45

Berlin wusste, dass man sie absichtlich warten ließ, obwohl sie den ersten Termin an diesem Tag bekommen hatte. Das war ein Test.

Sie war mit scheußlichen Kopfschmerzen aufgewacht und hatte kurz überlegt, warum der Tag so unangenehm begann. Dann hatte sie versucht sich zu bewegen. Ihre Knie schmerzten, und ihre Beine waren ganz steif. Nur der Gedanke, dass es Coulthard noch viel schlimmer gehen musste, gab ihr Kraft.

Sie wackelte mit den Zehen, um die Blutzirkulation anzuregen, und war entschlossen, ruhig zu bleiben und kein Zeichen der Schwäche zu zeigen. Das musste sie jetzt durchstehen.

Bonnington beobachtete Berlin durch sein Bürofenster im Wartezimmer.

Sie saß ganz still da und las anscheinend entspannt in einer Illustrierten. Zu entspannt. Sie sah müde aus, aber sie war voll da und konnte sich auf die Lektüre konzentrieren, also hatte sie sich keine Beruhigungsmittel besorgt. Die würde sie aber mit Sicherheit brauchen, wenn sie auf Entzug war.

Sie sah hoch und erwischte ihn beim Starren. Bonnington schmeckte Galle in seiner Kehle. Er versuchte sich zu sagen, dass sich seine Wut gegen das Establishment richten sollte, das noch immer eine Fortführung dieser Farce erlaubte. Das war falsch.

Berlin hielt seinem Blick stand. Er fühlte seine Wut stärker werden. Sie war ein Opfer. Er durfte ihr keine Schuld geben. Sie brauchte seine Hilfe. Aber es half nichts. Ihr Widerstand war offensichtlich. Disziplin war die Antwort darauf.

Er öffnete die Tür zu seinem Büro und betrat mit seinem schönsten Lächeln das Wartezimmer.

»Berlin, würde Sie bitte hereinkommen?«

Berlin ließ sich auf dem lila Sitzsack nieder und beobachtete Bonnington, der sich auf seinem hin und her wand. Ein dünner Schweißfilm bildete Tröpfchen auf seiner Oberlippe.

»Das ist Erpressung!«, fuhr er sie an.

»Ich schaffe die gleichen Voraussetzungen. Sie glauben, Sie haben das Recht, über mein Leben zu entscheiden, deshalb nehme ich mir ein bisschen von diesem Recht zurück. Das ist ganz einfach. Dempster ist davon überzeugt, dass Sie ein Mörder sind, und er möchte, dass ich ihm zu den entsprechenden Beweisen verhelfe.«

»Und das werden Sie tun, falls ich Ihnen keine Überweisung für einen anderen Heroin-Verschreiber gebe?«

»Korrekt.«

Bonnington errötete und sprang auf. »Das ist völlig falsch. Ich werde sofort zur Polizei gehen und das klären. Ich lass mich doch nicht von einem korrupten Polizisten erpressen und von einem verkommenen …« Er brach ab, bevor er es ausgesprochen hatte.

»Junkie«, beendete sie den Satz. Jetzt hatte sie ihn. Er hatte seine Beherrschung verloren und seine wahren Gefühle offenbart. Sie redete nun mit eindringlicher Überzeugung.

»Wenn man Sie wegen Mordes festnimmt oder nur mitnimmt, um der Polizei bei ihren Nachforschungen zu helfen, wie es immer heißt, dann werden die Zeitungen davon erfahren. Selbst wenn die Anklage fallen gelassen wird, sind Sie beruflich erledigt.«

Bonnington riss sich zusammen. Er setzte sich wieder und fixierte sie mit kühlem Blick. Es war beunruhigend, wie rasch er die Kontrolle über sich zurückgewann.

»Und was genau haben Sie, mit dem Sie Dempster überzeugen wollen, dass er mich anklagt? Ich habe sie nicht umgebracht.«

Berlin nutzte den Augenblick. Jetzt hab ich dich.

»Sie? Ich habe von Lazenby gesprochen.«

46

Thompson mochte diese Jahreszeit nicht. Er ging im Dunkeln zur Arbeit und im Dunkeln nach Hause. Aber am meisten verabscheute er, dass er den ganzen Tag über im Dunkeln gelassen wurde.

Der morgendliche ständige Strom von Ärgernissen war zu einer wahren Frustrationslawine angeschwollen: unvollständige Berichte, Computerausfälle, unerwiderte Anrufe. Das war nun der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Gestern hatte er einen Kollegen vom Außendienst beauftragt, die Akte über die Familie Doyle zu suchen. Jetzt las er eine E-Mail, dass DCI Dempster sich diese Akte aus dem Archiv ausgeliehen hatte.

Dempster ging ihm langsam auf die Nerven.

Er stand auf und holte seinen Mantel. Flint sprang vom Stuhl hoch, aber Thompson winkte ab. »Bleib dran, Flint. Ich muss einen Mann wegen einem Hund sprechen.« Er marschierte hinaus und tippte eine Nummer in sein Handy ein.

Als Dempster Berlin aus den Klauen von Flint und Thompson gerettet hatte, hatte er das heruntergespielt, aber es war längst nicht so einfach oder folgenlos gewesen, wie er sie hatte glauben lassen. Der Anruf von Thompson kam nicht ganz unerwartet. Er hoffte nur, dass das anstehende Treffen eine Übung in Sachen Schadensbegrenzung sein würde.

Thompson hatte den ersten Zug gemacht und den Ort ausgesucht. Sie sollten sich im Becks in der Red Lion Street treffen. WC1. Weit weg vom Polizeirevier. Das war nicht Dempsters Vorstellung von einem Lunch, aber er hatte das Gefühl, dass Thompson zu den Typen gehörte, die verächtlich grinsen würden, wenn er Sushi vorgeschlagen hätte.

Dempster beschloss, die Klappe zu halten und Thompson die Führung zu überlassen. Es würde ihm schwerfallen, nichts zu sagen, aber wenn nötig, konnte er sein Gegenüber auch mit Schweigen strafen. Bei Berlin schien das zu wirken. Oder er würde lügen. Er hatte kein Problem damit, einen Kollegen zu belügen. Thompson war ihm schnurzegal, und er musste seinen eigenen Arsch retten.

Thompson sah, wie Dempster die Speisekarte minutiös studierte.

»Hoffentlich schmeckt das«, sagte er.

»Dafür garantiere ich«, sagte Thompson. »Alles trieft von Fett, wie früher. Diese Kneipe hier wurde noch nicht von Jamie Oliver aufgehübscht.« Er schmunzelte über seinen Witz, aber Dempster schien ihn nicht zu verstehen. Komischer Kauz, dachte Thompson. Ihm war auch aufgefallen, dass Dempster anscheinend nur einen Anzug besaß, der ihm noch nicht mal richtig passte.

Eine genervte Bedienung wartete. Thompson bestellte Black Pudding, Speck, Eier und Fritten, Brot, Butter und Tee.

»Für mich dasselbe«, sagte Dempster.

Sie schnappte sich zwei Teller mit bereits gebutterten Broten vom Tresen, knallte sie vor sie hin und verschwand.

»Warum interessieren Sie sich für Doyle?«, kam Thompson sofort zur Sache.

»Ihnen ist doch bekannt, dass ich die Ermittlungen der örtlichen Kripo unterstützen soll, die den Mord an Lazenby bearbeitet. Es könnte eine Verbindung zu Doyle geben.«

Es gab keine Verbindung, und beide wussten das, dachte Thompson. Er runzelte die Stirn. »Ich habe nicht um ein Zitat aus den Betriebsvorschriften gebeten, Kumpel«, knurrte er. Er wartete, ob Dempster die Sache näher ausführen würde, aber der saß nur da. Thompson biss von seinem Butterbrot ab. »Sie haben sich eine alte Akte über Doyles Vater aus dem Archiv ausgeliehen, die über den Großvater meines Opfers.«

»Ja.«

»Und wo soll da die Verbindung zu Lazenby sein?«

Thompson wusste verdammt genau, dass Dempster die Akte für Berlin besorgt hatte, im Tausch für irgendein heimliches Geschäft. Dempster antwortete nicht, deshalb versuchte er es aus einem anderen Blickwinkel.

»Berlin hatte keinen Grund, vor uns wegzurennen, das wissen Sie.«

»Ihr Kollege hat sie gejagt.«

»So ein frecher Lümmel. Er hält es für Mangel an Respekt, wenn man sich mit jemandem unterhält und der dann einfach wegrennt.« Er machte eine Pause, als die Kellnerin mit zwei riesigen Tellern kam, jedes Gericht war von einem dicken Batzen glänzendem Black Pudding gekrönt. Thompson fiel wie ein Hungernder darüber her.

»Sie waren so ganz zufällig da, ja? Um Ihre Rolle als edler Ritter zu spielen. Reichen Sie mir bitte mal die braune Soße«, sagte er mit vollem Mund.

Dempster stierte auf seinen Teller, als wäre er eine tödliche Waffe. »Sie ist wichtig für meinen Fall«, sagte er.

»Ja. Ich verstehe, dass Sie in einer schwierigen Lage sind. Keine Ressourcen, keine Schnüffler und keinerlei Einfluss beim Team vor Ort. Man hat mir gesagt, dass Sie sich einen persönlichen Scherz erlauben, dass der Tod des Arztes auf das Konto einer Bande geht, falls die Waffe ein Hinweis ist, und dass die hinter seinen Drogen her war.«

»Hören Sie mal, Thompson, ich habe ein bisschen auf Berlin aufgepasst, das ist alles. Ich bin dem Auto, das sie zu ihr geschickt haben, zum Limehouse-Becken gefolgt und habe sie im Gespräch mit Ihnen beiden gesehen. Als sie wegrannte, sah ich das als eine Gelegenheit, ihr Vertrauen zu gewinnen. Außerdem ist sie keine Tatverdächtige, also warum verfolgen Sie sie?«

»Sie hat weder ein Alibi für den Mord an ihrer Informantin noch für den an ihrem Vorgesetzten. Sie sehen die Verbindung, ja?«, sagte Thompson.

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass sie eine Tatverdächtige für den Mord an dieser Doyle ist? Und ich dachte, das mit Nestor war Selbstmord?«

»Höchstwahrscheinlich«, sagte Thompson widerstrebend. »Wir warten immer noch auf den Obduktionsbefund. Diese verdammt scharfen Schnitte.« Thompson lächelte über seinen Witz, aber wieder verzog Dempster keine Miene. »Sehen Sie, der letzte Anruf von Nestor ging an Berlin, und deshalb wollten wir sie – äh, ihre Mailbox. Aber die war gelöscht, erst von ihr und dann von der verdammten Telekom. Es könnte was dahinterstecken oder auch nichts, aber sie ist die Einzige, die uns sagen kann, was er gewollt hat.«

»Haben Sie schon mal daran gedacht, sie höflich darum zu bitten?«

»He!«, bellte Thompson. »Sie brauchen mir nicht zu sagen, wie ich meinen Job machen soll. Wie schon gesagt, sie hat für beide Todesfälle kein Alibi, und deshalb hab ich das Recht, sie wie eine verdammte Verdächtige zu behandeln und nicht wie meine Busenfreundin. Sie hat gesagt, sie wäre allein zu Hause gewesen.«

Dempster nippte an seinem starken Tee und zog eine Grimasse. »Wir wissen beide, dass sie dafür nicht infrage kommt. Sie suchen nur nach einem Druckmittel. Ich bin ganz ehrlich zu Ihnen, Thompson. Ich will sie nicht im System haben.«

»Warum nicht?«

»Es wäre nicht gut für ihre Gesundheit, und das wäre schlecht für meine Untersuchung.«

Thompson kaute an einer Fritte und starrte Dempster an, während er zwei und zwei zusammenzählte. »Dr. Lazenby.«

Dempster reagierte nicht.

»Sie war seine Patientin.«

Dempster blieb zugeknöpft, und das verriet Thompson alles, was er wissen wollte. Er rülpste leise. »Dann ist sie jetzt also in drei Mordfälle verwickelt, nicht nur in zwei. Ihre Informantin, ihr Chef und ihr Arzt.«

Dempster stocherte in seinem Essen herum.

»Sie haben noch gar nichts gegessen«, bemerkte Thompson.

»Mir ist gerade eingefallen, dass ich Vegetarier bin.«

Das war zu viel.

Thompson wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab, stand auf, holte einen Geldschein aus seiner Brieftasche und ließ ihn auf den Tisch fallen.

»Ich weiß nicht, welches Spiel Sie spielen, Dempster, aber halten Sie sich aus meinem raus. Und sorgen Sie dafür, dass die Doyle-Akte morgen früh auf meinem Schreibtisch liegt.«

47

Eine halbe Stunde später wartete Dempster im Auto vor Berlins Wohnung. Als sie kam, stieg er aus und folgte ihr die Treppe hoch. Er zeigt ein ungesundes Interesse an mir, dachte sie, als sie die Wohnung betraten.

»Und?«, sagte er ungeduldig.

»Sie sind ein verdammter Stalker, Dempster.«

Sie ging ins Bad.

Als sie herauskam, hatte er den Wasserkocher angestellt, was sie ein bisschen dreist fand – er benahm sich, als ob er hier zu Hause wäre.

Sie gab ihm den Minirecorder, und er schaltete ihn ein und spielte ihre Unterhaltung mit Bonnington ab.

Dempster runzelte die Stirn. Offensichtlich war es nicht das, was er haben wollte.

»Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, dass er Lazenby nicht ermordet hat. Aber es gibt noch die Sache mit Merle Okonedos Tod. Sonst hätte er gesagt ›Ich hab niemanden ermordet‹ oder ›Ich hab keinen umgebracht‹ oder vielleicht ›Ich hab nichts Verbotenes getan‹. Irgendsowas, nicht ›Ich habe sie nicht umgebracht‹. Seine Antwort war eher wie beim Poker: ›Ich will sehen.‹«

Er wusste, dass sie recht hatte, aber sie sah, dass er das nicht gut fand.

»Ich wusste, dass es ihn wütend machen würde, wenn Abschaum wie ich ihn bedroht. Er hat sich schnell erholt, aber nicht schnell genug. Ich sage Ihnen, an Okonedos Tod ist was nicht ganz koscher«, beharrte Berlin.

»Aber da kommen wir nicht weiter, mit all diesen Augenzeugen, die sagen, es wäre ein Unfall gewesen. Reine Zeitverschwendung, da weiterzumachen«, sagte er wütend.

Sie sah ihn angewidert an. »Sie sind echt ein Blödmann, Dempster.«

Sein Blick gab ihr zu verstehen, dass sie zu weit gegangen war. Sie versuchte, sich zu beherrschen, indem sie sich bewusst machte, dass sie am längeren Hebel saß. Aber das funktionierte nicht. Er war eben bloß ein verdammter Bulle wie alle anderen, der sich nur für Ergebnisse interessierte.

»Wir sind fertig miteinander! Ich spiele keins von Ihren Spielchen mehr mit!« Sie merkte, dass sie brüllte, und bemühte sich, ihre Stimme wieder auf normale Lautstärke zu drosseln. Das funktionierte auch nicht. »Ich lass mich von Ihnen nicht manipulieren, weil Sie sich in einen Wettstreit mit dem Team vor Ort eingelassen haben!«

Dempster brüllte zurück. »Aber die arbeiten doch gar nicht daran! Die warten doch nur, dass das Heroin irgendwo auftaucht, und dann folgen sie den Leichen. Sie sollten besser als alle anderen wissen, was passiert, wenn hochwertiger Stoff in Umlauf kommt: Junkies, die bisher gestrecktes Zeug gespritzt haben, fallen tot um wie die Fliegen. Oder sind die Ihnen total egal? Halten Sie sich für was Besseres als den durchschnittlichen Süchtigen?«

Der Kessel blubberte und kochte, und das Zimmer füllte sich mit Dampf. Dempster wollte ihn ausschalten.

»Nein!«, brüllte sie. »Hauen Sie einfach ab, Dempster! Verschwinden Sie verdammt noch mal aus meinem Leben!«

Er ging und ließ die Tür offen.

Sie trat sie hinter ihm zu.

Berlin leerte einen Scotch und schäumte. Dempster hatte sie benutzt und dann fallen gelassen. Oder hatte sie ihn fallen gelassen? Jetzt kümmerte er sich ganz allein um seine Ermittlung im Fall Lazenby, und sie konnte sich auf Gina Doyle konzentrieren. Wenn man angesichts ihres Geisteszustands von »konzentrieren« reden konnte. Komm schon, redete sie sich gut zu, du hast noch zwei Dröhnungen, bevor alles aus dem Ruder läuft.

Sie startete den Computer, um an ihren Berichten und Tabellen zu arbeiten. Sie musste jetzt Disziplin wahren und mit ihrer Untersuchung weitermachen, wenn sie irgendwas erreichen wollte.

Aber der Streit mit Dempster tobte ihr im Kopf herum. Die Hoffnung auf eine Lösung ihres Heroinproblems verschwand zusammen mit ihm durch die Tür. Es gab auch kaum Aussicht, dass Bonnington auf ihren Erpressungsversuch reagieren würde. Es war nur ein Trick gewesen, ein Schachzug.

Er war kein Dummkopf, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass er wegen der vagen Drohung einer Süchtigen einknickte.

Wenigstens in einer Hinsicht war Dempster nützlich gewesen. Er hatte ihr die alte Doyle-Akte besorgt. Sie griff neben den Computer, wo sie sie hingelegt hatte. Sie war nicht da.

Sie wusste sofort, dass Dempster sie mitgenommen hatte. Wahrscheinlich hatte er sie eingesteckt, als sie im Bad gewesen war. Er hatte von Anfang an seinen Abgang geplant. Also hatte er sie fallen gelassen.

Sie fühlte ein Aufflackern von Enttäuschung, aber dann schob sie das Gefühl beiseite und versuchte einzuschätzen, was Dempsters heimtückisches Verhalten für ihre gegenwärtige Situation bedeutete. Nach allem, was sie für ihn getan hatte, würde er sie nicht mehr wegen der gefälschten Rezepte belangen, das könnte sonst echt übel für ihn werden. Immerhin, auch schon eine Art Erfolg.

Für ihre Untersuchung hatte die alte Doyle-Akte sie zu dem pensionierten Senior Constable Marks geführt, und sie konnte nun Ginas Beweggründe besser verstehen. Aber worin bestand die Verbindung zwischen Ginas Tod und Nestors? Del hatte ihr erzählt, dass Nestor sich in seinem Büro eingeschlossen hatte, nachdem Coulthard ihm das Foto der Leiche gezeigt und ihm wahrscheinlich mitgeteilt hatte, dass sie Doyles Tochter war. In dieser Nacht war Nestor abgestürzt, und zwar wörtlich. Blieb noch zu klären, ob er ermordet worden war.

Coulthard schuldete Doyle etwas, der seinerseits Coulthard verdächtigte, dass er seine Tochter ermordet hatte oder wusste, wer es getan hatte. Coulthard hatte auf Doyles Wunsch hin die Fortsetzung der Observierung verhindert, aber Nestor hatte alles gestoppt.

Das hatte Doyle offensichtlich auch beschäftigt. Sein Partner hätte ihm gesagt, dass Nestor sich darum gekümmert hatte. Er hätte die Informantin nicht umzubringen brauchen.

Berlin kam zu keinem Ergebnis.

Es musste irgendwas bei den Informationen geben, das ihr entgangen war, aber sie hatte keine Ahnung, was das war. Sie goss sich noch einen Scotch ein und ging wieder ihre Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Doyle und Coulthard durch. Sie hatte geschrieben:

Doyle (aggressiv): Was ist denn nun mit diesem Nestor, dem richtigen Chef. Wissen Sie, warum er alles gestoppt hat?

Coulthard (hysterisch): Hat er nicht gesagt. Und jetzt ist er tot, und es gibt keine Möglichkeit, es herauszufinden.

Vielleicht gab es doch eine. Doyle hatte gesagt, er wüsste von seinem Partner, dass Nestor der Chef war. Wer war also dieser Partner?

Falls Doyle, Coulthard und Nestor mit dem Mord an Gina nichts zu tun hatten, blieb da noch dieser Partner.

Sie klickte Nestors Mailbox an und spielte sie noch einmal ab. Sie hatte den Text – soweit sie konnte – verlangsamt, beschleunigt und entstört. Aber das half nichts, sie erkannte die Stimme nichts, konnte nicht genau hören, was gesprochen wurde, und verfügte nicht über die Fachkenntnisse, die Tonqualität zu verbessern. Aber ein raues, spöttisches Lachen und ein Schluchzen waren unverkennbar.

48

Berlin lebte nach dem Motto: Halte dich eng an deine Freunde und noch enger an deine Feinde. Sie hatte nur wenige Freunde, deshalb gab es da keine Drängelei. Um ihren Feinden genügend Platz einzuräumen, hätte sie die Albert Hall mieten müssen.

Sie tippte Coulthards Nummer in ihr Handy ein. Ihre Rufnummernanzeige war unterdrückt, deshalb standen die Chancen gut, dass er drangehen würde.

»Acting General Manager Coulthard am Apparat.«

»Dann sind Sie also wieder im Job?«, fragte sie.

Es gab eine Pause. Da sich das Gleichgewicht der Kräfte zwischen ihnen verändert hatte, musste Coulthard fieberhaft überlegen, wie er ihr antworten sollte.

»Ich hatte vor, Sie anrufen«, sagte er mit seiner geschäftsmäßigen Stimme.

»Ich war schneller. Ich muss Sie sehen.«

»Wo?«

»Hier. In meiner Wohnung.«

»Das halte ich für keine gute Idee. Ich kann es mir nicht leisten, bei Ihnen gesehen zu werden.«

»Wer sollte Sie schon sehen? Hier gibt es keine Beobachter.«

Dieses Mal war die Pause vielsagend.

Na gut, dachte Berlin, vielleicht gibt es doch einen Beobachter. Aber beobachteten die ihn oder mich?

Sie sah aus dem Fenster.

»In der British Library. In einer halben Stunde.«

Berlin sah vom Zwischengeschoss aus zu, wie die Sicherheitsbeamten Coulthards Tasche durchwühlten. Coulthard hatte ihr einmal stolz mitgeteilt, dass der taktisch verzichtbare Elektroschocker, genannt Natter, auf der Straße eine abschreckende psychologische Wirkung besaß, aber kaum körperliche Verletzungen zufügen konnte. Eine Superkombination.

Zivilisten war es nicht erlaubt, einen bei sich zu führen, und er hatte seinen offensichtlich mitgenommen, als er den niederen Polizeidienst quittiert hatte. Coulthard war wohl irgendwie nie darüber hinweggekommen, dass er kein Beamter mehr war.

Der Wachmann winkte Coulthard durch. Also hatte der seinen Elektroschocker bestimmt im Kofferraum gelassen. Coulthard blickte sich im Foyer um, sah sie und humpelte zum Aufzug. Im Lampenlicht waren seine blauen Flecke deutlich zu sehen.

»Das Facelifting war erfolgreich«, sagte sie, als er näher kam.

»Ja. Hatten wir denselben Chirurgen?«

Ihre Hämatome waren verblasst, aber der Schnitt vom Überfall der Straßenräuber hatte eine Narbe durch die Augenbraue hinterlassen.

Sie wollte Kaffee und ein Stück Kuchen. Coulthard ging alles pflichtbewusst holen. Die British Library hatte die besten Rosinenkuchen von ganz London. Friedhofsfliegen hatten sie sie als Kinder genannt. Ein Schauder durchfuhr sie. Woher kam bloß dieses Zeug aus ihrer Kindheit? Sie sah plötzlich eine leere, weißgetünchte Wand vor sich. Sie konnte nicht darüber hinwegsehen, und die Mauer erstreckte sich endlos in alle Richtungen. Ein Netz aus winzigen Haarrissen auf der Oberfläche weitete sich zu Spalten.

Coulthard stellte den Kaffee und das Gebäck vom Tablett auf den Tisch und setzte sich.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte er sich fast besorgt.

»Klar, bestens.«

»Sie sind etwas blass.«

Sie nahm sich einen Feigenkeks und biss rein. »Niedriger Zuckerspiegel«, sagte sie und klappte ihren Laptop auf. »Ich möchte, dass Sie sich etwas anhören.«

Plötzlich weit entfernte Stimmen, eine davon die von Nestor, der ein Nichts anbrüllte.

Sie konnte förmlich sehen, wie sich die Rädchen drehten, als Coulthard herauszufinden versuchte, was er hörte und was er aus dieser Situation herausholen konnte. Aber er war kein schneller Denker.

»Haben Sie die andere Stimme erkannt?«, fragte sie.

»Hm. Können Sie das noch mal abspielen?«

Er hatte sie nicht erkannt, sonst wäre er großspuriger gewesen, weil er dachte, er wüsste etwas und sie nicht. Aber sie spielte mit, nur für den Fall, dass er etwas zurückhielt. Sie ließ es noch einmal abspielen.

»Sie kennen die Führungsetage«, sagte sie. »Sie waren mit Nestor in Besprechungen. War da diese Stimme dabei?«

Er hob die Hände. »Ehrlich, ich bin mir nicht sicher. Wenn ich den Zusammenhang wüsste, könnte das helfen.«

Typisch, dachte sie. Ein mieser und durchschaubarer Versuch, an mehr Info heranzukommen. Wissen ist Macht.

»Hören Sie mal, Coulthard, falls Sie auch nur die leiseste Ahnung haben, wer das sein könnte, dann sagen Sie’s. Ich bin nicht zum Spaß hier, dafür stecke ich schon zu tief in der Scheiße. Ich würde Sie gern in einen noch größeren Misthaufen fallen lassen, und das tue ich auch, sobald Sie keinen Nutzen mehr für mich haben.«

Sie redete mit leiser, drohender Stimme. Der lernbegierige junge Mann auf der anderen Seite des Tischs las ein Buch mit dem Titel Warum jeder jedem etwas schuldet und niemand bezahlen kann. Nun nahm er seine Tasche und ging zu einem anderen Tisch.

Coulthard protestierte. »Berlin, Kollegin, ich weiß es nicht.«

Sie wollte den Laptop zuklappen, aber Coulthard streckte die Hand aus, um sie daran zu hindern.

»Hören Sie, wenn ich das für Sie rausfinde, sind wir dann quitt?«

»Träumen Sie weiter«, sagte sie und ließ den Deckel zuschnappen.

»Schicken Sie mir das per E-Mail«, bettelte Coulthard.

Berlins Miene verriet nichts.

»Einer von den Jungs, die an den Fällen Doyle und Nestor arbeiten, ist ein Kumpel von mir«, sagte Coulthard.

»Flint«, sagte sie.

Falls ihn ihr Wissen überraschte, konnte er das gut verbergen.

»Ja. Sein Team hat Dutzende von Zeugen befragt. Vielleicht erkennt einer von denen die Stimme.«

Sie aß den letzten Bissen des Feigengebäcks, während sie seine Worte überdachte. Coulthards Augen glänzten erwartungsvoll. Er will das zu sehr, dachte sie.

»Nein.«

Coulthard stand auf. »Wie Sie wollen. Sonst noch was?«

»Nein, verpissen Sie sich.«

Er schob ihr sein Stück Kuchen hin. »Da, Sie können meinen haben. Ich kann sowieso nichts essen. Mein Kiefer macht da nicht mit.«

Er humpelte davon. Sie sah ihn mit dem Aufzug nach unten fahren. Als er unten ankam, holte er sofort sein Handy raus. Bestimmt rief er Flint an.

Sie hatte bereits ihr Handy in der Hand.

»Limehouse Polizeirevier«, sagte ein gelangweilte Stimme.

»DI Thompson, bitte.«

»Darf ich um Ihren Namen bitten?«

Als sie nicht antwortete, ertönte ein tiefes Seufzen am anderen Ende. »Ich stelle Sie durch.«

Flints Handy zwitscherte in demselben Augenblick, als das Telefon auf Thompsons Schreibtisch klingelte.

»DCI Thompson am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«

Die Person am anderen Ende nannte nicht ihren Namen, aber Thompson erkannte ihre Stimme. Sie kam gleich auf den Punkt. »Kennen Sie The Approach? Können Sie allein kommen?«

»Ja und ja.«

»In einer Stunde?«

Thompson blickte hinüber zu Flint, aber der konzentrierte sich ganz auf seinen Anruf und redete sehr leise.

»Passt mir gut, Sir«, sagte Thompson und legte auf.

Als er aufstand und seinen Mantel anzog, beendete Flint sein Gespräch. »Ich ruf dich zurück«, sagte er und legte auf. Er stand auf und griff nach seinem Mantel.

»Bleiben Sie hier und überprüfen Sie noch mal die Zeugenaussagen, ja, Flint?«

»Was? Warum denn?«

»Wir könnten etwas übersehen haben. Polizeiarbeit verlangt viel Geduld.«

»Und wo gehen Sie verdammt noch mal schon wieder hin?«, gab Flint zurück.

Thompson warf ihm einen Blick zu, der ihn an die Befehlskette erinnern sollte.

»Sir, hör’n Sie mal, Sir«, polterte Flint. »Was ich meinte, Sir, war – na ja, ich hab den Eindruck, dass meine Fähigkeiten bei diesen Ermittlungen nicht richtig eingesetzt werden. Als stellvertretender Leiter möchte ich gern informiert werden.«

Thompsons Stimme war sanft. »Ganz recht, DS Flint. Ich sollte Sie darüber informieren, dass ich gerade eine E-Mail erhalten habe mit dem angehängten Obduktionsbericht von Nestors Leiche«, sagte er. »Darin steht, dass die Leiche keinerlei Abwehrwunden aufweist, keine Hämatome oder andere Zeichen eines körperlichen Angriffs, und der Alkoholgehalt in seinem Blut war jenseits von Gut und Böse. Todesursache: Herzversagen infolge von Unterkühlung.«

Er hielt inne, damit Flint Zeit hatte, sich Sorgen zu machen. »Ich sollte Ihnen weiterhin mitteilen, dass wir, da wir nun definitiv nur eine Leiche haben – denn Nestor ist ins Wasser gefallen, weil er besoffen war, oder er hat sich umgebracht – als personell überbesetzt angesehen werden. Wenn ich meinen Bericht bei meinen Vorgesetzten abliefere, wird es zu Personalveränderungen kommen.«

Sobald sich die Tür hinter Thompson geschlossen hatte, war Flint wieder am Telefon.

49

Eine Viertelstunde später stellte Flint vor Coulthard ein Pint Guinness auf den Tisch und machte es sich mit seinem Stella bequem. Coulthard hob sein Glas und trank es mit einem einzigen Schluck halb leer. Flint registrierte die geschwollene Nase und die dunkelvioletten Hämatome rund um Coulthards Augen. »Na, was war das denn, Kumpel? Dein Buchmacher oder dein Dealer?«

»Sehr witzig«, blaffte Coulthard.

»Also deine Frau?«, sagte Flint ohne eine Spur von Humor.

Coulthard war sichtlich unbeeindruckt. Er trank schweigend sein Bier aus.

Flint hatte ihn noch nie so erlebt. Sonst lächelte er immer, stets zu einem kleinen Scherz aufgelegt und voller Mitgefühl, wenn was schiefgelaufen war.

Was immer ihm auch zugestoßen war, der Typ war völlig durch den Wind, kein Zweifel.

Flint machte sich keine Illusionen. Coulthard war ein schlauer Mistkerl, der dir mit der einen Hand ein Messer zwischen die Rippen stieß, während er dir mit der anderen auf die Schulter klopfte. Doch bei irgendwem hatte sein Charme offensichtlich nicht verfangen.

»Ich hab da ein kleines Problem, Kollege«, sagte Coulthard schließlich.

»Raus damit. Mach es nicht so spannend.«

»Es war Doyle.«

»Sag bloß, du hast nicht voll bezahlt«, gab Flint ungläubig zurück.

»Du hast mich mit dem Arschloch bekanntgemacht«, zischte Coulthard.

»Und ich hab dich gewarnt! Ich hab dir gesagt, dass er bekannt dafür ist, dass man bei ihm Kohle kriegen kann, dass er aber keine Gefangenen macht. Gib also verdammt noch mal nicht mir die Schuld!«

»Ja, okay, aber das war es nicht. Die Schulden waren abbezahlt.«

»Wie?«

»Ich habe ihm einen Gefallen getan.«

»Wahnsinn! Im Job?«

Coulthard nickte kaum wahrnehmbar.

»Du blöder Arsch! Wie hat er denn rausgekriegt, wo du arbeitest?«

Coulthard zuckte mit den Schultern.

»Du und deine große Klappe«, sagte Flint. »Und was ist passiert?«, fragte er, aber er war sich nicht sicher, ob er das wirklich wissen wollte.

»Er glaubt, ich hab sie umgebracht. Seine Tochter.«

Flint zuckte mit keiner Wimper. »Und, hast du’s getan?«

»Das ist nicht lustig.«

»Doyle muss seine Gründe haben. Du solltest mir lieber sagen, was für welche.« Flint nahm die leeren Gläser. »Ich hol noch was.«

Er wollte kein Bier mehr, aber er brauchte eine Entschuldigung, um kurz von Coulthard wegzukommen und zu überlegen, wie er das handhaben sollte. Alles, was Coulthard ihm erzählte, wäre vor Gericht kein Beweis, außer er wurde offiziell auf seine Rechte hingewiesen. Coulthard wusste das. Aber wenn Flint ihn verwarnte, würde Coulthard nur sagen, Flint solle sich verpissen, und würde gehen.

Seit ihrer Zeit als Streifenpolizisten waren sie miteinander in Kontakt geblieben, aber Coulthard hatte die uniformierte Polizei unter dem Schatten eines Verdachts verlassen. Er war zu gewaltbereit und immer auf Streit aus. Flint ging es bei Scotland Yard gut, man hatte ihm ein Studium finanziert, um seine Aufstiegschancen zu verbessern. Er musste sich mit Coulthard gutstellen: Der kannte eine Menge Leute und war vertraut mit anderen Strafverfolgungsbehörden, und das war immer von Vorteil. Außerdem hatte Flint damals im Streifendienst ein paar Dinge getan, an die man besser nicht rührte. Und Coulthard war ein Grabräuber. Es war verzwickt. Flint hatte die Wahl zwischen einem Abgrund und einem erstklassigen Scheißkerl.

Er stellte die frischen Pints auf den Tisch.

»Hast dir ja Zeit gelassen«, sagte Coulthard und warf ihm einen Blick zu, der verriet, dass er genau wusste, durch welche Überlegungen sich Flint am Tresen gequält hatte.

Flint wäre fast errötet. »Du hast mich in eine schwierige Lage gebracht, Alter.«

»Das ist nichts im Vergleich dazu, wie schwierig es für dich wird, wenn du mir nicht aus diesem Mist heraushilfst.« Coulthard lächelte zum ersten Mal.

Flint fiel auf, dass er schief lächelte.

»Was soll ich tun? Ich hab selbst Schwierigkeiten. Man wird mich von der Mordkommission abziehen, und dann komme ich wieder zum Streifendienst, wenn der alte Mistkerl seinen Willen kriegt«, stöhnte Flint.

»Viel Glück, Alter«, sagte Coulthard und hob sein Glas.

Einige Minuten saßen sie in mürrischem Schweigen da und tranken.

»Ich geb dieser Type die Schuld, die sich eingemischt hat«, sagte Coulthard plötzlich.

»Wem?«, fragte Flint. Die Liste von Coulthards Feinden war lang und wurde immer länger.

»Berlin. Wem sonst?«, erwiderte Coulthard.

Flint war überrascht.

»Die hat den ganzen Scheiß losgetreten«, sagte Coulthard verbittert.

»Ach ja? Dann hat sie dich dazu gezwungen, dass du dir fünf Riesen von Oily Doyley pumpst?«

»Das war eine ganz normale Geschäftstransaktion und wäre es auch geblieben, wenn sie nicht plötzlich den einsamen Cowboy gespielte hätte, nachdem die Untersuchung zu den Akten gelegt worden war.«

»Geschäftstransaktion? Das sagt ausgerechnet der, der die armen Schlucker genau vor diesen bösartigen Raubtieren schützen soll.«

»Hör mal, willst du diese Info oder nicht? Und was tust du für mich, wenn ich sie dir gebe?«

»Woher soll ich das wissen, solange du mir noch nichts gesagt hast? Du hörst dich an wie ein beschissener Schnüffler.«

Coulthard seufzte. »Okay. Wir sind schließlich Kumpel, oder?«

Flint hob eine Hand, und sie klatschten ein schlaffes High-Five.

»Ich will dir was sagen«, sagte Flint. »Wenn es mir hilft, Thompson eins auszuwischen, bin ich dabei. Was immer du willst.«

Coulthard hob sein Glas und trank auf diesen Vorschlag. »Sie hat die Mailbox-Nachricht, die Nestor am Abend seines Todes bei ihr hinterlassen hat«, verkündete er.

»Was? Unmöglich. Die Telekom hat gesagt, sie wurde erst von ihr gelöscht und dann von ihnen.«

»Das schlaue Miststück hat sie auf ihren Computer runtergeladen.«

Flint hatte nicht mal gewusst, dass so was möglich war. Er kam sich vor wie ein Idiot. Aber wenn er das nicht gewusst hatte, dann war er sich verdammt sicher, dass Thompson es auch nicht gewusst hätte.

»Woher weißt du das?«

»Sie hat sie mir vorgespielt. Na ja, bearbeitete Highlights. Sie weiß nicht, wer der andere Kerl war, und wollte wissen, ob ich ihn identifizieren kann.«

Plötzlich war Flint skeptisch. »Welcher andere Kerl? Und was meinst du mit bearbeiteten Highlights? Hat sie dir gesagt, dass es Nestors Mailbox war?«

»Alter, ich würde mein Leben darauf verwetten. Er war es und noch ein anderer, beide mächtig in Fahrt.«

Für Flint eröffnete sich eine ganze Welt von Möglichkeiten. »Ich geb einen aus. Wie wär’s mit etwas Stärkerem?«

Flint und Coulthard traten aus dem Pub in die Eiseskälte. Plötzlich waren sie sehr betrunken. Flint merkte, dass Coulthard sich umschaute.

»Was’n los, Kumpel?«

»Dieser Mistkerl Doyle könnte immer noch hinter mir her sein. Keine Ahnung, wo er is und wasser macht. Könnte hinner jeder gottverdammtn Ecke stehn.«

»Ich sag dir mal was. Komm, wir suchen meinen Schnüffler. Er kennt sich bestens aus mit allem, was hier kreucht und fleucht. Und vielleicht weiß er was über Doyle, was uns nützen kann.«

50

Thompson beobachtete Berlin am Tresen. Früher hätte man die Bar wohl gemütlich genannt. Mittlerweile kriegte man in den meisten Pubs auch Tee und Kaffee, und so konnte man sich zu jeder Tages- oder Nachtzeit mit jemandem in einer Kneipe treffen, ohne als Alkoholiker zu erscheinen.

Berlin stellte die Getränke auf den Tisch. Thompson schielte auf die Malt-Whiskys, die über der Bar aufgereiht waren.

»Eine ziemlich ordentliche Auswahl.« Er trank einen Schluck von seinem Ardbeg, einem Single Islay Malt Whisky, und genoss den kräftigen Nachgeschmack. Er hatte mal wen sagen hören, der würde wie Wundbenzin schmecken, aber so sprach nur ein unerfahrener Gaumen. Berlins Gaumen war offensichtlich sehr gereift. »Dieser Tropfen ist wirklich mehr als nur akzeptabel.«

»Sie sind also ein Scotch-Trinker«, sagte sie.

»Meine Frau hat mich zu meinem Geburtstag dorthin eingeladen«, erklärte er.

Sie tranken schweigend, während er darauf wartete, dass sie zur Sache kam.

»Bestimmt verstehen Sie, warum ich mich Gina Doyle irgendwie verpflichtet fühle«, sagte sie.

»Und bestimmt verstehen Sie, warum ich nicht möchte, dass Zivilisten sich in meine Untersuchungen einmischen«, erwiderte er.

»Da schwimmen Sie gegen den Strom, Thompson. Sie verlassen sich auf Experten, aber wie viele davon sind Beamte? Zehntausende von Beamten in Zivil drängen dorthin, wo mal das Territorium der Polizei war, angefangen beim Sozialhilfebetrug bis hin zum Kinderschutz. Sogar Gefängnisse wurden privatisiert. Gesetz und Ordnung wurden ausgelagert.«

Thompson wusste, das war nur zu wahr. Als sie die Hilfssheriffs für die Polizei und die Gemeinden eingeführt hatten und danach die Freiwilligen, war das so, als sähe man Scotland Yard in den Rückwärtsgang schalten.

»Ja, damals.« Er seufzte. »Demnächst verlangen sie wieder den Zehnten und setzen Deichgrafen ein«, sinnierte er. Er spürte, dass Berlins Haltung ihm gegenüber an Härte verlor. Dazu trug der Scotch seinen Teil bei.

»Ich möchte helfen, nicht behindern.« Sie holte ihren Laptop hervor und startete ihn, dann öffnete sie mit einem Doppelklick einen Ordner, und ein Diagramm von Symbolen und bunten Linien entfaltete sich.

Thompson schaute darauf. »Tolles Gerät«, sagte er beeindruckt.

»Ich hab mir die Software in der Abteilung besorgt«, erklärte sie.

Mit anderen Worten, es ist eine illegale Kopie, dachte Thompson. »Das hab ich bis heute nicht in den Griff bekommen«, sagte er.

»Eine visuelle Darstellung kann Möglichkeiten aufzeigen, die man sonst nicht beachtet hätte.« Sie lud noch mehr Diagramme hoch. Darauf zeigten sich Icons von Telefonen, Autos, Wohnsitzen, Örtlichkeiten und Menschen. Die Daten dazu waren durch bunte Linien miteinander verbunden. »Besonders wenn es Lücken gibt.«

Sie zeigte auf eine Leerstelle unter dem Icon »Opfer«. »Mir ist aufgefallen, dass niemand eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat.«

Er antwortete nicht, weil er nicht zu viel preisgeben wollte.

»Oder war da was?«, hakte sie nach.

»Nein«, gab er zu. »Die übergeordnete Dienststelle hat ihr Foto. Wenn jemand ins Revier spaziert und eine vermisste Frau meldet, die zu ihrer Beschreibung passt, würden wir automatisch benachrichtigt. Falls jemand dazu kommt.«

Thompson dachte bedauernd, wenn er nur halb so viele Beamte hätte, die so effizient wie Berlin waren, würde er sich glücklich schätzen. »Doyle hatte keinen Kontakt mehr zu Gina, seitdem sie zu Hause ausgezogen ist. Er versuchte sie aufzuspüren und nutzte dazu seine Mittel und Wege, aber aufgrund seiner Aversion gegen die Polizei hat er das damals natürlich nicht gemeldet.«

»Hab ich gehört«, sagte Berlin.

Thompson wurde bewusst, dass er gerade dabei war, den Fall mit einer Zeugin zu diskutieren. Das war der Whisky, der da redete.

»Die Überprüfung der Standesamtsregister hat ergeben, dass die Mutter ihre Geburt gemeldet hatte, dass aber in der entsprechenden anderen Spalte ›Vater unbekannt‹ stand. Doch zweifellos war sie seine Tochter, wir haben das anhand der DNA überprüft.«

»Doyle mag keine belastenden Unterlagen«, sagte Berlin.

»Das ist eine Untertreibung«, erwiderte Thompson. »Es sieht nicht so aus, als hätte Gina den Namen ihrer Mutter – Baker – angenommen, jedenfalls haben wir nirgendwo was darüber gefunden. Auch nichts an ihren Kleidern. Und Sie wissen ja, ihr Handy, ihre Brieftasche, Handtasche – was immer sie bei sich trug, ist futsch. Die Taucher haben im Becken nichts finden können.«

»Haben Sie die alte Akte über Doyle gesehen?«, fragte Berlin.

»Noch nicht.« Thompson warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Sie hatte den Anstand, peinlich berührt auszusehen; schnell nahm sie die Gläser und ging zum Tresen. Er musste jetzt zu einer Entscheidung kommen, und zwar schnell.

»Das müssen Sie mal probieren«, sagte sie, als sie mit zwei Single Malts zurückkam.

Wer A sagt, muss auch B sagen, entschied er. »Wissen Sie, Berlin, Sie wissen momentan wahrscheinlich mehr über sie als irgendwer sonst. Es gibt bestimmt etwas, das Ihnen aufgefallen ist und uns weiterhelfen könnte.«

Damit machte er klar, dass Informationen zu teilen keine Einbahnstraße war. Wahrscheinlich würde er es irgendwann bitterlich bereuen.

»Ich habe Ihnen alles gesagt. Sie war Mitte dreißig. Schicke Kostüme und Blusen. Londoner Akzent. Arbeitete irgendwo in der City. Ihre Mutter schwärmte seinerzeit für die Juliet-Bravo-Fernsehshow. Sie war sehr hübsch. Ich habe mal gesehen, wie so ein schmieriger Tourist sie angemacht hat. Ich würde sagen, sie hat sich nichts aus Männern gemacht.«

»Das haben Sie noch nie erwähnt.«

»Ach? Ich wüsste aber nicht, wie man sie damit hätte identifizieren können. Da ist sie auch wahrlich nicht die Einzige.«

»Und worüber haben Sie sich mit ihr bei Ihren Treffen unterhalten?«

»Über den Sinn des Lebens.«

Er sah, dass sie das ernst meinte.

»Da ist noch etwas.« Sie nippte an ihrem Whisky.

Thompson war schon seit vielen Jahren Polizist. Er wusste, dass Geduld sich letztlich immer lohnte. Er lehnte sich zurück und wartete, sah zu, wie sie das Pro und Kontra dieser neuen Zusammenarbeit gegeneinander abwog.

»Nestors Mailbox. Es gab noch jemanden. Aber ich weiß nicht, wen, und ich verfüge nicht über die technischen Möglichkeiten, um das rauszufinden.«

Sie holte ihre Kopfhörer aus der Tasche, steckte sie in den Computer und bot ihm einen Stöpsel an. Er nahm ihn, beugte sich vor und konzentrierte sich intensiv auf die körperlosen Stimmen in seinem Ohr.

»Spielen Sie es noch mal ab«, sagte er.

Berlin drückte auf Wiederholung. »Wer ist das? Haben Sie die Stimme erkannt?«

Er trank aus und stand auf.

Zu seiner Bestürzung tat Berlin das Gleiche.

51

Fernley-Price humpelte aus der Abtei – einem sehr diskreten Krankenhaus – auf die Great Portland Street. Gott sei Dank hatte er den Staatlichen Gesundheitsdienst vermeiden können. Er kannte sich in diesen Dingen nicht gut aus, aber er war sich sicher, dass man dort die Polizei hineingezogen hätte.

Neben ihm hielt ein Taxi, aber er winkte es weg und sah sich nach einer Bushaltestelle um. Eigentlich wusste er nicht, mit welcher Linie er nach Hause kommen würde. Schrecklich, er war wie ein hilfloses Neugeborenes. Sein Kiefer war mit Drähten geflickt worden, deshalb konnte er nur proteinhaltige Getränke durch einen Strohhalm trinken. Die Drogen, mit denen sie ihn abgefüllt hatten, waren ziemlich gut, aber sie hatten ihn ausgetrocknet, und nachdem der Alkohol sich verflüchtigt hatte, hatte eine fürchterliche Klarheit von ihm Besitz ergriffen. Er war so tief gesunken, wie ein Mensch nur sinken konnte.

Er müsste zur Polizei gehen und Doyle nach allen Regeln der Kunst anzeigen, aber das war eine hochriskante Strategie, die einen enormen Nachteil hatte, besonders ohne einen verdammt fähigen Anwalt. Er könnte sich den ganzen schmutzigen Kram von der Seele reden, aber wer würde die Verteidigung eines mittellosen Hedgefondsmanagers auf einen Schuldschein hin übernehmen? Das Wort eines Bankers war heutzutage nichts mehr wert. Wahrscheinlich würden sie ihn sofort aufknüpfen.

Scheiß auf die Busse, er würde mit der U-Bahn fahren. Als er die Great Portland Street in Richtung U-Bahnhof entlanglief, erregte ein Schild seine Aufmerksamkeit. The Green Man. Lauf einfach weiter, Alter, redete er sich zu. Als er daran vorbeiging, öffnete sich die Tür, und der unverwechselbare Duft Eau du Pub drang heraus.

Fernley-Price holte tief Luft.

Ein herauskommender Gast hielt ihm freundlicherweise die Tür auf. Fernley-Price humpelte über die Schwelle und stellte sich an den Tresen. Die Kellnerin stand abwartend da, während er den Stock an den Hocker hängte und in seinen Taschen herumsuchte. Er fand einen zerknitterten Zehner.

»Kotch. Dohhelt«, sagte er, ohne die Zähne oder die Lippen zu bewegen. Nur gut, dass ich keine Fasche Hier bestellen huss, dachte er.

Die Kellnerin schenkte nach Augenmaß einen doppelten Scotch ein, knallte das Glas auf den Tresen, zog einen Strohhalm aus dem Spender und ließ ihn ins Glas fallen.

»Das ist der kurze Halm«, sagte sie. »Cheers.«

Bald danach stolperte Fernley-Price wieder aus dem Green Man hinaus. Zu Hause hatte er bessere Getränke.

52

Thompson drückte auf die Taste der Gegensprechanlage. Er wusste immer noch nicht, wie Berlin ihn hatte überreden können, sie mitzunehmen. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie ihm bei einer Weigerung einfach gefolgt wäre, und er hatte keine Zeit damit verschwenden wollen, nach einem Verfolger Ausschau zu halten. Er musste sich außerdem eingestehen, dass sie – anders als Flint – über einige Intelligenz verfügte und nicht nur von Egoismus und Ego angetrieben wurde.

Er drückte noch einmal die Taste. Der Luxusumbau des Lagerhauses lag direkt am Ufer. Die Möwen und Tauben kabbelten sich mit den Überwachungskameras um Schlafplätze. Wenn man näher kam, schwenkten die Kameras mit. Jetzt ertönte eine gedämpfte Antwort aus der Gegensprechanlage.

»Detective Chief Inspector Thompson hier, Sir. Können wir uns kurz unterhalten?«, brüllte er in das winzige Gitter und hielt seinen Ausweis vor die Kamera. Berlin blieb außer Sichtweite.

Die Außentür klickte, und sie betraten das Vestibül.

Berlin hätte schwören können, dass der Geruch nach Rum, Zucker und Gewürzen immer noch aus den massiven Holzbalken drang, die dicht über ihren Köpfen entlangliefen. Handel. Das war der Grund, weshalb die Römer diesen Hafen in Britannien gebraucht hatten. Ein tiefer, den Gezeiten unterworfener Fluss, geeignet als Anlegeplatz für Schiffe, doch schmal genug, um Brücken darüber zu bauen. Handel war immer noch ein Grund für die Existenz dieser Stadt, aber nun hieß das »die Unsichtbaren«. Sie dachte darüber nach, wie vorausahnend diese Bezeichnung gewesen war. Die Unsichtbaren waren dann ja auch verschwunden.

Thompson drückte auf den Liftknopf und drehte sich zu ihr um. »Ich möchte von Ihnen kein Wort hören, ist das klar?«, sagte er. »Klar?«

Sie nickte und legte einen Finger auf ihre versiegelten Lippen.

Schweigend fuhren sie im Lift nach oben. Er ähnelt Dempster nicht im Geringsten, dachte sie. Er macht nicht viele Worte, er ist ein gelassener, systematisch vorgehender, altmodischer Bulle durch und durch.

Als sie im vierten Stock ankamen, öffneten sich die Aufzugtüren auf einen teppichbelegten Flur, von dem nur eine Tür abging. Eine Kamera folgte mit einem Schwenk ihrer Bewegung. Thompson klopfte, und wenige Sekunden später öffnete sich die Tür.

Jeremy Fernley-Price stand schwankend vor ihnen. Alkoholdunst drang ihm aus allen Poren. Sein Kopf war von einem Drahtgestell umrahmt, das an seinem Kiefer befestigt war. Er grunzte, trat zur Seite und gestikulierte mit seinem Stock, dass sie hereinkommen sollten. Die Wohnung hatte ungefähr dieselbe Größe wie Berlins nächstgelegener Supermarkt.

Fernley-Price folgte ihnen in ein weiträumiges Wohnzimmer mit Fenstern von der Decke bis zum Boden und Ausblick auf den Fluss. Berlin trat an eins der Fenster und sah hinab auf etwas, das einmal der Hinrichtungsplatz gewesen war. Die Piraten hockten in einem Metallkäfig an einem Galgen, bis die Flut drei Mal über ihren Körper hinweggegangen war. Sie dachte, dass Strafen damals poetisch gewesen waren. Jetzt waren sie human, aber fantasielos.

Schade.

»Das ist Catherine Berlin, Sir. Eine Kollegin«, hörte sie Thompson sagen.

Sie drehte sich zum Zimmer um und nickte Fernley-Price zu, der nicht zurücknicken konnte. Er hob seinen Stock ein paar Zentimeter zum Gruß und ließ sich dann vorsichtig auf einem Ledersessel nieder.

»Sie hatten wohl einen Unfall, Sir?«, erkundigte sich Thompson. Sie sah, dass er perplex war. Der Sinn des Ganzen war gewesen, die Stimme des Mannes zu hören, aber der war offensichtlich sprachlos.

»Wir wollten uns nur in ein paar Punkten Klarheit über Ihre Beziehung zu Ludovic Nestor verschaffen. Aber ich sehe, dass es Ihnen nicht gut geht. Als wir uns letztes Mal gesprochen haben, sagten Sie, er wäre einer Ihrer Kunden. Ja?«

Mit dem Stock einmal klopfen heißt ja, zweimal nein, dachte Berlin. Das war doch total hoffnungslos.

»Vielleicht könnten Sie aufschreiben, wann Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«

Fernley-Price stöhnte.

Er registrierte Berlins Blick auf die leeren Pizza-Schachteln, die schmutzigen Gläser und die schmuddeligen Hemden. Er sollte sich eine neue Putzfrau besorgen, dachte sie. Zweifellos hatte er eine Zugehfrau.

Fernley-Price hatte sich aus dem Sessel gestemmt und suchte auf seinem massiven Holzschreibtisch in einem Meer von Papieren nach seinem Terminkalender. Berlin hielt das für ein Täuschungsmanöver. Bestimmt hatte er einen elektronischen Kalender, wahrscheinlich einen Blackberry, genau wie er eine Putzfrau hatte. Er konnte vielleicht nicht sprechen, aber das hieß noch lange nicht, dass er sie nicht wie Deppen behandeln würde.

»Darf ich mal die Toilette benutzen?«, fragte sie.

Fernley-Price zeigte auf eine Tür, die vom Wohnzimmer abging. Sie vermied es, Thompson anzuschauen, aber sie fühlte, dass er ihr ein Warnsignal zusandte. Sie trat in den langen Flur und schloss leise die Tür hinter sich.

Dicker Teppichfußboden bedeckte den langen Flur, und die schweren Holztüren hingen wunderschön auf lautlosen Angeln. Perfekt. Sie wollte am anderen Ende anfangen, dann wäre sie wieder beim Wohnzimmer, wenn Thompson oder Fernley-Price nach ihr suchen würden.

Ihre Bewegungen waren schnell und präzise. Die erste Tür führte offensichtlich in ein Gästezimmer. Das Einzelbett war gemacht, und im Schrank oder auf dem Tisch war nichts zu finden.

Das nächste Zimmer war die Bibliothek. Bücherregale vom Boden bis zur Decke mit einer rollbaren Leiter. Beim Eintreten leuchtete ein schwaches Licht auf. Weichgepolsterte Sessel.

So lebte nicht halb London: So lebten die oberen Zehntausend. Laut Newsnight besaßen sie zweihundertdreiundsiebzig Mal so viel wie die Ärmsten. Berlin bezweifelte, dass Fernley-Price zum Kauf seiner Wohnung eine hundertzehnprozentige Hypothek benötigt hatte. Anders als sie, die es schließlich nur durch einen Banker und seinen Lockruf geschafft hatte: »Kein Guthaben? Keine Kreditwürdigkeit? Kein Problem!«

Sie zog die Tür zur Bibliothek wieder hinter sich zu. Blieben nur noch zwei Türen. Sie zögerte. Welche? Sie hörte Thompson im Wohnzimmer reden. Seine Stimme schien lauter zu werden – näherte er sich der Tür zum Flur, oder wollte er sie warnen? Sie entschied sich für die nächste Tür und öffnete sie.

Thompson war zunehmend genervt von Fernley-Price und fragte sich beunruhigt, was Berlin vorhatte. Er redete Fernley-Price immer lauter an, als wäre der taub. Fernley-Price war offensichtlich betrunken und wahrscheinlich zugedröhnt, aber Thompson meinte auch Widerstand und ein Verweigern jeder Kooperation zu erkennen.

In diesem Zustand war es sinnlos, ihn zur Wache mitzunehmen. Außerdem müsste er dann einen Arzt rufen, der Fernley-Price wahrscheinlich für nicht vernehmbar erklären würde. Also besser Berlin einsammeln und losfahren.

»Ich sehe nur mal nach, wo meine Kollegin bleibt«, sagte er.

Fernley-Price sah ihn verdutzt an, als hätte er vergessen, dass da noch jemand war.

In diesem Augenblick tauchte Berlin wieder auf. Thompson war erleichtert, aber dann öffnete sie den Mund.

»Wo ist Ihr Mantel, Sir?«, fragte sie Fernley-Price. »Wir möchten, dass Sie uns begleiten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Was zum Teufel hatte sie vor? Sie begegnete Thompsons Blick und nickte ihm zu, um ihm mitzuteilen, dass sie wusste, was sie tat. Wirklich?

Er beschloss mitzuspielen.

Fernley-Price war verwirrt. Er schwenkte seinen Stock in Berlins Richtung, als wollte er sie entlassen. Aber statt zurückzuweichen, ergriff sie den Stock, schnappte sich seinen Arm mit der anderen Hand und zerrte ihn vom Sessel hoch. Fernley-Price quiekte vor Schmerz laut auf.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen«, sagte sie.

Mit Fernley-Price auf dem Rücksitz und Thompson am Steuer gab Berlin die Adresse in der Poplar High Street in das Navi ein. Eine rechthaberische Stimme verkündete, dass sie die Route berechnete, und teilte dann mit, es wären zweieinhalb Meilen, und es würde elf Minuten dauern.

»Lügner«, sagte Berlin. »Es dauert mindestens zwanzig.« Sie wandte sich nach hinten. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. In Anbetracht Ihrer momentan eingeschränkten Beweglichkeit wissen wir Ihre Unterstützung zu schätzen.«

Fernley-Price antwortete nicht.

Sie sah, dass Thompson ihm im Rückspiegel einen prüfenden Blick zuwarf; zweifellos hoffte er, dass der Kerl während der Fahrt weder kotzte noch starb. Berlin hoffte, ihre Bemerkung würde auch Thompson beruhigen.

Thompson fuhr genau so, wie ihm das Navi vorgab. Sie brauchten zwanzig Minuten bis zum Ziel. Alle schwiegen. Leises Schnarchen verriet, dass ihr Passagier tief und fest schlief.

Als sie ankamen, sagte ihr Thompsons Blick, dass er langsam eine Methode in ihrer Verrücktheit erkannte. Er parkte im Halteverbot, holte ein »Polizei«-Schild aus dem Handschuhfach und legte es oben auf das Armaturenbrett. Es war nicht leicht, Fernley-Price aufzuwecken.

»Nun kommen Sie schon, aussteigen, bitte«, sagte Thompson und half ihm vom Rücksitz nach draußen.

Berlin stellte sich an die andere Seite von Fernley-Price, und gemeinsam bugsierten sie ihn über den Gehweg und dann in eine Nebenstraße.

Thompson sprach durch das Loch in der dicken Glasscheibe, die die Empfangsdame vor den Keimen des Publikums schützte. Er zeigte ihr seinen Ausweis und erklärte, was er wollte.

Sie wählte eine Nummer, sprach kurz in den Hörer und legte auf.

»Sie werden erwartet«, sagte sie.

Fernley-Price lehnte sich wie betäubt gegen die Wand. »O sing ir?«, fragte er.

Berlin wusste, dass das »Wo sind wir?« hieß, aber sie lächelte nur und tätschelte seinen Arm.

»Keine Sorge«, sagte sie. »Es dauert nicht mehr lange.«

Das Trio wankte durch einen langen, schlecht beleuchteten Flur. Es roch schwach nach Desinfektionsmitteln, als sie sich durch mehrere dicke Doppeltüren schoben, die sich hinter ihnen wieder zischend schlossen. In dem kleinen Raum, den sie betraten, war es kälter, und die plötzliche Kühle schien Fernley-Price auf eine höhere Bewusstseinsebene zu heben.

»Alt ma«, sagte er und weigerte sich, weiterzugehen.

Berlin und Thompson schleppten ihn vorwärts. Ein Mann in einem weißen Kittel stand in der Mitte des Raums vor einer fahrbaren Krankenhausliege. Sie liefen direkt auf ihn zu. Thompson nickte, und der andere trat beiseite.

Berlins Wissen um das, was kam, half ihr nicht. Ein Zittern durchlief sie und ließ sie mit den Zähnen klappern. Die Luft wich aus ihrer Lunge, und sie klammerte sich an Fernley-Price, um sich und ihn gleichermaßen zu stützen.

Die Leiche war bis zu den Schultern von einem weißen Laken bedeckt. Das Gesicht war zu einer bleichen Maske erstarrt, blaue Lippen, geschlossene Augen. Die schartige Wunde an Gina Doyles Hals war um nichts weniger blutig als zu dem Zeitpunkt, als Berlin sie zum ersten Mal gesehen hatte.

Ein leises, wimmerndes Stöhnen begann tief in Fernley-Prices Brust und brach durch seinen fixierten Mund wie ein ersticktes Schluchzen. Er ließ seinen Stock fallen und fiel mit ausgestreckten Armen nach vorn.

»Mein Liebling«, flüsterte er, ganz deutlich, und fiel in Ohnmacht.

Thompson und Berlin sahen grimmig zu, wie die Sanitäter sich an dem bewusstlosen Fernley-Price zu schaffen machten.

»Könnte ein Blutpfropfen sein, bei diesen Kopfverletzungen«, sagte Thompson, als sich die Türen des Krankenwagens schlossen. Unter lautem Sirenengeheul fuhr er davon. »Vielleicht erlangt er nie wieder so lange das Bewusstsein, dass wir ihn verhören können.«

»Glauben Sie, er war’s?«, fragte Berlin.

»Dieser Kummer könnte auch Reue sein«, sagte Thompson.

»Und Nestor?«

»Kaum. Laut Obduktionsbericht gab es keine Anzeichen von Gegenwehr. Andererseits war er so besoffen, dass es nur einen Schubs gebraucht hätte. Mailen Sie mir dieses Audiodings, wenn Sie nach Hause kommen. Die Spurensicherung soll das bearbeiten. Das Gespräch mit Nestor könnte für uns ganz interessant sein.«

Berlin bemerkte das »für uns«.

53

Flint parkte im Halteverbot, und er und Coulthard quälten sich aus dem Wagen. Flint ging zum Fenster des vegetarischen Bistros Wild Cherry und drückte die Nase an die Scheibe, um hineinzuspähen.

»Da ist er!«, brüllte er Coulthard zu, der nebenan an die Mauer des Londoner Buddhisten-Zentrums pinkelte. Coulthard zog den Reißverschluss hoch, und sie schoben und rempelten einander an wie Schuljungen auf einem Ausflug, um es als Erster durch die Tür zu schaffen.

Sie platzten ins Bistro, und die Gespräche der Gäste, die sowieso schon in gedämpftem Ton geführt wurden, erstarben ganz. Sie stolperten zu einem Tisch mit einem einzelnen Gast und ließen sich auf die freien Plätze plumpsen. Bonnington verzog das Gesicht, als Flint ihm den Arm um die Schultern legte.

»Hallo, mein kleiner Kumpel!«, rief Flint und zog Bonningtons Kopf runter in seine Armbeuge.

»Sie sind betrunken. Was in aller Welt wollen Sie hier?«, knurrte Bonnington und schob Flint weg.

»Wie wär’s mit einem leckeren Lamm-Kebab?«, mischte sich Coulthard ein.

Einem Paar am Nachbartisch schauderte.

Coulthard streckte Bonnington die Hand hin. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. John Coulthard, Sonderdezernat Finanzbetrug. Ich arbeite gern mit der Gemeinde zusammen. Das sind Sie, Kumpel. Sie kennen uns und unsere hochwichtige Arbeit bei der Jagd nach Kredithaien wahrscheinlich nicht.«

»Und wir leihen uns Geld von ihnen!«, fügte Flint hinzu und brüllte vor Lachen.

Coulthard versetzte Flints Arm einen freundschaftlichen Knuff.

Bonnington betrachtete Coulthard mit mehr Interesse.

»Kommen Sie, wir gehen wo hin, wo wir ungestört sind«, sagte Flint. »Deine Bude wäre dafür doch ideal, Daryl. Ich denke mal, die ist hier irgendwo in der Nähe?«

Bonnington rührte sich nicht.

»Na komm schon, Sohnemann. Gastfreundschaft!«, sagte Flint.

Coulthard und Flint kamen torkelnd wieder auf die Füße und standen nun rechts und links von Bonnington.

Bonningtons Wohnung war spartanisch eingerichtet, offensichtlich lud er nie Gäste ein. Er kochte Löwenzahntee, aber Flint und Coulthard interessierten sich nur für Hochprozentiges. Bonnington zeigte auf einen Schrank, aber als Flint die Türen öffnete, fand er darin nur Nudeln, Gewürze und chinesischen Reiswein. Coulthard schnappte sich die Flasche und schwenkte sie herum.

»Das Zeug hab ich mal in ’ner Kochsendung gesehen. Schmeckt gut zu chinesischem besoffenen Huhn.«

»Aber ist nicht so gut für betrunkene Kriminalbeamte«, sagte Flint. »Unser Daryl hier ist ein Suchtbeauftragter«, erklärte er Coulthard. »Er arbeitet mit Junkies.«

»Drogenabhängigen«, korrigierte Bonnington. »Und mit ihren Familien.«

Coulthard schenkte Reiswein in zwei Kognakgläser ein und gab eins an Flint weiter.

»Er ist eine unschätzbare Informationsquelle«, sagte Flint.

»Nur wenn es im Interesse meiner Klienten liegt«, erwiderte Bonnington.

»Was denn? Keine pekuniären Anreize?«, erkundigte sich Coulthard. »Mach die Bremsen los!«

Er trank das Glas aus, verzog das Gesicht und spuckte den Wein aus. Er war zwar betrunken, aber noch nicht so hinüber, dass er die allzu deutliche Verachtung Bonningtons nicht bemerkt hätte.

»Was ist denn mit Ihrer kostbaren Schweigepflicht, hä?«, fragte er höhnisch. »Ich hab gedacht, euresgleichen – Sozialarbeiter und ihre Kollegen – hätten einen hohen Standard, was vertrauliche Mitteilungen ihrer Klienten betrifft.«

»Ich sehe das in einem größeren Rahmen«, erwiderte Bonnington.

Coulthard wanderte zu dem Computer in der Zimmerecke. Die Modemlichter blinkten, und er ruckelte an der Maus.

»Nicht anfassen!«, zischte Bonnington.

Coulthard zuckte vor diesem Wutblitz zurück, während Bonnington auf ihn zukam. Der Bildschirm war plötzlich voll von Waffen und Bildern von blutigen Kämpfen. Auf Coulthard wirkte es so wie ein Kriegsspiel, aber Bonnington riss den Stecker heraus und der Bildschirm wurde schwarz. Er schenkte Coulthard ein kaltes Lächeln. »Nur ein Hobby.« Dann drehte er sich zu Flint um. »Und womit kann ich den Herren helfen?«

»Kennen Sie einen Kredithai namens Doyle? Ich könnte mir vorstellen, Ihre Klienten brauchen öfter mal ein paar Kröten, um über die Runden zu kommen«, sagte Flint.

»Warum interessieren Sie sich für Doyle?«, fragte Bonnington.

Der Typ mit seiner verdammten Überheblichkeit nervte Coulthard ohne Ende.

»Ich muss mal verschwinden«, verkündete er und spazierte aus dem Zimmer.

»Kennen Sie ihn, oder kennen Sie ihn nicht?«, fragte Flint.

»Ich habe von ihm gehört. Oily Doyley. Geht es hier um Sheila Harrington?«

»Wen?«, fragte Flint.

»Die Frau, der sie den Hund verstümmelt und dann umgebracht haben.«

»Nee, Kumpel, leider nicht. Es geht um das Mädchen, das verstümmelt und umgebracht wurde.«

»Ach so«, sagte Bonnington ausdruckslos. »Das Mädchen aus dem Limehouse-Becken?«

Flint nickte.

»Ich habe gehört, dass sie Doyles Tochter war. Stimmt das?«, fragte Bonnington.

»Ja, Kumpel. Das stimmt. Und ich bin der, der die Untersuchung leitet.«

Coulthard stöberte im anderen Zimmer herum und hörte, was Flint sagte. Du Arsch, dachte er. Der Trottel soll dir Informationen liefern und nicht umgekehrt. Er ging zurück in den Raum, den man, großzügig betrachtet, als Wohnzimmer bezeichnen konnte.

»Ich glaube, eine von Ihren Kolleginnen kümmert sich da ebenfalls drum«, sagte Bonnington, an Coulthard gewandt.

»Was?« Coulthard überlegte kurz. »Meinen Sie Berlin?« Als Bonnington nickte, leuchteten Coulthards Augen auf. »War sie hier und hat Fragen gestellt?«

Bonnington schwieg, seine Miene verriet nichts.

Coulthard sah Flint an.

Flint zuckte mit den Schultern. Er hatte klargemacht, dass Bonnington sein Informant war, ganz allein seiner. Niemand sonst wusste über ihn Bescheid.

»Woher kennen Sie sie dann?«, fragte Coulthard.

»Hierzu berufe ich mich auf meine Schweigepflicht«, sagte Bonnington selbstgefällig.

Coulthard zählte zwei und zwei zusammen. »Verdammte Scheiße, sie ist eine von Ihren Klientinnen!«

Flint schoss aus seinem Sessel hoch und gab Coulthard ein High-Five. »Sie is’n Junkie!«, grölte er.

Bonnington lächelte knapp. Volltreffer. »Wenn Sie diese Information nützlich finden, meine Herren, dann könnten Sie mir vielleicht ebenfalls einen Gefallen tun. Ich habe ein Problem mit ihr und einem gewissen Dempster. Da könnten Sie mir helfen.«

Flint spürte, wie die Nüchternheit in ihm hochkroch. Das war ein beschissenes Gefühl. Der Himmel hatte die Farbe von nassem Matsch, und es drohte zu schneien, als er aus Bonningtons Mietshaus stolperte. Er stieg ins Auto und ließ den Motor an. Coulthard setzte sich auf den Beifahrersitz und drehte die Heizung auf.

»Ich nehme dein Angebot jetzt an, Alter. Wir können mit einem Schlag sowohl mir helfen als auch deinem Informanten«, sagte Coulthard.

»Das sind hier keine Kleinigkeiten«, warnte Flint.

Coulthards Blick besagte »Pissnelke«. »Du hast gesagt: was immer ich will.« Er drohte mit dem Zeigefinger und lächelte, aber in dem Lächeln waren keine Wärme und keine Freundlichkeit.

Flint hatte Angst, dass Coulthard ihn ruckzuck auflaufen lassen würde. Er gehörte zu den Typen, die die Waffe luden und dann höhnisch grinsend zusahen, wenn man sie abfeuerte, damit er etwas gegen einen in der Hand hatte.

»Ja, schon gut. Was willst du also?«, knurrte er.

Coulthard drehte die Heizung bis zur Höchststufe auf und erläuterte seinen Plan.

Bonnington stand am Fenster und sah Coulthard und Flint wegfahren.

Hüter von Gesetz und Ordnung, die so selten aus Prinzipientreue handelten, dass sie es auch niemand anderem zutrauten. Trottel. Aber nützliche Trottel. Sie schafften es vielleicht, ihm diesen Dempster und das Miststück vom Leibe zu halten. Es gab weiß Gott massenhaft Präzedenzfälle, wo die Behörden Leute fertigmachten.

Berlins Verhalten heute Morgen hatte seinen Verdacht bestätigt, dass der korrupte Staat seinen Arm nach ihm ausstreckte. Er setzte sich an seinen Computer, um die Nachrichten auf den Websites zu lesen, denen er vertraute. Er sah nie fern.

Die Menschen wurden durch die Fehlinformationen der Medien in die Irre geführt, geschwächt durch Laster und betrogen von Regierungen, die sich scheuten, traditionelle Werte gegen moralische Beliebigkeit zu verteidigen. Die Lauterkeit der Absicht verleiht moralische Autorität.

Warum begriffen das nur so wenige?

Die Übrigen mussten es auf die harte Tour lernen.

Er hatte sich der Aufgabe verschrieben, diese Lektion zu erteilen.

54

Auf dem Revier herrschte die übliche nächtliche Geschäftigkeit.

Dempster war seit dem Streit mit Berlin und dem heimlichen Entwenden der Doyle-Akte mulmig. Er wusste nicht, warum ihm das etwas ausmachte, aber es beschäftigte ihn. Deshalb hatte er die Akte für sie noch fotokopiert und in einen Umschlag gesteckt, obwohl sie einen Verstand wie ein Tellereisen hatte und wahrscheinlich den Inhalt längst auswendig kannte. Es war eher eine Art Friedensangebot. Morgen würde er sie vorbeibringen, aber das Original konnte er ruhig schon bei Thompson einwerfen. Dann brauchte er das nicht morgen zu tun.

Als er in die Einsatzzentrale, die für den Fall Doyle zuständig war, kam, sah er, dass das Büro, in dem sonst Thompson mit Flint saß, leer war. Ein Polizist hatte die Füße auf den Tisch gelegt und schwatzte ins Handy. Er rührte sich auch nicht, als Dempster sich vor ihm aufbaute.

»Wart mal kurz«, sagte er und seufzte genervt.

»Ich bringe hier eine Akte für DCI Thompson«, sagte Dempster.

Der Polizist blickte kurz zu dem Büro hinüber. »Er ist nicht da.«

Ein echter Witzbold, dachte Dempster. »Wann kommt er zurück?«, fragte er.

Der Polizist verzog verärgert das Gesicht. Er hob die Achseln. »Keine Ahnung. Morgen, denk ich.«

Dempster ließ die Akte auf Thompsons Schreibtisch fallen. »Geben Sie ihm das, sobald er kommt«, befahl er und ging.

Der Polizist wartete nicht, bis Dempster außer Hörweite war, bevor er seine Unterhaltung wieder aufnahm. »Tschuldigung. Ein beschissener Ziviler.«

Dempster überhörte die Frechheit. Die Einzigen, die in dieser Umgebung blühten und gediehen, waren korrupte Arschkriecher und Drückeberger.

Die Lautsprecheranlage knisterte, und Dempster hörte seinen Namen. Er wurde zum Kontrollraum gerufen.

Kontrolle war nicht gerade eine treffende Bezeichnung, als er das Zentrum der Revieraktivität betrat. Es war warm wegen der vielen Menschen und Computer, die man in dem kleinen fensterlosen Gelass zusammengepfercht hatte. An den Wänden hingen Bildschirme von Überwachungskameras, die die Krisenherde des Stadtteils zeigten. Beamte an Funkgeräten bellten Befehle, Telefone klingelten, und in einer Ecke bemühte sich ein Übersetzer an einer Freisprechanlage, einer verstörten Frau ihre Adresse zu entlocken.

Eine Sergeantin mit gehetztem Blick kam auf ihn zu. »Dempster?«

Er nickte, und sie drückte ihm einen Klebezettel in die Hand.

»Ein Anruf für Sie, Sie sollen sich bei dieser Adresse melden«, sagte sie und lief sofort zurück zu ihrem Arbeitsplatz.

»Worum geht es?«, fragte Dempster.

Sie zuckte mit den Schultern, setzte sich das Headset auf und fuhr mit ihrem Gespräch fort, während sie das Flimmerbild auf dem Monitor schärfer einzustellen versuchte. Darauf war ein Überfall zu sehen. Drei Jugendliche in Kapuzenpullis traten mit aller Kraft auf ihr am Boden liegendes Opfer ein. Mit ruhiger Stimme dirigierte die Sergeantin einen Krankenwagen und einen Streifenwagen zu dem Ort. Dempster sah die Jugendlichen den Schauplatz verlassen. Sie rannten nicht mal.

Aber als sein Blick auf die Adresse auf seinem Zettel fiel, rannte er los.

55

Die Beziehung zwischen den Lebenden und ihren Toten verändert sich ständig. Das hatte Berlin der Tod ihres Vaters gelehrt. Die Gefühle, die man für jemanden an seinem Todestag hat, ändern nichts an der Tatsache, dass man sich immer noch mit ihm streitet, ihn beleidigt, anbetet, verachtet, vermisst oder sich einfach freut, dass es ihn nicht mehr gibt.

Das kann sich täglich ändern.

Jahre später entdeckt man vielleicht Neues an den lieben oder nicht so lieben Verblichenen und an der eigenen Beziehung zu ihnen. Oder während man neben ihrem Sterbebett steht. Und man kann immer noch vor jemandem Angst haben, der tot und begraben ist.

Als sie Fernley-Price mit Gewalt von Ginas Leiche wegführte, hatte sie gesehen, wie ihm diese schreckliche Erkenntnis dämmerte. Angst, Reue, Wut, Liebe.

Berlin hatte Angst vor den Toten und dem Tod. Sie hatte eine sanfte, kalte Berührung aus dem Jenseits gespürt, als sie die Tür zum Ankleideraum neben dem Schlafzimmer in Fernley-Prices Apartment aufgeschoben hatte.

Ein matter Punktstrahler hatte über den Reihen von Anzügen, Mänteln und Kleidern in Plastikhüllen der Reinigung aufgeleuchtet. Dutzende von Schuhpaaren waren an einer Wand aufgereiht, die meisten kaum getragen. Darüber lagen auf einem Bord gestreifte Hemden mit weißen Kragen und Manschetten, frisch aus der Reinigung, sorgfältig eingeschlagen in Seidenpapier. Sie erkannte das Parfüm: der Duft der Toten.

Ihre Finger hatten die rosa gestreifte Hemdbluse kaum berührt, aber es traf sie wie ein elektrischer Schock. Sie hörte die Stimme der Frau, die sie als Juliet Bravo gekannt hatte, ihre präzise, klassenlose Intonation, die den Akzent verbarg, mit dem Gina Doyle im East End geboren und aufgewachsen war, lange bevor er trendy wurde.

Es klang spöttisch.

»Jetzt glauben Sie also, Sie wissen Bescheid, wer ich wirklich bin? Und was fangen Sie damit an?«

Berlin zitterte, als der Bus der Linie acht sie in der Bethnal Green Road aussteigen ließ, aber nicht wegen der Kälte. Der Fahrer sagte, das wäre die letzte Haltestelle auf seiner Route, weil die Straßen zu glatt wären und es kein Streusalz mehr gäbe.

Es war dunkel, und wegen des eisigen Wetters blieben die meisten Menschen zu Hause. Berlin lief vorsichtig, achtete auf trügerische Glatteisstellen und umklammerte den Griff ihrer gepolsterten Laptoptasche.

Es schneite wieder.

Fast beneidete sie Fernley-Price um sein warmes Bett mit Polizeibewachung im Royal-London-Krankenhaus. Thompson hatte angeordnet, dass er sofort benachrichtigt werden wollte, wenn Fernley-Price das Bewusstsein wiedererlangte und Fragen beantworten oder zumindest darauf reagieren konnte. Thompson hatte sie eingeladen, ebenfalls hinzukommen, als Anerkennung, dass dieser Durchbruch ihr zu verdanken war.

Natürlich hatten sie noch keinerlei Hinweis darauf, zu was genau sie da durchgebrochen waren oder was sie auf der anderen Seite finden würden. Fernley-Prices letzte Unterhaltung mit Nestor konnte das Bild vielleicht vervollständigen. Sie würde sie heute Abend an Thompson mailen, damit er sie an die Spurensicherung weiterleiten konnte.

Das Zittern ihres Körpers mahnte sie, nach Hause zu gehen und sich einen Schuss zu setzen. Sie atmete flach, und ihr Verstand brannte. Der Drang, sich in chemische Gelassenheit zu flüchten, zehrte an ihrer Willenskraft.

Die leere Wand war wieder vor ihr, aber jetzt war sie von Rissen durchzogen. Lazenby, Nestor und Gina standen auf der anderen Seite. Die Risse weiteten sich, und sie hörte ein Durcheinander von Flüsterstimmen. Sie bemühte sich zu verstehen, zu entschlüsseln, was sie sagten. Aber die Stimmen wurden schwächer, die Gesichter lösten sich auf, die Risse zogen sich wieder zusammen.

Sie bog um die Ecke, schritt schnell über den Hof zu ihrem Häuserblock und rannte die Treppe hoch. Das Flurlicht brannte wieder nicht, aber sie zögerte nicht; ihre gewohnte Vorsicht unter solchen Umständen wich der Verzweiflung. Sie stocherte mit dem Schlüssel im Schloss herum. Als er sich drehte, tauchten hinter ihr aus der Dunkelheit zwei Gestalten auf und stießen sie durch die Tür.

Beide Männer trugen eine schusssichere Weste, Handschuhe und einen Schutzhelm mit heruntergelassenem schwarzen Visier. Einer stieß sie zu Boden, stellte den Fuß auf ihren Rücken und hielt sie so fest, während der andere über sie hinwegstieg und die Wohnung zu durchwühlen begann.

Die Männer verströmten Wellen von Alkoholdunst.

Sie hatte den Laptop mit den Armen umschlungen, als sie nach vorn stürzte, und nun lag er unter ihr.

Der Druck des Stiefels in ihrem Kreuz ließ kurz nach, und sie rollte sich auf die Seite und brachte den Betrunkenen so aus dem Gleichgewicht.

»Hey!«, schrie er und stolperte, während sie auf die Füße sprang, um zu fliehen. Aber er war zwischen ihr und der Tür. Er riss den Schlagstock hoch, schlug zu und traf sie an der Schulter, sodass sie aufstöhnte.

»Bleib verdammt noch mal stehen!«, befahl er.

Sie befolgte den Befehl. Als der Schmerz sich über ihren Arm ausbreitete, sah sie den anderen Mann aus der Küche kommen. Er hielt eine kleine braune Papiertüte hoch.

»Was haben wir denn da?«, fragte er, als würde er zu einem Kind sprechen. Er schwenkte die Tüte ein wenig, und die Ampullen klirrten aneinander.

»Was zum Teufel willst du eigentlich, Coulthard?«, flüsterte sie heiser, während ihr der kalte Schweiß ausbrach.

»Gib mir den verdammten Computer«, kommandierte der Mann mit dem Schlagstock, und Berlin erkannte Flints Stimme.

Sie umklammerte den Computer fest mit ihrem unverletzten Arm und trat einen Schritt zurück. Flint klopfte sich rhythmisch mit dem Stock auf die behandschuhte Handfläche. Er machte einen Schritt nach vorn.

»Sonderzustellung«, sagte eine atemlose Stimme von der offenen Tür her.

Es war Dempster; er keuchte, sein anthrazitgrauer Anzug hatte Schweißflecke unter den Achseln, und die Schultern waren mit Schneeflocken bedeckt. Er hielt einen großen Umschlag in den Händen.

»Tut uns leid, Kumpel«, sagte Coulthard. »Wir mussten schon mal ohne dich anfangen.« Er klappte den Schild hoch, und Flint folgte seinem Beispiel.

Berlin starrte Dempster an. Er hob eine Hand, als wollte er die Intensität ihres Blicks abwehren.

»Vielleicht würden Sie uns die Ehre erweisen, Detective Chief Inspector Dempster?«, sagte Flint höhnisch. »Lesen Sie ihr ihre Rechte vor, und nehmen Sie sie wegen Drogenbesitzes und Irreführung der Polizei fest. Dann können Sie sich die Verhaftung gutschreiben lassen.«

Die Stille war schwer von dem Geruch nach Angst und Betrug.

»Denn wenn Sie sie nicht verhaften, werde ich Sie verhaften«, sagte Flint. »Aufgrund derselben Anklage.«

Niemand bewegte sich.

Berlin erkannte, dass Dempster nicht weiterwusste. Wenn er sie verhaftete, würde sie ihn hochgehen lassen, um ihre eigene Haut zu retten, und auf Strafverschonung plädieren, um ihre Strafe abzumildern. Bonningtons Aussage würde ihre Behauptung stützen, dass Dempster ein erpresserischer Polizeibeamter war.

Wenn er sie nicht verhaftete, würde Flint sie beide verhaften. Die beiden Polizisten, die sie schon einmal festgenommen hatten, würden zweifellos gern bezeugen, dass Dempster sich eingemischt und sie laufen gelassen hatte, obwohl sie in ihrer Wohnung Heroin gefunden hatten.

Man hörte das Gejaule näher kommender Sirenen. Die Tonhöhe wurde schriller, dann nahm sie ab, als das Auto vorbeifuhr. Der Doppler-Effekt. Sie wusste, dass es nur eine Frage der Wahrnehmung war.

Die Atmosphäre lockerte sich, und sie sah Dempster lächeln und auf Coulthard zugehen.

»Geben Sie mir das«, sagte er und streckte die Hand aus.

Coulthard grinste Berlin gemein an und gab Dempster die Tüte, aber sein Grinsen verwandelte sich in Bestürzung, als Dempster sie auf den Boden fallen ließ. Das Kräuseln wurde zu einem Tsunami.

Bevor Coulthard sich bücken konnte, um die Tüte aufzuheben, trat Dempster darauf. Das leise Knirschen der zersplitternden Ampullen hallte durch Berlins Körper.

Entsetzt sah sie, wie eine dunkle, nasse Flutmarke von Schmerz sich in der Tüte ausbreitete. Der Boden unter ihr schien wegzubrechen.

Von einem ungeheuren Verlangen ergriffen, stieß sie einen Schrei aus, stürzte sich auf Dempster und schmetterte ihm den Computer gegen die Schläfe. Flint eilte zu ihr und schwenkte den Schlagstock, aber sie duckte sich darunter weg, und Coulthard bekam die volle Wucht des Schlags auf seinen Arm. Dempster taumelte und ließ den Umschlag fallen. Berlin prallte mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihn, und er torkelte gegen Flint. Beide stürzten zu Boden.

Sie rannte los und knallte die Haustür hinter sich zu.

Dempster und Flint rollten über die Erde und versuchten, aufeinander gestützt aufzustehen, wobei sie sich gleichzeitig daran hinderten. Dempster umschlang mit den Armen Flints Hals und knallte dessen Kopf gegen die Wand. Flint sackte in sich zusammen. Dempster zog sich hoch. Als er aufschaute, zielte Coulthard mit seiner Pistole auf ihn.

»Was soll der Scheiß?«, fragte Dempster.

Coulthards linker Arm hing nutzlos herunter. Die Waffe in seiner rechten Hand zitterte mit dem Tremor des abebbenden Adrenalins. Dempster sah in Coulthards vor Angst und Verwirrung weit aufgerissene Augen und dann auf die Knarre. Zwischen ihnen war nur ein knapper Meter.

Dempster trat vor und hob den Arm, als wollte er nach der Waffe greifen, aber als Coulthards Blick dieser Bewegung folgte, trat er zu. Der schwere, in Yorkshire handgearbeitete Stiefel brach Coulthard das Handgelenk. Mit einem Aufjaulen ließ er die Waffe fallen, und Dempster schnappte sich ihn, schleuderte ihn zu Boden und drehte ihm den linken Arm auf den Rücken.

»Woher hast du die Waffe?«, flüsterte er in Coulthards Ohr.

»Lassen Sie mich!«, stöhnte Coulthard.

Dempster bog den Arm noch ein paar Zentimeter weiter. Coulthard schrie.

»Woher hast du die verdammte Knarre?«, fragte Dempster.

»Ich hab sie geklaut. Diesem Kerl.«

Dempster verrenkte ihm den Arm noch mehr. Aber er passte auf, denn er wollte nicht, dass Coulthard das Bewusstsein verlor.

»Welchem Kerl?«

»Bonnington! Er heißt Daryl Bonnington.«

56

Berlin hatte seit zwanzig Jahren keine Drogen mehr auf der Straße gekauft. Eigentlich hatte sie auch damals nur selten etwas von den sprichwörtlich zweifelhaften Gestalten gekauft, die sich in dunklen Ecken herumdrückten. Verbotene Suchtmittel gehörten in den Siebzigern und Achtzigern zu dem Leben ihrer Freunde und Bekannten. Ein paar Telefonate, eine freundliche Plauderei in einer Bar, und der Freund eines Freundes verschaffte einem, was immer man wollte.

An einem Tag feierte man in der protzigen Hütte irgendeines Popstars in Knightsbridge und bediente sich aus einer Supermarkttüte voll Kokain, und am nächsten Tag hockte man im Zimmer über einem heruntergekommenen Pub in Hackney und spritzte sich billiges H. Mitglieder der IRA marschierten manchmal trommelnd herein und hielten einem einen Eimer für Spenden unter die Nase. Der harte Stoff wurde unten verkauft, konfisziert bei den irischen Dealern von Männern in Skimützen, die ihnen die Kniescheibe zerschmettert hatten.

Aber diese Zeiten waren längst vergangen. Die Leute von damals waren entweder tot oder besaßen ein Bed-and-Breakfast am Arsch der Welt. Oder sie waren Staatsanwälte, Topmanager oder Akademiker, die nicht an ihr früheres Leben als Partylöwen erinnert werden wollten. Jetzt züchteten sie ein paar Haschpflanzen in ihrem Ferienhaus in Wales und tranken teuren Rotwein.

Berlin gab die Schuld daran dem Drogenkrieg.

Ihre Verwandlung vom Freizeituser zum Berufsjunkie war übergangslos und unauffällig gewesen. Erst als ihre üblichen Verbindungen nicht mehr funktionierten und sie von blinder Panik überwältigt wurde, war ihr klar geworden, dass die Beziehung zwischen ihr und dem Stoff, die sie für locker gehalten hatte, jetzt ernst geworden war.

Es war Liebe.

Die Kälte betäubte den Schmerz, und ihr Verstand wurde etwas klarer. Sie merkte, dass sie im Windschatten des Sockels kauerte, der die Last des großen Eisentors von St. John bei der Kreuzung in der Nähe des U-Bahnhofs schulterte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war.

Sie spähte die Bethnal Green Road hinunter, aber Schnee wirbelte in dem schwefelgelben Licht der Straßenlampen und begrenzte die Sichtweite auf ein Minimum. Es war ihr wohl niemand von ihrer Wohnung bis hierher gefolgt, aber selbst wenn, würden sie sie nicht sehen können.

Das Wetter schreckte die Dealer und ihre Kunden nicht ab. In Steppjacken, T-Shirts und zerlöcherten Turnschuhen flitzten sie die Treppen zu den drei Eingängen hoch und runter, die zum Bethnal-Green-U-Bahnhof führten.

Sie sah, wie ein verzweifelter, klapperdürrer Teenie auf dem Weg nach unten eine Stufe verfehlte und gegen eine Frau prallte, die ein quengelndes Kind auf dem Arm trug. Er beschimpfte die Frau und lief weiter. Sie war beinahe gestürzt, hatte sich aber in letzter Sekunde am Geländer festgehalten und wieder gefangen, während das Kind losplärrte.

Berlin dachte an ihren Vater, der auf diesen Stufen gelegen hatte und von den Verzweifelten und Toten fast zerquetscht worden war.

Ihr war schwindelig, und sie lehnte sich an die Kirchentür. In der Kirche von St. John hingen vierzehn berühmte Gemälde: die Stationen des Kreuzwegs. Sie fragte sich, ob sie in ihrem ausgelaugten Zustand jetzt ein bisschen melodramatisch wurde.

Sie holte tief Luft und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Drogendeals in den kurzen Tunnels zu, die zur Fahrkartenhalle führten. Gerade außerhalb der Reichweite der Überwachungskameras.

Drei Wege führten in den Bahnhof hinein und drei hinaus.

Wenn die Polizei eine Razzia machte – und die erfolgten routinemäßig –, würden sie an jedem Eingang einen Mann postieren, und weitere würden hinter dem Fahrkartenschalter warten. So viele Bullen vor Ort würden dem erfahrenen Beobachter auffallen, und die meisten Dealer würden sich verdünnisieren und ein paar Neulinge dalassen, die es dann auf die harte Tour lernten. So war das eben.

Dabei standen die meisten Beamten vom Bethnal-Green-Revier auf Grußfuß mit den Dealern. Die Typen mit den Knarren und Messern beunruhigten sie viel mehr. Heroin folgte derselben Verkaufslogik wie alle anderen Waren. Wenn man die Dealer einbuchtete und der Nachschub knapp wurde, stiegen die Preise. Dann nahmen die Gewaltverbrechen zu.

Mit hämmerndem Puls stand Berlin auf, ging die paar kurzen Schritte bis zur Treppe und stürzte sich ins Wagnis.

Die kurzen Tunnels wurden durch die trübe Widerspiegelung des kalten Lichts auf den weißen Kacheln beleuchtet. Die leichte Krümmung der Wände vermittelte den Eindruck eines endlosen, unentrinnbaren Korridors.

Sie näherte sich einem großen, mageren Jungen, den sie schon bei vielen Deals beobachtet hatte. Er war höchstens fünfzehn, sein Gesicht tief in der schwarzen Kapuze und unter einer Baseballkappe verborgen. Er sah sie nicht an und nahm von ihrer Gegenwart keine Notiz.

»Ich such was. Kannst du mir helfen?«, fragte sie.

Der Junge sah sie noch immer nicht an. Er hob seine Arme in einer langsamen, ausladenden Bewegung, die zu sagen schien: »Was ist bloß aus der Welt geworden?«

Sie schluckte schwer. »Bitte.«

Der Junge zockelte davon.

Sie ging durch die Fahrkartenhalle und überprüfte alle Tunnels. Das Signal war gegeben worden, und die Dealer waren verschwunden. Keiner würde ihr etwas verkaufen. Sie war nicht bekannt, und ihre Beschreibung – mittleren Alters und weiblich – passte nicht auf User. Sie hielten sie für eine Undercover-Polizistin, die sie reinlegen wollte. Was für eine gottverdammte Ironie.

Sie verließ den U-Bahnhof und bog in die Hackney Road ein, wo sie ein billiges Hotel mit einer Bar und Internetanschluss kannte.

Sie konnte heute nicht nach Hause gehen, vielleicht auch länger nicht, falls sie steckbrieflich gesucht wurde. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken und auch nicht über Dempsters Rolle in dem Ganzen. Es war ein beschissener Albtraum.

57

Thompson checkte von seinem Computer zu Hause aus zum x-ten Mal seine E-Mails im Büro. Er begriff nicht, warum Berlin ihm nicht die Mailbox-Aufnahme geschickt hatte. Sie ging auch nicht ans Handy. Er hatte geglaubt, sie hätten eine Abmachung getroffen, aber vielleicht traute sie ihm nicht. Er konnte ihr kaum die Schuld daran geben, so wie diese tickende Zeitbombe Dempster sich aufgeführt hatte.

Er überlegte, ob er noch mal im Krankenhaus anrufen sollte. Wieder und wieder erkundigte er sich nach Fernley-Prices Zustand und vergewisserte sich, dass der Polizist noch Wache hielt. Allmählich hatten die Schwestern auf der Station die Nase voll von ihm. Jedes Mal war es dieselbe Leier: Fernley-Prices Zustand war stabil, aber er war immer noch bewusstlos, und der Polizist war da und trank Tee.

Der Arzt hatte Thompson gesagt, dass man zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststellen konnte, ob Fernley-Prices Hirnschwellung zu einer dauerhaften Schädigung führen würde. Die Verletzung am Kinn stammte wohl von einem Kinnhaken, die Verletzung am Kopf von einem Tritt. Anscheinend war es ein Wunder, dass Fernley-Price überhaupt hatte stehen können, und er hätte niemals aus dem Privatkrankenhaus entlassen werden dürfen.

Erkundigungen dort erbrachten, dass seine Krankenversicherung abgelaufen war und damit auch ihr Mitgefühl. Die Untergrenze kommerzieller Rentabilität verlief ganz knapp über dem hippokratischen Eid.

Niemand wusste genau, wo der Angriff erfolgt war. Ein guter Samariter – wahrscheinlich der letzte in London – hatte ihn die Liverpool Street entlangkriechen sehen und den Notarzt gerufen.

Thompson hatte mithilfe der örtlichen Polizei eine schnelle Untersuchung der unmittelbaren Umgebung veranlasst, da sie dafür zuständig war. Aber es war nichts dabei herausgekommen. Er konnte erst weitermachen, wenn Fernley-Price aufwachte.

Geistesabwesend starrte er auf den Bildschirm, ging noch einmal die Informationen durch und versuchte, die Beziehungen zu analysieren, die den Schlüssel zu Gina Doyles Ermordung liefern mussten. Jetzt wünschte er sich einen Zugriff auf Berlins Software. Er kritzelte Notizen auf den Rand einer Zeitungsseite neben ein halb gelöstes Sudoku.

Jeremy Fernley-Price war Doyles Schwiegersohn, was Doyle aber nicht wusste. Doyles Tochter war Mrs. Fernley-Price. Sie hatte ihren Vater verpfiffen. Fernley-Price war außerdem Ludovic Nestors Privatbanker. Als Fernley-Price abstürzte, war Nestor mitgestürzt.

Nestor hatte sich an demselben Ort umgebracht, an dem Gina Doyles Leiche gefunden worden war. Hatte er das getan, um ein letztes, schauriges Statement zu Fernley-Price abzugeben? Tat er das, um anderen Schuldgefühle zu machen oder weil er schuldig war?

Schwer zu glauben, dass Nestor Fernley-Prices Frau umbringen würde, um sich für seine finanziellen Verluste zu rächen.

Und was war mit Fernley-Price selbst? Man suchte nie nach Motiven, wenn Eheleute sich gegenseitig umbrachten, aber hier gab es eins. Was, wenn er herausgefunden hatte, dass sie Doyle verraten wollte? Indem sie Doyle ans Messer lieferte, tat sie das faktisch auch mit Fernley-Price. Zum Zeitpunkt ihres Todes wussten nur Leute beim Sonderdezernat, dass sie eine Informantin war, und sie hatte das Pseudonym Juliet Bravo benutzt. Damals wussten sie nicht, wer sie in Wirklichkeit war. Das letzte Gespräch zwischen Nestor und Fernley-Price konnte hier bestimmt helfen.

Er sah wieder nach seiner E-Mail. Nichts. Wo war sie, zum Teufel? Er hatte es im Urin, dass sie mehr wusste, als sie zugeben wollte, mit all diesem Material, das sie in ihrem Computer hortete.

Sie stellte seine Geduld auf eine harte Probe.

58

Das Hotelzimmer war nichtssagend und leblos. Alles war an der Wand oder am Fußboden festgeschraubt. Berlin legte das Modem mit dem Internetzugang auf den Tisch und holte aus ihren Taschen die Miniflaschen Johnnie Walker, die sie an der Rezeption gekauft hatte. Sie schraubte zwei auf und drückte auf die Einschalttaste. Sie würde wenigstens versuchen, mit der Untersuchung weiterzumachen, und der nächste Schritt war, dass sie Nestors Mailbox an Thompson mailte. Wenn sie weiterhin gut mit ihm auskam, würde er ihr vielleicht aus dieser Scheiße raushelfen.

Die Lämpchen leuchteten auf, und der Bildschirm wurde blau, aber er begrüßte sie nicht, sondern gab nur ein Geräusch von sich wie ein verreckender Rasenmäher. Berlin tippte auf verschiedene Tasten, aber nichts geschah. Ihr Laptop war mausetot, zweifellos hatte der heftige Kontakt mit Dempsters Kopf ihn geschrottet. Falls das Karma war, musste sie in einem früheren Leben Blaubart gewesen sein.

Bevor man die Mailbox bearbeiten konnte, musste ein Profi die Ordner von ihrer Festplatte wiederherstellen – falls das überhaupt möglich war. Jetzt musste sie den verdammten Computer per Kurier zu Thompson bringen lassen, und der Himmel mochte wissen, wie lang das alles dauern würde.

Sie hatte auch ihre Notizen und Diagramme verloren. Alles, was sie so sorgfältig zusammengetragen hatte, seit Ginas Leiche gefunden worden war. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.

Sie hatte alles verloren.

Eine Woge totaler Erschöpfung überrollte sie. Sie schaffte es nur noch, ihren Mantel auszuziehen, und hatte Schwierigkeiten, ihren geschwollenen Arm aus dem Ärmel zu ziehen. Ein dunkelvioletter Bluterguss verlief von ihrer Schulter bis zum Handgelenk.

Sie leerte noch zwei weitere Fläschchen, legte sich aufs Bett und wickelte sich in den Mantel. Bevor sie irgendetwas unternehmen konnte, musste sie erst mal die Nacht überstehen.

Plötzlich verwandelten sich ihre Gedärme in Wasser, sie sprang hoch und schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer. Das konnte der Schock sein oder der Anfang vom Entzug. Aber dafür war es doch bestimmt noch zu früh!

Für Angst hingegen war es nicht zu früh.

Ein Leben ohne Heroin.

Terror packte ihre Eingeweide und zerrte an ihnen. Es war wie die schlimmste Grippe, Nahrungsmittelvergiftung und Seekrankheit auf einmal. Sie kroch wieder ins Bett, obwohl sie wusste, dass sie nicht schlafen würde. Vielleicht nie mehr wieder.

Die Toten glitten aus dem Äther, um ihr Gesellschaft zu leisten. Gina, Lazenby, Nestor. Sie schwiegen und sahen sie nur vorwurfsvoll an.

Direkt hinter ihnen standen ein junger Schwarzer und eine Frau, die nach seiner Hand zu greifen schien. Merle Okonedo und ihr Bruder. Weiter weg ihr Vater. Immer ihr Vater, der ihr den Rücken zuwandte.

59

Frank hatte seine Strafe im Gefängnis der Schlaflosen abgesessen. Um drei Uhr morgens war er dabei, die Vergangenheit zuzunageln.

Er hatte zu viele Zimmer und lebte nur in einem. Er schlief auf der Couch, damit er kein Geld für Heizung und Licht verschwenden musste. Es gab nur vier Glühbirnen im ganzen Haus. Eine in der Küche, eine im Bad, eine im Wohnzimmer und eine im Flur. Eigentlich war die überflüssig.

Er hörte auf zu hämmern und schleppte einen Stuhl in den Flur, kletterte darauf und schraubte die vierte Birne aus der Fassung. Drei Birnen – mehr brauchte er nicht. Es lohnte sich nicht, die Dinge zu gut auszuleuchten.

Vor einiger Zeit hatte er bemerkt, dass sich die Möbel in den nicht benutzten Zimmern zu bewegen schienen. Das würde die Geräusche erklären, die ihn nachts wach hielten: Etwas Schweres wurde über den Teppich gezerrt und dann mit einem Bums fallen gelassen.

Doyle gegenüber hatte er das nicht erwähnt, weil er wusste, dass der ihm nur wieder einen seltsamen Blick zuwerfen würde. Der Junge hatte kein Rückgrat. Der wartete doch nur auf einen Vorwand, um ihn in ein Heim zu stecken, damit er alles an sich reißen konnte.

Nur über Franks Leiche.

Er hämmerte weiter. So viele Fenster.