Kapitel 5

 

»... Und der zweite Engel goss aus seine Schale ins Meer, und es ward Blut wie eines Toten ...«

Die Bibel

 

Zur gleichen Zeit in einem Waldgebiet, Baden-Baden/Stadtteil Geroldsau

 

Die mühsam gesendeten Botschaften wurden bisher ignoriert. Was machte es für einen Sinn, den Schmerz und den Verrat in die Welt hinauszuschreien, wenn niemand da war, der zuhörte? So klar waren die Nachrichten gewesen, so, als hätte man die Worte direkt lauthals vor dem Ohr des Empfängers verkündet, aber das Verstehen blieb aus. Der einstige Schwur war gebrochen worden und so gab es nur noch den Weg des Handelns.

Das erste Mal würde es heute bei Tageslicht geschehen. Das Beil mit seiner blutverkrusteten, scharfen Schneide war wie immer ein treuer Begleiter. Vier Mal schon hatte es das vor langer Zeit begangene Unrecht angeprangert. Heute würde es wieder geschehen.

Einer spontanen Eingebung folgend, streifte das Beil erneut durch das Dickicht auf der Suche nach dem perfekten Gehilfen. Auch heute war es bereit, dem Zufall die Führung zu überlassen. Das Plätschern des Wassers rief Erinnerungen an die Kindheit wach. Die Kindheit, die eines Tages ihre Reinheit verlor, wie das Wasser, das klar aus dem Gebirge in die Täler floss, um sich dann dreckig und brackig seinen Weg über die Kanalisation ins nächste Klärwerk zu suchen. Aber nun mussten die Gedanken ruhen, denn es galt, eine weitere Nachricht zu senden.

Der Wald bot eine wunderbare Möglichkeit. Wer hätte das gedacht? Die fröhlichen Stimmen lockten das Beil an.

Auf der kleinen, versteckten Lichtung saßen sie wie Geschenke, die nur darauf warteten, endlich bestaunt zu werden. Es gab keinen Zweifel, der Mann und seine Begleiterin würden das ziellose Herumstreifen beenden. Hier und jetzt würde gleich ein wunderbares Fest stattfinden.

Ein Bild von Vertrautheit bot sich dem Augenpaar, das heimlich das Pärchen beobachtete. Wie die zwei so dicht beieinandersaßen, er den Arm um ihre Schulter gelegt, sie ergeben ihren Körper an ihn geschmiegt, war die Entscheidung gefallen. Diese beiden würden heute eine besondere Aufgabe erfüllen – sie waren nun auserwählt worden.

Sollten die einsamen Liebenden das leise Knacken und Knirschen hinter sich gehört haben, dann nahmen sie davon keine Notiz. Ihre Aufmerksamkeit galt nur ihrer eigenen Zweisamkeit. Das Beil war bereit, lag zappelnd vor Ungeduld in den führenden Händen. In letzter Sekunde hatte vielleicht einer der beiden die Gefahr geahnt, aber es war zu spät. Der Stahl hatte auf diesen Moment gewartet und ließ sich nicht mehr um das angenehm vertraute Gefühl des Tötens betrügen.

Die Schneide traf zuerst den Mann. Sein warmes Blut spritzte über das Gesicht seiner Begleiterin, die wie gelähmt dasaß, bereit, den eigenen tödlichen Schlag zu empfangen. Das Beil drosch auf ihre Köpfe ein. Abwechselnd, so als müsse es die tödliche Schneide gerecht zwischen den Opfern verteilen. Das Knirschen der berstenden Knochen vermischte sich mit dem Schmatzen der aufplatzenden Haut. Das weiche Gewebe konnte keinen Widerstand leisten und wurde von der Schneide geprügelt, bis nur noch ein roter Klumpen übrig war.

Schwer hing der Blutgeruch über der Lichtung, die nun still dalag. Sogar das Blattwerk der Bäume schien erstarrt. Die unheimliche Ruhe machte die Inszenierung zu einem wahren Meisterwerk. Das Beil, das nun blutverschmiert im Gras lag, hatte seine Arbeit getan. Jetzt galt es, die Nachricht zu senden. Begleitet von einem leisen, fröhlichen Summen, machten sich fleißige Hände daran, alles präzise herzurichten. Dann folgte ein kehliges Lachen, als die letzte Requisite dieser makaberen Aufführung platziert wurde. Die Botschaft konnte nun empfangen werden.

 

Befragung von Sina Wieser, Hamburg

 

Sina Wieser, die Geliebte von Mark Hanson und Exfreundin des ehemals Verdächtigen Andreas Meiner, hatte es vorgezogen, das Gespräch auf dem Präsidium zu führen.

»Ich hatte in letzter Zeit genug Polizei im Haus und bei meinem Arbeitgeber will ich Sie schon gar nicht sehen«, hatte sie Rieber am Telefon schroff entgegnet.

Der Hamburger Hauptkommissar war freundlich geblieben und hatte das Präsidium vorgeschlagen, ohne die junge Frau daran zu erinnern, dass sie verpflichtet war, zu erscheinen.

Entsprechend kampflustig betrat Sina Wieser den Raum.

Heerse und Lukas Bürg wurden ihr vorgestellt.

»Und was wollen Sie von mir?«, fragte sie daraufhin ungehalten.

Heerse betrachtete die Zeugin genau. Ihr langes dunkles Haar war im Nacken zu einem Dutt zusammengebunden. Sie war sechsundzwanzig, schlank, fast schon mager und wirkte in ihrer dunklen Röhrenjeans und dem Kapuzenshirt wie ein junges Mädchen. Auf jeden Fall konnte man sie als hübsch bezeichnen. Sie hatte einen Rucksack dabei, den sie jetzt wie ein Schild mit beiden Händen vor den Bauch hielt.

Gerd Rieber hatte ihnen bereits von Sinas zweifelhaftem Ruhm in der Presse erzählt. Der Mord an Mark Hanson und der anschließende Selbstmord des Hauptverdächtigen hatten in der Hamburger Region mächtig Staub aufgewirbelt. Sina war für ein paar Wochen ein gefragter Interviewpartner der hiesigen Medien gewesen. Leider wurde die junge Frau regelrecht verheizt, bis sie als skrupellose Ehebrecherin und Schlampe gegolten hatte. Vermutlich war sie nichts von dem, was man ihr vorwarf, sondern einfach nur sehr, sehr dumm, dachte sich Heerse gerade, als sein Kollege ihnen Stühle und Kaffee anbot.

Er würde vorsichtig sein müssen, denn Menschen wie Sina Wieser neigten dazu, aus ihren Fehlern nicht zu lernen. Die junge Dame würde vermutlich erneut Interviews geben, wenn man sie darum bat und alles ausplaudern, was dringend unter Verschluss bleiben musste.

»Frau Wieser, wenn ein so tragischer Fall zum Abschluss gebracht werden soll, dann ist es manchmal notwendig, auch zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal mit den Zeugen zu sprechen. Mein Kollege und ich, wir kommen von einer anderen Dienststelle, weil es gelegentlich angebracht ist, dass sich ein zweites Team ein Bild macht.«

Heerse und Rieber hatten sich auf diese Erklärung geeinigt. Mehr würden sie der jungen Frau nicht mitteilen. Blieb zu hoffen, dass Sina sich nicht selbst die wahren Hintergründe der erneuten Befragung zusammenreimen würde.

»Dann machen Sie sich ein Bild, damit ich heute noch nach Hause komme!«, antwortete die junge Frau schnippisch.

»Wie haben Sie Mark Hanson kennengelernt?«

Die Zeugin rollte mit den Augen und stöhnte: »Das habe ich doch alles schon x-mal erzählt.«

Während Lukas Bürg die Stirn runzelte, er mochte diese Art von Frauen nicht, blieb Heerse ganz ruhig. »Tun Sie mir den Gefallen, erzählen Sie es noch einmal.«

»Also schön«, motzte die junge Frau, begann aber schließlich gehorsam die Sätze herunterzuleiern. »Es war im Lula-Klub. Ich war mit Freundinnen dort. Letztes Jahr im Oktober. Ich war eigentlich gar nicht in Stimmung, an diesem Abend auszugehen. Andreas hatte mir wieder einmal eine Eifersuchtsszene gemacht. Das tat er immer, wenn wir Mädelsabend hatten. Jedenfalls saß ich an der Bar und plötzlich tauchte dieser Typ neben mir auf. Ich stehe im Prinzip nicht auf ältere Männer, aber Mark war irgendwie anders ...«

Sie stoppte und Heerse glaubte, Traurigkeit in ihrem Gesichtsausdruck zu lesen.

»Was heißt das?«, drängte er sie freundlich, weiter zu erzählen.

Sina tat sich schwer, immer noch die Unnahbare zu spielen. »Er war so unternehmungslustig und witzig. Es war wie im Film. Ich wies ihn zurück und er legte sich nur noch mehr ins Zeug. Rote Rosen ins Büro, kleine Geschenke, eine Einladung in ein Fünf-Sterne-Restaurant und dann überraschte er mich mit einem Frühstück in Paris. Das war so romantisch ...«

Sie presste die Lippen aufeinander. Nach einem kurzen Augenblick fuhr sie fort: »Schließlich habe ich mich in ihn verliebt.«

Das Mädchen ist wirklich dumm, dachte Heerse, ist auf eine uralte Masche hereingefallen.

Irgendwie tat ihm die junge Frau beinahe leid. Warum gerieten die Sina Wiesers dieser Welt auch immer an Typen wie Mark Hanson.

»Was ist dann passiert?«

»Noch vor Weihnachten war es vorbei.«

»Warum?«

»Er hat gesagt, er könne mich nicht mehr treffen. Wegen seiner Frau.«

»Hat er das weiter erklärt?«

Jetzt schnaufte die Zeugin abfällig. »Die Alte wäre geistig nicht mehr auf dem Posten und hätte mit Selbstmord gedroht, wenn er die Affäre mit mir nicht beenden würde. Ist das nicht absurd?«

»Haben Sie ihm geglaubt?«

»Natürlich habe ich das! Wie ich ihm immer alles geglaubt habe!«, rief sie verärgert.

»Haben Sie ihn denn danach noch gesehen?«

»Ja, natürlich im Lula-Klub.«

»Hatte er jemanden dabei? Ich meine, eine Frau?«

Sina schnalzte verächtlich mit der Zunge und erwiderte: »Einmal habe ich gesehen, wie er irgend so eine Tussi an der Bar angequatscht hat.«

Diese Frage hatte ihr bisher niemand gestellt, deshalb hob sie überrascht die Brauen. »Warum, was spielt das jetzt noch für eine Rolle?«

»Beantworten Sie nur die Fragen meines Kollegen«, mischte sich Rieber ein und Sina antwortete: »Ich weiß nicht. Ich habe sie nicht genau gesehen und bin auch gleich gegangen. Verstehen Sie, ich war wütend!«

»Welche Haarfarbe hatte die Frau?«

»Woher soll ich das wissen?« Als die Zeugin bemerkte, wie Heerse sie fragend anstarrte, fuhr sie fort: »An dem Tag war ›Blondinen-Abend‹. Alle Mädels hatten blonde Perücken auf. Im Lula gibt es ab und zu solche Motto-Geschichten. Ist ganz witzig.«

»Haben Sie das Gesicht der Frau gesehen?«

»Nein, ich sah sie nur von hinten.«

»Aber Sie sind sicher, dass es eine Frau war?«

»Ich denke schon«, sagte die Zeugin nun etwas unsicher.

»Wissen Sie noch, wann das war?«

»Nein, irgendwann im Januar.«

»Macht nichts, wir fragen den Inhaber des Klubs wegen des genauen Datums.«

»Kann ich jetzt gehen?«, fragte Sina genervt.

Heerse stellte ihr, anstatt eine Antwort zu geben, seine nächste Frage: »Haben Sie eigentlich Zweifel daran, dass Ihr Exfreund Mark Hanson ermordet hat?«

Sina antwortete sehr sachlich: »Nein. Als ich mich von ihm getrennt habe, machte ich ihm den Vorschlag, dass wir Freunde bleiben könnten, aber das war ihm scheinbar nicht genug. Dann hat er Mark umgebracht. Andreas war verrückt nach mir.«

»Wollten Sie denn nach der Trennung von Mark Hanson wieder zu Ihrem Exfreund zurückgehen?«

»Um Gottes willen! Nein, ich hatte mich doch zwischenzeitlich total weiterentwickelt. Mark hat mir eine ganz andere Welt gezeigt. Andreas hätte mich doch nur wieder auf sein Niveau heruntergezogen.« Dann fügte sie noch theatralisch an: »Aber, dass er mich so geliebt hat, dass er bereit war, deshalb einen Mord zu begehen, das konnte ich wirklich nicht ahnen.«

Heerse schlug gedanklich die Hände vor sein Gesicht. Diese Naivität, gepaart mit maßloser Selbstüberschätzung, machte ihn fertig.

»Und sein Selbstmord? Geschah der auch aus Liebe?«, warf völlig unerwartet und in aggressivem Ton Lukas Bürg ein.

Heerse sah überrascht zu seinem jungen Kollegen. Er konnte dessen Gefühlsausbruch verstehen, allerdings war Bürgs Verhalten unangebracht.

Lukas‘ Kiefernmuskeln hatten sich verkrampft und er sah zornig zu Sina.

Diese schien die Anklage in den Worten des jungen Kommissars nicht gehört zu haben, denn mit einem angestrengten Gesicht, so als hätte sie über diese Frage lange nachdenken müssen, sagte sie schließlich: »Das wäre durchaus möglich. Vielleicht der Gedanke, mich nie wiederzusehen?«

Lukas wollte etwas erwidern und seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, etwas, das ihm womöglich eine Dienstaufsichtsbeschwerde einbringen könnte – also ging Heerse schnell dazwischen.

»Lukas, rufen Sie Frank an, fragen Sie, wie weit er ist.« Die Stimme des Hauptkommissars war gegen seine Gewohnheit nun laut und hart, auch als er ein scharfes »Sofort!« nachschob.

Lukas Bürg verließ das Zimmer und Sina sah verwirrt zu den Beamten, die aber nicht bereit waren, ihr eine Erklärung zu geben.

Rieber stellte schnell eine weitere Frage: »Waren Sie mit Mark Hanson auch in Baden-Baden?«

»Nein, aber ich weiß, dass er da manchmal hinfuhr.«

»Und kennen Sie die Stadt?«

»Nein, warum sollte ich?«

 

Als die Polizisten die Vernehmung beendeten und sich von der Zeugin verabschiedeten, sagte diese gereizt: »Ich hoffe, Sie haben jetzt alle Fragen an mich gestellt. Ich habe nämlich nicht die geringste Lust, nochmals hier aufzutauchen.«

Heerse blieb immer noch ruhig und ein kaltes Lächeln zeichnete sich jetzt auf seinem sonst so gutmütigen Gesicht ab, als er gefährlich leise antwortete: »Frau Wieser, Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass Sie uns so lange als Zeugin zur Verfügung zu stehen haben, wie wir das für nötig halten. Deshalb denke ich, wäre etwas mehr Zurückhaltung angebracht. Ich muss Sie sicherlich nicht daran erinnern, dass wir Sie das nächste Mal auch mit einem Streifenwagen von Ihrer Wohnung abholen können, anstatt uns wie freundliche Menschen, auf einen Termin zu einigen.«

Sina lief purpurrot an und zischte beleidigt: »Sie haben ja meine Nummer!« Damit verließ sie zornig den Raum.

Gerd Rieber sagte keinen Ton, sondern nickte zustimmend, woraufhin Heerse abwinkte und sich auf die Suche nach Lukas Bürg machte.

 

»Herrgott, Lukas, Sie können unsere Zeugen nicht so angehen!«

»Tut mir leid, Chef, aber diese Art von ...«, er brach ab.

»Von Frauen?«, setzte Heerse nun mit einem amüsierten Lächeln nach.

Lukas nickte.

»Sie meinen die Sorte, die eines Tages aufwacht und bemerkt, dass nichts so lief wie geplant und dass sie selbst daran schuld war?«

»Andreas Meiner ist tot, und diese Sina hat ihn auf dem Gewissen.«

»Das ist Unsinn. Auch unsere Geschlechtsgenossen neigen bisweilen dazu, selbst an ihrem Unglück schuld zu sein.«

Lukas hatte sich beruhigt und mittlerweile war ihm seine Unkontrolliertheit peinlich. »Tut mir sehr leid, das hätte nicht passieren dürfen«, stammelte er kleinlaut.

»Gut«, schloss Heerse das Thema ab und erkundigte sich nach Frank Dorthals Fortschritten.

»Dieser Theo von Lohberg wird erst morgen in Baden-Baden zurückerwartet. Er ist anscheinend noch auf einer Kunstmesse im Elsass. Frank wollte wissen, ob Sie morgen bei der Befragung dabei sein möchten.«

»Ja, natürlich. Wir fliegen heute mit der letzten Maschine zurück. Ich denke, wir haben, was wir brauchen. Alles Weitere können die Hamburger Kollegen übernehmen.«

 

* * *

 

Es war schon dunkel, als die Maschine Richtung Baden-Baden abhob. Heerse hatte sich zurückgelehnt und sah aus dem Fenster, während Lukas Bürg über seinen Notizen brütete.

Der junge Kommissar dachte an Lydia Hansons Worte bezüglich Theo von Lohberg. Der Baden-Badener hatte sich also in Mark verliebt und sie hatte das bemerkt. Lukas fühlte sich bei der Vorstellung, dass es Menschen mit so feinen Antennen geben sollte, unwohl. Sah man ihm vielleicht auch etwas an? Hatte ihn Lydia Hanson deshalb so spöttisch betrachtet, wusste sie mehr?

Das Piepen von Heerses Handy riss Lukas aus seinen Gedanken.

Das Gesicht des Vorgesetzten sprach Bände, als er die SMS las. Es hatte wieder einen Mord gegeben.

 

Als die beiden Polizisten in Rheinmünster landeten, wartete bereits ein Wagen auf sie. Mit heulender Sirene raste das Polizeifahrzeug Richtung Baden-Baden.

»Also wieder ein Mord«, sagte Lukas gerade, als sie den Ortsteil Geroldsau passierten. »Und wieder außerhalb des Stadtkerns.«

»Ja«, antwortete Heerse abwesend und massierte sich mit Zeigefinger und Daumen den Nasenrücken, »allerdings kann unser Täter unmöglich in der Fußgängerzone im Zentrum zuschlagen. Dort wäre er niemals ungestört.«

Lukas sah aus dem Fenster. Sie näherten sich jetzt einer Absperrung. Schon von Weitem konnte man die Polizeifahrzeuge und einen Krankenwagen erkennen.

Frank Dorthal kam ihnen entgegen, sein Gesicht machte es überflüssig, danach zu fragen. Offensichtlich hatte ihr Beilmörder erneut zugeschlagen.

»So viele Morde innerhalb weniger Tage und jetzt schon wieder ein neues Opfer«, begrüßte Heerse wütend seinen Mitarbeiter.

»Zwei Opfer, Chef«, antwortete dieser.

»Wie bitte?« Heerse sah ungläubig zu Frank Dorthal. Bisher hatte man ihm nur mitgeteilt, dass ihr Täter vermutlich erneut zugeschlagen hatte, Einzelheiten wusste er noch nicht.

»Ein Mann und eine Frau, Karin und Bernd Lauder, beide aus Baden-Baden. Sie dreißig, er fünf Jahre älter. Seit sechs Jahren verheiratet. Waren gerne in der Natur unterwegs. Sind am späten Vormittag zu den Geroldsauer Wasserfällen aufgebrochen und haben dann auf einer Lichtung Rast gemacht. Papiere, Geld, alles noch da.«

»Weiß man schon, wann es passiert ist?«, stellte Heerse seine nächste Frage und signalisierte mit einer Handbewegung, dass er nun zum Tatort gebracht werden wollte.

»Gefunden wurden sie um 21.00 Uhr von einer Gruppe Jugendlicher, die sich auf der Lichtung zum Feiern getroffen haben.«

»Hat man die schon befragt?«

»Ja, aber die haben niemanden gesehen. Laut erster medizinischer Untersuchung sind die Opfer schon seit mehreren Stunden tot. Vermutlich wurden sie um die Mittagszeit ermordet. Die ersten Schläge trafen sie von hinten. Der Täter hat sie offensichtlich überrascht.«

»Mitten am Tag bei hellstem Sonnenschein ...«, stieß Heerse geschockt hervor.

Die anderen schwiegen und so stapften die Männer mit Taschenlampen bewaffnet still durch den kühlen Wald.

Frank Dorthal war seit dem Fund der Leichen damit beschäftigt gewesen, die Untersuchungen zu koordinieren. Mittlerweile war es kurz vor Mitternacht.

»Ist sehr heftig«, sagte Frank Dorthal leise.

Heerse antwortete nicht darauf, sondern stellte sich auf das Schlimmste ein.

Im Schein der großen Strahler, die man um den Tatort herum aufgebaut hatte, bot sich den Beamten ein weiteres Bild des Schreckens.

»Zu wie viel Grausamkeit kann ein Mensch fähig sein?«, murmelte Heerse und sah mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf die beiden Leichen. Ihre Schädel klafften weit auseinander. Münder und Nasen ließen sich unter den dunkelroten verkrusteten Gewebebrocken nur noch erahnen. Die Körper lagen ausgestreckt dicht nebeneinander. Im ersten Moment erkannte der Hauptkommissar die weitere Verstümmelung der Toten gar nicht, aber dann erfasste sein Gehirn, was seine Augen bereits registriert hatten.

Heerse stieß ein leises »Jesus Maria!« hervor.

Der Mörder hatte den Opfern kaltblütig jeweils die rechte Hand abgeschlagen.

»Wo sind die Hände?«, flüsterte Lukas neben ihm.

Frank Dorthal räusperte sich, und als ihn seine Kollegen anblickten, zeigte er mit versteinertem Gesicht auf eine ausgebreitete Picknick-Decke hinter sich.

Wortlos gingen die Männer zu der bizarren Anordnung, die der Täter für sie hinterlassen hatte.

»Was ist das für eine Scheiße?«, fluchte Heerse leise.

Auf der karierten Decke lagen, ineinander verschlungen, die abgetrennten Hände der Opfer. Der Täter hatte sie zum Mittelpunkt seines »Werks« gemacht. Wie Zuschauer waren dahinter verschiedene Lebensmittel platziert – ganz offensichtlich der Inhalt der Wanderrucksäcke von Karin und Bernd Lauder. Als hätte jemand ein Büfett angerichtet, lagen dort in einer Reihe Früchte, Brot, Käse, ein kleiner Salzstreuer neben zwei großen Tomaten und eine noch geschlossene Flasche Mineralwasser. Die Hände der Toten wirkten dabei wie eine teuflische Skulptur. Dann fiel Heerse noch etwas anderes auf. Ein ganzes Stück abseits auf der Decke lag eine zerschlagene Armbanduhr. Die Zeiger standen auf sechs.

»Was ist das?«, fragte er in die Runde, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen.

»Die stammt vermutlich von Bernd Lauder.«

»Wieder eine kaputte Uhr«, sagte Lukas nachdenklich.

Heerse hatte genug gesehen. Jetzt kam es darauf an, ob die Spurensicherung etwas fand.

 

Präsidium der Kriminalpolizei, Baden-Baden

 

Der Hauptkommissar und seine Mitarbeiter hatten sich nur wenige Stunden Schlaf gegönnt. Schon am frühen Morgen saßen sie im Präsidium und besprachen den Fall.

»Nichts, wir haben nichts!«, rief Heerse gereizt.

»Wir wissen wie und wann«, sagte Lukas Bürg.

»Ja, und eigentlich sind wir uns auch ziemlich sicher, dass die Opfer zufällig ausgewählt wurden«, setzte Frank noch nach.

Heerse nahm einen großen Schluck von seinem heißen schwarzen Kaffee und entspannte sich ein wenig. Dann richtete er sich auf und griff erneut nach den Tatortfotos.

»Also gut, gehen wir davon aus, dass die Opfer zufällig ausgewählt wurden. Worin bestand dann der Zufall? Haben alle etwas gemein?«

»Sie sind aus Baden-Baden«, antwortete Lukas Bürg, dann schob er unsicher nach, »bis auf Mark Hanson.«

»Vielleicht die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt?«, warf Frank ein.

Heerse starrte den Oberkommissar kurz an und sprang auf. »Das ist es!«, rief er und ging zu ihrer kleinen Magnettafel an der Wand.

»Wenn wir davon ausgehen, dass Mark Hanson das erste Opfer war – und hoffen wir mal, dass in der Datenbank nicht noch weitere auftauchen –, dann könnte das für unseren Täter die Initialzündung gewesen sein.«

»Im Falle von Mark Hanson sprechen die Kollegen von der OFA von Raserei und Wut, während man bei den späteren Morden von einer wesentlich kontrollierteren Vorgehensweise ausgehen kann«, fasste Frank, der sich einen Ausdruck vom Schreibtisch geangelt hatte, den Bericht zusammen.

»Brutal ist jeder dieser Morde, aber bei Hanson hat der Mörder gewütet«, wiederholte Heerse. »Was, wenn er erst danach auf die Idee mit Baden-Baden kam? Vielleicht sind ihm die Broschüren aufgefallen ...«

»Oder wir haben es mit einem Baden-Badener zu tun, der, als ihn die Mordlust überkam, gerade in Hamburg war«, meinte Lukas.

Heerse nickte. »Das will ich gar nicht bestreiten. Unser Täter kann durchaus hier aus Baden-Baden oder aus der näheren Umgebung sein, aber warum sucht er sich die Opfer auch hier in Baden-Baden aus? Wäre es, wenn er hier lebt, nicht klüger, eine entfernte Stadt für die Taten auszuwählen?«

»Schon, aber hier kennt er sich aus. Die Tatorte sind abgelegen, die muss ein Fremder erst einmal finden«, hielt Lukas dagegen.

»Oder es ist ein Fremder, der viel Zeit damit verbracht hat, die Stadt zu erkunden«, warf Frank ein.

»Ich glaube, dass unser Täter zu Baden-Baden und der Region eine besondere Beziehung hat. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass er seine Taten ganz bewusst hier begeht«, sagte Heerse überzeugt.

»Aber warum?«, hakte Lukas nach.

»Das ist eben die Frage. Ich denke, wenn wir diese Botschaften entschlüsseln könnten, dann kämen wir ein ganzes Stück weiter.«

»Die Botschaften sind doch eindeutig, Chef!« Frank Dorthal starrte wütend auf die Tafel. »Wir haben es mit einem kranken Schwein zu tun.«

»Sie haben recht, aber leider sind diese ›kranken Schweine‹ nicht so einfach zu erkennen.«

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und ein Mitarbeiter der Zentrale steckte den Kopf herein.

»Rolf, das solltest du dir ansehen. Kommt mittlerweile auf allen Kanälen.« Mit einem Kopfnicken deutete der Beamte auf den kleinen Fernseher in der Ecke des Raumes, dann sagte er noch: »Im Internet findest du es auch«, damit schloss er die Tür.

Lukas Bürg hatte bereits das Gerät eingeschaltet und sofort wussten die Männer, was ihr Kollege gemeint hatte.

»Diese verdammten kleinen Wichser!«, machte sich Frank Dorthal Luft. »Ich hätte deren Handys konfiszieren müssen.« Wütend warf er den Stoß Papiere, den er gerade in der Hand hielt, auf den Schreibtisch.

Offensichtlich hatten die Jugendlichen, die gestern die beiden Leichen gefunden hatten, nichts Besseres gewusst, als mit der Handykamera einen Film zu drehen und ihn zu veröffentlichen.

»Vergiss es«, sagte Lukas nun, »wenn die das gefilmt haben, dann war das Material schon im Netz, bevor ihr am Tatort angekommen seid.«

»Die kriege ich dran wegen Behinderung der Polizei!«

Dann verstummten die Männer, als im Fernsehen eine Sprecherin sagte: »Sieht aus, als hätte der Täter eine Nachricht hinterlassen. Wir sehen die abgetrennten Hände der Opfer, als wären sie zum Gebet gefaltet ...«

Heerse war geschockt, das hatte gerade noch gefehlt. Vermutlich würde man nun nur noch von den Botschaften des Mörders sprechen, den Beamten keine Ruhe mehr lassen und der Täter, der ab sofort bestens über den Ermittlungsstand informiert wäre, könnte sich gemütlich zurücklehnen und immer dreister seine grausamen Verbrechen begehen. Trotzdem sagte er zu Frank: »Vorwürfe helfen nicht weiter. Irgendwann wäre wahrscheinlich sowieso etwas durchgesickert.«

Die Worte des Hauptkommissars sollten sich noch in derselben Minute bestätigen, als Lukas Bürg auf den nächsten Sender umschaltete und plötzlich ein bekanntes Gesicht auf dem Bildschirm auftauchte.

»Was für ein dummes Mädchen«, kommentierte Heerse den Fernsehauftritt von Sina Wieser, die gerade verkündete, dass sie erneut von der Polizei befragt worden war. »Und ja«, antwortete sie, gestylt wie ein Hollywoodstar, »wir haben auch über Baden-Baden gesprochen!«

»Es sieht also tatsächlich so aus, als wäre Andreas Meiner unschuldig. Gestorben, weil ihn die Justiz in die Enge getrieben hat«, kommentierte ein Sprecher am Ende des Interviews.

Heerse zog mit einem lauten Fluch den Stecker und fragte sich, wie viel schlechter der Tag noch werden konnte.

Eine halbe Stunde später verließen er und Frank Dorthal das Präsidium, um sich mit Theo von Lohberg zu unterhalten. Lukas Bürg sollte einige Nachforschungen am Computer vornehmen. Alle drei stellten sich die gleiche Frage: Wohin würde sie dieser Irrsinn noch führen?