5

 

Detective Sergeant Daniel Chouinard versuchte immer noch, den Geist seines Vorgängers aus dem Büro zu bannen. D. S. Dyson war nicht nur ein Schlitzohr, sondern auch ein Pedant gewesen, und so hatte Chouinard das Bedürfnis, in seinem Büro für permanentes Chaos zu sorgen. An den Fenstern hingen halb eingebaute Jalousien bedenklich schief nach unten, auf dem Boden neigten sich Türme von juristischen Schwarten und Prozesshandbüchern in prekärem Gleichgewicht zur Seite, und an der Wand lehnte ein Verschlag aus Bücherregalen. Auf seinem Schreibtisch tummelten sich Schraubenzieher in unterschiedlicher Größe neben einem Hammer und einem Schreibblock, auf dem er gewöhnlich unleserliche Notizen machte.

Als der Posten eines Detective Sergeant frei wurde, hatte man ihn Cardinal angeboten. Er war immerhin einer der dienstältesten Beamten und hatte ein paar der bedeutendsten Fälle in der Kriminalgeschichte von Algonquin Bay gelöst. Doch Cardinal hatte abgelehnt, obwohl die Beförderung mehr Geld und geregeltere Arbeitszeiten mit sich gebracht hätte. Er war sogar drauf und dran gewesen, seinen Dienst ganz zu quittieren – was Delorme im letzten Moment verhindert hatte –, da er fest davon überzeugt war, keine Beförderung zu verdienen. Außerdem war nicht zu leugnen, dass ein Detec tive Sergeant einen reinen Schreibtischjob hatte – für Cardinal einfach undenkbar. Draußen auf der Straße zu sein, sich mit Menschen aus Fleisch und Blut auseinander zu setzen, das war das Beste an der Polizeiarbeit, das Einzige, was ihm das Gefühl gab, sich nützlich zu machen.

Das Einzige, was Cardinal überhaupt einen Moment hatte zögern lassen, war die Angst, der Job könnte an Ian McLeod gehen. McLeod, der gerade in Urlaub war, als die Entscheidung anstand, hatte ein Talent, Zwietracht zu säen, und wäre daher eine einzige Katastrophe gewesen. Am Ende hatte Chief Kendall die Stelle Daniel Chouinard angeboten, der genügend Dienstjahre auf dem Buckel hatte, um zu wissen, was die Kriminalbeamten brauchten und was nicht. Er hatte lange genug mit den anderen unter den Launen von D. S. Dyson gelitten, und er besaß solide organisatorische Fähigkeiten. Vor allem aber kannte er jeden einzelnen der acht Detectives gut genug, um zu wissen, wessen Stärken wessen Schwächen ausgleichen konnten.

Als er von der Ernennung hörte, hatte McLeod einfach behauptet, Chouinard habe den Posten nur bekommen, weil er Frankokanadier war, er solle das bilinguale Aushängeschild des Kommissariats sein, worum es in Wahrheit überhaupt nicht ging. Doch niemand sonst sah einen Grund, sich über Daniel Chouinard aufzuregen. Wenn es überhaupt etwas an ihm auszusetzen gab, dann allenfalls, dass er ein bisschen farblos war – besonders für einen Frankokanadier. Na schön, er war langweilig. Er war so langweilig, dass man ihn eigentlich nur durch die Eigenschaften beschreiben konnte, die ihm abgingen – wie zum Beispiel jedes Gespür für Ironie oder im Grunde genommen jedweder Humor. Er hegte keinerlei persönlichen Groll, hatte keine politischen Ambitionen und keine nennenswerten psychischen Probleme. Er neigte weder zu Wutausbrüchen noch zu Rachefeldzügen. Der Mann hatte nicht einmal einen Akzent. Trotz des Chaos in seinem Büro war der neue D. S. einfach nur, na ja, annehmbar.

»Fassen wir zusammen«, sagte Chouinard. Delorme und Cardinal standen in Rührt-euch-Haltung vor Chouinards Schreibtisch, da seine Stühle mit Stapeln von schalldämpfender Deckenvertäfelung belegt waren. »Wir haben einen männlichen Amerikaner Ende fünfzig, Anfang sechzig, der im Wald gefunden wurde, nachdem er teilweise von einem Bären gefressen wurde.«

»Von Unbekannten ermordet und danach von einem Bären gefressen«, stellte Delorme richtig.

»Da er Amerikaner ist, müssen wir die Mounties einschalten; jeder internationale Fall ist ihr Revier. Das heißt, wir werden mit Malcolm Musgrave zusammenarbeiten. Daher können wir, glaube ich, vorerst Delorme bei diesem Fall entbehren.«

»Eigentlich«, sagte Cardinal, »wäre keiner besser geeignet, um mit Musgrave zusammenzuarbeiten. Es wäre nicht das erste Mal, und sie kommen gut miteinander aus. Das kann die Sache nur beschleunigen.«

»Mag sein«, sagte Chouinard. »Aber ich kann hier nicht zu viele Köche gebrauchen.«

»D. S., ich wäre gerne mit von der Partie«, sagte Delorme. »Es macht mir nichts aus, mit Musgrave zu kooperieren.«

»Tut mir leid. Cardinal, Sie sind der Ranghöhere, und Sie sollten daher auch der Partner unseres geschätzten Sergeants sein.«

»Ich glaube wirklich nicht, D. S., dass das im Moment so eine gute Idee wäre.«

»Wieso? Ist er sauer auf Sie? Wieso in aller Welt sollte einer von den Mounties, der in Sudbury stationiert ist, auf einen Detective in Algonquin Bay sauer sein?«

»Sie vergessen, dass er mir letztes Jahr die ganze Dienststelle auf den Hals gehetzt hat.«

»Ach so, nein, das ist nicht fair«, sagte Chouinard in seiner ach so vernünftigen Art. »Er hatte gute Gründe anzunehmen, dass es eine undichte Stelle bei uns gibt, und wie sich herausstellte, lag er richtig. Er hatte lediglich den falschen Mann im Auge, weiter nichts.«

»Klitzekleine Nebensache«, sagte Cardinal. »Sollte mich gar nicht kratzen.« Was ihn im Moment viel mehr kratzte, war der Umstand, dass ihm gestern Abend ein junger Mountie die Waffe abgenommen hatte.

Chouinard schwieg eine Weile, wobei sein weiches Gesicht fast unmerklich zuckte, als ob er im Kopf ein paar Gleichungen löste. Und als stellten die Rechenaufgaben plötzlich ein physisches Problem dar, drehte er sich ein paarmal auf seinem Sessel herum, verlagerte einige der juristischen Schwarten von einer Fensterbank auf die andere, um jeden Rücken nachdenklich zu betrachten, bevor er das Buch wegstellte. Als er sich wieder zu ihnen umdrehte, machte er ein fröhlicheres Gesicht.

»Es gibt also böses Blut zwischen Ihnen und den Berittenen«, sagte er. »Das ist bedauerlich. Aber tatsächlich können wir uns gar keine bessere Gelegenheit wünschen, um die Sache mit den Rotröcken auszubügeln. Sie werden also mit den Mounties arbeiten. Sehen Sie einfach zu, dass Sie ihnen geben, was Sie haben – und Sie und Musgrave werden sich ab sofort prächtig verstehen. Das ist dem Fall ebenso dienlich wie den langfristigen Interessen unserer Dienststelle.«

»Aber ich glaube, D. S., Ihnen ist nicht klar, wie schwerwiegend das Verhältnis zwischen Musgrave und mir gestört ist.«

»Dann wird es höchste Zeit, es wieder einzurenken. Es ist Ihr Problem. Es gibt folglich keinen Besseren, es auszuräumen, als Sie, oder sehe ich das falsch?«

 

Obwohl der Anruf bei Musgrave eigentlich auf seiner Agenda ganz oben hätte stehen sollen, schob Cardinal ihn auf. Stattdessen rief er die Gerichtsmedizin in Toronto an, wo er Vlatko Setevic von der chemischen Abteilung an den Apparat bekam. Auf zwei Dinge konnte man bei Vlatko zählen. Zum einen war er ein unverbesserlicher Workaholic, morgens der Erste und abends der Letzte im Büro und nicht eher zufrieden, als bis er eine Sache vom Tisch hatte. Zum anderen war er launisch. Vlatko lebte seit den Sechzigern in Kanada und war ein ausgeglichener Zeitgenosse gewesen, bis in den Neunzigern Jugoslawien zerfiel. Seitdem hatte sich sein sonniges Gemüt verdüstert und stand des Öfteren auf Sturm. Er konnte witzig sein, aber auch unausstehlich; man wusste einfach nie, woran man mit ihm war. Cardinal fragte ihn nach der Lackprobe, die sie ihm geschickt hatten, und wappnete sich schon einmal für eine Schlechtwetterfront.

»Lackprobe? Ich hab keine Lackprobe bekommen. Jedenfalls nicht aus Algonquin Bay.«

»Sollten Sie aber, sonst gibt es ziemlichen Ärger. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, ihr hättet überhaupt kein …« Ein polterndes, slawisches Lachen dröhnte durchs Telefon.

»Entspannen Sie sich, Detective! War nur ein kleiner Scherz. Ich hab Ihre werte Lackprobe vor mir.«

»Ungeheuer witzig, Vlatko. Mit dem Humor könnten Sie glatt zur Royal Canadian Air Farce

»Immer so verspannt, euer nordischer Schlag. Sie sollten’s vielleicht mal mit Yoga versuchen – dann ruhen Sie in sich, werden eins mit dem Universum.«

»Sagt meine Frau auch immer. Was haben Sie für uns?«

»Sie haben tatsächlich Glück. Die Farbe entspricht dem so genannten Walnussbraun, das Ford erst seit letztem Jahr beim Explorer spritzt. Neue Serie. Sie suchen demnach einen Explorer von diesem Jahr, einen Explorer mit einer dicken Schramme.«

»Da geht mir ja das Herz über, Vlatko. Weiter so.«

»Andererseits haben Sie auch wieder Pech. Allein in Kanada hat Ford davon, über den Daumen gepeilt, fünfunddreißigtausend verkauft.«

»Lassen Sie mich raten. Die beliebteste Farbe?«

»Was dachten Sie denn? Walnussbraun.«

Als es sich nicht länger aufschieben ließ, rief Cardinal das Kommissariat in Sudbury an. Die Zivilangestellte, die am Apparat war, ließ ihn wissen, dass Musgrave nicht in der Stadt war. Cardinal legte erleichtert auf, nur um es im nächsten Moment in seiner Hand klingeln zu hören. Es war Musgrave.

»Wir beide müssen uns mal unterhalten«, sagte der Sergeant, ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. »Über einen gewissen Howard Matlock.«

Wie sich herausstellte, war er bereits in Algonquin Bay, im Federal Building nur wenige Häuserblocks entfernt, auf der McPherson. Früher einmal hatte die Royal Canadian Mounted Police dort eine Einsatztruppe unterhalten, doch selbst die Mounties lebten im Zeitalter des Kapazitätsabbaus, und so befand sich jetzt ihre nächstgelegene Zentrale achtzig Meilen entfernt in Sudbury.

Cardinal fuhr zum Federal Building hinüber und parkte auf einem Platz, der dem Schild nach für Postautos reserviert war. Er fand Musgrave in einem Büro, in dem es nichts weiter gab als einen Metallschreibtisch, ein Telefon und drei Plastikstühle in Primärfarben.

Der Sergeant besaß das Selbstvertrauen eines Mannes, der weiß, dass er immer der größte, taffste Mann im Raum ist. Er war ein Urgestein, wie aus dem Kanadischen Schild gehauen. Es gab vermutlich wenig, was nicht an ihm abprallte.

»Setzen«, sagte Musgrave und wies auf die Stühle. »Eins vorweg, ich hege wegen der Sache letztes Jahr keine schlechten Gefühle gegen Sie.«

»Wie nobel von Ihnen, wenn man bedenkt, dass Sie mich letztes Jahr beinahe um meinen Job gebracht hätten.«

»Betrachten Sie’s mal objektiv. Ich hab nur die Vorschriften befolgt.«

»Ich will Ihnen mal was sagen über die Vorschriften.« Cardinal hatte auf der Fahrt geprobt. »Der Mord an einem Ausländer auf kanadischem Boden mag in die Zuständigkeit der RCMP fallen, aber das ist für Sie noch lange kein Freibrief, mitten in eine örtliche Untersuchung reinzuplatzen. Wenn Sie einen Tatort auf meinem Territorium überprüfen wollen, rufen Sie mich an. Wenn Sie Hintergrundinformationen zu dem Fall brauchen, fragen Sie mich. Aber schicken Sie nicht Ihre Hampelmänner unangemeldet in mein Revier, sonst landen sie das nächste Mal in meinem Gefängnis.«

Musgrave betrachtete ihn mit einem abschätzigen, kühlen Blick. »Ich hab nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden.«

»Ich glaube, doch.«

»Hören Sie, Cardinal. Sie haben einen toten amerikanischen Staatsbürger. Einen Amerikaner. Wie Sie bereits richtig sagten, fällt das in die Zuständigkeit der RCMP. Wie lange wollten Sie sich noch Zeit lassen, bis Sie mich verständigen?«

»Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie überhaupt nicht verständigen. Doch so wie die Gesetzeslage nun mal ist, habe ich Sie heute Morgen angerufen, einen Moment bevor Sie mich anriefen.«

»Hm. Und wieso informiert mich dann unsere Abteilung in Ottawa zuerst über den Fall?« Musgrave schleuderte ihm ein Fax entgegen. Es war nur eine kurze Meldung, eine von vielen auf einer Liste. Der amerikanische Staatsbürger Howard Matlock in Algonquin Bay tot aufgefunden.

Cardinal starrte auf das Blatt. Wie hatte die Zentrale der Mounties so schnell davon Wind bekommen können? Und wenn der Knabe, der ihm die Waffe abgenommen hatte, nicht zu Musgrave gehörte, woher kam er dann?

Es klopfte.

Musgrave machte eine Kopfbewegung Richtung Tür. »Jemand, den Sie kennen lernen sollten.«

Cardinal sah vom Fax auf.

»Detective John Cardinal, darf ich Sie mit Calvin Squier bekannt machen? Detective Cardinal arbeitet bei der Polizei von Algonquin Bay. Mr. Squier ist Nachrichtenoffizier beim CSIS.«

So wie er in Sportjackett und Krawatte im Türrahmen stand, sah der junge Mann wie ein Teenager aus, der die Klamotten seines Vaters anprobiert. Nichts an ihm verriet, dasser es fertig brachte, einem in einer dunklen Hütte die Waffe abzunehmen.

»Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte Squier und streckte ihm eine Hand so weiß wie Lammkotelett entgegen.

»Meinerseits«, brachte Cardinal heraus. Er fühlte, wie ihm unter dem Kragen die Röte langsam den Hals hochkroch.

»Tolle Arbeit, die Sie da beim Windigo-Killer hingelegt haben«, sagte Squier. »Hab heute früh ein bisschen was über Sie nachgelesen.«

»Sie sind beim CSIS?«

»Canadian Security Intelligence Service, der kanadische Geheimdienst«, sagte Musgrave.

»Was Sie nicht sagen, vielen Dank.«

»Richtig. Ich bin seit fünf Jahren dabei.«

»Die müssen Sie eingestellt haben, als Sie neun waren.« Cardinal setzte sich auf einen himmelblauen Stuhl, der knirschte wie ein neuer Schuh. Er drehte sich zu Musgrave um. »Was wird hier eigentlich gespielt?«

»Er wird’s Ihnen gleich sagen.«

Squier öffnete seine Aktentasche und stellte einen silbrigen Laptop auf den Tisch. Er klappte ihn so auf, dass sie alle drei den Bildschirm sehen konnten, und drückte auf einen Knopf; mit einem Glockenton erwachte das Gerät zum Leben. Squier zog einen Gegenstand von der Größe eines Lippenstifts aus der Tasche und richtete ihn auf den Laptop. Im selben Moment erschien eine grafische Darstellung der Befehlsstruktur von Norad – der nordamerikanischen Luftabwehr.

»Wie Sie vielleicht wissen«, sagte Squier, »wurde Norad in Zeiten des Kalten Krieges als Gemeinschaftsprojekt der USA und Kanadas ins Leben gerufen, um uns vor russischen Invasoren zu schützen.« Er drückte auf seine Fernbedienung, und die Grafik wechselte zu »Militärische Anlage unter gemeinsamem Befehl«. »Beide Länder bauten je einen so genannten Bodenstützpunkt – im Prinzip ein dreistöckiges Bürohaus im Innern eines Berges. Die Amerikaner haben ihres im Cheyenne Mountain in Colorado. Wir haben unseres in Algonquin Bay, draußen am Trout Lake.«

»Ich bin hier groß geworden«, sagte Cardinal. »Das müssen Sie mir wirklich nicht erzählen.«

»Ich möchte meine Sache ordentlich machen, wenn Sie sich also bitte gedulden wollen«, sagte Squier. »Außerdem ist Sergeant Musgrave nicht hier aufgewachsen.«

»Sergeant Musgrave würde gern mit dieser Sache vorankommen«, sagte Musgrave. »Gehen Sie also einfach davon aus, dass wir über die CADS-Basis Bescheid wissen.«

»Okay. Der Kalte Krieg mag zwar vorbei sein, doch das kanadische Luftverteidigungssystem ist noch an Ort und Stelle. Nach wie vor arbeiten hundertfünfzig Menschen in diesem Berg. Nach wie vor überwachen sie ihre Radarschirme. Und nach wie vor leuchten diese Radarschirme bei jedem Objekt auf, das in den kanadischen Luftraum eindringt.«

»Soviel ich gehört habe, wollen sie den Laden dichtmachen«, warf Cardinal ein. »Algonquin Bay hat nicht mal mehr einen Fliegerhorst.«

»Sie mögen den Stützpunkt verlegen, aber ganz bestimmt machen sie ihn nicht dicht, das dürfen Sie mir glauben.« Ein gedämpftes Zwitschern unterbrach das Gespräch. »Entschuldigung«, sagte Squier und griff in seine Jackentasche. »Hab vergessen, es abzuschalten.«

Er richtete die Fernbedienung erneut auf den Bildschirm und wechselte zu einem anderen Bild. In der oberen rechten Ecke des Bildes pulsierten weiße Objekte, die wie Flugzeuge aussahen. »CADS überwacht den gesamten eingehenden Flugverkehr. Das hier ist natürlich nur eine Simulation von gewöhnlichen zivilen Flugzeugen. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die CADS-Basis neue Aufgaben gefunden. So halten sie zum Beispiel nach Drogentransporten Ausschau. Erst kürzlich haben sie dabei mitgewirkt, einen Heroinschmuggel im Wert von zwanzig Millionen Dollar zu stoppen, indem sie einfach nur eine verdächtige Cessna an das Drogendezernat der RCMP gemeldet haben.«

Ein Druck auf die Fernbedienung, und das Bild wechselte noch einmal. Von links oben erschien ein Objekt auf dem Bildschirm, das nicht wie ein Flugzeug aussah. Es glühte rot und fing an, unter heiserem Piepen aufzuleuchten. »Seit dem 11. September ist die Terrorismusbekämpfung der wichtigste Auftrag von CADS – zumindest, was meinen Verein betrifft. Das kann alles sein, von einem entführten Flugzeug bis zur Bombe eines Schurkenregimes. Und genau das haben wir hier auf dem Bildschirm.«

»Natürlich simuliert«, sagte Musgrave spitz.

»Ja, sicher«, sagte Squier. »Mit einer echten CADS-Meldung kann ich wohl kaum aufwarten. Also, mir ist natürlich klar, dass Sie sich fragen, was ich hier will, und ich werd’s Ihnen gleich erklären. Freitagmorgen bekam der CSIS einen Anruf von der CADS-Basis. Deren Sicherheitsdienst hatte oben auf dem Berg einen Mann mit einem Fernglas erwischt. Er schien da nichts Besonderes zu machen. Sie verhörten ihn, und er sagte, er sei ein Tourist, der Vögel beobachtet. Ich meine, er trug keinen Turban oder so was in der Art. Sie hatten nicht genug gegen ihn in der Hand, um ihn dazubehalten oder auch nur bei euch anzurufen.« Er nickte Cardinal zu. »Also haben sie nur seine Papiere überprüft und ihm im Prinzip gesagt, er soll zusehen, dass er wegkommt.

Sie haben uns telefonisch informiert. Reine Routinesache. Wir überprüfen Howard Matlock. Es liegt nichts gegen ihn vor. Und dann – und das passiert noch am selben Tag – taucht der Kerl auf einmal mitten in der Nacht wieder auf. Die Nachtschicht des Sicherheitsdienstes erwischt ihn auf dem Gelände, und sein Fernglas ist ihm praktisch am Gesicht festgewachsen.«

»Auf dem Gelände?«, fragte Cardinal. »Wenn er ein Spion war, dann muss er der unfähigste gewesen sein, den die Welt je gesehen hat. Ich bin oben an der Basis gewesen, und man sieht absolut nichts, bis man zwei Meilen in den Berg reingegangen ist. Nichts als Bäume und Felsen, Punkt, aus.«

»Da haben Sie allerdings recht. Aber er hatte es möglicherweise nicht auf die Hardware der Einrichtung abgesehen, sondern auf deren Effizienz. Vielleicht ging es ihm lediglich darum, ihre Funktionstüchtigkeit auf die Probe zu stellen, indem er sich schnappen ließ. Wir wissen es einfach nicht. Das Schlimmste ist, dass die Sicherheitskräfte Mist gebaut haben, gründlich Mist gebaut haben. Sie haben nicht daran gedacht, den Tagesbericht zu prüfen, als sie den Kerl schnappten, also haben sie nicht gemerkt, dass er ihnen schon zum zweiten Mal ins Netz gegangen war. So unglaublich es klingt, sie haben ihn laufen lassen. Bis der Sicherheitsdienst den Fehler bemerkte, war es schon zu spät. Da haben sie uns zum zweiten Mal angerufen. Dabei sind einige von denen ganz schön rot geworden.«

Squier drückte auf seine Fernbedienung, und der Laptop ging aus. Er klappte ihn zu. »Mein Vorgesetzter rief mich um sechs Uhr morgens an. Sagte, ich solle die Sieben-Uhr-Maschine nach Algonquin Bay nehmen. Die Sicherheitsleute hatten Matlocks Autokennzeichen notiert – ein Mietwagen vom Torontoer Flughafen – und außerdem die Loon-Lodge-Adresse. Aber ich kam zu spät. Ich hab ihn nicht mal zu Gesicht bekommen, und dann wimmelte es in der Hütte auf einmal von Ihren Leuten.«

»Was hätten Sie getan, wenn Sie ihn gefunden hätten?«

»Ich wäre ihm natürlich gefolgt. Das heißt nicht ich persönlich, wir haben Überwachungsleute für so was.«

»So, haben Sie das?«, sagte Musgrave. »Wir haben für so was unsere Cops.«

»Es ist misslich, dass ich die fragliche Person nicht rechtzeitig gefunden habe, bevor sie getötet wurde. Ich persönlich glaube ja, dass wir uns um Leute wie den nicht den Kopf zerbrechen müssen. Keine Verbindung zu Al-Kaida oder etwas in der Richtung. Aber allein der Umstand, dass wir ihn nicht überprüft haben und dass er nach zwei Schlägen gegen die CADS-Security tot ist – na ja, sagen wir mal, da schalten sämtliche Alarmleuchten auf Rot. Und so kommen wir ins Spiel.«

»Nun ja, vielleicht könnten wir uns auch noch die OPP ins Boot holen«, sagte Cardinal.

»Oh, ich glaube kaum, dass die Provinzpolizei hier in irgendeiner Weise zuständig ist.«

»Das sollte ein Witz sein«, sagte Musgrave. »Wir könnten vielleicht die selbstlose Unterstützung der Knights of Columbus gewinnen und vielleicht auch die Ladies’ Auxiliary«, fuhr Cardinal fort. »Und die Elks wären möglicherweise auch interessiert. Ich meine, wir haben praktisch schon ein Curling-Team beisammen.«

»Ja, ich dachte mir schon, dass Sie nicht gerade begeistert sein würden«, sagte Squier. »Von wegen heimisches Terrain und so. Sie sollen nur wissen, dass ich da bin – und dass der CSIS da ist –, um Ihnen in jeder erdenklichen Weise behilflich zu sein. Vermutlich wollen Sie meinen Dienstausweis sehen.« Er zog das entsprechende Papier aus der Tasche, mit Stempel und Passbild. »Unter dieser Nummer können Sie sich alles bestätigen lassen, was ich gesagt habe.«

»Glauben Sie mir«, sagte Musgrave zu Cardinal, »das habe ich bereits getan. Der Kerl ist echt, und der CSIS auch, und so ist es nun mal. Machen Sie so viele Anrufe, wie Sie für nötig halten, und dann wär’s vielleicht gar nicht mal so schlecht, wenn Sie uns sagen würden, wie weit Sie mit den Ermittlungen gediehen sind.«

Cardinal dachte einen Moment daran, Chouinard anzurufen und ihm die Hölle heiß zu machen, doch er hatte das untrügliche Gefühl, dass das überhaupt nichts bringen würde. Außerdem war er dankbar dafür, dass Squier so tat, als wären sie sich noch nie begegnet.

»Im Grunde gibt es nicht viel zu erzählen«, fing er an. »Die Gerichtsmedizin hat nicht viel, womit sie arbeiten könnte – einen Arm, ein Ohr, Stücke von den Beinen, ein Stück Schädel, etwas vom Becken. Der Mann wurde zuerst umgebracht, dann zerstückelt und dann an die Bären verfüttert. Dem Besitzer des Loon Lodge hat Matlock erzählt, er sei hier, um die Gegend fürs Eisfischen auszukundschaften. Es waren keine anderen Gäste da, und im Moment besteht die einzige Spur, die wir haben, in Lacksplittern, die wir von der Stelle haben, an der die Leiche zerstückelt wurde. Wir suchen nach dem neuesten Modell Ford Explorer, walnussbraun. Wir haben für die heutige Abendausgabe des Lode eine Anzeige geschaltet, in der wir jeden um Hilfe bitten, der vielleicht mit Matlock geredet hat.«

»Ich will ja nicht unhöflich erscheinen«, sagte Musgrave, »aber haben Sie seinen Wagen überprüft? CSIS hier sagt, er hat einen roten Escort gemietet.«

»Wir suchen nach dem Wagen. Sind wir hier fertig? Ich würde gerne mit meiner Arbeit vorankommen.«

»Was passiert auf der amerikanischen Seite?«, fragte Squier. »Was steht da als Erstes an?«

Musgrave starrte aus dem verschmierten Fenster auf die MacPherson, als ginge ihn die Frage nichts an.

»In New York müssen wir als Erstes die nächsten Angehörigen ausfindig machen«, sagte Cardinal, »falls es welche gibt, und sie befragen. Die üblichen Dinge – irgendwelche Feinde et cetera, irgendwelche Auseinandersetzungen in letzter Zeit …«

»Das kann ich übernehmen«, sagte Squier mit kindlichem Eifer. »Wie wär’s, wenn Sie mir das überlassen würden? In Abstimmung mit dem FBI und so weiter.«

Musgrave drehte sich zu ihm um. »Tun Sie uns allen einen Gefallen, ja? Setzen Sie einen von Ihren ehemaligen Mounties darauf an. Was zum Teufel versteht Ihr Minderjährigen beim CSIS davon, wie man einen Mord untersucht? Oder überhaupt etwas untersucht?«

»Die führenden Leute beim CSIS sind vielleicht noch Mounties aus den alten Geheimdienstzeiten«, sagte Squier, »aber weiter unten ist kaum noch einer von denen übrig. Und ehrlich gesagt glaube ich kaum, dass mein Vorgesetzter sie bei diesem Fall dabeihaben will.«

»Ihr albernen kleinen Trottel mit euren Laptops und euren Handys – ihr haltet euch wohl für den Bauchnabel der Welt, wie?«

»Sergeant Musgrave, Sie wissen zweifellos, dass die ehemaligen Mounties beim CSIS niemals polizeiliche Ermittler waren; sie waren Geheimdienstleute, so wie ich.«

»Ach, da schau her! Und Sie wissen sicher – oder wüssten es, wenn Sie sich der Mühe unterziehen wollten, noch ein wenig weiter zurückzuschauen –, dass eine Menge von diesen Geheimdienstleuten zehn bis fünfzehn Jahre in verschiedenen Abteilungen der Polizei gearbeitet haben, bevor sie zum Geheimdienst kamen. Leider musste seinerzeit, als die Medien die Mounties aufs Korn nahmen, das Image ein bisschen aufpoliert werden. Also verabschieden sie in Ottawa ein neues Gesetz, und simsalabim: Ihr Deppen tut genau dasselbe, was die Mounties vorher auch getan haben, nur dass es jetzt legal ist. Ach ja, und du liebe Güte, es tut mir ja so leid, es macht Ihnen hoffentlich nichts aus – eine Menge verdammt gute Leute stehen plötzlich auf der Straße.«

Es lag ein leichtes Beben in Musgraves Stimme, das auf Emotionen schließen ließ, die komplizierter waren als Zorn. Cardinal hatte ihn noch nie so aufgeregt gesehen und war selber überrascht, als er so etwas wie den leisen Anflug von Sympathie für den Mann empfand.

Squier wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber wohl und setzte noch einmal an. »Ich kann nicht ändern, was vor Urzeiten mal gewesen ist. Und ob Sie es glauben oder nicht, ich bin nicht hergekommen, um Ärger zu machen. Aber wir sind auf die Zusammenarbeit mit Ihnen angewiesen, und Tatsache ist, ich werde nicht darum betteln. Wenn Sie mir das nicht abnehmen, steht es Ihnen beiden frei, meinen Vorgesetzten in Toronto oder den CSIS in Ottawa anzurufen. Sie haben die Nummer. Wenn Sie bereit sind, mit uns zusammenzuarbeiten, rufen Sie mich kurz an. Ich bin im Hilltop Motel.« Er klemmte sich den Laptop unter den Arm und verließ den Raum.

Als er draußen war, pfiff Cardinal leise.

»Mein Gott«, sagte Musgrave. »Der schafft mich.«