25

Die Nacht war noch nicht dem Tag gewichen, als Berlin, erschöpft von ihrem nächtlichen Herumwandern, zu Hause ankam. Sie sehnte sich nach Schlaf. Fluchend kämpfte sie mit dem neuen Türschloss. Das Licht im Treppenhaus war mal wieder kaputt und ihre Finger steif vor Kälte. Der Schlüssel fiel zu Boden, als sie Schritte hörte, die näher kamen. Eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf und streckte einen Arm nach ihr aus. Zwischen einer schwarzen Wollmütze und einer schwarzen Thermojacke war das schwarze Gesicht kaum zu erkennen.

»Was zum Teufel soll das, Delroy?«, fragte sie entgeistert.

»Nestor ist tot.«

Delroy war noch nie in Berlins Behausung gewesen. Zu seiner Überraschung schien alles ganz normal. Es war eigentlich nur ein großes Zimmer, aber bequem eingerichtet, ein paar Bilder, ein glänzender Holztisch und eine gelbe Vase mit leuchtend blauen Iris. Eine Wand wurde von einem Bücherregal eingenommen. Ein kleiner, schmaler Edelcomputer stand auf einem Stapel alter Hardcoverbücher neben der Couch. Das Farbschema des Raums, wie es in den Sonntagszeitungen hieß, war blau und gelb.

Berlin goss ihm Kaffee in einen Becher.

»Was ist mit dir passiert?«, fragte er und zeigte auf ihr Gesicht.

»Was ist mit Nestor passiert?«, war ihre Antwort.

Delroy zuckte mit den Achseln. Na gut. Es ging ihn schließlich einen feuchten Kehricht an, ob ihr jemand eine reingesemmelt hatte. Wahrscheinlich hatte sie einer provozieren wollen, dachte er, aber sofort schämte er sich seines lieblosen Gedankens. Das war der Ärger mit Berlin: Man wusste niemals, was sie dachte, aber sie schien immer zu wissen, was man selber dachte. Er trank einen Schluck, damit man ihm seine treulosen Gedanken nicht ansah.

»Sie haben ihn heute Morgen aus dem Limehouse-Becken gefischt.«

»Du machst Witze«, sagte Berlin erstaunt.

Delroy schüttelte den Kopf. »Unser Verbindungsmann in der dortigen Polizeiwache hat mir die Neuigkeit erzählt.«

»Wie ist er gestorben?«

»Keine Ahnung, ob er gesprungen ist oder gestoßen wurde.«

Er beobachtete Berlin, wie sie die Nachricht zu verdauen versuchte.

»Das ist doch kein verdammter Zufall, dass er an derselben Stelle auftaucht wie Juliet Bravo. Das heißt, Gina Doyle«, sagte sie.

»Den Namen hat sie eh nicht benutzt«, knurrte Delroy und trank seinen Kaffee aus.

»Welchen? Gina Doyle?«

»Genau. Sie können unter diesem Namen keine Spur von ihr finden.« Er hielt ihr seinen Becher zum Nachfüllen hin.

»Woher weißt du das?« Sie goss sich einen Schluck Scotch in ihren Kaffee und übersah den leeren Becher. Delroy bemerkte, dass sie gar nicht mehr an Nestors Tod dachte. Er stand auf und schenkte sich selbst nach.

»Immer wenn Coulthard geht, lässt er seinen PC an.« Er sah etwas verlegen drein, wie ein Kind, das man beim Schlüssellochkucken erwischt hatte. »Er kriegt ständig Mails von einem gewissen Pulverfass.«

»Flint. Der Kripotyp mit der Frettchenfresse«, sagte Berlin.

»Ach klar, an den hatte ich nicht gedacht.« Del lachte. »Das muss er natürlich sein. Also, der hat Coulthard gestern angerufen. Und dann ist was Merkwürdiges passiert. Pulverfass hat ihm ein Foto von Doyles Tochter aus der Leichenhalle gemailt.«

»Mensch, Del, das ist verdammt noch mal viel zu abgefahren. Warum sollte Coulthard ein Foto von meiner toten Informantin wollen?«

»Tja. Mir will das auch nicht in den Kopf. Typisch Coulthard eben.« Er trank wieder von dem starken, aromatischen Kaffee. Normalerweise bevorzugte er Nescafé, aber das Zeug hier war klasse.

»Ich hab von dem Arzt in Hackney gehört«, sagte er.

Berlin reagierte nicht.

»Das ist doch der, oder?«

»Welcher der?«, forderte sie ihn heraus.

»Der deinen Diabetes behandelt«, sagte Delroy bedächtig.

»Genau der, Del«, sagte sie und ergab sich.

»Und wie läuft das jetzt? Wie kriegst du deine Behandlung weiterhin organisiert?«

Sie schenkte ihm ein knappes Lächeln. »Alles bestens, Del. Danke der Nachfrage.«

Delroy nickte und stellte seinen Becher ab. »Ich geh mal besser wieder. Im Büro herrscht heute garantiert Chaos.«

Sie folgte ihm zur Tür. »Und was erzählt man sich über Nestor?«

»Nicht viel. Er war betrunken. Ist noch mal spät ins Büro gekommen. Sie lassen nichts verlauten. Die Untersuchung steht ja noch ganz am Anfang, nehme ich an.«

»Nehme ich an.« Sie überlegte. »Del?«

»Was?« Er war sofort auf der Hut. Diesen Ton kannte er.

»Bist du in deinem früheren Leben jemals einem DCI Dempster begegnet?«, fragte sie wie nebenbei.

Oh Mann, dachte er, sie macht einfach weiter. Sie wusste, dass er vor seinem Eintritt in die Behörde als Zivilbeamter für interne Beschwerden zuständig gewesen war. Ihre Reaktion auf Nestors Tod war genau wie ihre Reaktion auf alles andere: Da war nichts. Er mochte sie wirklich, sie war unbeugsam, loyal und klug. Bei der Arbeit hatte sie ihn oft gedeckt und die Wucht von Coulthards Feindseligkeit abgefangen. Aber sie war so verdammt abgedreht.

»Warum fragst du?«

»Er führt die Ermittlungen bei dem Mord an meinem Arzt.«

Delroy seufzte und gab ihr einen von Herzen kommenden Rat. »Kollegin, du hast schon jede Menge Ärger. Coulthard hat den Auftrag, einen Bericht über deine Dienstpflichtverletzungen in Bezug auf die tote Informantin zu liefern. Jetzt erwischt es Nestor am selben Schauplatz. Versuch doch einfach mal, ganz im Hintergrund zu bleiben, ja? Misch dich nicht in eine andere Untersuchung ein.«

Er küsste sie rasch auf die Wange und ging.

Zu spät, Kollege, dachte sie. Ich stecke bereits bis zum Hals drin.

Es war immer noch dunkel, aber jetzt würde sie bestimmt nicht schlafen können. Sie goss sich noch einen Scotch ein. Falls Nestor ermordet worden war, musste es eine Verbindung zu Doyles Geschäften geben. Warum hätten sie sonst die Leiche an demselben Ort gelassen? Und ebenso, wenn es Selbstmord war.

Warum dort?

Sie versuchte, die Wirkung einzuschätzen, die Nestors Tod auf das haben könnte, was lächerlicherweise als ihre Karriere bezeichnet wurde. Coulthard würde wahrscheinlich befördert werden, und dann gäbe es kein Halten mehr für ihn. Eine düstere Vorahnung ergriff sie, als sie auf den Brotkasten blickte. Sie griff nach ihrem Mantel. Vielleicht war sie nur hungrig.

26

Berlin war so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie Doyle erst bemerkte, als er sich räusperte. Sie sah hoch, und er zeigte auf den leeren Stuhl an ihrem Tisch.

»Gestatten Sie?«

Sie blickte sich im Pellicci’s um. Es waren noch viele Plätze frei.

»Bitte.«

Er legte Mantel und Schal ab, hängte sie über die Rückenlehne des Stuhls und setzte sich. Nino brachte ihm Tee und Toast. Berlin sah zu und wartete.

Doyle nippte an seinem Tee. Er sah schrecklich aus. Sie dachte an Juliet Bravo und daran, wie sehr Juliet daran gelegen gewesen war, diesen Mann zu Fall zu bringen, wie sie Berlin bedrängt hatte, ihn um jeden Preis zur Strecke zu bringen. Ihren eigenen Vater. Berlin fragte sich, was er getan hatte, dass seine Tochter ihn so sehr hasste.

Doyle stellte seufzend die Tasse ab. »Ich habe meine Tochter zum letzten Mal gesehen, als sie sechzehn war, Miss Berlin.« Er sah zu ihr auf. »Sie heißen doch Berlin?«

»Woher wissen Sie, wer ich bin?«

»Ihre Firma leckt wie ein Sieb.«

Berlin war nicht überrascht und sah auch keinen Grund, empört zu tun oder rauszugehen.

»Ich bedaure Ihren Verlust, Mr. Doyle.«

»Ich danke Ihnen. Ich weiß das zu schätzen …« Er schien die Wahrheit zu sagen. Aber es war klar, dass er sich nicht hierhergesetzt hatte, um Höflichkeiten auszutauschen.

»Was kann ich also für Sie tun?«, fragte sie.

Doyle zögerte. »Wie war sie?« Sein Gesichtsausdruck war weich, verwundbar. »Gina, meine ich.«

Berlin war verblüfft. Das war das Letzte, was sie von ihm erwartet hätte. »Ich … äh, sehen Sie, ich kannte sie kaum. Sie war meine Informantin, eine Undercover…«

»Ich weiß, was das bedeutet.« Er streckte den Arm über den Tisch und umklammerte ihren Unterarm. Das war keine Drohung, sondern eine Bitte. »Miss Berlin, ich weiß, dass sie mich verpfiffen hat. Sie haben sich bestimmt gefragt, was ein Vater getan haben kann, dass seine Tochter so etwas tut.«

Wieder war sie überrascht, diesmal von seinem Scharfblick.

»Ich glaube, ich kenne den Grund«, fuhr er fort. »Sie hat mir immer die Schuld dafür gegeben. Bestimmt hat sie gedacht …«

Er brach ab. Berlin fühlte seine feuchte Hand durch ihren Ärmel.

»Sie dachte, ich wäre schuld.« Er zögerte. »Dass ihre Mutter gegangen ist und sie nicht mitgenommen hat.«

Die Ermittlerin in Berlin gewann jetzt die Oberhand »Und – waren Sie schuld?«

Doyle hob seine Hand himmelwärts und schüttelte den Kopf. »Ich schwöre es.«

Berlin hatte das Gefühl, dass er glaubte, sie wüsste mehr, als sie wirklich wusste. Das gab ihr einen taktischen Vorteil.

»Wenn Sie schon wissen, was ihre Motivation war, was wollen Sie dann von mir?«

»Ich will nur wissen, wie sie so war, als Erwachsene, meine ich.«

Berlin fiel kein Grund ein, warum sie ihm diesen schlichten, traurigen Wunsch nicht erfüllen sollte.

»Sie war klug, selbstsicher und gut gekleidet. Sie sagte, sie hätte einen Job in der City.«

In Doyles Augen standen Tränen. »Das war meine Gina. Blitzgescheit. Ich wusste immer, dass sie uns Ehre machen würde. Aber warum hat sie all diese Jahre gewartet, bis sie sich an mir rächte? Das begreife ich nicht. Warum jetzt?«

Das war eine verdammt gute Frage, fand Berlin. Vielleicht hatte ihr die Kampagne des Sonderdezernats die Gelegenheit geboten, auf die sie gewartet hatte. Gina hatte vielleicht gewusst, dass unerlaubte Kreditgeschäfte bei der Polizei keine Priorität besaßen. Sie hatte bestimmt ihre Hausaufgaben gemacht. Aber ein engagiertes Team und eine Hotline hätten da vielleicht einen großen Unterschied bedeutet.

Berlin schob ihren Teller beiseite. »Bedaure, Mr. Doyle, aber ich kann das wirklich nicht weiter mit Ihnen besprechen.«

Sie erhob sich, um zu gehen, aber er hielt sie am Arm fest. »Miss Berlin, ich will den kriegen, der mein kleines Mädchen umgebracht hat. Ganz egal, was sie mir antun wollte. Ich glaube, Sie wollen ihn auch fassen, denn auf eine bestimmte Art tragen wir beide die Verantwortung dafür. Wir könnten einander helfen.« Forschend sah er sie an.

Sie sah auf seine Hand auf ihrem Arm.

Er ließ sie los.

Doyle wartete darauf, dass sie etwas sagte, auf eine Spur von Gefühl. Umsonst.

Er holte einen Stift heraus, schrieb eine Handynummer auf eine Zeitung, die auf dem Tisch lag, und schob sie zu ihr. Sie berührte sie nicht, sondern schob den Stuhl zurück und ging zum Tresen zahlen.

Als sie die Tür öffnete, um hinauszugehen, redete Doyle weiter. »Sie sind von hier. Berlin war der Juwelier. Hatte früher seinen Laden weiter unten in der Straße.«

Sie machte die Tür wieder zu und ging zum Tisch zurück.

»Er hieß damals Berlinsky.«

»Sie haben den falschen Berlin«, sagte sie.

»Mein Vater hat Ihren gekannt«, sagte Doyle leise.

Er spreizte die Finger und zeigte seine Ringe.

Sie nahm die Zeitung an sich und ging.

27

Auf dem Rückweg durch die Bethnal Green Road kam es ihr vor, als schnappte etwas oder jemand oder vielleicht das Schicksal nach ihren Fersen. Das rückte ihr alles zu sehr auf die Pelle.

Der Laden war noch da, aber es war kein Juweliergeschäft mehr. Sie hatten darüber gewohnt. Sie überquerte die Straße, damit sie nicht daran vorbeigehen musste. Das Geschäft hatte ihrem Vater gehört und davor ihrem Großvater. Er hatte das Geld dafür zusammengekratzt, nachdem er aus Russland eingewandert war.

Nachbarschaft. Ein warmes, erstickendes Netzwerk. Doyle hatte ihren Vater ins Spiel gebracht und mit ihm das volle Gewicht einer gemeinsamen Geschichte. Sie ging am Eingang zum U-Bahnhof vorbei, und da war die Plakette an der Mauer. Es gab kein Entrinnen.

Berlin hatte die Geschichte so oft gehört, dass sie ihr wie ihre eigene Erinnerung vorkam.

Es war 1943 gewesen. Die Menschen liefen zum U-Bahnhof hinunter, der als Luftschutzbunker diente. Er war noch nicht fertig gebaut, und es hielten keine Züge dort. Die Menge war ziemlich diszipliniert, bis das Dröhnen unbekannter Explosionen ertönte. Die Armee im Victoriapark testete neue Artilleriewaffen, aber das wusste hier niemand. Die Menschen dachten, es wäre ein Luftangriff, und wurden von Panik ergriffen.

Eine Frau mit einem Baby stürzte, aber die Menschen hinter ihr drängten weiter. Sie trampelten die Stufen hinunter und hinterließen hundertzweiundsiebzig Tote, davon zweiundsechzig Kinder. Ein Schwerverletzter starb später im Krankenhaus. Man könnte sagen, sie wurden durch den Beschuss der eigenen Streitkräfte getötet, dachte Berlin.

Die Erinnerung ihres Vaters war lebendig geblieben. Er war fünfzehn gewesen, als es geschah. Gerade hatte er im Geschäft seines Vaters angefangen. Ein magerer Jüngling, ein Kümmerling, wie er sich selbst beschrieb.

Er war schon die halbe Treppe hinuntergerannt, als die Massenpanik einsetzte. Zwischen Himmel und Hölle, wie er es nannte. Er erzählte ihr, wie er den erstickenden Druck auf seiner Brust gespürt hatte, ein Gefühl wie unter einem schweren, unaufhaltsamen Gewicht, als der Sauerstoff aus seiner Lunge gepresst wurde.

Er legte beim Reden immer die Hand leicht auf die Brust und atmete tiefer ein und aus. Als Kind hatte sie die eigene Hand auf ihre Brust gelegt und gefürchtet, sie bekäme keine Luft mehr. Sogar jetzt fühlte sie, wie ihre Brust enger wurde.

Dann hob er immer die Arme hoch über den Kopf und beschrieb, wie er mit ausgestreckten Armen unter der Welle der Leiber begraben wurde. An diesem Punkt der Erzählung war ihr als Kind klar geworden, dass sie, wäre er tiefer gesunken, nicht hier sitzen und ihm zuhören würde – ihre erste Ahnung von Nicht-Existenz.

Aber er versank nicht.

Eine Hand ergriff seine. Sie kam von oben, wurde zu zwei Händen, die sich um seine Handgelenke schlossen, und mit solcher Macht zogen und zerrten, dass er Angst hatte, ihm würde die Schulter ausgerenkt. Ihr Vater hatte getreten und sich nach oben geschoben und die Körper unter sich als Halt benutzt. Die Hände ließen erst los, als sie ihn über das Geländer gezerrt hatten und er nach Luft ringend auf dem Gehweg lag.

Als er aufsah, erkannte er, dass sein Retter ein großer, ungeschlachter Junge war, wahrscheinlich nicht viel älter als er. Der Junge betrachtete seinen eigenen Bauch. Die Spitzen des Eisengeländers hatten sich tief in sein Fleisch gebohrt, als er sich darüber gebeugt und ihren Vater in Sicherheit gehievt hatte. Aus den offenen Rissen troff Blut. Der Junge zog sein Hemd nach unten und grinste Berlins Vater an, der immer noch zu seinen Füßen lag.

Der Lärm von dem Chaos ringsherum schien aus weiter Ferne zu kommen. Die Schreie der unter den Toten Begrabenen wurden schwächer. Sirenen heulten, und der Junge war verschwunden.

Sie schloss ihre Wohnungstür auf und schlug sie hinter sich zu. Aber sie fühlte sich nicht sicher. Jahrelang hatte sie sich unsichtbar machen können, und jetzt wollte plötzlich jeder was von ihr.

Coulthard saß an ihrem Fall, Dempster hielt sie am Gängelband, Doyle kannte ihre Familie. Verdammt, Dempster besaß vielleicht sogar einen Schlüssel zu ihrer verfluchten Wohnung.

Sie machte kehrt und verließ das Haus wieder.

28

Dempster las zum dritten Mal die Zeugenaussagen durch. Sie stimmten grundsätzlich miteinander überein. Die Frau war aufgestanden, hatte die Waffe gezogen, »Mörder« gebrüllt, und dann hatte sie geschossen. Woran sich alle glasklar erinnerten, war das Geräusch, als ihr Genick beim Aufprall auf den Eichentisch brach. Sie hieß Merle Okonedo und war vor Kurzem aus der Psychiatrie entlassen worden. Aber es waren ihre anderen Verbindungen, die Dempster interessierten.

Er beugte sich über die baufällige Brüstung des Polizeireviers in Limehouse. Dieses Revier im West India Dock gab es seit 1897, als der Polizeibezirk noch den Dockarbeitern und Seeleuten aus aller Herren Länder gehörte: hart wie Stahl, Erben der Seefahrertradition der Piraten und der blutigen Gemetzel auf hoher See. Die Polizei konnte kaum die Stellung halten.

Daran hatte sich nicht viel geändert. Das jetzige Gebäude erinnerte Dempster an eine gestutzte Version des Sowjetischen Konstruktivismus. Der Bau war 1940 begonnen und nach dem Krieg fertiggestellt worden, gerade rechtzeitig, um der Nachkriegswelle an Verbrechen durch die Banden aus dem East End zu begegnen, die ihren Zenit in den Sechzigern mit den Krays erreichte. Sie hatten die Norm für Kleidung, Umgangsformen und Loyalität bestimmt, von der die derzeitigen Bewohner von Poplar nur träumen konnten. Aber was die Grausamkeit betraf, hatten sie längst gleichgezogen.

Der schmale Balkon, auf dem er stand, diente den Rauchern als Zuflucht, seitdem die Pubs und Cafés rauchfreie Zonen waren. Er fror sich hier draußen den Arsch ab. Sie hatten ihm im obersten Stock ein besenschrankgroßes Zimmer gegeben, weit weg von der Einsatzzentrale des Mordfalls Lazenby. Sie kannten ihn nicht, und sie trauten ihm nicht. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Der DCI, der dem Team vorstand, hatte ihm geradeheraus erklärt, dass sie einer Verbindung von Lazenbys Mord zu Okonedos Tod im Rathaus nicht nachgehen würden, weil sie den als Unfall betrachteten. Aber auch bei dem Mord zeigten sie keinen besonderen Eifer. Ihrer Meinung nach war Lazenby ein unorthodoxer Arzt gewesen, der Junkies verwöhnte und dem man schon vor Jahren die Zulassung hätte entziehen sollen. Was für ein Haufen Trottel, dachte Dempster. Der DCI hatte ihm unumwunden mitgeteilt, dass Lazenby es ohnehin früher oder später von seinen beschissenen Patienten besorgt bekommen hätte. Man erntet, was man sät.

Vom Lazenby-Team waren bereits zwei Beamte wegen des verdächtigen Todes eines Kleinkinds abgezogen worden, für das seine bedröhnte Mutter das Badewasser in einem Blechtopf auf dem Herd hatte erwärmen wollen. Mitsamt dem Baby.

Dempster sah, wie eine junge Mutter die Straße überquerte. Sie sah aus wie eine etwa Vierzehnjährige mit einem Kleinkind im Kinderwagen. Sie blieb stehen, um mit einer Bekannten zu reden, und das Kind bestrafte sie, indem es seinen Teddy auf die Erde warf und losheulte, als sie ihn nicht aufhob und ihm zurückgab.

Er sog den Rauch tief in die Lungen und spürte, wie sein Hirn in Gang kam. Er versuchte, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Eine tote Frau umklammerte eine Spielzeugpistole, ein Arzt wurde mit einer echten Waffe erschossen. Sie starb in einem Handgemenge, als sie entwaffnet werden sollte, aber er starb während eines Raubüberfalls. Es gab keine Kampfspuren. Jemand kam herein, pustete ihn aus, nahm die Drogen und verschwand durch die Hintertür.

Die Leiche hatte die Tür zum Wartezimmer blockiert, aber wer immer das getan hatte, wusste, dass man durch das Zimmer, in dem sich die Süchtigen die Spritzen gaben, schnell verschwinden konnte. Catherine Berlin blieb es überlassen, die Tür aufzustoßen und die Leiche zu bewegen.

Er sann über Berlins Rolle in dem Ganzen nach. Von vornherein war klar gewesen, dass sie Lazenby nicht ermordet hatte, es sei denn, sie wäre so geistesgegenwärtig gewesen, durch die Hintertür raus- und durch die Vordertür wieder reinzurennen, um es so erscheinen zu lassen, als wäre sie erst nach seinem Tod gekommen. Außerdem hatte es den Handabdruck gegeben. Kein Mörder stieg über eine Leiche und hinterließ einen Abdruck auf einer blutbespritzten Wand.

Aber es war nützlich gewesen, dass sie – wenn auch nur einen Augenblick lang – gedacht hatte, sie würde verdächtigt. Das hatte sie gerade so lange aus dem Gleichgewicht gebracht, dass er sie in die Richtung drängen konnte, wo er sie haben wollte. Ihrem Ruf nach ließ sie sich nicht so leicht dirigieren.

Seine Gedanken kehrten zu Merle Okonedo zurück. Er konnte einfach nicht glauben, dass es schierer Zufall war, der sie just an dem Tag auf die Galerie im Rathaus gebracht hatte, an dem Lazenby ermordet wurde. In der Debatte war es um die Versorgung der Süchtigen im Stadtteil gegangen. Bonnington hatte sich sehr dafür eingesetzt, dass Lazenby ein für alle Mal die Lizenz entzogen wurde. Wenn Okonedo Lazenbys Vorgehensweise so feindlich gesinnt war, warum hatte sie dann nicht einfach bis zur Abstimmung gewartet? Falls er verlor, war eh alles vorbei.

Na gut, sie hatte nicht klar denken können. Schließlich hatte man sie wegen – er blätterte in der Akte – schwerer Depression infolge des Tods ihres Junkie-Bruders behandelt. Aber sie konnte klar genug denken, um zu wissen, dass das Herumwedeln mit einer Startpistole im Rathaus ihrem Anliegen – das auch Bonningtons Anliegen war – maximale Publicity verschaffen würde.

Dempster glaubte nicht, dass Merle vorausgesehen hatte, dass eine Pistolenattrappe zu ihrem Tod führen würde. Ein Dutzend Augenzeugen hatte zugesehen, wie Bonnington ihr in einem heroischen Kampf die Waffe zu entreißen versuchte, und während der Rauferei war sie über das Galeriegeländer gestürzt. Es war ein Unfall.

Er sah, wie das Kind im Kinderwagen seinen Teddy wieder rauswarf, und diesmal hob die schwer geprüfte Mutter es aus dem Kinderwagen und setzte es sich auf die Hüfte. Das Kind freute sich. Es hatte erreicht, was es wollte.

Der Trick mit dem Teddy war nur ein Ablenkungsmanöver gewesen. Wer ist die Attrappe?

Na klar, dachte er.

Dempster ließ die Kippe fallen und trat sie fluchend auf dem Beton aus.

Das bin ich.

29

Berlins Handy klingelte. Sie nahm das Gespräch an, während der Wind ihr die Haare in die Augen peitschte.

»Was ist das für ein Lärm?«, fragte Dempster.

»Die Wellen brechen sich auf dem Kies.«

»Sie sind also nicht in Bethnal Green?«

»Korrekt.«

»Brighton?«

»Ich dachte, ich schnapp ein bisschen frische Luft und erledige gleichzeitig die Drecksarbeit für Sie.« Sie hob einen glatten schwarzen Stein auf und warf ihn in die graue See. »Zwei Fliegen mit einer Klappe.«

»Wann sind Sie zurück?«

Berlin hielt das Handy hoch, um das Fauchen des Windes und das Rauschen der Wellen einzufangen, und beendete das Gespräch. Sie war nicht sein Eigentum.

Er konnte sie vor sich sehen. Eine magere Gestalt, ganz in Schwarz gehüllt, mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern, die Hände in den Taschen ihres Leninmantels, wie sie über die Kiesel am Meeresufer stapfte, Salzspuren von der brechenden Dünung an den kniehohen Kosakenstiefeln.

Dann erkannte er, dass er nicht einem Meeresrauschen lauschte, sondern dem Rauschen einer unterbrochenen Verbindung.

Er legte das Handy hin.

Berlin hatte den Mann, der die Haustür aufmachte, bei sich immer Rosenwänglein genannt. Seit Jahren wechselten sie ein höfliches Kopfnicken, weiter nichts. Sie schätzte ihn auf Anfang sechzig, gut erhalten und – natürlich – rosenwangig. Anscheinend war er gerade beim Kochen, denn er hielt einen Kochlöffel in der einen Hand. Es duftete himmlisch. Er brauchte einen Augenblick, um Berlins Gesicht einzuordnen, dann trat er einen Schritt zurück.

»Sie kommen besser rein.«

Berlin folgte ihm durch den Flur in eine große, gemütliche Küche. Er zeigte auf drei Töpfe auf dem Herd, in denen es blubberte.

»Ich erwarte später Gäste. Heute Abend, genauer gesagt.« Er wirkte nervös.

Berlin betrachtete ihn. Sie hätte wetten können, dass er die halbe Nacht aufgewesen war und gekocht hatte, weil er nicht schlafen konnte. Ruhelosigkeit quoll ihm aus allen Poren.

»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte er.

Berlin sah blitzartig im Geist das Verrätertor vor sich, aber ungeachtet dessen begann sie mit ihrem Schachzug. »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich weiß, es muss peinlich für Sie sein, dass ich einfach so bei Ihnen reinschneie.«

Sie hielt inne, um ihm die Möglichkeit zu geben, ihr zu widersprechen. Er reagierte aber nicht, deshalb fuhr sie fort: »Sie hatten an dem Tag damals einen Termin. Direkt vor mir. Ich weiß, dass Sie Ihre Termine einhalten, aber als ich kam, war das Wartezimmer leer.«

Er starrte sie entsetzt an. Berlin sah, wie das Rosa aus seinen Wangen wich.

»Oh nein. Sie sind doch nicht etwa von der Polizei, oder? Man hat mich bereits befragt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wie Sie dort arbeitet. Jemand wie wir, meine ich.«

Sie setzte sich unaufgefordert an den blank polierten, schönen, massiven Holztisch.

Er drehte das Gas unter den Töpfen ab und setzte sich ebenfalls. Jetzt sah sie das Zittern seiner Hände und die Schweißperlen an seinen Schläfen. Es hatte ihn hart getroffen. Er verbarg das Gesicht in den Händen.

»Als ich Sie vor der Haustür gesehen habe und mir klar wurde, wer Sie sind, da habe ich gedacht, Sie wären auch, na ja, ich dachte, Sie haben etwas zu tun mit …«

Berlin sah, wie verzweifelt er war. Dempster konnte ihn von seiner Liste streichen.

»Sie haben geglaubt, ich wollte Ihnen Heroin verkaufen. Sie haben gehofft, ich hätte den Stoff, den man Lazenby gestohlen hat.«

Er sah sie nicht an, sondern nickte nur.

»Und wenn ich … wenn ich zu denen gehören würde, die Lazenby ermordet haben, oder falls ich ihn selber umgebracht hätte, ihn, der seit Jahrzehnten für uns das Richtige getan hat … dann hätten Sie der Polizei nichts gesagt, sondern einfach bezahlt und gehofft, dass ich wieder mal vorbeikommen würde? Stimmt’s?«

Beschämt ließ er den Kopf hängen.

»Hab ich recht?«

Er nickte.

»Sie widern mich an«, sagte sie und dachte: Ich widere mich an.

»Sie wissen doch, wie es ist!«, widersprach er. »Ich bin zum hiesigen Allgemeinmediziner gegangen, der mich an eine Methadonklinik überwiesen hat. Ich vertrage dieses Gift nicht. Ich habe es vor Jahren ausprobiert. Die Liste von Ärzten, die Heroin verschreiben, ist gesperrt, bis das Innenministerium alles überprüft hat. Jemand hat mir erzählt, dass sich das schon seit sieben beschissenen Jahren hinzieht. Ich werde mir das Zeug auf der Straße beschaffen müssen. Ich werde alles verlieren!«

Berlin kämpfte gegen die Sympathie an, die sie zu überwältigen drohte. Sie schlug mit der Hand hart auf den Tisch, und Rosenwänglein saß bolzengerade da.

»Jetzt werden Sie mir alles erzählen, was Sie der Polizei nicht erzählt haben, und wenn Sie damit fertig sind und ich mir sicher bin, dass ich die Wahrheit kenne, kann ich Ihnen vielleicht helfen.«

Er leckte sich die Lippen – ob aus Angst oder Vorfreude, wusste sie nicht. Berlin fühlte sich beschissen, wie sie hier in seiner Küche saß und ein Heilsversprechen gab, das sie nicht halten konnte. Aber Dempster hatte recht, nur wer betroffen war, kannte sich aus. Sie wurden nicht umsonst User genannt.

Rosenwänglein holte tief Luft und kapitulierte.

30

Flint überprüfte den Eintrag über den Macker im »Who is who in Business« und tätigte ein paar Anrufe. Der Club der Zielperson wurde in seiner Biografie erwähnt, denn die Mitgliedschaft selbst war schon ein Statussymbol. Der Club verhielt sich korrekt, indem man dort seine Anwesenheit weder bestätigte noch leugnete. Aber Flint wusste, falls er nicht da gewesen wäre, hätten sie ihn ebenfalls so abgespeist.

Fernley-Price erwachte in einem Einzelbett, fest eingewickelt in saubere Laken. Er verspürte denselben seltsamen Frieden wie damals im Internat, als er wusste, dass er über sein Leben nicht bestimmen konnte. Einen Augenblick später fiel es ihm wieder ein. Der Friede verflüchtigte sich, und er würde niemals zurückkehren. Niemals. Das wusste er.

Er hob den Kopf vom Kissen, und schon begann das Zimmer sich zu drehen, aber als das aufhörte, wurde ihm klar, dass er in einem Zimmer seines Clubs war. An seine Rückkehr hierher nach der gottserbärmlichen Szene konnte er sich nicht erinnern. Die Angestellten mussten ihn ins Bett gebracht haben. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und zuckte zusammen.

Alles lief schief.

Sein Leben war total beschissen. Das Schiff sank schnell, und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er sich retten konnte. So zog er sich noch tiefer in seinen Kokon aus edelster Baumwolle zurück.

Es klopfte leise an der Tür. Er reagierte nicht. Das nächste Klopfen war lauter.

»Herein«, sagte er.

Die Tür ging auf, und einer der Angestellten spähte herein.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Sir. Unten sind zwei Herren, die Sie sprechen wollen.«

»Was? Um diese Zeit?«, entrüstete sich Fernley-Price.

»Es ist fast zwölf Uhr, Sir«, war die Antwort.

»Ich weiß, wie viel Uhr es ist«, sagte Fernley-Price, obwohl das nicht stimmte. »Wer ist es denn?«, fragte er beklommen.

Wahrscheinlich waren es einige seiner ehemaligen Kollegen, die ihn in der Bar gesehen hatten und wussten, dass er sich hier verkrochen hatte. Wahrscheinlich schuldete er ihnen Geld.

»Zwei Polizeibeamte, Sir.«

Der Angestellte – seit sechs Uhr früh bei der Arbeit – war dabei, seinen Job zu verlieren, weil solche Ärsche wie Fernley-Price den Crash mitverantwortet hatten und es nun immer weniger Clubmitglieder gab. Er trottete den Flur entlang und stellte sich bei jedem leisen Schritt die Gesichter der arroganten Arschlöcher unter seinen Ledersohlen vor.

31

Berlin schaute aus dem Fenster und merkte, dass die Seeluft ihr gutgetan hatte. Sie hatte sie daran erinnert, warum sie London niemals verließ. Gleich nachdem der Schnellzug im Victoria-Bahnhof angehalten hatte, befand sie sich auf dem Weg zur British Library.

In der British Library gab es guten Kaffee, freien PC-Zugang, und – das war das Wichtigste – es war ein sicherer öffentlicher Ort, an dem man kaum eine Zielperson antreffen würde und erst recht keinen Kollegen. Und Berlin wollte nicht, dass Dempster sich in ihrer Wohnung wie zu Hause fühlte.

Er glitt in die Nische ihr gegenüber. Er hatte sich verspätet.

»Wieso hier? Wollen Sie mir unterstellen, mir fehlt es an Bildung? Wir haben auch in Newcastle ein Buch.«

»Ich hab gehört, dass das Buch nie in die Bibliothek zurückgebracht wurde.«

Er lachte. Dann wurde er ganz geschäftsmäßig. Er gab Berlin einen Stapel Dokumente, und während sie darin blätterte, lieferte er die Zusammenfassung.

»Die Frau, die im Rathaus gestorben ist, Merle Okonedo, war Patientin in einer Psychiatrie und wurde erst drei Tage vor ihrem Tod entlassen. Sie war wegen einer Depression eingewiesen worden, nachdem ihr Bruder an einer Überdosis gestorben war. Im Knast. Eines der Dokumente ist der Ballistikbericht. Die Pistole, mit der Lazenby erschossen wurde, war eine scharf gemachte Startpistole – so eine wie die, mit der er im Rathaus bedroht wurde. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die hier umgebaut worden war, um richtige Kugeln abzufeuern.«

Dempster redete weiter.

Berlin fragte sich, warum er ihr die Unterlagen gegeben hatte, wenn er ihr ohnehin alles erzählen wollte. Dieser Typ liebte den Klang seiner Stimme, und offensichtlich hörte ihm sonst keiner zu.

»Es war ein Olympic BBM 9-Millimeter-Revolver«, sagte er. »Lässt sich leicht zu einer echten Waffe umbauen, wenn man sich da auskennt. Man schleift die orange Farbe ab und bohrt den Lauf aus, damit man echte Munition abfeuern kann. Ist die Lieblingswaffe der Londoner Gangs bei Revierkämpfen.«

Berlin lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Es gibt zwischen Okonedo und Lazenby keine Verbindung außer dem Waffentyp, und Sie haben gerade gesagt, dass der sehr verbreitet ist. Und warum sollte eine Gang Lazenby umbringen wollen? Weil die nicht wollten, dass er ihre potentiellen Kunden gratis mit Heroin versorgt?«

Sie sah, dass ihr ausdruckloses Gesicht ihn mehr als beabsichtigt irritierte.

»Ich habe nie etwas von einer Gang gesagt. Es gibt eine andere Verbindung zwischen Okonedo und Lazenby.« Er machte eine Pause. Wartete auf den Trommelwirbel. »Bonnington.«

»Was? In den Nachrichten hieß es, er wäre gegen Drogen. Der Täter war jemand, der Lazenbys Drogen so sehr wollte, dass er dafür gemordet hat«, sagte Berlin.

»Sie sehen das völlig falsch«, widersprach er heftig. Er beugte sich über den Tisch und nahm seine Unterlagen wieder an sich. »Er wollte die Drogen nicht verkaufen, er wollte sie aus dem Verkehr ziehen.«

Berlin hob eine Augenbraue. »Meinen Sie das ernsthaft? Glauben Sie, dass Okonedo mit Bonnington zusammengearbeitet hat? Dem Kerl, der mit ihr gekämpft hat, um Lazenby zu helfen?«

»Und wenn er gewusst hat, dass die Knarre eine Attrappe war?«

Berlin durchdachte die Implikationen.

Dempster schwieg.

»Okay«, sagte sie langsam, aber mit mehr als nur einer Spur von Skepsis.

Dempster konnte nicht anders, er musste ihr einen Schubs in die richtige Richtung geben.

»Er wollte Lazenby aus dem Weg haben. Das ist die perfekte Tarnung. Sei ein Held und rette mittags einem Mann das Leben, damit keiner dich im Verdacht hat, wenn du ihn nach dem Kaffeeklatsch umbringst. Aber egal: Wer stürzt sich schon auf eine geistig gestörte Frau mit einer Pistole? Jemand, der weiß, dass sie nicht echt ist«, erläuterte er.

»Sie haben zu viel Fernsehen gekuckt«, sagte Berlin.

Dempster schnaubte.

Sie sah, dass er genervt war, wahrscheinlich weil sie nicht, überwältigt von seinen grandiosen Schlussfolgerungen, an den richtigen Stellen Oh und Ah gerufen hatte. Vor lauter Verärgerung schien er vergessen zu haben, dass sie sich verabredet hatten, damit sie ihm das Ergebnis ihrer Mission mitteilen konnte, die andere vielleicht Erpressung nennen würden. Dempster war offensichtlich selbst ein Fachmann auf diesem Gebiet, obwohl er es wahrscheinlich lieber »den Hebel ansetzen« nannte. Sie ließ sich Zeit, denn sie wollte das Spiel zu ihren Bedingungen spielen.

»Doch, eine hübsche Theorie. Es gibt da nur ein Problem mit Bonnington als Lazenbys Mörder.«

»Und das wäre, Sherlock?«

»Es war eine Frau.«

Die Kombination von kalten, nassen Körpern und zu wenig Platz machte aus der U-Bahn eine stinkende Sauna. Berlin war eingeklemmt zwischen zwei riesengroßen australischen Rucksacktouristen und überdachte noch einmal, was Rosenwänglein ihr erzählt hatte. Sie hatte einen angefressenen Dempster in der British Library zurückgelassen, der dieselbe Information verdaute.

Nach Rosenwängleins Bericht war bei seiner Ankunft in der Praxis eine Frau im Wartezimmer gewesen, die er noch nie gesehen hatte. Er fand es seltsam, weil er, abgesehen von Berlin, in all den Jahren nur sehr wenige Frauen gesehen hatte. Normalerweise kam vor ihm immer jemand dran, den er als »großen Herrn von südländischem Aussehen« beschrieb. Was immer das bedeuten mochte.

Die Frau trug eine Kapuzenjacke und stand bei der Tür zum Behandlungszimmer. Sie sah ungeduldig zu dem grünen Licht hoch, offensichtlich hatte sie es eilig, hineinzukommen. Rosenwänglein hatte Platz genommen und seine Zeitung rausgeholt, bevor er den Klick hörte, der besagte, dass Lazenby die Tür geöffnet hatte. Die Frau stürzte sofort, ohne ihn anzusehen, in das Behandlungszimmer.

Geräusche drangen nur schwach durch die schwere Tür, aber Rosenwänglein hatte eine Art Aufschlag bemerkt, eher eine Vibration des Fußbodens. Dann gab es einen Knall, wie einen Peitschenschlag, und noch einen dumpfen Aufprall.

Lazenby, der auf dem Boden aufschlägt, dachte Berlin.

Rosenwänglein blieb erschrocken regungslos sitzen, bis er die Tür zum Spritzenraum zuschlagen hörte. Er erhaschte einen Blick auf einen Mann, der den Flur entlanglief. Sonst gingen die Patienten beim Rausgehen eher langsam. Wer immer da drin gewesen war, hatte schnell wegrennen wollen.

Rosenwänglein war sich ziemlich sicher, dass der Läufer der Südländer gewesen war, der Patient vor ihm. Der hatte zweifellos den Schuss gehört und war geflüchtet. Bislang hatte Dempster diesen Mann nicht aufspüren können, er war untergetaucht, möglicherweise nachdem er in den Nachrichten von Lazenbys Tod erfahren hatte. Und außerdem war es unwahrscheinlich, dass er diese Frau gesehen hatte.

Als er wegrannte, war sie immer noch im Behandlungszimmer und räumte wahrscheinlich den Safe mit den Drogen aus, den Lazenby dummerweise immer offen ließ, um zwischen den Behandlungen Zeit zu sparen.

Normalerweise lief es so, dass der Patient nach einem kurzen Gespräch mit Lazenby seine Ampulle in das andere Zimmer mitnahm, sich eine Spritze setzte und dann ging. Lazenby wartete immer zehn Minuten, bevor er das grüne Licht einschaltete, um den Nächsten hereinzurufen. Seine Patienten waren erfahrene User, die sich auf eine feste Dosierung eingependelt hatten. Sie erlebten keinen Rausch mehr, übergaben sich nicht und nickten auch nicht umgehend ein.

Lazenby gestattete einigen wenigen, die Ampullen mit nach Hause zu nehmen, wenn sie weit entfernt wohnten oder andere Verpflichtungen hatten. Das verstieß gegen die Vorschriften des Innenministeriums und war einer der Gründe, weshalb er von der Behörde gemaßregelt worden war. Er hatte argumentiert, dass es sich um eine ärztliche Entscheidung handelte und dass es niemanden außer ihm und dem Patienten etwas anging. Mit anderen Worten: Leckt mich am Arsch.

Als der Mann an der offenen Tür des Wartezimmers vorbeirannte, hatte Rosenwänglein das als schlechtes Zeichen genommen und beschlossen, sich zu verdünnisieren. Die Frau hatte er nicht mehr gesehen. Seine Beschreibung von ihr – »gewöhnlich« – war nicht hilfreich. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, es dauerte ja nur eine Minute, und er wartete ungeduldig darauf, dass er drankam und von Lazenby das bekam, was er seinen »kleinen Helfer« nannte. Berlin fühlte sich durch diesen Euphemismus daran erinnert, dass man während des Kochens eine ganze Flasche Rotwein trank und das als »Schlückchen für den Koch« beschrieb.

In Bethnal Green zwängte sie sich zwischen den Backpackern durch und stieg dankbar aus dem Schacht hinauf in die eisige Luft. Im Zickzack lief sie zwischen den Bettlern an der Ecke hindurch und nach Hause.

Sie hatte gerade den Schlüssel ins Schloss gesteckt, als Schritte die Treppe heraufdonnerten. Mit hämmerndem Herzen drehte sie sich um, bereit, sich zu verteidigen.

Der Briefträger war bestürzt über ihre Angst. »Alles in Ordnung. Ich bin’s nur«, sagte er.

»Tschuldigung.« Erleichtert ließ sie die Schultern sinken.

»Ich mach Ihnen keine Vorwürfe. In dieser Gegend schau ich auch immer über die Schulter.« Er drückte ihr einen dicken braunen Umschlag in die Hand.

»Was ist das?«

»Ein Einschreiben, oder?« Er reichte ihr einen Stift und hielt ihr einen Touchscreen hin.

Sie unterschrieb.

»Vielen Dank«, sagte er und rannte die Treppe wieder hinunter.

Sie riss den Umschlag auf und entnahm ihm einen Brief von ihrer Arbeitsstelle und ein Merkblatt. Der Brief forderte sie auf, zu einem »Erstgespräch bezüglich des Vorwurfs schwerwiegenden Fehlverhaltens« zu erscheinen. Es folgte eine lange Liste ihrer Verstöße und der damit verbundenen Strafen im Falle einer Verurteilung.

Ein halbes Jahr Suspendierung ohne Gehalt war noch die leichteste, Entlassung die schlimmste. Sie durfte eine Person zu ihrer Unterstützung mitbringen, aber keinen Anwalt. Das Merkblatt erläuterte die Disziplinarstrafen der Behörde und ihre Rechte.

Der letzte Absatz war eine düstere Warnung, dass im Falle ihres Nichterscheinens ohne stichhaltige Begründung die Untersuchung ohne sie stattfinden würde. Das Gespräch sollte am nächsten Tag um 17 Uhr stattfinden. Um diese Zeit, das wusste sie sehr gut, leerten sich die Büroräume. Also ein Gespräch unter vier Augen. Der Brief war unterzeichnet von John Coulthard, stellvertretender Geschäftsführer.

Kaum hatte sie den Schlüssel umgedreht und die Tür aufgestoßen, als ihr Festnetzapparat klingelte.

»Ach, verpiss dich«, sagte sie.

Wahrscheinlich war es Dempster mit einer anderen wilden Theorie. Er war hinter diesem Bonnington her, koste es, was es wolle. Das Telefon klingelte weiter. Oder es war ihre Mutter. Sie nahm ab.

»Hallo?«

»Cathy, wie geht es Ihnen? Roger Flint.«

»Acting Detective Sergeant Flint.« Ihre Stimme war angespannt. Dieser miese kleine Ranschmeißer.

»Wir haben versucht, Sie zu erreichen.«

Berlin blickte zu den Scherben ihres alten Handys auf dem Tisch.

»Inspector Thompson und ich würden uns gern mit Ihnen unterhalten«, fuhr er fort, als sie nicht antwortete.

»Ich habe meine Aussage bereits gemacht.«

»Wir hätten gern noch ein paar Dinge geklärt.«

»Als da wären?«

Flints Ton wurde schärfer. »Sie sollten in Ihrem eigenen Interesse erscheinen.«

»Wann?«

»Vor Ihrer Wohnung steht ein Auto.«

Sie ging zum Fenster. Eine gelangweilt aussehende Frau stieg aus einem Zivilfahrzeug und sah nach oben.

32

Als sie an der Polizeiwache vorbeifuhren, durchlebte Berlin einen schlimmen Augenblick. Die Frau am Steuer hatte kein Wort gesagt, nur die Hintertür geöffnet und Berlin durch ein Zeichen zu verstehen gegeben, dass sie einsteigen sollte. Sie wusste, dass die Türen vom Fahrer automatisch verriegelt wurden.

»Wo fahren wir hin?«

»Nicht weit«, kam die nichtssagende Antwort.

Tja, ein bisschen Macht war eine gefährliche Sache, das war bekannt. Unglücklicherweise war viel Macht eine noch gefährlichere Sache. Und wenn die Polizei dich erst mal in den Krallen hatte, dann hatte sie viel Macht, trotz der oft gehörten Klage, dass die Bösewichte mehr Rechte besäßen als die Polizisten. Erst wenn man mal in eine Zelle gesperrt worden war, kannte man das damit verbundene Ausmaß an Ohnmacht und Angst.

Vom Moment des Einsteigens an hatte Berlin wieder aussteigen wollen, aber als sie anhielten und die Tür entsperrt wurde, hatte sie seltsamerweise keine Lust, sich zu rühren.

Das Limehouse-Becken. Das Wasser war so unbewegt und grau wie an dem Morgen, als sie zu dem Treffen mit Gina hierhergekommen war.

Berlin sah Thompson und Flint auf der anderen Seite auf sie warten, gleich hinter der Fußgängerbrücke, unter der das Wasser aus dem Becken in den Fluss strömte. Sie hatten die Hände in den Manteltaschen vergraben, ihre Silhouetten hoben sich undeutlich vor dem granitgrauen Himmel und dem bleigrauen Wasser ab. Wie Gespenster.

Flint lächelte, als sie näher kam. Ein schlechtes Zeichen. Thompson beugte sich über das Geländer und stierte ins Wasser.

»Was soll das alles, und warum zum Teufel sind wir hier?« Sie versuchte sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen.

Flint überhörte ihre Frage und wies auf die Schleuse. »Es war kein Zufall, dass die beiden hier drin waren.«

»Wer?«

»Ach, tun Sie doch nicht so, Berlin. Doyles Tochter und Ludovic Nestor. Welche Verbindung gibt es zwischen den beiden, was meinen Sie?«

»Keine Ahnung.«

»Aber Sie stimmen mir zu, dass es eine gegeben haben muss?«

»Ich glaube nicht an Zufälle.«

Flint neigte den Kopf zur Seite und riss die Augen in gespielter Bewunderung auf, als hätte sie etwas Kluges gesagt. »Was war denn die Verbindung?«

»Kommen Sie schon, Flint, genug gespielt«, blaffte sie.

Flint zuckte mit den Achseln und zeigte auf sie. »Sie. Sie sind die Verbindung.«

»Was? Was reden Sie da? Sie war eine Informantin, und er war mein Chef. Falls Sie das für eine Verbindung halten.«

Sie sah, dass Flint sich prächtig amüsierte. Thompson starrte immer noch aufs Wasser, als könnte er aus Müll und Treibgut die Zukunft lesen wie aus Kaffeesatz.

»Ist er ihr nie begegnet oder hat mit ihr gesprochen?«, bohrte Flint weiter.

Detective Chief Inspector Thompson richtete sich langsam auf, die Hand ins Kreuz gestützt. »Sie sagen es uns. In der Woche bevor sie starb, hat er sie hundertzwölf Mal angerufen. Aber der allerletzte Anruf galt Ihnen.«

Ein Gefühl der Leere breitete sich in der weichen Zone unter Berlins Rippen aus.

»Nein. Das stimmt nicht.«

Flint streckte die Hand aus. »Wir brauchen Ihr Handy.«

Sie machte einen Schritt zurück. »Beschaffen Sie sich einen Durchsuchungsbeschluss. Oder nehmen Sie mich fest. Aber nennen Sie mir verdammt noch mal einen Grund, oder ich krieg Sie dran wegen Freiheitsberaubung und Nötigung, bevor Sie ›Interne Ermittlungen‹ sagen können.«

Flint machte einen Schritt nach vorn.

»Und Tätlichkeit«, fügte sie hinzu.

Thompson lächelte und legte eine Hand auf Flints Arm, um ihn zurückzuhalten.

»Wir sind nicht hier, um zu streiten. Wir führen eine Ermittlung durch, und niemand erzählt uns die Wahrheit. Sie eingeschlossen. Wir haben Sie aus professioneller Rücksichtnahme nicht aufs Revier bestellt.«

Ein vernünftiger Mensch, der müde geworden ist, dachte sie. Müde nicht nur wegen der Überstunden und mittlerweile zwei Leichen auf seiner Agenda, sondern erschöpft von der fortgesetzten Verlogenheit und Niedertracht der menschlichen Rasse. Besonders bei den Leuten, die eigentlich an seiner Seite sein sollten.

Seemöwen berührten die Oberfläche der Schleuse, landeten auf den Flößen aus faulendem Müll, die im Wasser trieben, und zankten sich um die Häppchen des verrottenden Drecks. Ihre heiseren, spöttischen Schreie waren wie eine Beleidigung.

Berlin wurde bewusst, dass sie für die Nächte, als Gina und Nestor starben, kein Alibi besaß. Aus einiger Entfernung hörte sie Flints Stimme.

»Wir haben Beweise, dass Sie mehrere Male Treffen mit Gina hatten, die nicht in Ihrem Bericht stehen. Nestor war ebenfalls auf irgendeine Weise mit ihr verstrickt. Er hat Ihre Ermittlung beendet, und Sie waren deshalb wütend. Ihr Kommentar dazu?«

Eine öde Zukunft gähnte sie an. Sie drehte sich um und ging so schnell davon, wie es, ohne loszurennen, möglich war.

»Miss Berlin«, rief Thompson hinter ihr her. »Bitte kommen Sie zurück.«

Sie betrat die eiserne Fußgängerbrücke und spürte die Vibrationen, als jemand hinter ihr ebenfalls darüberlief. Als sie ihre Schritte beschleunigte, war ihr sofort klar, dass das dumm war, aber ihre Beine schienen einen eigenen Willen zu haben. Sie rannte.

»He!«, brüllte Flint. Sie hörte den Unglauben in seiner Stimme, dann das Trampeln von Schritten hinter ihr auf der Brücke.

Adrenalin durchflutete sie, und sie flog von der Brücke und um das Becken herum zum Uferweg. Sie merkte, dass Flint näher kam, und ihr Herz war kurz vor dem Zerspringen, als sie die Beifahrertür eines parkenden Autos aufschwingen sah.

Eine bekannte Stimme brüllte: »Einsteigen!«

Sie tat, was ihr gesagt wurde. Das Auto raste mit einer solchen Geschwindigkeit los, dass sie sich hinauslehnen musste, um die Tür zuzuziehen. Danach fiel sie in ihren Sitz zurück. Sie drehte sich zu ihrem Retter in der Not um.

»Sie Mistkerl«, keuchte sie und schnappte nach Luft. »Sie haben gewusst, dass die auf mich gewartet haben!«

»Ja. Von mir aus können die Sie kriegen, wenn ich mit Ihnen fertig bin«, sagte Dempster.

33

Dempster war anders als alle Polizisten, denen Berlin jemals begegnet war. Äußerst engagiert, warf mit wilden Theorien um sich ohne Rücksicht auf irgendwelche Beweise und traf kühne Entscheidungen. So zum Beispiel, sie von der Straße aufzulesen, während andere Beamte sie verfolgten.

Er sagte, er wäre von der British Library zu ihrer Wohnung gefahren und hätte dort auf sie gewartet. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, so zu tun, als würde er sie nicht im Auge behalten. Sehr vertrauensvoll.

Er hatte sie hinaufgehen und fast sofort wieder herunterkommen und in das Auto einsteigen sehen. Es hatte ein Polizeifahrzeug sein müssen, weil die Fahrerin sie hinten einsteigen ließ. Er war einfach hinterhergefahren.

Sie saß auf seiner Couch und sah ihn auf dem winzigen Balkon hin und her gehen. Seine freie Hand schwang und zuckte durch die Luft, ein wütender rothalsiger Vogel, als er den armen Trottel am anderen Ende der Leitung zusammenfaltete. Vermutlich Flint.

Schließlich beendete er das Gespräch, stieß die gläserne Schiebetür zur Seite und kam zurück in die Einzimmerwohnung, eine von hunderten in einem neuen Mietshaus südlich des Flusses, in der Nähe des Waterloo-Bahnhofs. Jedes Eckchen war ausgenutzt, und das war noch freundlich ausgedrückt. Londoner Mieten waren schlimmer als die in Tokio. Die einzige noch teurere Stadt war Moskau, hatte sie gehört.

»Das wäre erledigt«, sagte er zufrieden und ließ das Handy wieder in seine Jacketttasche gleiten. »Sie wollten Sie nur erschrecken. Sie kennen noch nicht mal Nestors Todesursache, ganz zu schweigen von Beweisen für eine Anklage. Die Kommune hat bei irgendeiner isländischen Bank investiert, die jetzt pleite ist, deshalb sind die Obduktionen momentan auf Eis gelegt.«

Er machte eine Pause und wartete mit schiefem Grinsen, ob sie das intelligente Wortspiel verstanden hatte. Sie hatte es verstanden, aber sie würde ihm nicht den Gefallen tun und ihm das zeigen.

Enttäuscht fuhr er fort: »Außerdem hat der Pathologe Urlaub, und sie können sich keine Vertretung leisten. Der Gemeinderat hat soeben DCI Thompsons Budget gekürzt, deshalb verfügt er nicht mal über die Mittel, jemanden wegen Ihrer Mailbox auf die Telefongesellschaft anzusetzen. SCD4 und die Städtische Pathologie haben Leute entlassen, und jetzt behaupten sie, sie können die CD mit der Liste der Verbindungen von Nestors Telefon nicht finden. Sie glauben, dass irgendwer sie mitgenommen hat. Nestor hat es übrigens im Büro gelassen. Sein Handy. Haben Sie das gewusst?«

Er nahm sich kaum Zeit zum Atmen, während sie immer noch verschnaufte.

»Wie kommen Sie damit durch?«, fragte sie.

»Womit genau?«

»Dass Sie mich dem grimmigen Arm des Gesetzes entrissen haben.«

»Abgesehen von Flints Genöle – was können sie schon tun? Sie hatten nicht das Recht, Sie zur Schleuse zu karren und auszuquetschen. Thompson weiß das. Wenn sie mich drankriegen, wird das rauskommen, und dann stecken wir alle in der Scheiße. Was können sie dabei gewinnen?«

»Also sind ihnen die Hände gebunden.«

Dempster lachte.

Sie lachte ebenfalls.

Jetzt bin ich völlig durchgeknallt, dachte sie. Ich lache. Als Nächstes werde ich heulen.

Er stand da und sah sie erwartungsvoll an. Sie wusste, dass er darauf wartete, dass sie ihre SMS checkte. Vergeblich. Es war die falsche SIM-Card. Außerdem ging Nestor ihn nichts an, und sie hatte – wenn es um Mitteilungen ging – immer am Prinzip »Kenntnis nur bei Bedarf« festgehalten. Er brauchte das nicht zu wissen.

Dempster zuckte mit den Achseln und fuhr fort: »Übrigens hab ich etwas für Sie.« Er holte eine abgegriffene graue Akte hinter der Couch hervor, auf der Berlin saß, und ließ sie in ihren Schoß fallen.

In der oberen rechten Ecke stand in gleichmäßigen Buchstaben: Doyle, F. geb. 6.9.1928.

Sie schlug sie auf, während der unaufhaltsame Dempster weiterquasselte. »Das ist eine hochinteressante Familie. Mit elf Jahren ist Ihre Informantin zum Polizeirevier von Bethnal Green gegangen und hat behauptet, ihr Vater hätte ihre Mutter ermordet. Sie sehen also, sie hat schon früher versucht, ihren alten Herrn reinzureiten.«

Das erklärte vieles, dachte Berlin. Wie kam man mit einer solchen Überzeugung klar? Gina musste diese Last jahrelang mit sich rumgeschleppt haben – die Überzeugung, dass der eigene Vater ein Mörder war, und die Schmach, dass ihr niemand glaubte. Vielleicht hatte sie jetzt endlich eine Möglichkeit gesehen, ihn dranzukriegen. Berlin hatte die ganze Zeit richtig gelegen: Gina war von Dämonen gejagt worden.

Die Akte enthielt ein vergilbtes Blatt – liniertes Kanzleipapier –, ein halbes Dutzend getippter Berichte, großzügig mit Tipp-Ex-Tupfern übersät, ein paar von Hand beschriebene Karteikarten und ein paar Blaupausen. Auf einer stand der Name »Georgina Doyle«.

Oh Mann, dachte Berlin, das ist ja wie ein Blick ins Mittelalter. Ihre Miene veränderte sich kaum merklich, aber Dempster registrierte es sofort. Vielleicht gewöhnte er sich an sie.

»Ja, kaum zu glauben, dass das 1986 war und nicht 1936. Keine Computer. Die Qualität der hiesigen Archive hing ganz vom Archivar ab. Diese Akte war tief im Keller von Bethnal Green vergraben, zusammen mit dem Zeug von 1888 von der Ripper-Untersuchung.«

»Sie machen Scherze.«

»Stimmt. Die Ripper-Akten sind schon vor Jahren in das Nationalarchiv gewandert, aber da unten gibt es Kartons über Kartons mit Dokumenten, und ich wette, dass sich die noch nie jemand angesehen hat. Wunderbare Sachen über die Krays, Jack the Hat, sogar zum Bethnal-Green-Desaster. Können Sie sich daran erinnern?«

»So alt bin ich noch nicht«, sagte sie ausdruckslos.

»Ich wollte sagen: Haben Sie schon mal davon gehört? Es hat damals im Bethnal-Green-U-Bahnhof eine Massenpanik gegeben …«

»Ich weiß Bescheid«, schnarrte sie.

Gekränkt über die Zurückweisung schwieg er.

Himmel, ein echter Romantiker, dachte Berlin, während sie in der Akte blätterte.

»Haben wir keine aktuellen Unterlagen über die Doyles?«, fragte sie geschäftsmäßig.

»Nein. Unsere Computerarchive wurden erst in den Neunzigern angelegt, und ich schätze, eine Menge Leute fand es leichter, Akten verschwinden zu lassen, als sie in ein neues System einzuarbeiten. Es gab viel Widerstand gegen die PCs.«

Das Protokoll in Berlins Hand sagte alles. Am 5.3.1986 hatte Senior Constable Marks die kleine Georgina Doyle nach Hause gebracht, nachdem sie auf dem Revier den Mord an ihrer Mutter angezeigt hatte. Ihr Vater hatte dem Bullen erklärt, dass seine Frau ihn vor ein paar Wochen verlassen hatte und dass seine Tochter nicht glauben wollte, dass ihre Mutter sie zurückgelassen hatte.

Das war ziemlich genau dieselbe Geschichte, die Doyle ihr erzählt hatte. Hatte Gina recht gehabt? War Doyle ein Mörder? Oder war sie nur ein verstörtes Kind gewesen, das seinem Vater eins auswischen wollte? Als Erwachsene jedenfalls hatte sie überhaupt nicht verstört gewirkt.

Im Bericht stand, dass das Kind den Wachtmeister auf höchst ungehörige Weise beschimpft und ans Schienbein getreten hatte, als er sie trösten wollte, und dann in ihr Zimmer gegangen war.

Es stellte sich heraus, dass ihre Eltern nicht verheiratet gewesen waren, die Tochter das aber nicht gewusst hatte. Im Bericht stand, das Mädchen sei »gut genährt« und das Zuhause »sauber und ordentlich« gewesen.

Berlin sah alles vor sich. Wie sich Doyle bei dem Polizisten für seine Unterstützung bedankt hatte, die Tasse Tee, die Kognak-Pralinen und ein Gespräch von Mann zu Mann über die herzlose Frau, die ihr Kind verlassen hatte.

Es gab einen Nachtrag zu dem Protokoll. Ginas Mutter, Nancy Baker, war polizeibekannt. Das Protokoll verriet aber nicht, wieso. Doch auf einem anderen Blatt Papier fand Berlin ihr Strafregister: Verurteilungen wegen Prostitution, Ladendiebstahl und Hehlerei.

Der Bericht des Senior Constable war von seinem Vorgesetzten abgezeichnet und mit KWV versehen worden: kein weiteres Vorgehen.

Als Berlin dieses Kürzel zum letzten Mal gesehen hatte, hatte man es quer auf die Akte gekrakelt, die sie über Doyle angelegt hatte. Darunter hatte Nestors Unterschrift gestanden, und er hatte unter »Gründe« eingetragen: »ungenügende Beweislage«. Jetzt konnten sie »KWV« in seinen Grabstein meißeln.

Sie sah auf. Dempster stand mit einer Tasse Kaffee vor ihr. Sie wusste nicht, wie lange er schon da stand, aber er sah belustigt aus. Sie nahm den Kaffee, und er ließ sich auf einen Hocker an einem Tisch fallen, der wahrscheinlich »Frühstückstheke« hieß.

»Na bitte, der Vater hat auch gesessen«, sagte er.

»Der Vater?« Sie war verwirrt. Doyle hatte kein Strafregister.

»Der Großvater, sollte ich wohl sagen. Archie Doyles Vater Frank.«

Berlin schwieg. Sie sah noch einmal auf den Namen in der Akte. Das war der Mann, der vermutlich ihren Vater kannte. »Dieser Name ist mir bei meinen Nachforschungen nicht begegnet.«

»Na ja, heute lebt er wohl wie ein Eremit. Von klein auf ein Gauner, hat er sich in den Sechzigern zu Raubüberfällen und schwerer Körperverletzung emporgearbeitet, in den Siebzigern wurde es ruhiger um ihn, und in den Achtzigern ist er völlig vom Polizeiradar verschwunden.«

»Er muss inzwischen sehr alt sein.« Sie fragte sich, ob er mit Doyles Wuchergeschäften etwas zu tun hatte. War es ein Familienunternehmen?

Dempster klatschte in die Hände. »Stimmt! Sie haben jetzt Ihre Infos über die Doyles, und ich halte Ihnen Thompson vom Leibe, jedenfalls fürs Erste. Also, zurück zum Geschäftlichen. Eigentlich habe ich Ihnen noch einen anderen Gefallen getan, deshalb sollte das nicht allzu schwierig sein.«

Jetzt geht’s los, dachte Berlin.

34

Die Dame vom Empfang war freundlich, aber nervös. Auf ihrem Namensschild stand »Polly Poh Li«, aber Berlin sah darunter das unsichtbare »noch in der Reha«. Polly streckte ihr ein Klemmbrett und einen Stift entgegen, und Berlin setzte sich und schrieb die Angaben zu ihrer Person auf das Formular, das dort klemmte. Sie hatte sich verspätet.

Die weichen Kissen und pastellfarbenen Wände schrien »beruhigende Atmosphäre«, aber ein Geruch nach Schweiß und Angst hing in der Luft. Eine Tür ging auf, und ein junger Mann mit freimütigem Blick in Jeans und Gap-Pullover kam heraus. Mit ausgestreckter Hand kam er auf Berlin zu.

»Hi. Ich heiße Daryl Bonnington. Nett, Sie kennenzulernen.« Sein Händedruck war fest und warm und sein Lächeln echt.

Berlins erster Impuls war wegzurennen.

Bonningtons Büro war noch beruhigender als der Empfangsbereich. Sie nahm einen schwachen Duft von Räucherstäbchen wahr. Bonnington setzte sich auf einen Sitzsack und wies sie an, seinem Beispiel zu folgen. Es gab keine Stühle. Sie entschied sich für einen lila Sitzsack.

»Okay, Miss Berlin, Sie wurden nach dem tragischen Tod Ihres Hausarztes vom Innenministerium über den Scotland-Yard-Zeugen-Kontaktdienst an unsere Einrichtung überwiesen. Sie brauchen dringend ein Gutachten bezüglich Ihres Wechsels zu einem Entzugs- oder Methadonprogramm.«

»Oder zu einem anderen Hausarzt mit einer Lizenz zur Verschreibung von Heroin.« Sie verlagerte ihr Gewicht, um bequemer sitzen zu können. Es war so verdammt demütigend, auf dem Boden herumzuliegen.

Bonnington lächelte nachsichtig. »Darf ich Sie Catherine nennen?«

»Berlin.«

»Gut. Berlin, darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«

Als ob sie nein sagen könnte.

Er warf einen Blick in die aufgeschlagene Akte auf seinem Schoß. »Ich habe erfahren, dass Sie Dr. Lazenbys Leiche gefunden haben. Das war bestimmt ein furchtbarer Schock. Wie kommen Sie damit klar?«

Berlin sammelte sich. »Ungefähr so, wie Sie mit dem Tod der Frau im Rathaus klarkommen, stelle ich mir vor.«

Bonnington war gut. Er reagierte nicht, sondern notierte etwas auf seinem Block. Berlin hätte wetten können, dass er »Abwehr« geschrieben hatte.

»Das war ein sehr trauriger Unglücksfall. Und einer, mit dem ich bis zum Ende meiner Tage leben muss.«

Berlin hätte schwören können, dass er das ehrlich meinte.

»Aber wir sind hier, um über Sie zu sprechen, Berlin, nicht über mich.« Er las in der Akte. »Stress, verschlimmert durch den Mord an einer Informantin. Schuldgefühle. Fragezeichen. Ungeklärt, bis der Fall abgeschlossen ist. Fragezeichen.« Er sah sie mit dem ruhigen, unvoreingenommenen Blick des Profis an.

»Also. Was erhoffen Sie sich als Ergebnis von einem Programm?«

Sie sah in den Abgrund und verfluchte den Mann, der sie an diesen Rand gebracht hatte.

Bonnington begleitete Berlin hinaus und blieb am Tresen stehen, um Polly zu bitten, einen neuen Termin für sie zu machen.

»Wir brauchen etwas mehr Zeit, um diese Themen auszudiskutieren, bevor wir uns auf ein weiteres Vorgehen einigen können«, sagte er.

Polly gab ihr mit bedauerndem Lächeln eine Karte mit dem nächsten Termin. Sie kannte sich aus.

Berlin versuchte die Tür hinter sich zuzuknallen, aber die wurde von einem stabilen Türschließer gehalten, sodass sie sich nur die Schulter prellte. Mit langen Schritten eilte sie davon, merkte, wie ihre Füße auf dem Eis wegzurutschen drohten, wurde aber nicht langsamer. Wut trieb sie weiter. Sie übersah den Mann, der im Auto in Schrittgeschwindigkeit neben ihr herfuhr.

»Steigen Sie ein«, sagte er.

»Verpissen Sie sich, Dempster.«

»Na los, steigen Sie schon ein.«

Sie blieb stehen und beugte sich ins Fenster. »Wissen Sie, was Sie getan haben? Sie überlassen mich der Gnade eines Mannes, der eine pathologische Abneigung gegen Heroin auf Rezept hat. Er wird mir unter gar keinen Umständen eine Überweisung an einen anderen Arzt mit Lizenz zur Heroinverschreibung geben. Er will mich auf Methadon setzen, verdammte Kacke.«

»Tja. Das ist nun mal sein Job«, protestierte Dempster.

»Sie sind totale Scheiße, Dempster. Sie haben gesagt, Sie hätten einen sofortigen Termin mit jemandem vereinbart, der mir helfen könnte.« Sie trat gegen die Autotür.

»He!«, brüllte er.

Sie lief weiter.

Er fuhr neben ihr her.

»Kommen Sie schon! Ich habe jemanden gebraucht, der an ihn rankommt. Das ist super.«

Sie blieb urplötzlich stehen und starrte ihn ungläubig an.

»Super? Sie egoistisches Arschloch! Wahrscheinlich denken Sie, weil Sie diese Rezepte als Sicherheit haben, können Sie mit mir verdammt noch mal tun, was Sie wollen!«

Ein Paar auf der anderen Straßenseite war stehen geblieben und schaute besorgt herüber. Dempster stieg aus und winkte ihnen zu. »Ist alles okay. Sie hat sich nur aufgeregt. Sie wissen ja, wie das ist«, rief er.

Der Mann nickte und zog seine Frau am Arm. Sie gingen weiter.

»Also, ich habe es satt!«, brüllte Berlin. »Machen Sie doch Ihren Scheiß selber! Sie können sich Ihren sogenannten Gefallen sonst wohin stecken! Was immer jetzt geschieht, Sie sind schuld daran!«

Sie grabschte nach einem seiner Scheibenwischer und brach ihn ab, dann marschierte sie auf die Fahrbahn mitten zwischen die Autos, als wäre sie allein auf der Welt. Eine Straße, die von Glatteis überzogen war. Der Fahrer von einem Vauxhall Cavalier blieb unbeeindruckt. Sein gedämpftes Gebrüll von Schmähungen beinhaltete »saublöd« und »Miststück«, begleitet von wildem Gehupe. Berlin schaffte es bis zur anderen Seite und zeigte ihm den Stinkefinger. Sie sah, dass Dempster sie beobachtete. Er sah erschrocken aus.

Gut.

Sie lief weiter.

Er rannte quer über die Straße und holte sie ein, aber er berührte sie nicht. Sie lief schnell und zwang ihn, in eine schnellere Gangart zu wechseln.

»Okay, es tut mir leid. Ich sehe ein, dass es dumm war, was ich getan habe. Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass es Bonnington ist. Ich bin nicht daran gewöhnt, mit jemand anderem zusammenzuarbeiten.«

»Na, was für eine Überraschung. Und Sie arbeiten auch nicht mit mir zusammen, Sie erpressen mich.«

»Hören Sie doch mal zu. Ich verspreche Ihnen, dass ich den richtigen Arzt für Sie finde.«

»Warum sollte ich Ihnen glauben?« Sie blieb abrupt stehen und stieß gegen sein Gesicht. »Ich hab nur noch vier übrig! Und was dann?«, zischte sie.

»Ich organisiere was. Vertrauen Sie mir.«

Seine große, rote, knochige Hand berührte ihren Arm, ganz leicht. Aber sie spürte es.

Er wollte es wiedergutmachen, deshalb fuhr er sie zu einem Pub in Essex und lud sie zum Essen ein. Der Pub war modern eingerichtet, es war warm, und sie hatten Talisker auf der Speisekarte. Berlin fand die geschichtslose Umgebung seltsam tröstlich. Sie musste sich nicht über imitierte Tudormöbel lustig machen oder über Antiquitäten à la Disney, die für Touris aufgepeppt waren.

Sie fühlte sich intuitiv mit der Vergangenheit verbunden, und ihr Zartgefühl wurde durch den Pub King William IV. nicht verletzt. Sie konnte sich beinahe entspannen. Auf der Fahrt hierher hatte sie geschwiegen, aber beim dritten Scotch taute sie ein bisschen auf.

Dempster war während der Fahrt sein übliches schwatzhaftes Selbst gewesen und betonte noch einmal, warum er jemanden in Bonningtons Nähe einschleusen musste. Jemanden, der darin geübt war, Konversation zu machen. Bonnington würde niemals vermuten, dass sie eine professionelle Einschätzung von ihm liefern sollte, während er ja eigentlich eine von ihr geben sollte.

»Die Frau, die im Rathaus über das Geländer gestoßen wurde. Merle Okonedo. Ihr Bruder starb an einer Überdosis im Gefängnis«, sagte er.

»Das weiß ich.«

»Bonnington war sein CBEO-Berater.«

»Sein was?«

»Counseling, Beurteilung, Einweisungsempfehlung, Opferbetreuung.«

Berlin war unbeeindruckt. Sie wusste, wie man ein Vorurteil bestätigte. Man erfand eine Geschichte, und dann suchte man die Fakten zusammen, die dazu passten. Diese Falle ließ sich nur sehr schwer vermeiden, wenn man das Szenario erst mal im Hirn zementiert hatte, ganz egal, wie sehr man versuchte, für alles offen zu bleiben. Dempsters Hirn war jetzt fest vernagelt.

»Haben Sie irgendeinen Beweis gefunden, dass er die Schwester gekannt hat?«

»Daran arbeite ich noch«, antwortete er etwas verstimmt. »Die Verbindung dürfte nicht so schwer zu finden sein.«

»Dann besagt also Ihre Hypothese, dass Bonnington einen getürkten Mordversuch inszenierte, um Lazenby vor einer getürkten Knarre zu retten, und sich dadurch Abstand zu dem nicht getürkten Mord verschaffte? Und Merle Okonedo war sein Strohmann und wurde geopfert. Ziemlich abgebrüht.«

»Sie war ein Kollateralschaden. Eine Märtyrerin für die gute Sache, wenn Sie so wollen, von Bonnington ausgesucht«, schlug Dempster vor.

Berlin hielt das für eine seltsame Wortwahl. »Sie vergessen die Frau, die Rosenwänglein in der Praxis gesehen hat. Wie erklären Sie sich die? Und was ist mit Bonningtons Alibi für Lazenbys Todeszeit?«

Dempster rutschte auf seinem Stuhl hin und her und stocherte in seinen Fritten herum. »Er war mit Kindern zusammen. Mit den Söhnen von einem seiner Klienten, der im Knast hockt.«

»Und?«, drängte sie ihn.

»Die Uhrzeiten sind etwas ungenau. Es ist schwierig, aus Kindern etwas Definitives rauszukriegen«, wich er aus.

»Mit anderen Worten: Bonningtons Alibi wurde überprüft und ist wasserdicht. Geben Sie auf, Dempster, das ist eine Sackgasse.«

Auf dem Weg zum Parkplatz und beim Einsteigen war Dempster ungewöhnlich schweigsam. Ich habe ihn gekränkt, dachte Berlin zufrieden. Er fuhr vom Parkplatz und bog rechts ab in die Hainault Road.

»Wo sind wir hier?«, fragte Berlin. »Ich erkenne zwar die Wildnis von Essex, aber wo genau befinden wir uns?«

»Chigwell. Ich dachte, Sie würden vielleicht gern mal sehen, wo Doyles Vater lebt. Sein Haus liegt an unserem Weg. Ich habe Gina Doyle nicht vergessen.«

Sie schaute aus dem Fenster auf die flachen, windzerzausten Felder und registrierte, dass er immer noch seinen Fehler gutmachen wollte.

»Ich konzentriere mich auf Lazenbys Ermordung, Sie sich auf Ginas. Ich habe gesagt, ich würde Ihnen helfen, und das will ich immer noch. Ich habe Ihnen die Akte besorgt, nicht wahr? Die ist Geheimsache.«

Oh Mann, was für ein Süßholzraspler, dachte sie, als sie in eine schmale Straße einbogen. Unbelaubte Hecken ragten zu beiden Seiten des Autos auf. Sie vermutete, dass Dempster ihr Schweigen nur schlecht aushielt.

»Sie sind zu hart gegen sich, wissen Sie«, sagte er.

»Ach ja?«, knurrte sie.

»Von Drogen wird man nicht unbedingt egozentrisch. Das ist nur eine Ausrede. Der Mord an Gina Doyle hat Sie kalt erwischt, und jetzt haben Sie Angst, dass Sie ohne Heroin die Ritzen nicht zukleistern können. Aber auch wenn Sie Ginas Mörder schnappen, wird nicht alles wieder gut.«

Sie staunte. Wollte er in Gesprächsführung punkten? Sie starrte ihn an.

»Sie werden von Angst beherrscht und nicht von der Droge.«

Das Schweigen war förmlich greifbar.

»Anhalten!«, schrie sie.

Erschrocken trat Dempster auf die Bremse, und sie sprang aus dem Auto.

Sie presste sich durch die stachelige Hecke in eine öde Landschaft, Erde und Himmel verschwammen in der Dunkelheit. Sie stolperte über die gefrorenen Furchen und wandte ihr Gesicht dem eisigen Sturm zu. Vielleicht würde er ihre Wut einfrieren.

Frank hörte das näher kommende Auto. Als der Motor abgestellt wurde, lauschte er angespannt, aber nach einer Weile wurde der Motor wieder angelassen, und er hörte das Jaulen des Rückwärtsgangs, als das Auto den Weg zurückfuhr.

Wieder einen abgewehrt.

Sie konnten sich anstrengen, wie sie wollten, sie kamen nicht an ihn ran. Und falls es ihnen jemals gelang, würden sie es bereuen.

Er war bereit.

35

Doyle konnte nicht schlafen und versuchte sich abzulenken, indem er seine imaginäre Auflistung für Frank durchging. Jetzt musste er schon zwei verschiedene Zahlengruppen im Gedächtnis behalten, weil er diesem Arschloch Fernley-Price regelmäßig einen Bericht über seinen Anteil am Geschäft liefern musste.

Der Banker kannte sich aus mit wackligen Zahlen, sonst hätte er nicht nach Investitionsmöglichkeiten bei Doyle gesucht. Immer wieder hatte er um eine Kundenliste gebeten oder um vergebene Kredite oder Rückzahlungspläne oder was auch immer. Er hatte gesagt, jede Art von Aufzeichnungen wäre ihm recht. Er musste wohl gedacht haben, Doyle wäre von gestern. Doyle hatte sich immer nur an die Birne getippt und gesagt, da wäre alles drin.

Doyle seufzte. Alle schissen drauf, was mit ihm los war. Er musste einfach weitermachen. Wenigstens sah es nun nicht mehr so aus, als wäre das Dezernat hinter ihm her. Nach dem Stand der Dinge wollten sie wahrscheinlich alles unter den Teppich kehren und einen weiten Bogen um ihn machen. Sie würden sonst ganz schön belämmert dastehen. Und die Polizei interessierte sich nicht für Kreditgeber ohne Lizenz. Sie wollten echte Diebesfänger sein. Außerdem gefiel ihnen der Papierkram nicht, der mit solchen Finanzsachen verbunden war. Sie würden sich die Beine krumm laufen, und anschließend würden die Staatsanwälte den Fall einstellen.

Es sah also ganz nach Business as usual aus.

Er hatte alle Versuche von Fernley-Price ignoriert, ihn zu kontaktieren, seitdem er ihn im Silent Woman zur Rede gestellt hatte. Er bezweifelte, dass der Arsch noch mal so unangekündigt aufkreuzen würde. Je weniger Kontakt, desto besser. Er wollte nicht, dass über ihr Joint Venture gemunkelt wurde. Vor allem durfte Frank nichts davon erfahren. Er war sich sicher, dass der nichts mitkriegen würde – da draußen in seiner Chigwell-Burg. Na ja – fast sicher. In letzter Zeit wurde es mit der Paranoia des Alten immer schlimmer, und Doyle wollte ihm nicht noch mehr Gründe liefern, sich aufzuregen. Frank war immer noch schlau.

Franks Geschäftsmodell war einfach und hatte den Vorteil, dass es durchschaubar war und sich selbst finanzierte. Der Kunde wusste genau, was abging, und man brauchte sich nichts zu borgen, um Kredite zu geben, was ja die Banken anscheinend getan hatten. Doyle hätte ihnen gleich sagen können, dass das schiefgehen würde.

Frank hatte ihm die Grundkenntnisse eingetrichtert. Man nimmt hundert Eier und leiht sie jemandem, der sich bei der Bank oder sonst wo kein Geld borgen kann. Dann sagt man ihm, dass er die hundert Eier irgendwann als volle Summe zurückbezahlen muss, aber bis dahin kann er sie mit einem Zehner pro Woche abstottern. Ein Zehner pro Woche hört sich immer gut an, sie denken, das kriegen sie hin. Aber sie schaffen es nie, den vollen Hunderter zurückzuzahlen.

Nach einem Jahr haben sie fünfhundertzwanzig Eier zurückgezahlt, aber sie schulden dir immer noch den Hunderter. Natürlich musste man am Anfang die Hundert haben – das kleine Eigenkapital, wie Frank es nannte. Aber man behält erst mal die Zehner, die man einsammelt, bis man hundert zusammenhat, dann verleiht man die wieder. Jetzt kommt jede Woche ein Zwanziger rein, und man hat zwei Kunden, die einem darüber hinaus noch jeweils einen Hunderter schulden.

Wahre Zauberei.

Das Schöne daran war, dass man keine komplizierten Zinsrechnungen anstellen musste, und es gab keine Verträge mit fünf Seiten Kleingedrucktem, die sowieso nie jemand las. Das Kleingedruckte hieß »Zahlen, sonst …« Das kapierte jeder. Zur Abwicklung des Ganzen gab es nur noch ein paar stramme Kerle. Keinerlei Betriebskosten.

Wenn der Kunde den Zehner pro Woche nicht bezahlen konnte, dann machte man ihn nicht platt, man betrachtete das als Gelegenheit zu einem weiteren Geschäft: Man bot ihm an, ihm den Zehner zu pumpen. Das Ende vom Lied war, dass er einem dann wöchentlich elf Eier zahlen musste, bis er die hundertzehn auf einen Schlag zahlen konnte.

Schlimmstenfalls bezahlte er seine Schulden auf einen Schlag. Das war schlecht fürs Geschäft, und man hakte nach und wollte wissen, wie er das geschafft hatte. Dann erzählte man ihm was von Betriebskosten, wie etwa einer Endabrechnung, und dass er einem das noch schuldete. Das war das übliche Verfahren.

Wenn er aufhörte, seine Zehner zu löhnen und sich was lieh, um das zu verbergen, dann kam das Kleingedruckte zum Einsatz, und zwar wortwörtlich. Die Mundpropaganda danach war ebenfalls nützlich.

Frank hatte seine finanziellen Talente während des Zweiten Weltkriegs verfeinert. Im zarten Alter von dreizehn Jahren war er eine Art Vermittler geworden, wenigstens hatte er es so beschrieben. Wenn man etwas brauchte, wie z. B. Benzin oder kandierte Früchte für die Hochzeitstorte der Tochter oder ein hübsches Stück Stoff, dann ging man zu Frank.

Bedauerlicherweise belohnte die Regierung damals solches Unternehmertum nicht mit Steuervergünstigungen. Die Kontrolleure vom Ernährungsministerium schnappten ihn und schickten ihn wegen Schwarzmarktgeschäften in ein Heim für Schwererziehbare. Frank behauptete, dort hätte er den besten Unterricht seines Lebens bekommen.

Doyle trank die zerbrechliche Porzellantasse leer und stellte sie behutsam zurück auf die Untertasse. Sie gehörte zu dem antiken Service, das seine Mutter hinterlassen hatte. Als er ein kleiner Junge war, hatte sie ihn immer die Tassen gegen das Licht halten lassen und ihn darauf hingewiesen, dass sie fast durchsichtig waren. Er fand das wunderbar. Sie sagte dann immer: »Siehst du, genau so sollte ein Mann sein. Zwischen ihm und dem Licht sollte es keine dunklen Geheimnisse geben.«

Dann drückte sie ihn an sich und sang: »Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von dir.« Sie war nicht gläubig, aber wenn sie diese alten Kirchenlieder sang, schienen ihre schmalen Schultern nicht mehr die Last der Welt zu tragen, und das blaue Auge, dass sie immer zu haben schien, beeinträchtigte ihre Schönheit nicht.

Doyle schnäuzte sich und merkte, dass seine Wangen feucht waren. Verdammt, er heulte ja wie ein Waschlappen.

Nach dem Tod seiner Mutter hatte Frank alle ihre Sachen in den Mülleimer geschmissen, auch ihr Teeservice. Doyle war noch ein Kind, aber er hatte es behutsam Stück für Stück wieder herausgeholt und in einem Karton unter seinem Bett versteckt. Es war ihm verboten, jemals wieder ihren Namen zu erwähnen, und wenn er das vergaß, bekam er von Frank eine geschmiert, wobei der »dieses Miststück« knurrte. Doyle durfte nicht mal mehr die Kirchenlieder pfeifen, ohne dass Frank durchdrehte.

Herrgott. Was für eine Familie. Seine Mutter hatte Frank verlassen, Nancy hatte ihn verlassen, und Gina hatte sie beide sitzen lassen. Er und sein Vater waren schon ein hübsches Paar. Doyle wischte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. Er hatte das Gefühl, dass er nicht zu einem Mann geworden war, den man mit einer Porzellantasse vergleichen konnte.

36

Berlin zog die Vorhänge zu und holte ihren Stoff heraus. Sie und Dempster hatten auf der Heimfahrt kein Wort gesprochen. Sie hatte in dem beißenden Wind gestanden, Gesicht und Hände von ihrem Gerangel mit der Dornenhecke zerkratzt und zerstochen, und wartete darauf, dass er wegfuhr und ihre Fantasie vom Verlassenwerden Wirklichkeit werden ließ. Aber als das Auto mit laufendem Motor stehen blieb und klar war, dass Dempster nirgendwohin fahren würde, zuckte sie mit den Achseln und stieg wieder ein.

Mit zitternden Händen legte sie ihre vier Ampullen nebeneinander, ihr Nacken war feucht von kaltem Schweiß. Es war spät, und sie wäre längst dran gewesen.

Sie dachte an Rosenwänglein und fragte sich, wie lange er zurechtkommen würde. Seine traurige Geschichte hatte ihr klargemacht, dass sie in der ihr verbleibenden Zeit keinen Arzt finden würde. Wie wollte Dempster ihr helfen? Seine Versprechungen waren vage, aber sie hatte ihm glauben wollen, deshalb hatte sie sich auf den Deal mit ihm eingelassen. Vielleicht konnte er ihr etwas guten Stoff besorgen, der vom Rauschgiftdezernat konfisziert worden war. Mindestens zwanzig Prozent davon kamen wieder auf den Markt. Das Problem war nur, dass Dempster keinen korrupten Eindruck machte, er wirkte nur unorthodox.

Sie unterdrückte die aufsteigende Panik, die sie zu überwältigen drohte, indem sie eine Ampulle nahm und sich den Inhalt injizierte.

Bald stellte sich Ruhe ein.

Sie wog ihre Optionen ab. Sie konnte versuchen, Privatpatientin zu werden. Als Selbstzahlerin fand sie vielleicht einen Arzt, der ihr starke Beruhigungsmittel verschrieb. Sie musste ihren Körper auf den Entzugsschock vorbereiten, falls es dazu kam. Aber wenn sie ihren Job verlor, woher sollte dann das Geld kommen, um den Arzt und die Drogen zu bezahlen?

Die Alternative dazu war noch mieser. Ein Arzt vom Öffentlichen Gesundheitssystem würde ihre Nummer durch das System laufen lassen, und schon sähe er ihren Status als registrierte Süchtige. Dann würde man sie mit einem Entzugsprogramm abspeisen oder behaupten, man könne keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Junkies waren teuer und außerdem eine verdammte Plage für jede Praxis. Das Urteil dieser Ärzte und ihre Verschreibungen waren moralisch, aber nicht medizinisch begründet. Heroin war schlecht, Benzodiazepine waren gut.

Doch momentan hatte sie keine Zeit, sich Sorgen zu machen. Jede Notwendigkeit, sich Nestors Mailbox anzuhören, war verschwunden. Sie war physiologisch unfähig, sich zu ängstigen, während sie mit absoluter Klarheit ihre Situation analysierte. Sie war ruhig und gesammelt, sicher in einer Umarmung, die sie niemals enttäuschen würde.

Die noch verbliebenen drei Ampullen glänzten in dem sanften gelben Licht. Drei Tage bis zum Abstieg in die Hölle. Ihre Mutter hätte dazu gesagt, dass Jesus genauso viel Zeit gebraucht hatte, um von den Toten aufzuerstehen. Ihr Vater hätte ihr zugezwinkert und gesagt, sie sollte das nicht zu wörtlich nehmen. Bindungen. Sie nickte und lächelte.

Irgendwo weit weg schrie eine Frau. Aus der Dunkelheit kam ein Gesicht angeflogen, der Kopf baumelte, weil der halbe Hals fehlte. Berlin schreckte hoch. Die Schreie waren ihre eigenen.