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Nachdem Wudky sicher hinter Schloss und Riegel war, kehrte Cardinal an seinen Schreibtisch zurück, um seine Zusatzberichte zu schreiben.

Der Betrag, den Wudky ergattert hatte, war eine Bagatelle. Hätte er ihn aus einer Ladenkasse gestohlen, bekäme er kaum mehr als eine Bewährungsstrafe, doch Cardinal wusste, dass die Staatsanwaltschaft auf einer Anklage wegen Bankraubs bestehen würde, und verfasste seinen Bericht entsprechend.

Er war fast fertig, als Sergeant Mary Flower ihm zurief: »Hey, Cardinal, ich glaube, Sie sollten mal mit Wudky reden.« Sie kam aus dem Gang, der von den Zellen zum Wachraum führte.

»Wudky?«, sagte Cardinal. »Wie wichtig soll das schon sein?«

»Er sagt, er hat Informationen über einen Mord.«

Cardinal warf Delorme, die ein paar Tische weiter saß, einen vielsagenden Blick zu. Sie verdrehte die Augen.

»Wissen Sie, wie unwahrscheinlich das ist?«, sagte Cardinal.

Flower zuckte die Achseln. »Das müssen Sie ihm sagen, nicht mir.«

Cardinal und Delorme gingen zum Zellentrakt nach hinten. Es gab acht Zellen, die zwischen Gewahrsam und Garage ein L bildeten. Wudky war in der zweitletzten, der einzigen, die im Moment besetzt war.

»Für nix sag ich nix«, rief er ihnen entgegen und versuchte, knallhart zu klingen. Er war, mit seinem zerknirschten Gesicht und seinem stinkenden Sweatshirt, die elendste Kreatur, die Cardinal je gesehen hatte. »Wollt mal fragen, ob ich Ihnen eventuell vielleicht nen Deal oder so anbieten könnte, wodurch ich eventuell gegen Kaution rauskönnte oder so.«

»Da würd ich mir nicht allzu große Hoffnungen machen«, sagte Cardinal. »Hängt allerdings davon ab, was du uns zu sagen hast. Ich kann nichts versprechen.«

»Aber Sie könnten ’n gutes Wort für mich einlegen? Denen sagen, dass ich meine Pflicht getan hab? Als Staatsbürger un so? Dass ich der Polizei geholfen hab?«

»Wenn du uns brauchbare Informationen lieferst, werde ich dem Staatsanwalt sagen, dass du dich nützlich gemacht hast.«

»Und Reue gezeigt hab, ja? Sagen Sie ihm, das mit der Bank tut mir leid. Weiß gar nicht, was da in mich gefahren ist.«

»Ich werd’s ihm sagen. Was hast du auf Lager, Robert?«

»Ich meine, ich find’s echt beschissen, wissen Sie – besonders, wo Sie mir doch andauernd gesagt haben, ich soll sauber bleiben – und ich nehm das ernst. Ich will nich, dass Sie denken, dass ich nich auf Sie höre. Ich hör schon auf Sie, ich vergess es nur wieder. Ich meine, mir setzt sich einfach sone Idee im Kopf fest, und dann wirbelt sie da so lange rum wien Wäschetrockner.«

»Robert?«

»Wie?«

»Erzähl uns einfach, was du weißt.«

»Okay. Also, an dem Tag, bevor ich so getan hab, als ob ich die Bank überfallen würde?«

»Sie haben Geld gestohlen«, sagte Delorme. »Sie haben nicht nur so getan.«

»Okay, okay. An dem Tag davor. Bin nach Toronto runter, zu meiner Freundin.«

Cardinal notierte im Geist, dass er – wenn er mal nichts Besseres zu tun hatte – mehr über die Freundin rausfinden sollte. Entweder war die nicht ganz echt im Kopf oder sie war eine Heilige.

»Ich bin also nach T. O. runter zu meiner Freundin, und abends denk ich so, ach, gehste mal inne Bar, ich mein, einfach maln Abend alleine weg un so. Ich fahr also zur Spadina Road rüber – kennen Sie das Penny Wheel?«

»Nur zu gut.« Bevor er nach Algonquin Bay kam, war Cardinal zehn Jahre lang bei der örtlichen Polizei von Toronto gewesen. Jeder Cop kannte da unten das Penny Wheel. Es war ein Kellerloch auf der Spadina, die Art roter Plüschschuppen, die nur ein Krimineller schön finden konnte. Erstaunlicherweise hatte es – in ganz Toronto – ausgerechnet dieser Schuppen geschafft, sich allen Veränderungen zu widersetzen.

»Ich bin also drüben im Penny Wheel, und wer kommt zur Tür rein? Thierry Ferand höchstpersönlich – das isn Trapper und all son Scheiß.«

»Ich kenne Thierry.« Ferand gehörte tatsächlich zu den Pelztierjägern der Gegend. Zweimal im Jahr kam er aus den Wäldern in die Stadt, um seine Ware bei der Pelzauktion zu verkaufen. Dabei schaffte er es jedes Mal, wegen Trunkenheit und ordnungswidrigen Verhaltens oder ähnlicher Vergehen verhaftet zu werden. Es gab Gerüchte, denen zufolge er gelegentlich für die hiesige Version der Mafia arbeitete, doch nichts dergleichen konnte ihm je nachgewiesen werden. Er war klein und gemein und ziemlich ausgekocht. Wenn er sich aufregte, trieben seine dreckigen kleinen Hände ganz plötzlich Schlagringe aus.

»Also, ich und Thierry, wir kennen uns schon ne Ewigkeit.«

»Seit Kingston Pen, wenn ich mich recht entsinne.«

»Wow! Woher ham Se das denn? Ihr Jungs seid unglaublich. Na ja, ich seh also Thierry allein in ner Ecke sitzen, ich geh also rüber, und wir kommen ins Quatschen un so. Und Thierry hat ganz schön einen in der Krone, verstehen Sie? Ich meine, er is stinkbesoffen. Und er fängt an, mir Sachen zu flüstern.« Wudky trat an die Stangen seiner Zelle und spähte nach links und rechts in den Korridor, bevor er, in einem Tonfall, der auf eine Information von nationaler Bedeutung schließen ließ, hinzufügte: »Große Sachen.«

»Wie zum Beispiel?«

»Ach, nix. Nurn klitzekleiner Mord. Wär das eventuell interessant für Sie?« Neben Robert Henry Hewitts anderen herausragenden Qualitäten ging er locker als der schlechteste Schauspieler der Welt durch. Cardinal hatte Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen. Er wagte nicht einmal, Delorme anzusehen, damit sie nicht beide zugleich losprusteten.

»Nun ja, sicher, Robert. Das könnte uns interessieren.«

»Und Sie erzählen diesem Staatsanwaltstypen, dass ich Ihnen geholfen hab?«

»Das war’s, ich gehe.« Cardinal machte einen Schritt Richtung Tür.

»Warten Sie, okay, okay! Ich sag’s ja schon. Sie sindn ganz schön harter Brocken. Hab im Knast Typen getroffen, die nich so Druck machen wie Sie.« Wie um den Kopf von Cardinals Ungeduld freizubekommen, bohrte sich Wudky ausgiebig mit dem Finger im Ohr herum. »Wo war ich stehen geblieben? Also, Thierry is wirklich sternhagelvoll, und er fängt an, sone Sachen zu erzählen, wo er richtig Schiss von gekriegt hat, wissen Sie? Er kippt sein zehntes Bier oder so, und er lehnt sich volle Breitseite über den Tisch und erzählt mir, was nem Freund von ihm passiert is. Typ namens Guy Bressard. Noch son Trapper, verstehn Sie? Stellt sich raus, dass sie diesen Paul Bressard ’n Kopf kürzer gemacht haben. Und zwarn Kerl von auswärts, dem er Geld schuldete. Könnte die Mafia sein, ’n Pate oder so was in der Art. Schoma das Video gesehen?«

»Könnten wir uns auf diese Geschichte konzentrieren, Robert?« Bressard hatte tatsächlich einmal, wenn auch vor langer Zeit, wegen schwerer Körperverletzung vor Gericht gestanden, nachdem er einen Mann halb tot geprügelt hatte, der Leon Petrucci Geld schuldete. Vielleicht war es der eisige Klang von Petruccis Stimmensynthesizer (Andenken an seine Vorliebe für kubanische Zigarren) auf den Bändern des Abhörgeräts, in dem Bressard mitgeteilt wurde, es solle sein Schaden nicht sein, wenn er »ihren Standpunkt klar machen würde«, jedenfalls hatten die Schöffen kalte Füße bekommen, und weder Bressard noch Petrucci hatten auch nur einen Tag gesessen. Nicht auszuschließen, dass seine Mafia-Verbindungen Bressard jetzt eingeholt hatten.

»Ich sag Ihnen was. Der Kerl – irgend so ’n übler Bursche – kommt von irgendwo auswärts nach Algonquin Bay und erledigt Bressard, und Thierry sagt, er weiß, wo die Leiche liegt.«

Cardinal drehte sich zu Delorme um. »Irgendeine Vermisstenanzeige zu Paul Bressard reingekommen?«

»Nicht, dass ich wüsste. Ich kann mal auf dem schwarzen Brett nachsehen.«

»Also gut, Robert, wo ist die Leiche?«

»Muss ich das wissen, wenn Sie mir helfen solln?«

»Sagen wir mal, es würde deine Chancen verbessern. Und woher will Thierry Ferand überhaupt wissen, wo die angebliche Leiche vergraben ist?«

»Weiß ich doch nich! Hab ihn nich gefragt!« Wudky legte den Kopf schief wie der Hund auf dem Schallplatten-Label und kratzte sich den Schädel. »Na ja, vielleicht hat er es mir ja auch gesagt, und ich kann mich nur nich dran erinnern. Hatte selber ’n paar Bier gekippt. Aber ich verrat Ihnen da nen Mord, von dem Sie keine Ahnung haben, stimmt’s? Das wird mir der Staatsanwalt doch wohl hoffentlich anrechnen, oder?«

»Ich geh der Sache nach«, sagte Cardinal. »Und ich kann nur hoffen, du verschwendest nicht meine Zeit.«

»Bestimmt nich, würd ich doch nie wagen, ey!«