial, wie die Chinesen es auf den Markt werfen.«
»Die Mordkommission hat auf diesem Gürtel beide Daumenabdrücke des toten Norbert Bleckmann gefunden. Beide! Daran besteht kein Zweifel mehr, das ist wasserdicht, damit müssen wir jetzt leben.«