Drittes Kapitel

Tarantjew und Iwan Matwejewitsch trafen sich nach dem Iljatage wieder in der Kneipe.

»Tee!« bestellte Iwan Matwejewitsch düster, und als der Kellner Tee und Rum brachte, schob er ihm ärgerlich die Flasche hin. »Das ist kein Rum, sondern es sind Nelken!« sagte er, nahm aus der Manteltasche seinen eigenen Rum heraus und ließ den Kellner diesen riechen.

»Komm mir also nicht mehr mit deiner Flasche!« bemerkte er.

»Was, Gevatter, es steht schlecht!« sagte er, als der Kellner fort war.

»Ja, der Teufel hat ihn hergebracht!« entgegnete Tarantjew wütend. »Was für ein Schurke dieser Deutsche ist! Er hat die Vollmacht vernichtet und das Gut gepachtet! Das ist unerhört! Er wird sein Schäfchen aber gehörig ins trockene bringen.«

»Ich fürchte, Gevatter, daß, wenn er sich in der Sache auskennt, dabei etwas herauskommen kann. Wenn er erfährt, daß die Abgaben eingesammelt sind und daß wir das Geld erhalten haben, kann er womöglich noch einen Prozeß anfangen ...«

»Gleich einen Prozeß! Bist du aber ängstlich geworden, Gevatter! Es ist nicht das erstemal, daß Satjortij seine Finger nach fremdem Gelde ausstreckt, er versteht es, seine Spuren zu verwischen. Ich glaube, er gibt den Bauern keine Quittungen; er nimmt ihnen das Geld wohl unter vier Augen ab. Der Deutsche wird sich ärgern, wird schimpfen, und damit basta. Und du denkst gleich an einen Prozeß!«

»Glaubst du wirklich?« fragte Muchojarow, Mut fassend, »nun wollen wir trinken.«

Er schenkte sich und Tarantjew Rum ein.

»Manchmal glaubt man, daß man auf der Welt gar nicht leben kann, wenn man aber trinkt, geht es doch noch weiter!« tröstete er sich.

»Mache unterdessen Folgendes, Gevatter«, fuhr Tarantjew fort, »stelle irgendwelche Rechnungen auf, welche du willst, für Holz, für Kraut, nur für irgend etwas, Oblomow hat ja jetzt die Wirtschaft deiner Schwester übergeben, und füge die Summe den übrigen Ausgaben an. Und wenn Satjortij kommt, werden wir sagen, daß er so und so viel Abgabegelder gebraucht hat und daß wir damit die Ausgaben für Oblomow gedeckt haben.«

»Wenn er aber die Rechnungen nimmt und sie dem Deutschen zeigt, dann könnte die Sache doch ans Licht kommen ...«

»Aber nein! Er steckt sie irgendwohin, und der Teufel selbst findet sie dann nicht. Und bis der Deutsche kommt, ist alles längst vergessen ...«

»Wirklich? Trinken wir, Gevatter«, sagte Iwan Matwejewitsch, den Rum in Weingläser einschenkend, »es ist schade, das mit Tee zu verdünnen. Rieche einmal; drei Rubel. Wollen wir uns nicht etwas zu essen bestellen?«

»Das könnte man.«

»Kellner!«

»Aber was das für ein Schurke ist! ›Ich nehm's in Pacht‹, sagt er«, begann Tarantjew wieder wütend, »uns Russen würde so etwas nie einfallen! Diese Einrichtung riecht gleich nach etwas Deutschem. Dort haben sie lauter Farmen und Pachtgüter. Wart nur, er wird ihm dann noch mit Aktien heimleuchten.«

»Was sind denn das, Aktien? Ich kenne mich damit gar nicht aus«, fragte Iwan Matwejewitsch.

»Eine deutsche Erfindung!« sagte Tarantjew zornig, »das ist so: Ein Schwindler erfindet, wie man feuersichere Häuser baut, und übernimmt es, eine Stadt zu bauen; er braucht Geld, da läßt er Papiere, sagen wir zu je fünfhundert Rubel, erscheinen, und die Dummköpfe kaufen und verkaufen sie einander. Wenn Gerüchte entstehen, daß das Unternehmen gut geht, steigen die Papiere im Preise, wenn es schlecht geht, kracht das Ganze. Man behält dann die Papiere, aber kein Geld. Wenn man frägt, wo die Stadt ist, bekommt man zur Antwort, daß sie verbrannt ist und nicht fertig gebaut wurde, und der Erfinder hat sich unterdessen mit dem Geld aus dem Staube gemacht. Das sind Aktien! Der Deutsche wird ihn schon hineinverwickeln! Ich wundere mich nur, daß er das noch bis jetzt nicht getan hat! Ich hab' ihn immer daran gehindert und habe dem Landsmann Wohltaten erwiesen!«

»Ja, jetzt ist's aus; die Sache ist zu Ende und dem Archiv übergeben worden, jetzt haben wir zum letztenmal Geld aus Oblomowka bekommen ...« sagte Muchojarow ein wenig benebelt.

»Daß ihn der Teufel hol! Du hast ja so viel Geld, daß man darin mit einer Schaufel wühlen kann«, entgegnete Tarantjew, auch ein wenig im Dusel; »du hast eine sichere Quelle, schöpfe daraus, solange du nicht müde bist. Trinken wir!«

»Was ist das für eine Quelle, Gevatter? Man sammelt das ganze Leben und kann nur immer einen Rubel oder einen Dreirubelschein einstecken ...«

»Du sammelst doch aber schon zwanzig Jahre, Gevatter, versündige dich nicht!«

»Aber was fällt dir ein!« entgegnete Iwan Matwejewitsch mit lallender Stimme, »du vergißt, daß ich erst seit zehn Jahren Sekretär bin. Und früher haben nur Zehn- und Zwanzigkopekenstücke in meiner Tasche geklimpert, und manchmal mußte ich, ich schäme mich, es zu sagen, Kupfermünzen sammeln. Was ist das für ein Leben! Ach, Gevatter! Was für glückliche Menschen es auf der Welt gibt, die dafür, daß sie nur ein Wort ins Ohr flüstern oder eine Zeile diktieren oder einfach ihren Namen auf ein Papier schreiben, plötzlich eine Geschwulst wie ein Kissen in ihrer Tasche bekommen, so daß sie sich darauf schlafen legen könnten! Ja, wenn man so arbeiten könnte«, träumte er, immer betrunkener werdend, »die Bittsteller sehen solche Leute gar nicht persönlich und wagen es nicht, an sie heranzutreten. Er steigt in den Wagen und ruft ›in den Klub!‹, dort drücken ihm ganz mit Orden behängte Leute die Hand, das Spiel dreht sich nicht um fünf Kopeken. Und wie er zu Mittag speist – ach! Er würde sich schämen, über unsere Gerichte zu sprechen; da würde er die Stirn furchen und ausspucken. Im Winter essen sie junge Hühner, im April werden Erdbeeren gereicht! Zu Hause geht die Frau in Spitzen herum, die Kinder haben eine Gouvernante, sind schön gekleidet und frisiert. Ach, Gevatter, es gibt ein Paradies, doch die Sünden sind zu groß! Trinken wir. Da bringt man das Essen!«

»Klage nicht, Gevatter, versündige dich nicht; du hast ein schönes Kapital ...« sagte der gänzlich betrunkene Tarantjew mit blutroten Augen, »fünfunddreißig Tausend in Silber, das ist kein Spaß!«

»Still, still, Gevatter!« unterbrach ihn Iwan Matwejewitsch, »was hat man von fünfunddreißig Tausend, wann bringt man es aber bis auf fünfzig Tausend? Man kommt auch mit fünfzig Tausend noch nicht ins Paradies. Wenn man heiratet, muß man vorsichtig leben, jeden Rubel zählen, den Rum ganz vergessen, was ist das für ein Leben!«

»Dafür lebt man ruhig, Gevatter; bald ist's ein Rubel, bald sind's zwei, und ehe man sich's versieht, hat man im Tag sieben Rubel zurückgelegt. Wenn man aber manchmal seinen Namen unter etwas Großes setzt, kann man ihn dann sein Leben lang mit seinen Seiten fortwetzen. Nein, Bruder, versündige dich nicht!«

Iwan Matwejewitsch hörte nicht zu und überlegte sich längst etwas.

»Hör einmal«, begann er plötzlich, die Augen weit aufreißend und sich so freuend, daß sein Rausch fast verging, »oder nein, ich fürchte mich und sage es nicht, ich werde einen solchen Vogel nicht aus meinem Kopf fortfliegen lassen. Das ist ja ein wahrer Schatz ... Trinken wir, Gevatter, trinken wir schnell!«

»Ich werde nicht trinken, bevor du es mir nicht erzählst«, sagte Tarantjew, das Glas fortschiebend.

»Es ist eine wichtige Sache, Gevatter ...« flüsterte Muchojarow, auf die Tür schauend.

»Nun? ...« fragte Tarantjew ungeduldig.

»Was mir da eingefallen ist. Weißt du was, Gevatter, das ist dasselbe, wie wenn man irgend etwas Großes unterschreibt, bei Gott, es ist so!«

»Aber was denn, wirst du es mir sagen?«

»Und was man da zurücklegen kann!«

»Nun?« trieb Tarantjew ihn an.

»Wart, laß mich noch nachdenken. Ja, da braucht man aber nichts zu streichen, das ist gesetzlich. Also gut, Gevatter, ich sage es dir nur darum, weil ich dich dabei brauche; ohne dich geht es schlecht. Sonst hätte ich's dir, bei Gott, nicht gesagt; das ist nicht so etwas, das man anderen anvertraut.«

»Bin ich denn für dich ein anderer, Gevatter? Mir scheint, ich habe dir mehr als einmal Gefälligkeiten erwiesen, ich bin dein Zeuge gewesen und habe dir die Kopien geschrieben ... weißt du's nicht mehr, du Schwein!«

»Gevatter, Gevatter, halte deine Zunge im Zaum. Was du für einer bist, du läßt ja alles wie aus einer Kanone herausschießen!«

»Wer hört es denn hier? Weiß ich denn nicht, was ich tue?« sagte Tarantjew ärgerlich. »Warum quälst du mich? Also sprich.«

»Nun, höre zu, Ilja Iljitsch ist ja sehr ängstlich und kennt gar keine Gesetze, damals beim Kontrakt hatte er ganz den Kopf verloren, als man die Vollmacht geschickt hat, wußte er nicht, was er beginnen sollte, er hatte sogar vergessen, wieviel er an Abgaben zu bekommen hat, er sagte selbst, ›ich weiß nichts‹ ...«

»Nun?« fragte Tarantjew ungeduldig.

»Also er hat es sich angewöhnt, sehr oft zur Schwester zu kommen. Neulich ist er bis ein Uhr dort sitzen geblieben, und als er dann im Vorzimmer mit mir zusammengestoßen ist, hat er sich den Anschein gegeben, mich nicht zu sehen. Wir wollen also noch abwarten, was geschieht, und dann ... Sag ihm gelegentlich, daß es häßlich ist, Schande ins Haus zu bringen, daß sie eine Witwe ist, sag, daß man es erfahren hat und daß sie jetzt nicht heiraten kann, ein reicher Kaufmann hätte um sie angehalten, jetzt wüßte er aber, daß er des Abends bei ihr sitzt, und wolle nicht mehr.«

»Nun, was kommt denn dabei heraus? Er wird erschrecken, sich aufs Bett legen und sich wie ein Eber darin herumwälzen und seufzen, das ist alles!« sagte Tarantjew. »Was werden wir denn davon haben, was kann man sich dabei zurücklegen?«

»Bist du aber einer! Du wirst ihm sagen, daß ich ihn verklagen will, daß man ihm aufgelauert hat, daß Zeugen da sind ...«

»Nun?«

»Und wenn er sehr erschrickt, dann sage ihm, daß ich auf einen Ausgleich eingehen würde, wenn er ein kleines Kapital hergibt.«

»Wo ist denn sein Geld?« fragte Tarantjew, »er verspricht ja alles vor lauter Angst, sogar zehntausend ...«

»Blinzle mir nur zu, dann stelle ich einen Schuldschein aus ... auf den Namen der Schwester: ›Ich, Oblomow, habe bei der Witwe Soundso zehntausend Rubel geliehen bis zu dem und dem Datum usw.‹«

»Was haben wir denn davon, Gevatter? Ich verstehe dich nicht, das Geld geht dann zu der Schwester und den Kindern über. Wo ist dann unser Verdienst?«

»Und die Schwester gibt mir einen Schuldschein auf dieselbe Summe; ich laß ihn von ihr unterschreiben.«

»Wenn sie aber darauf besteht und nicht unterschreibt?«

»Die Schwester?«

Und Iwan Matwejewitsch brach in ein dünnes Gelächter aus.

»Sie unterschreibt schon, Gevatter, sie würde sogar ihr Todesurteil unterschreiben, ohne zu fragen, was es sei, und nur lächeln. Sie setzt schief ›Agafja Pschenizin‹ darunter und wird nie erfahren, was sie unterschrieben hat. Siehst du, wir sind also gar nicht bloßgestellt; die Schwester hat den Kollegiensekretär Oblomow und ich die Frau des Kollegiensekretärs Pschenizin zum Schuldner. Der Deutsche kann wüten, soviel er will, die Sache ist gesetzlich!« sagte er, die zitternden Hände in die Höhe haltend.

»Trinken wir, Gevatter!«

»Die Sache ist gesetzlich!« sagte Tarantjew entzückt, »trinken wir.«

»Und wenn alles gut geht, kann man es in zwei Jahren wiederholen; es ist eine gesetzliche Sache!«

»Eine ganz gesetzliche!« erklärte Tarantjew, beifällig nickend, »wollen wir auch dann wiederholen!«

»Wiederholen!«

Und sie tranken.

»Wenn dein Landsmann sich nur nicht wehrt und dem Deutschen schreibt«, bemerkte Muchojarow ängstlich, »dann steht es schlimm, Bruder! Man kann keine Klage gegen ihn erheben, sie ist eine Witwe und kein Mädchen!«

»Er wird schreiben! Gewiß wird er schreiben!« sagte Tarantjew. »So in zwei Jahren. Und wenn er sich wehrt, dann schimpfe ich ...«

»Nein, nein, Gott behüte! Dann verdirbst du alles, Gevatter. Er wird sagen, man hätte ihn gezwungen, wird vielleicht noch etwas von Schlägen erwähnen, dann ist es ein Kriminalprozeß. Nein, das taugt nicht! Man kann es aber anders machen. Zuerst mit ihm essen und trinken; er liebt Johannisbeerschnaps. Sowie er ein wenig benebelt ist, gibst du mir ein Zeichen, und ich komme mit dem Schein herein. Er wird sich die Summe gar nicht anschauen und wird wie damals den Kontrakt unterschreiben; wenn die Sache dann aber vom Notar bestätigt ist, kann er nichts mehr machen! Dieser Edelmann wird sich schämen einzugestehen, daß er in betrunkenem Zustand unterschrieben hat; eine gesetzliche Sache!«

»Eine gesetzliche Sache!« wiederholte Tarantjew.

»Oblomowka wird dann den Erben zufallen.«

»Gewiß! Trinken wir, Gevatter.«

»Auf das Wohl der Tölpel!« sagte Iwan Matwejewitsch.

Sie tranken.

Viertes Kapitel

Wir müssen uns jetzt in die Zeit vor der Ankunft von Stolz an Oblomows Namenstag und in einen anderen Ort, weit von der Wiborgskajastraße entfernt, versetzen. Dort treffen wir bekannte Personen, von denen Stolz Oblomow nicht alles, was er wußte, erzählt hatte, vielleicht weil er seine Gründe dafür hatte oder weil Oblomow ihn nicht über alles diesbezüglich ausfragte, wofür er gewiß auch seine Gründe hatte.

Eines Tages schritt Stolz in Paris über einen Boulevard, betrachtete zerstreut die Passanten und die Aushängeschilder, ohne die Augen auf etwas ruhen zu lassen. Er hatte lange keine Briefe aus Rußland erhalten, weder aus Kiew noch aus Odessa noch aus Petersburg. Er langweilte sich, er trug drei Briefe auf die Post und wollte nach Hause zurückkehren. Plötzlich blieben seine Augen reglos und erstaunt an etwas haften, nahmen dann aber wieder ihren gewohnten Ausdruck an. Zwei Damen bogen vom Boulevard ab und traten in ein Geschäft. »Nein, das ist unmöglich; welch ein Gedanke! Ich müßte es ja wissen! Das sind sie nicht.« Er trat aber trotzdem an das Fenster dieses Geschäftes und betrachtete die Damen durch die Scheiben hindurch. »Man kann nichts sehen; sie kehren dem Fenster den Rücken zu.« Stolz trat in das Geschäft und verlangte etwas. Eine der Damen wandte sich dem Licht zu, er erkannte Oljga Iljinskaja und erkannte sie zugleich nicht! Er wollte zu ihr hineilen, blieb aber stehen und begann sie forschend zu betrachten. Mein Gott! Welch eine Veränderung! Das war zugleich sie und nicht sie. Es waren ihre Züge, aber sie war bleich, ihre Augen erschienen ein wenig eingefallen, und es war kein kindliches, naives, sorgloses Lächeln mehr auf ihren Lippen. Über den Brauen schwebte ein ernster, trauriger Gedanke, die Augen sprachen über vieles, was ihnen früher unbekannt war und worüber sie früher nicht gesprochen hatten. Sie hatte nicht mehr den früheren offenen, hellen, ruhigen Blick; über dem ganzen Gesicht lag ein Nebelschleier von Traurigkeit.

Er kam auf sie zu. Sie runzelte ein wenig die Brauen und blickte ihn einen Augenblick lang erstaunt an, dann erkannte sie ihn. Die Stirn glättete sich, die Brauen legten sich symmetrisch hin, die Augen erglänzten in stiller, nicht stürmischer, aber tiefer Freude. Jeder Bruder wäre froh gewesen, wenn eine geliebte Schwester sich über ihn so erfreut gezeigt hätte.

»Mein Gott! Sind Sie es!« sagte sie mit zu Herzen dringender, rührend freudiger Stimme.

Die Tante wandte sich schnell um, und sie begannen alle drei zugleich zu sprechen. Er warf ihnen vor, daß sie ihm nicht früher geschrieben hatten; sie suchten sich zu rechtfertigen. Sie waren erst seit drei Tagen da und suchten ihn überall. Jemand hatte ihnen gesagt, er wäre nach Lyon verreist, und sie wußten nicht, was sie tun sollten.

»Wie ist es Ihnen nur eingefallen zu reisen? Und Sie haben mir kein Wort davon geschrieben!« warf er ihnen wieder vor.

»Wir haben die Reise so schnell beschlossen, daß wir Ihnen nicht schreiben konnten«, sagte die Tante, »Oljga wollte Sie überraschen.«

Er blickte Oljga an; ihr Gesicht bestätigte nicht die Worte der Tante. Er blickte sie noch forschender an, doch sie war unergründlich und seiner Beobachtung unzugänglich.

Was ist mit ihr? dachte Stolz, ich habe sie sonst auf den ersten Blick verstanden, und jetzt ... welch eine Veränderung!

»Wie gereift und wie gewachsen Sie sind, Oljga Sjergejewna!« sprach er. »Ich erkenne Sie nicht! Und wir haben uns kaum ein Jahr nicht gesehen. Was haben Sie getan, was war mit Ihnen? Erzählen Sie, erzählen Sie!«

»Ja ... nichts Besonderes«, sagte sie, einen Stoff betrachtend.

»Was ist mit Ihrem Gesang?« fragte Stolz, die für ihn neue Oljga betrachtend und das ihm unbekannte Spiel ihrer Gesichtszüge studierend, doch dieses Spiel brach hervor und verschwand wie ein Blitz.

»Ich habe schon lange nicht mehr gesungen, schon seit zwei Monaten nicht mehr«, sagte sie nachlässig.

»Und was ist mit Oblomow?« fragte er plötzlich. »Lebt er? Er schreibt nicht.«

Jetzt hätte Oljga vielleicht unwillkürlich ihr Geheimnis verraten, wenn die Tante ihr nicht zu Hilfe gekommen wäre.

»Denken Sie sich«, sagte sie, aus dem Geschäft heraustretend, »er hat uns täglich besucht und ist dann verschwunden. Als wir ins Ausland reisen wollten, habe ich zu ihm hingeschickt – man hat sagen lassen, er sei krank und empfange niemand, wir haben uns also nicht mehr gesehen.«

»Und auch Sie wissen nichts?« fragte Stolz besorgt Oljga.

Oljga betrachtete eingehend einen vorüberfahrenden Wagen durch ihr Lorgnon.

»Er ist tatsächlich erkrankt«, sagte sie, mit geheuchelter Aufmerksamkeit dem Wagen folgend. »Schauen Sie, ma tante, mir scheint, unsere Reisegefährten sind vorübergefahren!«

»Nein, erzählen Sie mir genau von meinem Ilja«, ließ Stolz nicht ab. »Was haben Sie mit ihm getan? Warum haben Sie ihn nicht mitgebracht?«

»Mais ma tante vient de dire«, sagte sie.

»Er ist furchtbar träge«, bemerkte die Tante, »und dann ist er so menschenscheu; sowie drei, vier Personen zu uns kommen, geht er gleich fort. Denken Sie sich, er hat ein Abonnement in die Oper genommen und hat nicht einmal die Hälfte der Opern besucht.«

»Er hat Rossini nicht gehört«, fügte Oljga hinzu.

Stolz schüttelte den Kopf und seufzte.

»Weshalb haben Sie zu reisen beschlossen? Für lange? Wie ist es Ihnen plötzlich eingefallen?« fragte er.

»Ihretwegen, auf den Rat des Arztes hin«, sagte die Tante, auf Oljga zeigend. »Petersburg hat ihr schlecht behagt, und wir sind für den Winter fortgereist, wir haben aber noch keine Entscheidung getroffen, wo wir ihn verbringen werden. In Nizza oder in der Schweiz.«

»Ja, Sie haben sich sehr verändert«, sagte Stolz, sinnend Oljga in die Augen blickend.

Iljinskys brachten ein halbes Jahr in Paris zu, und Stolz war ihr einziger täglicher Gesellschafter und Führer, Oljga begann sich merklich zu erholen; sie ging von ihrer Nachdenklichkeit zu Ruhe und Gleichgültigkeit über, wenigstens äußerlich. Was in ihrem Innern vorging, wußte niemand, doch sie wurde nach und nach wieder zu Stolz' Freundin, wenn sie auch nicht mehr ihr früheres lautes, kindliches, silberhelles Lachen besaß, sondern nur zurückhaltend lächelte, wenn Stolz ihr etwas Komisches erzählte. Sie schien sich manchmal sogar darüber zu ärgern, daß sie lachen mußte.

Er merkte es sofort, daß sie nicht mehr zum Lachen zu bringen war. Manchmal hörte sie seinen komischen Bemerkungen mit unsymmetrisch liegenden Augenbrauen und mit einer Falte auf der Stirn ohne ein Lächeln zu, blickte ihn dann schweigend an, als wäre sie ungeduldig oder als werfe sie ihm seinen Leichtsinn vor, und richtete an ihn plötzlich, statt seinen Witz zu beantworten, eine tiefgehende Frage, die sie mit einem so beharrlichen Blick begleitete, daß er sich seiner nachlässigen, leeren Worte schämte. Manchmal äußerte sich in ihr eine solche innere Ermüdung von dem täglichen Trubel und leeren Geplauder der Menschen, daß Stolz sich plötzlich einer anderen Sphäre zuwenden mußte, die er sonst selten und ungern im Gespräch mit Frauen berührte. Wieviel Geist, Spitzfindigkeit und Anstrengung mußte er anwenden, damit Oljgas tiefer, fragender Blick sich klärte und beruhigte, nicht länger dürstete und nicht nach etwas in der Ferne an ihm vorbei suchte! Wie regte es ihn auf, wenn ihr Blick bei einer nachlässigen Erklärung trocken und streng wurde, wenn die Brauen sich zusammenzogen und der Schatten einer tiefen, wenn auch unausgesprochenen Unzufriedenheit sich über ihr Gesicht breitete. Und er mußte zwei, drei Tage lang die feinsten Fähigkeiten seines Geistes, selbst List und Leidenschaft und sein ganzes Verständnis, mit Frauen umzugehen, anwenden, um mit Mühe allmählich einen Widerschein von Frieden und sanfter Resignation aus Oljgas Herzen auf ihr Gesicht, in ihren Blick und ihr Lächeln zu locken. Er kehrte manchmal von diesem Kampf ermattet abends nach Hause zurück und war glücklich, wenn er Sieger blieb.

»O Gott, wie reif ist sie geworden! Wie dieses Mädchen sich entwickelt hat! Wer war denn ihr Lehrer? Wo hat sie das Leben erlernt? Beim Baron? Aus seinen glatten, geckenhaften Phrasen ist nichts zu schöpfen. Doch nicht bei Ilja! ...«

Und er konnte Oljga nicht begreifen, kam am nächsten Tag wieder zu ihr, las dann vorsichtig und ängstlich in ihrem Gesicht, wobei er oft in Verlegenheit geriet und nur mit Zuhilfenahme seiner ganzen Vernunft und Lebenskenntnis die Fragen, Zweifel und Forderungen besiegte – alles das, was sich in Oljgas Zügen widerspiegelte. Er begab sich mit der Fackel der Erfahrung in den Händen in das Labyrinth ihres Verstandes und Gemütes und entdeckte und studierte täglich neue Züge und neue Tatsachen, ohne noch den Grund zu entdecken, und verfolgte nur erstaunt und beunruhigt, wie ihr Geist täglich neue Nahrung verlangte und ihre Seele ohne Unterlaß nach Erfahrungen und Betägigung suchte.

Dem ganzen Leben und der Tätigkeit von Stolz gesellte sich mit jedem Tage ein anderes Leben und eine andere Tätigkeit hinzu; nachdem er Oljga mit Blumen umringt hatte, nachdem er sie mit Büchern, Noten und Albums versorgt hatte, beruhigte sich Stolz, da er die freie Zeit seiner Freundin für genügend ausgefüllt hielt, und ging arbeiten oder fuhr irgendein Bergwerk oder ein mustergültiges Gut besichtigen, oder er ging in Gesellschaft, um mit neuen hervorragenden Menschen bekannt zu werden; dann kehrte er müde zu ihr zurück, wollte sich ans Klavier setzen und den Tönen ihrer Stimme lauschen. Statt dessen sah er aber auf ihrem Gesicht schon neue Fragen und in ihrem Blick ein beharrliches Verlangen nach Aufklärung auftauchen. Und er gab ihr unmerklich und unwillkürlich nach und nach Rechenschaft darüber, was er besichtigt hatte und weshalb er es getan hatte. Manchmal äußerte sie den Wunsch, das, was er gesehen und erfahren hatte, selbst zu sehen und zu erfahren. Und er wiederholte seine Arbeit und fuhr mit ihr, um ein Gebäude, eine Gegend, eine Maschine zu besichtigen oder eine alte Begebenheit von den Mauern und Steinen abzulesen. Er hatte sich allmählich unmerklich daran gewöhnt, in ihrer Anwesenheit laut zu denken und zu fühlen, und erfuhr, als er sich eines Tages streng prüfte, daß er nicht mehr allein, sondern zu zweien lebte und daß er dieses Leben seit dem Tage von Oljgas Ankunft führte. Er schätzte vor ihr wie vor sich selbst fast unbewußt die von ihm erworbenen Schätze ab und wunderte sich über sich und über sie; dann prüfte er sorgfältig, ob in ihrem Blick keine Frage zurückblieb, ob das Leuchten des befriedigten Geistes sich über ihr Gesicht verbreitete und ob ihr Blick ihm wie einem Sieger das Geleite gab. Wenn das geschah, ging er stolz und voller Aufregung nach Hause und bereitete sich in der Nacht lange Zeit heimlich für morgen vor. Die langweiligsten Arbeiten erschienen ihm nicht trocken, sondern nur notwendig; sie näherten ihn dem Innern des Lebensgewebes. Die Gedanken, die Beobachtungen und Erlebnisse wurden nicht schweigend dem Archiv des Gedächtnisses einverleibt, sondern hauchten jedem Tag glühende Farben ein. Wie glühte Oljgas bleiches Gesicht, wenn er, ohne ihren fragenden, düsteren Blick abzuwarten, vor ihr voll Feuer und Energie den neuen Vorrat, das neue Material ausbreitete! Und wie vollkommen glücklich war er, wenn ihr Geist voll Aufmerksamkeit und anmutiger Demut sich seinen Blick und jedes Wort aufzufangen beeilte und sie beide wachsam aufpaßten: er, ob in ihren Augen keine Frage zurückblieb, und sie, ob in ihm nicht noch etwas Ungesagtes verborgen war, ob er nicht etwas vergessen hatte, und vor allem, ob er es nicht für nötig hielt, ihr irgendeinen dunkeln, für sie schwer zugänglichen Punkt zu erwähnen und ihr seine Gedanken zu erläutern. Je wichtiger und komplizierter die Frage war, je aufmerksamer er sie in dieselbe einführte, desto länger und forschender ruhte ihr dankbarer Blick auf ihm und desto wärmer, tiefer und dankbarer wurde er.

Oljga, dieses Kind, wächst mir über den Kopf! dachte er erstaunt.

Er dachte über Oljga so viel nach, wie er noch nie über etwas nachgedacht hatte.

Im Frühjahr reisten sie alle in die Schweiz. Stolz hatte noch in Paris eingesehen, er könne von nun an nicht mehr ohne Oljga leben. Nachdem er diese Frage gelöst hatte, begann er zu überlegen, ob Oljga ohne ihn leben könne. Doch diese Frage war nicht so leicht zu beantworten. Er nahm sie langsam, allmählich und vorsichtig in Angriff, ging bald tastend, bald kühn vorwärts und glaubte sich schon nahe am Ziele, er mußte nur noch ein unzweifelhaftes Symptom, einen Blick, ein Wort, eine Regung der Langeweile oder der Freude erhaschen; es fehlte ihm noch eine kleine Linie, eine kaum merkliche Bewegung von Oljgas Augenbrauen, ein Seufzer, und morgen würde das Geheimnis gelöst werden! Er wurde geliebt! Auf ihrem Gesichte las er ein kindliches Vertrauen zu ihm; sie blickte ihn manchmal so an, wie sie es sonst niemand gegenüber tat und wie sie nur eine Mutter anblicken würde, wenn sie eine hätte. Sein Kommen, der Umstand, daß er ihr seine freie Zeit und ganze Tage widmete, wurde von ihr nicht als ein Gefallen, als eine schmeichelhafte Äußerung von Liebe und als eine Liebenswürdigkeit, sondern einfach als eine Pflicht angesehen, als wäre er ihr Bruder, ihr Vater und sogar ihr Gatte; und das war viel, das war alles. Sie war mit ihm in jeder Äußerung und jedem Schritte so offen und aufrichtig, als ob seine Worte für sie eine unbestreitbare Bedeutung hätten und sie seine Autorität anerkannte. Er wußte auch, daß er diese Autorität besaß; sie bestätigte das jeden Augenblick, sagte, daß sie nur ihm glaubte und sich im Leben auf ihn allein und sonst auf niemand blind verlassen könnte. Das machte ihn natürlich stolz, doch darauf hätte ja auch irgendein älterer, kluger und erfahrener Onkel und sogar der Baron stolz sein können, wenn er ein Mensch von tiefem Verstande und von Charakter gewesen wäre. Es blieb aber eine ungelöste Frage, ob das ein Symptom von Liebe war! Gesellte sich diesem Glauben an die Autorität ein wenig von dem berückenden Selbstbetrug, von jener schmeichelhaften Verblendung hinzu, bei der die Frau bereit ist, sich auf eine grausame Weise zu irren und durch diesen Irrtum glücklich zu sein? ... Nein, sie fügte sich ihm so bewußt. Es ist wahr, ihre Augen leuchteten, wenn er ihr irgendeinen Gedanken entwickelte oder seine Seele vor ihr bloßlegte; sie überflutete ihn mit den Strahlen ihres Blickes, aber man sah stets die Ursache. Und in der Liebe wird ein Verdienst blind und unbewußt anerkannt, und gerade in dieser Blindheit und Unbewegtheit liegt das Glück. Wenn sie gekränkt war, sah man gleich den Grund. Er ertappte sie nie auf einem plötzlichen Erröten, auf einer Freude oder Angst und fing niemals einen sehnsuchtsvollen oder flammenden Blick bei ihr auf, und wenn er irgend etwas Ähnliches zu erhaschen glaubte, wenn es ihm schien, ihr Gesicht hätte sich vor Schmerz verzerrt, als er ihr sagte, er würde nächstens nach Italien reisen, wenn sein Herz in diesen ihm teuren, seltenen Augenblicken zu erstarren und sich mit Blut zu füllen begann, verhüllte sich alles wieder in einen Schleier, und sie fügte naiv und offen hinzu: »Wie schade, daß ich mit Ihnen nicht hinreisen kann, ich hätte so große Lust! Sie werden mir aber alles erzählen und so wiedergeben, als ob ich selbst dort gewesen wäre.«

Und der Zauber wurde durch diesen offenen, vor ihm nicht verheimlichten Wunsch und durch dieses förmliche, banale Lob für sein Erzählertalent zerstört. Sowie er die kleinsten Züge gesammelt hatte, sowie es ihm gelungen war, das feine Gewebe fertigzustellen und ihm nur mehr irgendeine Masche fehlte, die er jetzt gleich haben würde ... wurde sie plötzlich wieder ruhig, gleichmäßig, einfach und manchmal sogar kalt. Sie saß mit ihrer Handarbeit schweigend da, hörte zu, indem sie ab und zu den Kopf hob und auf ihn so neugierige, fragende und sachliche Blicke richtete, daß er mehr als einmal ärgerlich das Buch fortwarf oder irgendeine Erklärung abbrach, aufsprang und fortging. Wenn er sich umwandte, begegnete er ihrem erstaunten Blick und kehrte um, nachdem er sich irgend etwas zu seiner Entschuldigung ausgedacht hatte. Sie hörte einfach zu und glaubte ihm. Sie hatte nicht einmal einen Zweifel oder ein schelmisches Lächeln. Liebt sie oder liebt sie nicht? Diese zwei Fragen wechselten in ihm immer ab. Wenn sie liebte, warum war sie dann so vorsichtig, so verschlossen? Wenn sie nicht liebte, warum war sie so freundlich und gehorsam? Er fuhr für eine Woche aus Paris nach London und teilte ihr das am Tage der Abreise mit, ohne ihr vorher etwas davon gesagt zu haben. Wenn sie plötzlich erschrocken wäre und die Farbe gewechselt hätte, dann wäre er seiner Sache sicher gewesen, das Geheimnis hätte vor ihm offen gelegen und er wäre glücklich gewesen! Sie drückte ihm aber fest die Hand und wurde traurig; er war verzweifelt.

»Ich werde mich schrecklich langweilen«, sagte sie, »ich möchte weinen, ich bin jetzt wie eine Waise. Ma tante, schauen Sie, Andrej Iwanowitsch verreist!« fügte sie weinerlich hinzu.

Er war ganz verstimmt.

Sie wendet sich sogar an die Tante! dachte er, das hatte noch gefehlt! Ich sehe, daß es ihr leid tut, daß sie mich vielleicht lieb hat ... Aber diese Liebe kann man wie Ware auf dem Markte, in soundso viel Zeit, für eine gewisse Aufmerksamkeit und Liebenswürdigkeit kaufen ... Ich kehre nicht zurück, dachte er düster. Ich danke schön, Oljga, dieses Mädchen, das mir sonst immer wie am Schnürchen folgte. Was ist mit ihr?

Er versenkte sich in tiefes Sinnen. Was war mit ihr? Ihm war das eine Detail unbekannt, daß sie schon einmal geliebt hatte und daß die Zeit, da man sich nicht beherrschen kann, da man plötzlich errötet, da man den Schmerz im Herzen schlecht verbergen kann, da man die fieberhaften Anzeichen der Liebe in ihrem ersten leidenschaftlichen Stadium äußert, für sie schon vorüber war. Wenn er das gewußt hätte, würde er sich, wenn nicht das Geheimnis, ob sie ihn liebte oder nicht, so doch wenigstens die Ursache, warum sie so schwer zu ergründen war, klargemacht haben.

In der Schweiz waren sie überall, wohin die Vergnügungsreisenden hinzukommen pflegen. Sie hielten sich aber am liebsten und häufigsten in den stillen Orten auf, die wenig besucht wurden. Sie (oder wenigstens Stolz) waren von ihren eigenen Angelegenheiten so in Anspruch genommen, daß das Reisen sie ermüdete und in den Hintergrund geschoben wurde. Er ging mit ihr auf die Berge, sah sich die Abstürze und Wasserfälle an, und sie war für ihn in jedem Rahmen der Mittelpunkt. Er folgte ihr über irgendeinen schmalen Pfad, während die Tante unten im Wagen saß; er beobachtete sie mit heimlicher Spannung, wenn sie stehenblieb, nachdem sie den Berg erklommen hatte, Atem holte und immer zuerst ihn anblickte; er hatte diese Überzeugung gewonnen. Das wäre sehr schön gewesen; ihm wurde dabei warm und wohl ums Herz, doch dann wandte sie sich plötzlich der Landschaft zu, erstarrte, vergaß sich in einem beschaulichen Hindämmern und sah ihn nicht mehr. Sowie er sich bewegte, ein Lebenszeichen von sich gab oder ein Wort sprach, erschrak sie und schrie manchmal auf; es war klar, daß sie vergessen hatte, ob er in der Nähe oder weit entfernt, ja, ob er überhaupt auf der Welt war. Aber dafür zu Hause, am Fenster, auf dem Balkon, sprach sie lange mit ihm allein, suchte lange aus ihrer Seele die empfangenen Eindrücke hervor, bis sie sich ganz ausgesprochen hatte; sie sprach eifrig und leidenschaftlich, unterbrach sich manchmal, suchte nach einem Wort und fing den von ihm vorgesagten Ausdruck im Fluge auf, und in ihrem Blick leuchtete ein Strahl von Dankbarkeit für die geleistete Hilfe. Oder sie setzte sich bleich vor Müdigkeit in einen großen Lehnstuhl, und nur ihre gierigen, unermüdlichen Augen sagten ihm, daß sie ihm zuhören wollte.

Sie hörte regungslos zu, ohne ein Wort oder eine Bewegung zu verlieren. Wenn er schwieg, hörte sie noch zu, die Augen fragten noch, und er beantwortete diese stumme Herausforderung mit neuer Kraft und neuer Begeisterung. Auch das wäre gut gewesen; es wurde ihm warm und wohl, und das Herz klopfte, sie lebte in seiner Anwesenheit auf und brauchte nichts mehr; hier war ihre Welt, in der ihr Verstand sich befriedigt fühlte. Und dann erhob sie sich plötzlich ermüdet, und dieselben Augen, die ihn soeben fragend angeblickt hatten, baten ihn fortzugehen, oder sie war hungrig, und das mit solchem Appetit ...

Das wäre alles sehr schön gewesen; er war kein Träumer; er wollte keine wilde Leidenschaft, wie auch Oblomow sie sich nicht gewünscht hatte, aber aus anderen Gründen. Er wollte aber doch, daß das Gefühl in einem ruhigen Geleise dahinfloß, nachdem es einmal an der Quelle heiß aufgewallt war, so daß man daraus schöpfen und sich berauschen könnte und das ganze Leben lang wüßte, wo diese Quelle des Glücks entsprungen war ... Liebt sie oder nicht? fragte er sich in qualvoller Aufregung, fast Blut schwitzend und weinend. Diese Frage brannte immer intensiver, umfing ihn wie eine Flamme und fesselte seine Vorsätze; das war die Hauptfrage nicht nur seiner Liebe, sondern auch seines Lebens. Er hatte jetzt für nichts anderes mehr Raum in seiner Seele. Er schien in diesem halben Jahre all die Qualen und Foltern der Liebe, denen er bei seinen Begegnungen mit Frauen so geschickt ausgewichen war, auf einmal zu erdulden. Er fühlte, auch sein gesunder Organismus würde nicht standhalten, wenn diese Spannung des Geistes, des Willens und der Nerven noch länger anhalten würde. Er hatte begriffen, was ihm bis dahin fremd war, wie die Kräfte in diesem dem Auge verborgenen Kampf der Seele mit der Leidenschaft erschöpft werden, wie das Herz von unheilbaren Wunden ohne Blut bedeckt wird, die aber Schmerz und Stöhnen verursachen, und wie das Leben davoneilt. Er hatte den selbstbewußten Glauben an seine Kraft ein wenig eingebüßt; er scherzte nicht mehr leichtsinnig, wenn man ihm erzählte, wie manche den Verstand verlieren und aus verschiedenen Gründen, unter anderem ... aus Liebe, dahinwelken. Es wurde ihm angst. »Nein, ich werde dem ein Ende machen«, sagte er, »ich werde ihr wie früher in die Seele blicken und werde morgen entweder glücklich sein oder verreisen! Meine Kraft ist zu Ende!« sprach er weiter, sich im Spiegel betrachtend. »Wie schaue ich denn aus ... Genug! ...« Er steuerte geradeaus auf sein Ziel los, das heißt, er ging zu Oljga.

Und was war mit Oljga? Bemerkte sie seinen Zustand nicht, oder hatte sie für ihn gar kein Gefühl? Es war ganz ausgeschlossen, daß sie es nicht bemerkte; auch Frauen, die weniger fein sind, verstehen es, die freundschaftliche Ergebenheit und Liebenswürdigkeit von der zarten Äußerung eines anderen Gefühles zu unterscheiden, wenn man ihre wahre, ungeheuchelte, ihr durch niemand beigebrachte innere Sittlichkeit begriffen hatte. Sie stand über dieser gemeinen Schwäche. Man konnte nur das eine voraussetzen, daß ihr diese immerwährende, von Geist und Leidenschaft erfüllte Anbetung eines solchen Menschen wie Stolz ohne irgendwelche praktische Pläne gefiel. Diese Anbetung richtete ihre verletzte Eitelkeit wieder auf und stellte sie nach und nach wieder auf das Piedestal, von dem sie herabgestiegen war; ihr Selbstbewußtsein stand wieder auf. Wie stellte sie sich die Sache aber vor, wie sollte diese Anbetung enden? Sie konnte sich doch nicht in diesem Kampf von Stolz' forschendem Verhalten ihrem beharrlichen Schweigen gegenüber äußern? Ahnte sie wenigstens, daß sein Kampf nicht vergeblich war, daß er die Sache, in die er so viel Wollen und Charakter hineingelegt hatte, nicht verlieren würde? Verschwendete er vergeblich dieses Feuer? Wird das Bild Oblomows und jener Liebe in den Strahlen dieses Feuers untergehen? ... Sie begriff das alles nicht, war sich dessen nicht klar bewußt und kämpfte verzweifelt mit diesen Fragen und mit sich selbst, und wußte nicht, wie sie sich von diesem Chaos befreien und was sie beginnen sollte. Es war unmöglich, in diesem ungewissen Zustand länger zu verharren; es würde einmal der Zeitpunkt kommen, wo dieses stumme Spiel und dieser Kampf der in der Brust eingeschlossenen Gefühle in Worte übergehen würde – was würde sie ihm dann über die Vergangenheit sagen und wie sie nennen, und wie würde sie das, was sie für Stolz fühlte, in Worte kleiden? Wenn sie Stolz liebte, was war dann die andere Liebe gewesen? – Koketterie, Leichtsinn ... oder etwas noch Ärgeres? Sie erglühte bei diesem Gedanken vor Scham. Sie würde eine solche Klage nicht gegen sich erheben. Wenn jenes Gefühl aber die reine erste Liebe gewesen war, was war dann ihr Verhalten Stolz gegenüber? – Wieder eine Intrige, Betrug, eine schlaue Spekulation, um ihn zum Heiraten zu bringen und dadurch den Leichtsinn ihres Betragens zu verbergen? ... Dieser Gedanke machte sie zusammenfahren und erbleichen. Wenn es aber keine Intrige, kein Betrug und keine Spekulation war – dann ... war es wieder Liebe? Das verwirrte sie; eine zweite Liebe sieben, acht Monate nach der ersten! Wer würde ihr das glauben? Wie durfte sie das nur erwähnen, ohne Staunen und vielleicht ... Verachtung hervorzurufen! Sie wagte es nicht und hatte kein Recht, daran zu denken! Sie kramte ihre Erfahrungen durch; sie fand darin nichts, was auf eine zweite Liebe Bezug hatte. Sie erinnerte sich an die Aussprüche verschiedener Tanten, alter Jungfrauen, kluger Köpfe und endlich der Schriftsteller, »der Philosophen der Liebe« – und hörte von allen Seiten das unerbittliche Urteil: »Das Weib liebt nur einmal wahrhaft.« Auch Oblomow hatte dieselbe Ansicht geäußert. Sie dachte an Sonitschka und daran, wie diese sich wohl dieser zweiten Liebe gegenüber verhalten würde, und hörte, daß diese bereits zu einer dritten übergegangen war ... Nein, nein, sie empfand Stolz gegenüber keine Liebe, entschied sie bei sich, das konnte nicht sein! Sie hatte Oblomow geliebt, und diese Liebe war gestorben, die Blüte ihres Lebens war für immer verwelkt! Sie empfand für Stolz nur Freundschaft, die durch seine wertvollen Eigenschaften und dann auch durch seine Freundschaft für sie hervorgerufen wurde und gegenseitige Aufmerksamkeit und gegenseitiges Vertrauen zur Folge hatte ... So stieß sie den Gedanken an die Möglichkeit der Liebe ihrem alten Freund gegenüber von sich.

Das war der Grund, warum Stolz in ihrem Gesicht und in ihren Worten weder ein Zeichen von vollkommener Gleichgültigkeit, noch einen aufflammenden Blitz, noch selbst einen Funken von Gefühl erhaschen konnte, das auch nur um ein Haar die Grenzen einer warmen, herzlichen, aber aussichtslosen Freundschaft überschritten hätte. Ihr blieb, um dem allem ein Ende zu machen, nichts übrig, als, nachdem sie die Anzeichen einer aufkeimenden Liebe in Stolz wahrgenommen hatte, ihr weder Nahrung noch Spielraum zu lassen und schnell zu verreisen. Doch sie hatte den rechten Zeitpunkt schon verfehlt; das war längst geschehen, außerdem hätte sie voraussehen sollen, daß das Gefühl sich in ihm zur Leidenschaft steigern würde; das war auch nicht Oblomow; sie konnte ihm nicht entfliehen. Es wäre vielleicht physisch möglich gewesen, aber moralisch war die Abreise für sie unmöglich; bisher hatte sie nur von den früheren Rechten der Freundschaft Gebrauch gemacht und in Stolz wie bisher bald einen launigen, spöttischen Gesellschafter, bald einen klugen, tiefen Beobachter der Lebenserscheinungen gefunden – alles dessen, was mit ihnen geschah oder an ihnen vorüberhuschte und ihr Interesse hervorrief. Doch je öfter sie zusammenkamen, desto mehr näherten sie sich geistig einander, und desto mehr steigerte sich seine Bedeutung für sie; er vertauschte die Rolle eines Beobachters unmerklich mit derjenigen des Deuters der Lebenserscheinungen und ihres Leiters. Er wurde unsichtbar zu ihrem Verstande und ihrem Gewissen, und es entstanden neue Rechte und neue Bande, die Oljgas ganzes Leben umstrickten, alles außer einem geheimen Winkel, den sie sorgsam vor seinen Augen und seinem Urteil verbarg. Sie nahm diese geistige Bevormundung ihres Verstandes und Herzens und sah, daß auch sie einen gewissen Einfluß auf ihn ausübte. Sie hatten ihre Rechte ausgetauscht; sie hatte diesen Austausch schweigend und ohne sich darüber zu äußern angenommen. Wie sollte sie jetzt plötzlich alles zurückfordern? ... Und außerdem war darin ... so viel Vergnügen, Abwechslung und Inhalt ... des Lebens enthalten ... Was würde sie tun, wenn das alles plötzlich nicht mehr da wäre? Und als ihr der Gedanke zu fliehen kam, war es schon zu spät, sie hatte nicht mehr die Kraft, es zu tun. Jeder Tag, den sie ohne ihn verbrachte, jeder Gedanke, den sie ihm nicht anvertraut und nicht mit ihm geteilt hatte, verlor für sie jeden Reiz und jede Bedeutung. Mein Gott, wenn ich seine Schwester sein könnte! dachte sie. Welch ein Glück, auf einen solchen Menschen stete Rechte zu haben und nicht nur seinen Verstand, sondern auch sein Herz, seine Anwesenheit offen und frei genießen zu können, ohne es mit irgendwelchen schweren Opfern, Kränkungen und mit dem Anvertrauen einer kläglichen Vergangenheit zu erkaufen.

Und was bin ich jetzt? Wenn er verreist, habe ich nicht nur kein Recht, ihn zurückzuhalten, sondern muß die Trennung wünschen, und wenn ich ihn zurückhalten wollte, was müßte ich ihm sagen, mit welchem Rechte will ich ihn jeden Augenblick sehen und sprechen hören? ... Weil ich mich sonst langweile und sehne, weil er mich belehrt und amüsiert, weil er mir nützlich und angenehm ist ... Das ist natürlich ein Grund, aber kein Recht. Und was biete ich ihm dagegen? Das Recht, mich selbstlos zu bewundern und an Gegenliebe nicht einmal denken zu dürfen, während so viele andere Frauen sich glücklich schätzen würden ... Sie quälte sich und grübelte, wie sie sich von diesen Dilemmas des Lebens befreien könnte, und sah weder ein Ziel noch ein Ende. Vor ihr war nur die Furcht vor seiner Enttäuschung, vor der ewigen Trennung. Manchmal dachte sie daran, ihm alles zu entdecken, um ihren und seinen Kampf auf einen Schlag zu beenden, aber sie hatte nicht den Mut, sowie sie daran dachte. Sie schämte sich, und es war ihr weh ums Herz. Am seltsamsten war der Umstand, daß sie ihre Vergangenheit zu achten aufhörte und sich ihrer zu schämen begann, seit sie mit Stolz unzertrennlich war und seit er sich ihres Lebens bemächtigt hatte. Wenn zum Beispiel der Baron oder jemand anderes es erfahren hätte, wäre sie gewiß verlegen geworden und hätte sich unbehaglich gefühlt, doch sie hätte sich nicht so gequält, wie sie sich jetzt beim Gedanken daran, daß Stolz es erfahren könnte, quälte.

Sie dachte mit Entsetzen daran, was sein Gesicht ausdrücken würde, wie er sie anblicken, was er sagen und was er dann denken würde? – Sie würde ihm plötzlich so nichtig, schwach und klein erscheinen. Nein, nein, um nichts in der Welt! Sie begann sich zu beobachten und entdeckte zu ihrem Entsetzen, daß sie sich nicht nur ihres vergangenen Romans, sondern auch dessen Helden schämte ... Dabei quälte sie auch die Reue, weil sie für die tiefe Ergebenheit ihres früheren Freundes undankbar war. Vielleicht hätte sie sich auch an ihre Scham gewöhnt; woran gewöhnt sich denn der Mensch nicht! Wenn ihre Freundschaft für Stolz aller eigennütziger Gedanken und Wünsche bar gewesen wäre. Doch wenn es ihr sogar gelang, jedes verführerische, schmeichelnde Flüstern des Herzens zu betäuben, war sie den Träumen ihrer Phantasie gegenüber machtlos. Oft erschien vor ihren Augen, gegen ihren Wunsch, und leuchtete das Bild jener anderen Liebe, der Traum von einem reichen Glück, nicht mit Oblomow, nicht in trägem Hindämmern, sondern auf dem geräumigen Schauplatz eines vielseitigen Lebens, mit all seiner Tiefe, mit allen Reizen und mit allem Leid.

Der Traum vom Glück mit Stolz wuchs immer mehr in ihr! ... Da begann sie ihre Vergangenheit mit Tränen zu netzen, konnte sie aber nicht reinwaschen. Sie suchte ihren Traum zu verscheuchen und versteckte sich noch mehr hinter der Mauer von Undurchdringlichkeit, von Schweigen und von jener freundschaftlichen Gleichgültigkeit, die Stolz quälte. Dann vergaß sie sich und ließ sich ganz selbstlos durch die Anwesenheit des Freundes hinreißen, war bezaubernd, liebenswürdig und zutraulich, bis der unrechtmäßige Traum von Glück, auf das sie alle Rechte verloren hatte, sie daran erinnerte, daß die Zukunft für sie verloren war, daß die rosigen Träume schon hinter ihr lagen, daß die Blüte ihres Lebens abgefallen war.

Mit den Jahren hätte sie es gewiß dazu gebracht, sich mit ihrer Lage zu versöhnen, sie hätte den Hoffnungen auf die Zukunft entsagt, wie es alle alten Jungfrauen tun, und würde sich in eine kalte Apathie versenken oder sich mit Wohltätigkeit befassen; aber ihr unberechtigter Traum nahm eine drohendere Gestalt an, als sie aus einigen Worten, die Stolz entschlüpft waren, deutlich sah, daß sie in ihm einen Freund verlor und einen feurigen Anbeter gewann. Die Freundschaft war in der Liebe untergegangen. Sie war an jenem Morgen, als sie es entdeckt hatte, bleich, ging den ganzen Tag nicht aus, war aufgeregt, kämpfte gegen das Glück und Entsetzen an, dachte darüber nach, was sie jetzt tun sollte und welche Pflicht ihr oblag – und ihr fiel nichts ein. Sie fluchte sich nur, weil sie ihre Scham nicht früher bekämpft und Stolz ihre Vergangenheit nicht früher entdeckt hatte; jetzt mußte sie außerdem noch ihr Entsetzen bekämpfen. Sie hatte auch Anfälle von Entschlossenheit, wenn in ihrer Brust alles schmerzte und darin Tränen aufstiegen, wenn sie zu ihm hinstürzen und ihm nicht mit Worten, sondern mit Tränen, Schluchzen und Ohnmachtsanfällen von ihrer Liebe erzählen wollte, damit er auch die Buße sah. Doch sie besaß die Kraft nicht. Wo sollte sie sie hernehmen? Oder sollte sie in diesem Falle wie die anderen handeln? Sonitschka zum Beispiel sagte ihrem Bräutigam, sie hätte den Fähnrich zum besten gehalten, er wäre ein grüner Junge, sie hätte ihn absichtlich im Froste warten lassen, bis sie in den Wagen stieg usw.

Sonitschka würde nicht gezögert haben, auch von Oblomow zu erzählen, das sei nur ein Scherz gewesen, um sie zu zerstreuen, er sei ja so komisch, könnte man denn einen solchen »Mehlsack« lieben, das würde ja niemand für möglich halten! Doch ein solches Betragen könnte nur von Sonitschkas Mann und von vielen anderen gerechtfertigt werden, aber nicht von Stolz. Oljga hätte die Sache auch noch plausibler darstellen und sagen können, sie hätte Oblomow nur aus dem Abgrund herausziehen wollen und hätte dabei eine sozusagen freundschaftliche Koketterie angewandt, um einen versumpfenden Menschen zu beleben und dann von ihm fortzugehen. Doch das wäre zu sehr gesucht, bei den Haaren herangezogen und jedenfalls falsch gewesen. Nein, es gab keine Rettung! O Gott, in welchen Sumpf bin ich hineingeraten! peinigte sie sich. Es ihm entdecken ...! Ach nein! Er soll es lange Zeit nicht, am liebsten niemals erfahren! Wenn ich es ihm aber nicht entdecke, ist es wie Diebstahl. Das sieht dann wie Betrug, wie Beschönigung aus. O Gott, hilf mir! ...

Sie fand aber keine Hilfe. So sehr sie Stolz' Anwesenheit auch genoß, wünschte sie doch manchmal, ihm nicht mehr zu begegnen, als ein kaum merklicher Schatten durch sein Leben zu huschen und sein klares, vernünftiges Dasein nicht durch eine sinnlose Leidenschaft zu verdüstern. Sie hätte vielleicht eine Zeitlang über ihre unglückliche Liebe getrauert, hätte die Vergangenheit beweint und die Erinnerung daran in ihrem Herzen begraben und dann ... dann würde sie vielleicht eine »gute Partie« finden, wie es viele gibt, und sie wäre eine gute, verständige, pflichttreue Frau und Mutter geworden, die Vergangenheit würde ihr jetzt als eine Phantasterei ihrer Mädchenjahre erscheinen, und sie würde nicht leben, sondern das Leben erdulden. Alle machen es ja so! Aber hier handelte es sich nicht um sie allein, hier war noch ein anderer mit im Spiel, und dieser andere richtete seine schönsten Hoffnungen, die das Endziel seines Lebens sein sollten, auf sie. Warum ... habe ich geliebt? quälte sie sich in ihrer Verzweiflung und dachte an den Morgen im Park, als Oblomow fliehen wollte, und sie dachte, das Buch ihres Lebens würde sich für immer verschließen, wenn er es tat. Sie hatte die Fragen der Liebe und des Lebens so kühn und leicht gelöst, alles erschien ihr so klar, und nun hatte sich alles zu einem unentwirrbaren Knoten verwickelt! Sie hatte sich für weise gehalten und hatte geglaubt, man müßte alles nur einfach anschauen und geradeaus schreiten, und das Leben würde sich gehorsam wie ein Tuch vor ihren Füßen ausbreiten, und jetzt! Sie konnte die Schuld auch niemand anderem zuschieben; nur sie allein war schuldig.

Oljga ahnte nicht, weshalb Stolz gekommen war, erhob sich sorglos vom Sofa, legte das Buch fort und ging auf ihn zu.

»Störe ich Sie nicht?« fragte er, sich in ihrem Zimmer, das nach dem See hinausging, ans Fenster setzend. »Haben Sie gelesen?«

»Nein, ich habe schon zu lesen aufgehört. Es wird dunkel. Ich habe auf Sie gewartet!« sagte sie weich, freundschaftlich und zutraulich.

»Um so besser; ich muß mit Ihnen sprechen!« bemerkte er ernst, ihr einen Sessel ans Fenster schiebend.

Sie fuhr zusammen und blieb erstarrt stehen. Dann ließ sie sich mechanisch auf den Sessel nieder und saß mit gesenktem Kopfe und ohne die Augen zu erheben, in einem schrecklichen Zustand da. Sie wünschte sich jetzt hundert Werst von diesem Orte fort. In diesem Augenblick glitt die Vergangenheit wie ein Blitz durch ihr Gedächtnis. »Das Gericht beginnt! Man darf mit dem Leben nicht wie mit Puppen spielen!« hörte sie eine Stimme. »Scherze damit nicht, sonst mußt du es büßen!« Sie schwiegen einige Minuten lang. Er sammelte merklich seine Gedanken. Oljga betrachtete ängstlich sein abgemagertes Gesicht, die gefurchten Brauen, die mit dem Ausdruck von Entschlossenheit aufeinandergepreßten Lippen. Nemesis! dachte sie, innerlich erbebend. Beide bereiteten sich wie zu einem Zweikampf vor.

»Oljga Sjergejewna. Sie erraten gewiß, wovon ich sprechen will!« sagte er und blickte sie fragend an.

Er saß an einer Zwischenwand, die sein Gesicht verdeckte, während das Licht voll auf sie fiel, so daß er von ihren Zügen ablesen konnte, was in ihr vorging.

»Wie kann ich es wissen? ...« antwortete sie leise.

Diesem gefährlichen Gegner gegenüber äußerte sie weder jene Willenskraft noch jenen Charakter, weder den Scharfsinn noch die Selbstbeherrschung, mit denen gewaffnet sie immer vor Oblomow erschienen war. Sie begriff, daß, wenn sie sich bis dahin vor Stolz' forschendem Blick verbergen und den Kampf glücklich führen konnte, sie das durchaus nicht ihrer Kraft, wie in den Beziehungen zu Oblomow, sondern nur dem beharrlichen Schweigen von Stolz und seinem zurückhaltenden Benehmen verdankte. Doch in offenem Felde war der Vorteil nicht auf ihrer Seite, und darum wollte sie durch die Frage: »Wie kann ich es wissen?« einen Zoll Raum und eine Minute Zeit gewinnen, während der Feind seinen Plan deutlicher äußerte.

»Sie wissen es nicht?« fragte er einfach. »Also gut, ich werde es sagen.«

»Ach nein!« entschlüpfte es ihr plötzlich.

Sie ergriff seine Hand und blickte ihn an, als bäte sie um Gnade.

»Sehen Sie, ich habe es erraten, daß Sie es wissen!« sagte er. »Warum denn ›nein‹?« fügte er dann traurig hinzu.

Sie schwieg.

»Wenn Sie vorausgesehen haben, daß ich mich jemals aussprechen werde, haben Sie ja auch sicher gewußt, was Sie mir antworten werden?« fragte er.

»Ich sah es voraus und habe mich gequält!« sagte sie, sich in den Sessel zurücklehnend, sich vom Licht abwendend und im Geiste die Dämmerung anrufend, ihr zu Hilfe zu kommen, damit er nicht den Kampf der Verlegenheit und der Traurigkeit auf ihrem Gesichte sah.

»Gequält! Das ist ein furchtbares Wort«, sagte er fast flüsternd, »das erinnert an Dante: ›Laßt, die ihr eingeht, jede Hoffnung schwinden.‹ Dann habe ich nichts mehr zu sagen. Das ist alles! Ich danke Ihnen aber auch dafür«, fügte er mit einem tiefen Seufzer hinzu, »ich komme aus dem Chaos, aus dem Dunkel heraus und weiß wenigstens, was ich zu tun habe. Es gibt nur eine Rettung – schnell zu fliehen!«

Er erhob sich.

»Nein, um Gottes willen, nein!« begann sie ängstlich und flehentlich zu ihm stürzend und wieder seine Hand ergreifend, »haben Sie Erbarmen mit mir; was wird dann mit mir sein?«

Er setzte sich und sie auch.

»Aber ich liebe Sie, Oljga Sjergejewna«, sagte er fast barsch. »Sie haben gesehen, was mit mir in diesem halben Jahr vorgegangen ist! Was wollen Sie denn; vollen Triumph? Daß ich verkomme und wahnsinnig werde? Ich danke ergebenst!«

Sie wechselte die Farbe.

»Gehen Sie!« sagte sie voll Würde, unterdrücktem Schmerz und tiefer Traurigkeit, die sie nicht verbergen konnte.

»Verzeihung, ich bin Ihnen gegenüber schuldig!« bat er sie. »Wir haben uns gezankt, bevor wir uns noch irgend etwas klar gemacht haben. Ich weiß, daß Sie das nicht wollen können, Sie können sich aber auch nicht in meine Lage versetzten, und darum erscheint Ihnen mein Wunsch, zu fliehen, seltsam. Der Mensch wird manchmal unbewußt zum Egoisten.«

Sie änderte die Stellung auf dem Sessel, als ob sie unbequem säße, sagte aber nichts.

»Nun, und wenn ich dableibe, was kommt dabei heraus?« fuhr er fort. »Sie werden mir natürlich Ihre Freundschaft anbieten, die ich aber ja auch ohnehin besitze. Wenn ich verreise, wird sie mir auch in einem Jahr und in zwei Jahren sicher sein. Die Freundschaft ist etwas sehr Schönes, Oljga Sjergejewna, wenn sie zwischen jungen Männern und Frauen Liebe heißt oder zwischen alten Leuten Erinnerung an Liebe ist. Aber Gott behüte uns davor, daß sie von der einen Seite Freundschaft und von der anderen Liebe sei. Ich weiß, daß Sie sich in meiner Gesellschaft nicht langweilen, was empfinde aber ich, wenn ich mit Ihnen zusammen bin?«

»Ja, wenn es so ist, dann verreisen Sie in Gottes Namen!« flüsterte sie kaum hörbar.

»Dableiben!« überlegte er sich laut. »Auf der Klinge eines Messers stehen, das ist eine schöne Freundschaft!«

»Und geht es mir denn besser?« entgegnete sie unerwartet.

»Ihnen?« fragte er lebhaft. »Sie ... Sie lieben ja nicht ...«

»Ich weiß nicht, ich schwöre es, ich weiß nicht! Aber wenn Sie ... wenn mein gegenwärtiges Leben sich irgendwie verändert, was geschieht dann mit mir?« fügte sie traurig, fast flüsternd hinzu.

»Wie soll ich das verstehen? Erklären Sie es mir, um Gottes willen!« sagte er, den Sessel an sie heranschiebend, durch ihre Worte und den innerlichen, wahrhaften Ton, in welchem sie gesprochen wurden, betroffen.

Er bemühte sich, ihr Gesicht zu sehen. Sie schwieg. In ihr brannte der Wunsch, ihn zu beruhigen, das Wort »gequält« ungesagt zu machen oder es anders zu erklären, als er es aufgefaßt hatte; sie wußte aber selbst nicht, wie sie das beginnen sollte, sie fühlte nur dunkel, daß sie sich beide unter dem Druck eines verhängnisvollen Mißverständnisses in falscher Lage befanden, daß sie beide darunter litten, daß nur er oder sie mit seiner Hilfe in die Vergangenheit und die Gegenwart Ordnung und Klarheit bringen konnte. Aber dann müßte man den Abgrund überschreiten und ihm eröffnen, was sie erlebt hatte; wie wünschte und wie fürchtete sie sein Urteil!

»Ich verstehe selbst nichts; ich befinde mich noch mehr als Sie im Chaos und Dunkel!« sagte sie.

»Sagen Sie, glauben Sie mir?« fragte er, ihre Hand ergreifend.

»Grenzenlos, wie einer Mutter – das wissen Sie«, antwortete sie leise.

»Erzählen Sie mir doch, was mit Ihnen seit unserer Trennung vorgegangen ist. Sie sind jetzt für mich undurchdringlich, und früher habe ich Ihre Gedanken von Ihrem Gesicht abgelesen; ich glaube, daß es das einzige Mittel ist, damit wir einander verstehen. Sind Sie mit mir einverstanden?«

»Ach ja, das ist unvermeidlich ... Man muß irgendwie ein Ende machen ...« sprach sie bange, das nahe Geständnis voraussehend. Nemesis! Nemesis! dachte sie, den Kopf auf die Brust herabsenkend.

Sie blickte zu Boden und schwieg. Und ihm hatten diese einfachen Worte und noch mehr ihr Schweigen Entsetzen eingeflößt.

Sie quält sich! O Gott! Was war mit ihr? dachte er mit kaltem Schweiß auf der Stirn und fühlte, daß ihm die Hände und Füße zitterten. Er stellte sich etwas sehr Furchtbares vor. Sie schwieg immer noch und kämpfte sichtlich mit sich.

»Also ... Oljga Sjergejewna ...« trieb er sie zur Eile an.

Sie schwieg und machte eine nervöse Bewegung, die man im Dunkel nicht unterscheiden konnte, man hörte nur ihr seidenes Kleid knistern.

»Ich sammle Mut«, sagte sie endlich. »Wenn Sie wüßten, wie schwer das ist!« fügte sie dann hinzu, sich zur Seite abwendend und den Kampf zu Ende zu führen bemüht.

Sie wünschte, Stolz möchte das Ganze nicht aus ihrem Mund, sondern durch ein Wunder erfahren. Zum Glück dunkelte es schon, und ihr Gesicht war schon im Schatten; nur die Stimme konnte sie verraten, und die Worte wollten ihr nicht von der Zunge, als wüßte sie nicht recht, in welchem Ton sie beginnen sollte. Mein Gott! Wie schuldig ich sein muß, wenn ich mich so schäme und es mir so weh ums Herz ist! peinigte sie sich innerlich.

Und war es denn lange her, daß sie so selbstbewußt ihr eigenes und ein fremdes Schicksal gelenkt hatte und so klug und stark war? Und jetzt war an sie die Reihe gekommen, wie ein kleines Mädchen zu zittern! Scham über die Vergangenheit, die Qual der verletzten Eitelkeit in der Gegenwart und die ganze falsche Stellung peinigte sie ... Es war unerträglich!

»Ich werde Ihnen helfen ... Sie ... haben geliebt ...« sagte Stolz mit Mühe, so weh taten ihm die eigenen Worte.

Sie bestätigte seine Annahme durch ein Schweigen. Und ihn wehte Entsetzen an.

»Wen denn? Ist das ein Geheimnis?« fragte er, bemüht, mit fester Stimme zu sprechen, fühlte aber, daß ihm die Lippen zitterten.

Und sie quälte sich noch mehr! Sie wollte einen anderen Namen nennen und eine andere Geschichte erzählen. Sie schwankte einen Augenblick lang, es war aber nichts zu machen; sie sagte plötzlich, wie ein Mensch, der sich im Augenblick der höchsten Gefahr vom steilen Ufer oder in die Flammen stürzt: »Oblomow.«

Er erstarrte. Ein paar Minuten lang hielt das Schweigen an.

»Oblomow!« wiederholte er erstaunt, »das ist nicht wahr!« fügte er dann überzeugt mit gesenkter Stimme hinzu.

»Es ist wahr!« sagte sie ruhig.

»Oblomow!« wiederholte er nochmals. »Das ist unmöglich!« sagte er dann. »Da stimmt etwas nicht: Sie haben sich, Oblomow oder endlich die Liebe selbst nicht begriffen.«

Sie schwieg.

»Das ist keine Liebe, das ist etwas anderes, sage ich!« wiederholte er beharrlich.

»Ja, ich habe mit ihm kokettiert, habe ihn an der Nase herumgeführt und unglücklich gemacht ... und jetzt nehme ich, Ihrer Meinung nach, Sie in Angriff?« sagte sie mit zurückgehaltener Stimme, in der wieder Tränen der Kränkung erklangen.

»Liebe Oljga Sjergejewna! Seien Sie nicht böse und sprechen Sie nicht so; das ist nicht Ihre Art. Sie wissen, daß ich das alles nicht denke. Aber ich kann es mir nicht vorstellen, ich begreife nicht, wie Oblomow ...«

»Er ist doch aber Ihrer Freundschaft würdig; Sie wissen nicht, wie hoch Sie ihn schätzen sollen. Warum ist er denn der Liebe nicht wert?« verteidigte sie ihn.

»Ich weiß, daß die Liebe weniger anspruchsvoll ist als die Freundschaft«, sagte er, »sie ist manchmal sogar blind, und man liebt nicht der Verdienste wegen – das stimmt alles. Aber für die Liebe ist etwas anderes, sind manchmal Kleinigkeiten notwendig, etwas, das weder zu bestimmen noch zu nennen ist und das mein unvergleichlicher, aber plumper Ilja nicht besitzt. Deshalb wundere ich mich. Hören Sie«, fuhr er lebhaft fort, »wir werden so niemals ans Ziel gelangen und einander verstehen. Schämen Sie sich nicht der Einzelheiten, schonen Sie sich eine halbe Stunde lang nicht, erzählen Sie mir alles, und ich werde Ihnen sagen, was es war und vielleicht auch, was sein wird ... Mir scheint immer, daß es nicht das Richtige war ... Ach, wenn es so wäre!« fügte er eifrig hinzu. »Wenn es Oblomow und kein anderer war! Oblomow! Das bedeutet ja, daß Sie nicht der Vergangenheit und nicht der Liebe angehören, sondern daß Sie frei sind ... Erzählen Sie, erzählen Sie schnell!« schloß er mit ruhiger, fast fröhlicher Stimme.

»Ja, ich werde erzählen!« antwortete sie vertrauend und erfreut, daß man ihr einen Teil der Ketten abgenommen hatte. »Ich werde allein wahnsinnig. Wenn Sie wüßten, wie elend mir ist! Ich weiß nicht, ob ich schuldig bin oder nicht, ob ich mich der Vergangenheit schämen oder sie bedauern soll, ob ich auf die Zukunft hoffen oder verzweifeln soll ... Sie haben von Ihren Qualen gesprochen, ohne die meinigen zu ahnen. Hören Sie mir bis zu Ende zu, aber nicht mit dem Verstand; ich fürchte ihren Verstand; lieber mit dem Herzen, vielleicht wird es Sie daran erinnern, daß ich keine Mutter habe, daß ich wie im Walde war ...« fügte sie leise, mit gesenkter Stimme hinzu. »Nein«, verbesserte sie sich eilig, »schonen Sie mich nicht. Wenn es Liebe war, dann ... verreisen Sie ...« Sie schwieg eine Weile. »Und kommen Sie wieder, wenn in Ihnen nur die Freundschaft sprechen wird. Wenn es aber nur Leichtsinn und Koketterie war, dann richten Sie mich, fliehen Sie und vergessen Sie mich! Hören Sie.«

Er drückte ihr statt einer Antwort beide Hände.

Jetzt begann Oljgas lange, genaue Beichte. Sie versetzte deutlich, Wort für Wort alles das, was so lange an ihr genagt hatte, wovor sie errötete, was sie früher gerührt und glücklich gemacht hatte, und dann in den Sumpf des Leidens und der Zweifel zu versinken, aus ihrem Hirn in ein fremdes.

Sie erzählte von den Spaziergängen, vom Park, von ihren Hoffnungen, von Oblomows Klärung und Fall, vom Fliederzweig, sogar vom Kuß. Sie überging nur den schwülen Abend im Garten mit Schweigen – wahrscheinlich deshalb, weil sie sich noch nicht darüber klar war, welch einen Anfall sie damals gehabt hatte.

Zuerst hörte man nur ihr verlegenes Flüstern, aber in dem Maße, als sie sprach, wurde ihre Stimme deutlicher und freier; sie ging vom Flüstern in halblautes Sprechen über und erhob sich dann bis zu den vollen Brusttönen. Sie schloß ruhig, als hätte sie fremde Erlebnisse erzählt. Vor ihr selbst sank ein Schleier herab, vor ihr stand deutlich die Vergangenheit, die sie bis zu diesem Augenblicke genau zu betrachten gefürchtet hatte. Ihr eröffnete sich jetzt vieles, und sie hätte ihren Freund dreist angeblickt, wenn es nicht dunkel gewesen wäre ... Sie war zu Ende und wartete sein Urteil ab. Die Antwort war aber Todesschweigen. Was hat er? Man hört kein Wort, keine Bewegung, nicht einmal einen Atemzug, als ob niemand neben ihr wäre. Dieses stumme Verhalten rief in ihr wieder Zweifel hervor. Das Schweigen dauerte fort. Was bedeutete es? Welches Urteil hatte sie vom scharfsinnigsten, nachsichtigsten Richter der ganzen Welt zu erwarten? Alle anderen würden sie erbarmungslos verurteilen, nur er allein konnte ihr Rechtsanwalt sein, sie hätte ihn dazu erwählt ... er würde alles begreifen, erwägen und besser als sie selbst zu ihrem Besten deuten! Er schwieg aber; war denn ihre Sache verloren? ... Ihr wurde wieder angst ...

Die Tür öffnete sich, und die beiden Kerzen, die von dem Stubenmädchen hereingebracht wurden, beleuchteten ihre Ecke.

Sie wandte ihm einen schüchternen, aber gierigen und fragenden Blick zu. Er hatte die Hände gekreuzt, blickte sie mit sanften, offenen Augen an und weidete sich an ihrer Verlegenheit. Sie atmete auf, und es wurde ihr warm ums Herz. Sie seufzte beruhigt und hätte fast geweint. Zu ihr kehrte augenblicklich die Nachsicht mit sich und das Vertrauen ihm gegenüber zurück. Sie war glücklich wie ein Kind, dem man verziehen, das man beruhigt und liebkost hatte.

»Ist das alles?« fragte er leise.

»Alles!« sagte sie.

»Und wo ist sein Brief?«

Sie nahm den Brief aus der Mappe heraus und reichte ihn ihm. Er trat ans Licht, las ihn und legte ihn auf den Tisch. Und seine Augen wandten sich ihr wieder mit dem Ausdruck zu, den sie bei ihm schon lange nicht beobachtet hatte. Vor ihr stand ihr selbstbewußter, ein wenig spöttischer und grenzenlos gütiger Freund von früher, der sie stets verzogen hatte. Auf seinem Gesicht war kein Schatten von Leiden und Zweifeln. Er ergriff ihre beiden Hände, küßte bald die eine, bald die andere und versank dann in tiefes Sinnen. Auch sie wurde still und beobachtete starr den Widerschein des Denkens auf seinem Gesicht.

Plötzlich erhob er sich.

»Mein Gott, würde ich mich denn so quälen, wenn ich wüßte, daß es sich um Oblomow handelt!« sagte er, sie so freundlich und zutraulich anblickend, als ob sie keine schreckliche Vergangenheit hinter sich hätte. Ihr wurde froh und festlich zumute. Sie wurde sich darüber klar, daß sie sich vor ihm allein geschämt hatte; er richtete sie aber nicht und floh nicht! Was ging sie das Urteil der ganzen Welt an?

Er beherrschte sich wieder und war froh; doch das genügte ihr nicht. Sie sah, daß sie freigesprochen war; doch sie wollte wie eine Angeklagte ihr Urteil wissen. Er griff aber nach dem Hut.

»Wohin?« fragte sie.

»Sie sind aufgeregt, ruhen Sie aus«, sagte er. »Wir sprechen morgen weiter.«

»Sie wollen, daß ich die ganze Nacht nicht schlafe!« unterbrach sie ihn, seine Hand ergreifend und ihn zum Sitzen einladend. »Sie wollen gehen, ohne mir zu sagen, was es ... war, was ich jetzt bin und was ich sein werde? Andrej Iwanowitsch, haben Sie Mitleid mit mir; wer wird es mir sonst sagen? Wer wird mich bestrafen, wenn ich es verdient habe, oder ... wer verzeiht mir? ...« fügte sie hinzu und blickte ihn mit so zärtlicher Freundschaft an, daß er den Hut fortwarf und vor ihr fast niedergekniet wäre.

»Sie Engel, erlauben Sie, daß ich mein Engel sage. Quälen Sie sich nicht unnütz; man braucht Sie weder zu richten noch zu begnadigen. Ich habe zu Ihrem Bericht nichts mehr hinzuzufügen. Was für Zweifel können Sie hegen? Sie wollen wissen, was das war, wie das heißt? Sie wissen es längst ... Wo ist Oblomows Brief?« Er nahm den Brief vom Tisch.

»Hören Sie zu!« Er las: »Ihr gegenwärtiges ›Ich liebe‹ ist nicht gegenwärtige, sondern zukünftige Liebe. Das ist nur das unbewußte Verlangen, zu lieben, das sich in Ermangelung von echter Nahrung bei Frauen manchmal im Liebkosen eines Kindes, einer anderen Frau oder einfach in Tränen und in hysterischen Anfällen äußert ... Sie haben sich geirrt« (las Stolz, dieses Wort betonend). »Vor Ihnen steht nicht derjenige, den Sie erwartet, von dem Sie geträumt haben. Warten Sie – er wird kommen, und dann werden Sie erwachen und sich über Ihren Irrtum ärgern und schämen ...«

»Sehen Sie, wie wahr das ist!« sagte er. »Sie haben sich über Ihren ... Irrtum geschämt und geärgert. Man kann nichts mehr hinzufügen. Er hat recht gehabt, und Sie haben ihm nicht geglaubt, das ist Ihre Schuld. Sie hätten sich damals gleich trennen sollen; doch Ihre Schönheit hat ihn besiegt ... und Sie waren ... von seiner taubenhaften Zärtlichkeit gerührt!« fügte er ein wenig spöttisch hinzu.

»Ich habe ihm nicht geglaubt, ich dachte, das Herz irre nicht ...«

»Nein, es irrt sich; und stößt manchmal ins Verderben! Aber Ihr Herz hat ja gar nicht mitgesprochen«, fügte er hinzu. »Es war einerseits Einbildung und Eitelkeit und anderseits Schwäche ... Und Sie haben gefürchtet, daß es der einzige Feiertag Ihres Lebens wäre, daß dieser klare Strahl Ihr Leben erhellt hätte und daß darauf ewige Nacht folgen würde ...«

»Und die Tränen?« sagte sie, »sind sie mir denn nicht vom Herzen gekommen, wenn ich geweint habe? Ich habe nicht gelogen, ich war aufrichtig ...«

»Mein Gott! Worüber weinen die Frauen denn nicht? Sie haben ja selbst gesagt, daß es Ihnen um den Fliederstrauß und die Lieblingsbank leid tat ... Fügen Sie noch die betrogene Eitelkeit, die mißlungene Rolle einer Retterin und ein wenig Gewohnheit hinzu ... wieviel Ursachen, um zu weinen!«

»Und unsere Begegnungen und Spaziergänge waren auch ein Irrtum? Erinnern Sie sich, daß ich ... bei ihm gewesen bin ...« schloß sie verlegen und schien ihre Worte selbst übertäuben zu wollen. Sie bestrebte sich, sich selbst anzuklagen, nur damit er sie eifriger verteidigte und um in seinen Augen immer mehr recht zu haben.

»Aus Ihrem Bericht ist zu ersehen, daß Sie bei den letzten Zusammenkünften gar nicht mehr wußten, worüber Sie sprechen sollten. Ihrer sogenannten ›Liebe‹ mangelte es auch an Inhalt; sie konnte nicht weiterschreiten. Ihr hattet euch noch vor eurem Bruch getrennt und waret nicht der Liebe, sondern ihrem Schemen, den ihr euch selbst ausgedacht hattet, treu – das ist das ganze Geheimnis.«

»Und der Kuß?« flüsterte sie so leise, daß er es nicht hörte, sondern erriet.

»Oh, das ist wichtig!« sagte er mit komischer Strenge. »Man müßte Sie deswegen beim Mittagessen ... eines Gerichtes berauben.« Er blickte sie mit stets wachsender Liebe und Zärtlichkeit an.

»Ein Scherz entschuldigt einen solchen Irrtum nicht!« entgegnete sie streng, durch seine Gleichgültigkeit und seinen nachlässigen Ton verletzt. »Mir wäre leichter, wenn Sie mich durch irgendein barsches Wort gestraft und meine Schuld beim rechten Namen genannt hätten.«

»Ich würde auch nicht scherzen, wenn es sich nicht um Ilja, sondern um einen anderen handeln würde, dann hätte der Irrtum mit einem Unglück enden können; doch ich kenne Oblomow ...«

»Ein anderer? Nie!« unterbrach sie ihn errötend. »Ich habe ihn besser kennengelernt als Sie ...«

»Sehen Sie!« bestätigte er.

»Wenn er sich aber ... verändert und mir gefolgt hätte, wenn er lebendig geworden wäre ... würde ich ihn denn dann nicht lieben? Wäre es auch dann Lüge und Irrtum gewesen?« sprach sie, um die Sache von allen Seiten zu betrachten und nicht den geringsten Fleck, nicht die kleinste Unklarheit daran haften zu lassen.

»Das heißt, wenn an seiner Stelle ein anderer Mensch wäre«, unterbrach sie Stolz, »es besteht kein Zweifel, daß eure Beziehungen sich dann zur Liebe entwickelt und gefestigt hätten, und dann ... Das ist aber ein anderer Roman und ein anderer Held, der uns nichts angeht.«

Sie seufzte auf, als hätte sie ihre Seele von der letzten Last befreit. Beide schwiegen.

»Ach, welch ein Glück ist es ... zu genesen!« sprach sie langsam, als blühe sie auf, und richtete auf ihn einen Blick, der von so tiefer Dankbarkeit und so warmer, unbeschreiblicher Freundschaft erfüllt war, daß er darin den Funken zu erhaschen glaubte, den er schon fast seit einem Jahr vergeblich gesucht hatte. Ihn überlief ein freudiges Zittern.

»Nein, ich gesunde!« sagte er sinnend. »Ach, wenn ich nur Gewißheit gehabt hätte, daß Ilja der Held dieses Romans war! Wieviel Zeit und wieviel Kraft habe ich verloren! Warum? Wozu?« sagte er fast ärgerlich.

Doch dann schien er diesen Ärger von sich abzuschütteln und aus diesem tiefen Sinnen zu erwachen. Seine Stirn glättete sich und seine Augen blickten froher.

»Aber das war wohl unvermeidlich, doch wie ruhig und ... wie glücklich bin ich jetzt!« fügte er wonnetrunken hinzu.

»Es ist wie ein Traum, als ob nichts geschehen wäre!« sagte sie sinnend und kaum hörbar, über ihre plötzliche Wiedergeburt erstaunt. »Sie haben mich nicht nur von der Scham und Reue, sondern auch vom Schmerz und der Bitternis, überhaupt von allem befreit ... Wie haben Sie das fertiggebracht?« fragte sie leise. »Und das alles wird vergehen, dieser ... Irrtum?«

»Ich glaube, es ist schon vergangen!« sagte er, sie zum erstenmal mit leidenschaftlichen Augen betrachtend, ohne es zu verbergen. »Das heißt, alles das, was war.«

»Und wird das, was kommt ... kein Irrtum, sondern ... Wahrheit sein?« fragte sie, ohne zu Ende zu sprechen.

»Hier steht es«, entschied er, indem er wieder den Brief ergriff: »›Vor Ihnen steht nicht derjenige, den Sie erwartet und von dem Sie geträumt haben. Er wird kommen, und Sie werden erwachen ...‹ Und lieben, füge ich hinzu, Sie werden so lieben, daß nicht nur ein Jahr, sondern ein ganzes Leben für diese Liebe nicht hinreichen wird, ich weiß nur nicht ... wen?« schloß er, sie mit den Augen durchdringend.

Sie senkte den Blick und preßte die Lippen aufeinander, doch durch die Lider drangen Strahlen hindurch, die Lippen wollten ein Lächeln zurückhalten, doch es gelang ihnen nicht. Sie blickte ihn an und lachte so von Herzen laut, daß ihr sogar Tränen in die Augen kamen.

»Ich habe Ihnen gesagt, was mit Ihnen war und sogar das, was mit Ihnen sein wird, Oljga Sjergejewna«, schloß er, »und werden Sie mir auf meine Frage, die Sie mich nicht aussprechen ließen, nichts antworten?«

»Was kann ich denn darauf sagen?« fragte sie verlegen, »hätte ich denn das Recht, Ihnen das zu sagen, was Sie so brauchen und was Sie so verdienen?« fügte sie flüsternd hinzu und blickte ihn verschämt an.

Er glaubte in diesem Blick wieder das Aufleuchten von noch nie dagewesener Freundschaft zu sehen, und er erbebte wieder vor Glück.

»Beeilen Sie sich nicht«, fügte er hinzu, »sagen Sie, was ich wert bin, wenn Ihre Herzenstrauer, diese Anstandstrauer, zu Ende ist. Mir hat dieses Jahr nicht wenig gebracht. Und jetzt entscheiden Sie nur die Frage, ob ich fahren oder dableiben soll?«

»Hören Sie, Sie kokettieren mit mir«, sagte sie plötzlich fröhlich.

»O nein«, bemerkte er bedeutungsvoll, »das ist nicht mehr dieselbe Frage, sie hat jetzt einen anderen Sinn: in welcher Eigenschaft bleibe ... ich da?«

Sie wurde plötzlich verlegen.

»Sie sehen, daß ich nicht kokettiere!« scherzte er. »Wir müssen ja nach dem heutigen Gespräch einander anders gegenüberstehen; wir sind beide nicht mehr dieselben wie gestern.«

»Ich weiß nicht«, flüsterte sie noch verlegener.

»Erlauben Sie mir, Ihnen zu raten?«

»Sprechen Sie ... ich gehorche Ihnen blindlings!« fügte sie mit fast leidenschaftlicher Demut hinzu.

»Heiraten Sie mich in der Erwartung, bis ›er‹ kommt!«

»Ich wage es noch nicht ...« flüsterte sie, das Gesicht mit den Händen bedeckend, erregt, aber glücklich.

»Warum wagen Sie denn nicht?« fragte er auch flüsternd und ihren Kopf an sich ziehend.

»Und die Vergangenheit?« flüsterte sie wieder, ihm den Kopf wie einer Mutter auf die Brust legend.

Er zog ihr die Hände leise vom Gesicht fort, küßte sie auf den Kopf, bewunderte lange ihre Verlegenheit und blickte entzückt auf die ihr in die Augen getretenen und wieder trocknenden Tränen.

»Sie wird verblassen wie Ihr Flieder!« schloß er. »Sie haben gelernt, jetzt ist die Zeit zum Genießen gekommen. Jetzt beginnt das Leben; überlassen Sie mir Ihre Zukunft und denken Sie an nichts – ich übernehme die Verantwortung für alles. Gehen wir zur Tante.«

Stolz ging spät nach Hause. Ich habe das, was mir zukommt, gefunden, dachte er, die Bäume, den Himmel, den See und selbst den vom Wasser aufsteigen den Nebel mit verliebten Augen betrachtend. Es ist gekommen! Wieviel Jahre dürste ich nach Liebe, gedulde mich und spare meine Seelenkräfte! Wie lange habe ich gewartet – jetzt ist alles belohnt; das ist es, das höchste menschliche Glück!

Alles trat jetzt in seinen Augen hinter dem Glück zurück, das Kontor, der Wagen des Vaters, die Gemslederhandschuhe, die fettigen Rechnungen, das ganze geschäftliche Leben. In seiner Erinnerung erstand nur das duftende Zimmer seiner Mutter, die Variationen von Herz, die fürstliche Galerie, die blauen Augen und gepuderten kastanienbraunen Haare, das alles wurde von einer zarten Stimme, von Oljgas Stimme, übertönt; er hörte im Geiste ihren Gesang ... »Oljga ... mein Weib!« flüsterte er, in Leidenschaft erbebend. »Alles ist gefunden, ich habe nichts mehr zu suchen und brauche nirgends mehr hinzugehen!« Und er ging sinnend und vom Glück betäubt nach Hause, ohne den Weg und die Straßen zu beachten ...

Oljga folgte ihm lange mit den Augen, öffnete dann das Fenster und atmete ein paar Minuten lang die nächtliche Frische ein; ihre Erregung hatte sich ein wenig beruhigt, ihre Brust atmete gleichmäßiger. Sie richtete die Augen auf den See und in die Ferne und sann so still und tief nach, als wäre sie im Schlaf. Sie wollte das, was sie dachte und fühlte, auffangen, es gelang ihr aber nicht. Die Gedanken wogten wie Wellen, und das Blut floß so rhythmisch durch ihre Adern. Sie empfand großes Glück und konnte nicht bestimmen, wo sich sein Ursprung und seine Grenzen befanden und was es war. Sie dachte, warum es ihr wohl so still, friedlich ruhig und wohl war, während ... »Ich bin seine Braut!« flüsterte sie.

Ich bin Braut! denkt ein Mädchen, vor Stolz bebend, beim Eintreten dieses Momentes, der ihr ganzes Leben beleuchtet, sie wächst in die Höhe und schaut von da auf den dunklen Pfad herab, auf dem sie gestern einsam und unbemerkt gewandert ist.

Warum bebte Oljga nicht? Auch sie war unbemerkt auf einsamem Pfad gewandelt, auch ihr war auf dem Kreuzweg er begegnet, hatte ihr die Hand gereicht, aber sie nicht ins Licht der blendenden Strahlen, sondern gleichsam zu einem weiten Fluß, zu unabsehbaren Feldern und freundlich lächelnden Hügeln geführt. Sie blinzelte nicht vor Glanz, ihr Herz erstarrte nicht, und ihre Phantasie flammte nicht auf. Sie ließ den Blick mit stiller Freude auf den Wogen des Lebens, auf seinen weiten Feldern und den grünen Hügeln ruhen. Ihre Schultern überlief kein Zittern, ihr Blick leuchtete nicht vor Stolz auf; erst dann, als sie den Blick von den Feldern und Hügeln auf denjenigen, der ihr die Hand reichte, richtete, fühlte sie, daß ihr langsam eine Träne über die Wange rollte ...

Sie saß noch immer da, als schliefe sie – so still war der Traum ihres Glückes; sie rührte sich nicht und atmete fast nicht. In Träumen versunken, blickte sie in die stille, blau schimmernde Nacht hinein, die mit sanftem Licht, mit Wärme und Duft erfüllt war. Das Glück hatte seine weiten Flügel ausgebreitet und glitt langsam, wie eine Wolke am Himmel, über ihren Kopf hin ... In diesem Traum sah sie sich nicht für zwei Stunden in Tüll und Spitzen eingewickelt und dann das ganze Leben lang in Lumpen des Alltags. Sie träumte von keinem Festmahl, von keinen Lichtern und fröhlichen Stimmen; sie träumte von einem so einfachen, so schmucklosen Glück, daß sie noch einmal, ohne vor Stolz zu beben, sondern nur in tiefer Rührung, flüsterte: »Ich bin seine Braut!«

Fünftes Kapitel

Mein Gott! Wie düster und trostlos sah es anderthalb Jahre nach Oblomows Namenstag in seiner Wohnung aus, als Stolz zu ihm unerwartet zum Essen kam. Auch Ilja Iljitsch selbst war aufgedunsen, und in seinen Augen hatte sich Langeweile gegraben, die wie eine Krankheit von dort hervorblickte. Er ging eine Weile im Zimmer herum, legte sich hin und schaute auf den Plafond; dann nahm er ein Buch von der Etagere, öffnete es, überflog ein paar Zeilen mit den Augen, gähnte und begann mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. Sachar war noch plumper und unordentlicher geworden; die Ellbogen seines Rockes waren geflickt, er sah so arm und hungrig aus, als ob er wenig zu essen habe, wenig schlafe und für drei arbeite. Oblomows Schlafrock war abgenützt und ging aus den Fugen, so sorgfältig man seine Löcher auch zunähte; er hätte sich längst einen neuen anschaffen sollen. Die Decke auf dem Bett sah auch ganz abgenützt aus und wies hie und da Flicken auf; die Vorhänge an den Fenstern waren längst verblichen und wirkten, trotzdem sie gewaschen waren, wie Fetzen. Sachar brachte ein altes Tischtuch herein, bedeckte damit den halben Tisch auf der Seite, an der Oblomow saß, brachte dann vorsichtig, sich auf die Zunge beißend, das Gedeck und eine Karaffe mit Schnaps herein, legte das Brot hin und ging. Die Tür der Hausfrau öffnete sich, und Agafja Matwejewna kam rasch herein, eine Pfanne mit einer zischenden Eierspeise tragend.

Auch sie hatte sich furchtbar und nicht zu ihrem Vorteil verändert. Sie war sehr abgemagert. Sie hatte keine runden, weißen, weder errötenden noch erbleichenden Wangen mehr; ihre dünnen Augenbrauen glänzten nicht; ihre Augen waren eingefallen. Sie trug ein altes Kattunkleid; ihre Hände waren von der Arbeit, vom Feuer oder von beidem rot und grob geworden. Akulina war nicht mehr im Hause. Anissja hatte in der Küche und im Gemüsegarten zu tun, sie pflegte die Hühner, scheuerte die Fußböden und wusch die Wäsche; sie konnte allein nicht fertig werden, und Agafja Matwejewna mußte, ob sie wollte oder nicht, selbst in der Küche arbeiten. Sie stieß, siebte und rieb jetzt wenig, denn es wurde wenig Kaffee, Zimt und Mandeln verwendet, und sie dachte nicht einmal mehr an ihre Spitzen. Jetzt mußte sie oft Zwiebeln schneiden und Meerrettich und dergleichen Gewürze reiben. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich tiefe Traurigkeit wider. Doch sie seufzte nicht ihretwegen, nicht weil sie keinen Kaffee zum Trinken hatte, sie grämte sich nicht, weil sie keine Gelegenheit hatte, sich zu betätigen, in größerem Umfange zu wirtschaften, Zimt zu stoßen, Vanille in die Soße zu legen oder dicken Rahm zu sieden, sondern weil Ilja Iljitsch schon das zweite Jahr das alles nicht bekam, weil man den Kaffee für ihn nicht pudweise aus dem besten Geschäft holte, sondern für ein paar Kopeken in dem Krämerladen kaufte; weil der Rahm nicht von einer Finnin gebracht wurde, sondern aus demselben Laden geholt werden mußte; weil sie ihm statt eines saftigen Kotelettes eine mit hartem, altem Schinken aus dem Krämerladen zubereitete Eierspeise brachte. Was bedeutete das? Nichts anderes, als daß die aus Oblomowka eintreffenden Gelder, die Stolz regelmäßig schickte, zur Deckung des Schuldscheines, den Oblomow der Hausfrau ausgestellt hatte, verwendet wurden. Die »gesetzliche Sache« des Bruders war über alle Erwartungen gelungen. Bei der ersten Andeutung Tarantjews auf die skandalöse Angelegenheit war Ilja Iljitsch errötet und verlegen geworden; dann gingen sie zum Ausgleich über, tranken alle drei, und Oblomow unterschrieb den Schuldschein, der für vier Jahre ausgestellt wurde; nach einem Monat unterschrieb Agafja Matwejewna einen ebensolchen Brief auf den Namen des Bruders, ohne zu ahnen, was es war und warum sie es tat. Der Bruder sagte, es sei ein notwendiges Dokument, das sich auf das Haus beziehe, und befahl ihr, zu schreiben: »Diesen Schuldschein hat Frau Soundso (Rang, Vor- und Zuname) eigenhändig unterschrieben.«

Es machte sie nur verwirrt, daß sie so viel schreiben mußte, und sie bat den Bruder, lieber Wanjuscha schreiben zu lassen, er könnte das so gut, sie selbst würde aber vielleicht noch etwas Unrechtes hineinschreiben. Doch der Bruder bestand energisch darauf, und sie unterschrieb mit schiefen und großen Buchstaben. Seitdem war nie mehr die Rede davon. Oblomow tröstete sich beim Unterschreiben teilweise damit, daß dieses Geld den Waisen zugute kommen würde, und dann am nächsten Tage, als ihm der Kopf klar war, dachte er beschämt an diese Angelegenheit, bestrebte sich, sie zu vergessen, vermied es, mit dem Bruder zusammenzukommen, und wenn Tarantjew davon zu sprechen begann, drohte er, sofort aus der Wohnung auszuziehen und aufs Gut zu reisen. Als dann das Geld aus dem Gut eintraf, kam der Bruder zu ihm und erklärte, es wäre für Ilja Iljitsch leichter, die Auszahlung der Schuld sofort aus den Einkünften zu beginnen, dann wäre die Schuld in drei Jahren beglichen, während beim Eintreten des Termins, an dem der Schein eingelöst werden mußte, das Gut öffentlich versteigert werden müßte, da Oblomow kein bares Geld besaß und auch keine Aussichten darauf hatte. Oblomow begriff, in welche Falle man ihn gelockt hatte, als alles, was Stolz schickte, zur Bezahlung der Schuld verwendet wurde und ihm nur eine kleine Summe zum Leben übrigblieb. Der Bruder beeilte sich, diese freiwillige Abmachung mit seinem Schuldner auszunützen und die Schuld innerhalb zweier Jahre einzuheben, damit ihm nicht etwas in den Weg kam und ihn daran hinderte; infolgedessen geriet Oblomow plötzlich in Verlegenheit. Zuerst bemerkte er es nicht sehr, da er die Gewohnheit hatte, nicht zu wissen, wieviel er in seiner Tasche hatte; aber dann fiel es Iwan Matwejewitsch ein, um eine Kaufmannstochter anzuhalten; er mietete eine Wohnung für sich und übersiedelte. Die wirtschaftliche Tätigkeit von Agafja Matwejewna wurde plötzlich eingeschränkt; die Störe, das schneeweiße Kalbfleisch und die Kapaune begannen in der anderen Küche, in Muchojarows neuer Wohnung zu erscheinen. Dort brannte abends Licht und versammelten sich die künftigen Verwandten des Bruders, seine Kollegen und Tarantjew. Alles ging dort hinüber. Agafja Matwejewna und Anissja blieben mit offenem Mund und müßigen Händen bei leeren Pfannen und Töpfen zurück. Agafja Matwejewna erfuhr zum erstenmal, daß sie nur ein Haus, einen Gemüsegarten und Hühner besaß, und daß weder Zimt noch Vanille bei ihr wuchsen; sie sah, daß die Verkäufer auf dem Markt nach und nach aufhörten, sich vor ihr tief zu verbeugen, und daß der ehrfurchtsvolle Gruß und das Lächeln auf die neue, dicke, elegant gekleidete Köchin ihres Bruders über gingen. Oblomow überließ der Hausfrau das ganze Geld, das der Bruder ihm übriggelassen hatte, und sie mahlte drei, vier Monate lang, ohne sich Gedanken zu machen, pudweise Kaffee, stieß Zimt, briet Kalbfleisch und Kapaune und setzte das bis zum Tag fort, an dem sie ihre letzten siebzig Kopeken ausgegeben hatte und ihm mitteilte, sie hätte kein Geld mehr. Er drehte sich bei dieser Nachricht dreimal auf dem Sofa um, schaute dann in seine Lade; es war nichts drin. Er wollte sich erinnern, worauf er es ausgegeben hatte, ihm fiel aber nichts ein; er tastete mit der Hand auf dem Tisch herum, ob es keine Kupfermünze gab, fragte Sachar, doch dieser wußte nichts. Sie ging zum Bruder hin und sagte naiv, es wäre kein Geld im Hause.

»Wo habt ihr, der Edelmann und du, die tausend Rubel hingetan, die ich ihm zum Leben gegeben habe?« fragte er. »Wo soll ich das Geld hernehmen? Du weißt, ich gehe eine Ehe ein, ich kann nicht zwei Familien erhalten, und du mußt dich mit deinem gnädigen Herrn nach der Decke strecken.«

»Warum werfen Sie mir den Herrn vor, Bruder?« sagte sie, »was hat er Ihnen getan? Er rührt niemanden an und lebt für sich allein. Nicht ich, sondern Sie und Michej Andreitsch habt ihn in die Wohnung gelockt.«

Er gab ihr zehn Rubel und sagte, er besäße nicht mehr. Als er sich die Sache aber mit dem Gevatter in der Kneipe überlegt hatte, beschloß er, man dürfe die Schwester und Oblomow nicht ihrem Schicksal überlassen, die Sache könnte sonst noch bis zu Stolz dringen, dieser würde kommen, sich über alles erkundigen, und womöglich alles umändern, so daß sie nicht Zeit hätten, die Schuld einzuheben, obwohl das »eine gesetzliche Sache« war; es war ein so durchtriebener Deutscher! Er begann ihnen fünfzig Rubel monatlich zu geben und nahm sich vor, dieses Geld aus Oblomows Einkünften im dritten Jahre zurückzunehmen, dabei erklärte er aber der Schwester und gab ihr sein Wort darauf, daß er auch nicht eine Kopeke mehr hergeben würde, und rechnete ihr vor, was für eine Kost sie sich erlauben dürften, wie sie die Ausgaben verringern sollten, bestimmte sogar, welche Gerichte sie kochen sollte, rechnete aus, wieviel sie für die Hühner und für das Kraut bekommen konnte, und entschied, daß man für alles das sehr gut leben konnte.

Agafja Matwejewna dachte zum erstenmal im Leben über etwas anderes als über die Wirtschaft nach und weinte zum erstenmal nicht aus Ärger über Akulina, weil sie Geschirr zerschlagen hatte, und nicht, weil der Bruder über einen zu wenig gekochten Fisch schimpfte; sie blickte zum ersten Male drohender Not, die aber nicht sie, sondern Ilja Iljitsch bedrohte, in die Augen. Wie würde dieser Edelmann (überlegte sie sich) statt Spargel – Rüben mit Butter, statt Haselhühner – Hammelfleisch, statt Forellen und bernsteinfarbenes Störfleisch – gesalzenen Zander und vielleicht Sulz aus dem Krämerladen essen? ... Entsetzlich! Sie dachte die Sache nicht bis zu Ende, sondern zog sich eilig an, nahm einen Wagen und fuhr, trotzdem es weder Weihnachten noch Ostern war und kein Familienessen stattfand, früh des Morgens zu den Verwandten ihres Mannes, von Sorge erfüllt, hin, um an sie in ungewohnten Worten die Frage zu richten, was sie tun sollte, und um bei ihnen Geld zu leihen. Sie hatten viel davon, sie würden ihr sofort welches geben, wenn sie erfuhren, daß es für Ilja Iljitsch war. Wenn es sich um Tee oder Kaffee für sie selbst, um Schuhe und Kleider für die Kinder oder um ähnliche Launen gehandelt hätte, würde sie kein Wort gesagt haben, sie brauchte es aber in höchster Not, wo es bis ans Messer ging: um Ilja Iljitsch Spargel und Haselhühner zu kaufen, er liebte auch so französische Erbsen ... Man war dort aber erstaunt und gab ihr kein Geld, sondern sagte, daß, wenn Ilja Iljitsch irgendwelche Gold- oder Silbersachen und sogar Pelz hatte, man es versetzen konnte und daß es solche Wohltäter gab, welche den dritten Teil der gebetenen Summe vorstreckten, bis er wieder Geld aus dem Gute bekam. Dieser praktische Rat würde zu einer anderen Zeit an der genialen Hausfrau vorübergeflogen sein, ohne ihre Gedanken irgendwie zu berühren, und es würde kein Mittel gegeben haben, ihr das klarzumachen; jetzt faßte sie alles mit dem Verstande des Herzens auf und wog ... ihre Perlen, die sie als Mitgift bekommen hatte. Ilja Iljitsch trank, ohne etwas zu ahnen, am nächsten Tage Johannisbeerschnaps, aß ausgezeichneten Lachs, sein geliebtes Gekröse und ein weißes, frisches Haselhuhn dazu. Agafja Matwejewna und ihre Kinder aßen mit den Dienstboten zusammen Schtschi und Brei, und sie trank, nur um Ilja Iljitsch Gesellschaft zu leisten, zwei Schalen Kaffee. Bald holte sie aus einem gewissen Koffer ihre Kette hervor, dann das Silber und den Pelz ... Dann kam der Zeitpunkt, in dem das Geld aus dem Gute kam; Oblomow gab ihr das ganze. Sie löste die Perlen ein und bezahlte die Zinsen für die Halskette, das Silber und den Pelz, begann ihm wieder Spargel und Haselhühner zu kochen und trank nur seinetwegen Kaffee. Die Perlen wurden wieder auf ihren Platz hingelegt. So spannte sie von Woche zu Woche ihre Kräfte an, quälte sich ab und tat alles, was sie konnte; sie hatte ihren Schal und das Sonntagskleid verkauft, trug jetzt immer ihr altes Kattunkleid mit den kurzen Ärmeln und deckte sich am Sonntag den Hals mit einem alten, abgetragenen Tuche zu.

Darum war sie abgemagert, hatte eingefallene Augen und brachte Ilja Iljitsch eigenhändig das Frühstück. Sie hatte sogar die Kraft, eine fröhliche Miene aufzusetzen, wenn Oblomow ihr erklärte, morgen würde Tarantjew, Alexejew oder Iwan Gerassimowitsch zu ihm zu Mittag kommen. Es erschien ein schmackhaftes, gut serviertes Essen. Sie machte dem Gastgeber keine Schande. Aber wie mußte sie sich aufregen und herumlaufen, wieviel Bitten mußte sie an den Krämer richten, und wieviel schlaflose Nächte und Tränen verursachten ihr diese Sorgen! Wie tief mußte sie sich in die Aufregungen des Lebens versenken und wie gut lernte sie die Tage des Glücks und Unglücks kennen! Doch sie liebte dieses Leben und würde es trotz ihrer Tränen und Sorgen nicht gegen das frühere, stille Dasein eingetauscht haben, das sie geführt hatte, bevor sie Oblomow kannte, als sie mit Würde inmitten von gefüllten, knisternden und zischenden Töpfen, Pfannen und Kasserolen herrschte und Akulina und den Hausbesorger befehligte. Sie fuhr sogar vor Entsetzen zusammen, wenn ihr der Gedanke an den Tod kam, trotzdem der Tod ja mit einem Schlage ihren nie trocknenden Tränen, dem täglichen Herumlaufen und den schlaflosen Nächten ein Ende gemacht hätte.

Ilja Iljitsch frühstückte, hörte zu, wie Mascha Französisch las, saß eine Weile in Agafja Matwejewnas Zimmer und schaute zu, wie sie Wanjas Rock ausbesserte, indem sie ihn zehnmal von einer Seite auf die andere wandte und zu gleicher Zeit immerwährend in der Küche nachsehen lief, wie das Hammelfleisch, das zum Mittagessen bestimmt war, briet und ob es nicht Zeit sei, die Fischsuppe zu kochen.

»Warum bemühen Sie sich so?« sagte Oblomow, »lassen Sie das doch!«

»Wer wird denn für alles sorgen, wenn ich es nicht tue?« sagte sie, »Ich werde nur noch zwei Flicken auflegen, und dann muß ich die Fischsuppe kochen. Was für ein schlimmer Knabe dieser Wanja ist! Ich habe ihm erst vorige Woche den Rock ausgebessert, und er hat ihn wieder zerrissen! Was lachst du?« wandte sie sich an Wanja, der in Hosen und im Hemd und nur mit einem Hosenträger am Tische saß. »Ich werde dir das bis zum Morgen nicht ausbessern, dann kannst du nicht zum Tor hinlaufen. Du hast gewiß gerauft, und die Kinder haben ihn dir zerrissen. – Gestehe nur!«

»Nein, Mamachen, er ist von selbst zerrissen!« sagte Wanja.

»Wisch dir die Nase ab, siehst du denn nicht«, bemerkte sie, ihm das Tuch hinwerfend.

Wanjuscha kicherte, wischte sich aber die Nase nicht ab.

»Warten Sie nur, bis ich das Geld aus dem Gut bekomme, dann lasse ich ihm zwei Anzüge nähen«, sprach Oblomow dazwischen, »einen blauen, und nächstes Jahr, wenn er ins Gymnasium eintritt, eine Uniform.«

»Er kann noch den alten tragen«, sagte Agafja Matwejewna, »und das Geld brauchen wir ja für die Wirtschaft. Ich werde für Sie dann Pökelfleisch und Eingesottenes vorbereiten. Ich muß nachsehen, ob Anissja den Rahm gebracht hat ...«

Sie erhob sich.

»Was haben wir heute?«

»Fischsuppe von Barschen, gebratenes Hammelfleisch und Obstkuchen.«

Oblomow schwieg. Plötzlich rollte ein Wagen heran, man klopfte an die Pforte, der Hund begann zu bellen und an der Kette zu zerren. Oblomow ging in sein Zimmer, da er glaubte, es wäre jemand zur Hausfrau gekommen, der Fleischer, der Gemüsehändler oder sonst jemand. Ein solcher Besuch hatte gewöhnlich die Bitte um Geld, die Absage der Hausfrau, die Drohungen von seiten des Verkäufers, die Bitte, zu warten, von seiten der Hausfrau, dann Schimpfen, Zuschlagen der Tür, der Pforte und wildes Bellen und Zerren des Hundes an der Kette – alles in allem eine unangenehme Szene im Gefolge. Es war eben ein Wagen gekommen – was konnte das bedeuten? Die Fleischer und Gemüsehändler fuhren nicht im Wagen. Plötzlich lief die Hausfrau erschrocken zu ihm herein.

»Zu Ihnen kommt ein Gast«, sagte sie.

»Wer denn? Tarantjew oder Alexejew?«

»Nein, nein, der, welcher am Iljatage bei Ihnen gegessen hat.«

»Stolz?« fragte Oblomow, unruhig um sich blickend, »wohin könnte ich gehen, mein Gott! Was wird er sagen, wenn er sieht ... Sagen Sie, daß ich fort bin!« setzte er eilig hinzu und ging in das Zimmer der Hausfrau.

Anissja kam gerade zur rechten Zeit, um den Gast zu empfangen. Agafja Matwejewna hatte ihr Oblomows Befehl übermittelt. Stolz glaubte ihr, wunderte sich nur darüber, daß Oblomow nicht zu Hause war.

»Nun, so sage, daß ich in zwei Stunden zum Mittagessen komme!« sagte er und ging in den Park, der sich in der Nähe befand.

»Er wird mit uns essen!« teilte Anissja erschrocken mit.

»Er wird mit uns essen!« wiederholte Agafja Matwejewna ängstlich Oblomow.

»Man muß ein anderes Mittagessen vorbereiten«, beschloß er nach einem Schweigen.

Sie richtete auf ihn einen entsetzten Blick. Sie besaß nur einen halben Rubel, und es blieben noch zehn Tage bis zum ersten, da sie das Geld vom Bruder bekam. Auf Borg wollte niemand etwas geben.

»Wir haben nicht genug Zeit, Ilja Iljitsch«, bemerkte sie schüchtern, »er soll das essen, was da ist ...«

»Er ißt das nicht, Agafja Matwejewna; er kann keine Fischsuppe ausstehen, und wenn sie sogar aus Sterlett gemacht ist; er nimmt auch nie Hammelfleisch in den Mund.«

»Man könnte in der Wursthandlung Zunge nehmen?« fragte sie plötzlich, gleichsam einer Eingebung folgend. »Das ist hier in der Nähe.«

»Das ist gut, das könnte man, und lassen Sie irgendein Gemüse, vielleicht frische Bohnen, dazu reichen ...«

Bohnen kosten achtzig Kopeken das Pfund! stieg es in ihr auf, kam aber nicht über die Lippen.

»Gut, ich werde es besorgen ...« sagte sie und beschloß, die Bohnen durch Kohl zu ersetzen.

»Lassen Sie ein Pfund Schweizer Käse holen!« kommandierte er, da er nicht wußte, wie es um Agafja Matwejewnas Geldbeutel bestellt war. »Sonst nichts! Ich werde um Entschuldigung bitten und sagen, daß wir ihn nicht erwartet haben.«

Sie wollte gehen.

»Und Wein!« fiel es ihm plötzlich ein.

Sie richtete auf ihn wieder einen entsetzten Blick.

»Man muß Lafitte holen lassen!« schloß er kaltblütig.