Narziss außer Dienst
Während Princetons Übergangszeit, das heißt also während Amorys letzten zwei Jahren dort, in denen er sah, wie das College sich veränderte und den Horizont erweiterte und zu seiner gotischen Schauerschönheit aufblühte, wofür es geeignetere Mittel als nächtliche Paraden gab, trafen gewisse Personen ein, die es bis zu den Grundfesten erschütterten. Manche waren gleichzeitig mit Amory Freshmen gewesen, wildromantische Freshmen; andere waren eine Klasse unter ihm, und zu Beginn seines letzten Jahres saßen sie an kleinen runden Tischen im Nassau Inn und stellten laut die Institutionen in Frage, die Amory und zahllose andere vor ihm bisher nur insgeheim in Frage gestellt hatten. Zunächst, und eher unbeabsichtigt, entzündeten sie sich an gewissen Büchern, einer bestimmten Art biographischer Romane, die Amory »Gralsbücher« taufte. In den »Gralsbüchern« zieht der Held mit den besten Waffen gerüstet ins Leben und hat erklärtermaßen die Absicht, sie so zu gebrauchen, wie solche Waffen gemeinhin gebraucht werden – und damit so selbstsüchtig und blindwütig wie möglich ans Ziel zu kommen –, doch die Helden in den »Gralsbüchern« entdeckten, dass es würdigeren Gebrauch davon zu machen gab. None Other Gods, Sinister Street und The Research Magnificent waren solche Bücher; und das Letztere [180] der drei war es, das Burne Holiday fesselte und zu Beginn des Senior-Jahres in ihm die Frage aufkommen ließ, welchen Wert es für ihn hätte, in seinem Club an der Prospect Avenue den diplomatischen Autokraten zu spielen und sich im Ruhm einer ehrenvollen Position zu sonnen. Es war bezeichnend, dass Burne seinen Weg durch die Kanäle der Aristokratie fand. Durch Kerry hatte Amory eine lockere Bekanntschaft mit ihm gepflegt, aber erst im Januar des Senior-Jahres begann ihre Freundschaft.
»Das Neueste schon gehört?«, fragte Tom an einem neblig-feuchten Abend, als er spät nach Hause kam. Er hatte jenen triumphierenden Gesichtsausdruck, den er nach einem erfolgreich verlaufenen Gespräch immer zur Schau trug.
»Nein. Ist jemand rausgeflogen? Oder wieder ein Schiff versenkt?«
»Schlimmer. Ungefähr ein Drittel des Junior-Jahrgangs will aus den Clubs austreten.«
»Was?«
»Tatsache!«
»Wieso?«
»Reformgeist und so weiter. Burne Holiday steckt dahinter. Die Clubpräsidenten haben heute Abend Sitzung und wollen sich einen gemeinsamen Gegenschlag ausdenken.«
»Und was soll das Ganze?«
»Clubs schaden der Demokratie in Princeton, kosten eine Menge, errichten soziale Schranken, sind reine Zeitverschwendung – was man halt manchmal von enttäuschten Sophomores zu hören kriegt. Woodrow meinte, man sollte sie abschaffen und ich weiß nicht was.«
[181] »Aber jetzt ist es ernst?«
»Absolut. Ich denke, sie werden damit durchkommen.«
»Du meine Güte, erzähl mir mehr davon.«
»Also«, begann Tom, »wie es scheint, ist die Idee in mehreren Köpfen gleichzeitig entstanden. Ich hab vor einiger Zeit mit Burne gesprochen, und er behauptet, es sei eine logische Schlussfolgerung, sofern ein intelligenter Mensch lange genug über das Gesellschaftssystem nachdenkt. Sie haben einen ›Diskussionszirkel‹ gebildet, und irgendwer hat die Idee aufgebracht, die Clubs abzuschaffen – alle sind sie darauf angesprungen – irgendwie hatte sich jeder schon mit dem Gedanken getragen, und es brauchte nur noch den Zündfunken, um das Ganze zum Explodieren zu bringen.«
»Großartig! Ich schwör’s, das wird sehr lustig. Wie nimmt man’s bei Cap and Gown auf?«
»Wütend natürlich. Alle sitzen da und streiten und fluchen und spielen verrückt und werden abwechselnd sentimental und roh. Es ist in allen Clubs dasselbe; ich hab die Runde gemacht. Sie drängen einen von den Radikalen in die Ecke und nehmen ihn mit Fragen unter Beschuss.«
»Und wie halten sich die Radikalen?«
»Ach, ganz gut. Burne ist ein verdammt guter Redner und so offensichtlich aufrichtig, dass man ihm nicht am Zeug flicken kann. Es liegt auf der Hand, dass es ihm so viel mehr bedeutet, aus seinem Club auszutreten, als uns, es zu verhindern, dass ich mir völlig überflüssig vorkam, als ich versuchte, dagegen anzureden; zum Schluss hab ich eine Position eingenommen, die wunderbar neutral war. Ich glaubte sogar, Burne war einen Moment lang der Ansicht, er hätte mich bekehrt.«
[182] »Und du sagst, fast ein Drittel des Junior-Jahrgangs will austreten?«
»Sagen wir ein Viertel, das ist ganz sicher.«
»Du lieber Gott – wer hätte das für möglich gehalten!«
Ein energisches Klopfen an der Tür, und Burne selbst kam herein.
»Hallo, Amory – hallo, Tom!«
Amory stand auf.
»’n Abend, Burne. Nimm’s mir nicht übel, aber ich hab’s eilig; ich bin auf dem Weg zum Renwick.«
Burne drehte sich schnell zu ihm um.
»Du weißt vermutlich, worüber ich mit Tom sprechen will, und es ist absolut nichts Privates. Mir wär’s lieber, wenn du bliebest.«
»Will ich gern machen.« Amory setzte sich wieder hin, und während Burne sich auf einem Tisch niederließ und sich mit Tom in die Diskussion stürzte, schaute sich Amory diesen Revolutionär genau an, aufmerksamer als je zuvor. Mit seinen starken Augenbrauen und dem energischen Kinn, mit der Klarheit in seinen ernsthaften grauen Augen, die ihn an Kerrys erinnerten, war Burne ein Mensch, der unmittelbar den Eindruck von Größe und Sicherheit erweckte – dabei stur, das war offensichtlich, aber in seiner Sturheit lag nichts Abgestumpftes, und nachdem Amory ihn fünf Minuten hatte reden hören, wusste er, dass diese heftige Leidenschaftlichkeit nichts Dilettantisches hatte.
Die ungeheure Kraft, die Amory später in Burne Holiday spürte, unterschied sich von der Bewunderung, die er für Humbird empfunden hatte. Diesmal begann es als rein intellektuelles Interesse. Bei anderen Männern, die er [183] anfänglich zur Elite gerechnet hatte, war er zunächst von ihrer persönlichen Ausstrahlung gefesselt gewesen, und bei Burne vermisste er diese unmittelbare Anziehungskraft, auf die er sonst geschworen hatte. Doch an diesem Abend war Amory stark berührt von Burnes tiefem Ernst, einer Eigenschaft, die er meistens mit fürchterlicher Dummheit gleichsetzte, und er war auch angetan von seiner großen Begeisterungsfähigkeit, die brachliegende Saiten in seinem Inneren anschlug. Burne stand ahnungsweise für ein Land, auf das Amory sich zuzubewegen hoffte – und es wurde allmählich Zeit, dass Land in Sicht kam. Tom, Amory und Alec waren in eine Sackgasse geraten; es schien keine neuen gemeinsamen Erfahrungen mehr für sie zu geben, denn Tom und Alec waren mit ihren Komitees und Vorständen so besessen beschäftigt, wie Amory sinnlos mit Faulenzen beschäftigt war, und die Themen, die sie gemeinsam sezieren konnten – College, wichtige Persönlichkeiten und Ähnliches –, hatten sie in so vielen frugalen Gesprächsmahlzeiten durchgekaut und wieder durchgekaut.
An diesem Abend diskutierten sie die Clubfrage bis Mitternacht und waren im Wesentlichen mit Burne einer Meinung. Den beiden Zimmergenossen war das Thema nicht mehr so brennend wichtig wie in den beiden Jahren zuvor, doch die Logik dessen, was Burne gegen das Klassensystem vorbrachte, fügte sich so haargenau in alles, was sie bisher darüber gedacht hatten, dass sie eher zweifelnde Fragen stellten als stritten und diesen Mann um seinen gesunden Menschenverstand beneideten, der es ihm ermöglichte, allen Traditionen derart die Stirn zu bieten.
Dann forschte Amory weiter nach und fand heraus, dass [184] Burne auch mit anderen Dingen tief befasst war. Wirtschaftsfragen hatten ihn interessiert, und er neigte dem Sozialismus zu. Irgendwo in seinem Hinterkopf beschäftigte ihn der Pazifismus, und er studierte gründlich Die Massen und Leo Tolstoi.
»Wie hältst du’s mit der Religion?«, fragte ihn Amory.
»Weiß nicht. Bei vielen Dingen sehe ich noch nicht klar –ich habe eben erst entdeckt, dass ich einen Verstand habe, und fange gerade erst an zu lesen.«
»Was zu lesen?«
»Alles. Natürlich muss ich mir Einzelnes herauspicken und auswählen, aber das meiste sind Sachen, die mich zum Nachdenken bringen. Ich lese gerade die Evangelien und The Varieties of Religious Experience.«
»Wer hat dich vor allem darauf gebracht?«
»Wells und Tolstoi, denke ich, und ein Mann namens Edward Carpenter. Ich lese jetzt seit mehr als einem Jahr – in ein paar Richtungen, die ich für die wichtigsten halte.«
»Gedichte?«
»Offen gestanden, sicher nicht das, was ihr unter Dichtung versteht, und sicher aus anderen Gründen als ihr – ihr schreibt selbst und seht die Sache anders. Wer mich wirklich interessiert, das ist Whitman.«
»Whitman?«
»Ja. Er hat ganz entschieden eine ethische Kraft.«
»Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich von Whitman keinen Schimmer habe. Wie ist’s mit dir, Tom?«
Tom schüttelte nur unwissend den Kopf.
»Na ja«, fuhr Burne fort. »Natürlich gibt es auch ein paar Gedichte, die ziemlich nichtssagend sind, aber ich meine [185] sein Werk im Ganzen. Er ist einfach großartig – wie Tolstoi. Beide sehen den Dingen ins Gesicht und treten irgendwie, so verschieden sie sind, für dieselben Dinge ein.«
»Du machst mich sprachlos, Burne«, gab Amory zu. »Ich hab natürlich Anna Karenina und Die Kreutzersonate gelesen, aber soweit ich das sehe, kann man Tolstoi nur im russischen Original wirklich verstehen.«
»Er ist der größte Mann seit Jahrhunderten«, rief Burne voller Begeisterung. »Habt ihr mal ein Bild von diesem struppigen alten Charakterschädel gesehen?«
Sie redeten bis drei Uhr morgens, von der Biologie bis zur organisierten Religion, und als Amory endlich fröstelnd ins Bett kroch, glühte ihm der Kopf vor neuen Ideen und einem leisen Erschrecken darüber, dass ein anderer den Pfad entdeckt hatte, dem er hätte folgen sollen. Burne Holiday war so offensichtlich auf dem Weg nach oben – und Amory hatte von sich dasselbe angenommen. Er war in tiefen Zynismus verfallen über all das, was bisher seinen Weg gekreuzt hatte; er hatte die Unvollkommenheit des Menschen als gegeben hingenommen und genügend Shaw und Chesterton gelesen, um seinen Geist vor dem Abkippen in die Dekadenz zu bewahren – und auf einmal schienen all seine Gedankengänge der vergangenen eineinhalb Jahre abgestanden und nutzlos… ein engstirniger Selbstbetrug… und als düsterer Hintergrund belastete ihn noch immer der Vorfall vom letzten Frühjahr, der ihn halbe Nächte lang in Furcht und Schrecken versetzte und es ihm unmöglich machte zu beten. Er war nicht einmal Katholik, dennoch war dies der einzige Anhaltspunkt eines Kodex, den er in sich hatte – der prunksüchtige, ritualistische, paradoxe Katholizismus, als dessen [186] Prophet Chesterton auftrat, dessen Beifallsspender solche bekehrten Wüstlinge der Literatur wie Huysmans und Bourget waren und dessen amerikanischer Gönner Ralph Adams Cram mit seinen Lobhudeleien auf die Kathedralen des dreizehnten Jahrhunderts war; ein Katholizismus, den Amory bequem und vorgefertigt fand, ohne Priester, ohne Sakramente und ohne Opfer.
Da er nicht schlafen konnte, knipste er die Leselampe an, nahm Die Kreutzersonate aus dem Regal und durchsuchte sie aufmerksam nach den Erregern für Burnes Begeisterung. Burne zu sein schien plötzlich so viel näher an der Wirklichkeit, als schlau zu sein. Dennoch seufzte er… auch hier gab es möglicherweise einen Pferdefuß.
In Gedanken ging er die letzten beiden Jahre durch, erinnerte sich an Burne, den nervösen Freshman, der immer in Eile war und im Schatten der Persönlichkeit seines Bruders stand. Dann fiel ihm ein Vorfall aus dem Sophomore-Jahr ein, bei dem Burne die treibende Kraft gewesen sein sollte.
Eine größere Studentengruppe hatte mitbekommen, wie Studentenvorsitzender Hollister sich mit einem Taxifahrer herumstritt, der ihn von der Bahnstation hergefahren hatte. Im Verlauf dieses Wortwechsels ließ der Vorsitzende die Bemerkung fallen, »dann kann ich das Taxi ja gleich kaufen«. Er bezahlte und ging, doch als er am nächsten Morgen sein Arbeitszimmer betrat, fand er an der Stelle, wo sonst sein Schreibtisch stand, das Taxi mit einer Schrifttafel versehen, auf der zu lesen stand: »Eigentum des Vorsitzenden Hollister. Gekauft und bezahlt.« Zwei erfahrene Mechaniker benötigten einen halben Tag, um das Taxi in seine [187] Einzelteile zu zerlegen und abzutransportieren, was nur beweisen soll, welch erstaunliche Energien sophomorischer Humor unter fachmännischer Anleitung freisetzen kann.
Und dann hatte Burne in demselben Herbst eine Sensation hervorgerufen. Eine gewisse Phyllis Styles, die auf allen Collegebällen tanzte, war damals nicht, wie sonst jedes Jahr, zu dem großen Spiel zwischen Harvard und Princeton eingeladen worden.
Jesse Ferrenby hatte sie ein paar Wochen zuvor zu einem unwichtigeren Spiel mitgebracht und an Burne abgeschoben – was Letzteren endgültig zum Weiberfeind machte.
»Kommst du zum Spiel gegen Harvard?«, hatte Burne unbesonnen gefragt, wohl mehr, um überhaupt etwas zu sagen.
»Wenn du mich darum bittest«, rief Phyllis geistesgegenwärtig.
»Aber natürlich«, sagte Burne kraftlos. Er war nicht im mindesten bewandert in den Künsten, in denen Phyllis Meisterin war, und hielt das Ganze für einen schlechten Scherz. Doch noch vor Ablauf einer Stunde war ihm klar, worauf er sich eingelassen hatte. Phyllis hatte ihn erbarmungslos in die Enge getrieben und festgenagelt, ihm die Ankunftszeit ihres Zuges mitgeteilt und ihn zutiefst deprimiert zurückgelassen. Abgesehen davon, dass er Phyllis verabscheute, hatte er gerade zu diesem Spiel ohne Damenbegleitung gehen wollen, um sich mit ein paar Freunden aus Harvard zu vergnügen.
»Sie wird schon sehen«, teilte er einer Abordnung mit, die ihn voller Schadenfreude in seinem Zimmer aufsuchte. »Das wird das letzte Spiel sein, bei dem sie einen unschuldigen jungen Mann dazu verführt, sie mitzunehmen!«
[188] »Aber Burne – warum hast du sie denn eingeladen, wenn du sie gar nicht willst?«
»Burne, gib’s zu, insgeheim bist du völlig verrückt nach ihr – das ist dein wahres Problem!«
»Was kannst du schon tun, Burne? Was kannst du gegen Phyllis ausrichten?«
Doch Burne schüttelte nur den Kopf und murmelte alle möglichen Drohungen, die hauptsächlich aus dem Satz bestanden: »Sie wird schon sehen, sie wird schon sehen!«
Eine vergnügte Phyllis sprang mit der Munterkeit ihrer fünfundzwanzig Lenze aus dem Zug, doch auf dem Bahnsteig bot sich ihr ein grauenerregender Anblick. Dort standen Burne und Fred Sloane, haargenau so herausgeputzt wie die Schreckensgestalten auf Collegepostern. Sie hatten grellfarbige Anzüge erstanden, mit riesig weiten Hosen, die unten spitz zuliefen, und gigantisch ausgepolsterten Schultern. Auf dem Kopf trugen sie flotte Collegehütchen, die Krempe vorne hochgeschlagen und mit knallorange und schwarzen Bändern umwunden, während aus ihren Zelluloidkragen flammendorange Krawatten Blüten trieben. Sie trugen schwarze Armbinden mit orangefarbenen »P« darauf und schwenkten Spazierstöcke, an denen Princeton-Wimpel flatterten; Socken und aus allen Taschen hervorlugende Tücher in denselben Farbkombinationen rundeten das Ganze ab. An einer scheppernden Kette zogen sie einen großen wütenden Kater hinter sich her, den sie wie einen Tiger angemalt hatten.
Alle Leute auf dem Bahnhof starrten sie an, schwankend zwischen entsetztem Mitleid und geräuschvoller Heiterkeit, und als Phyllis, der die reizende Kinnlade heruntergefallen [189] war, näher kam, verbeugte sich das Paar, entbot ihr mit lauter, weithin hallender Stimme einen Collegegruß, nicht ohne ausdrücklich den Namen »Phyllis« am Ende hinzuzufügen. Sie wurde lauthals begrüßt und begeistert über den Campus geleitet – in ihrem Gefolge ein halbes Hundert Bengel aus dem Dorf –, das Ganze untermalt von dem erstickten Gelächter Hunderter Ehemaliger und Besucher, von denen mindestens die Hälfte nicht ahnte, dass es sich um einen Streich handelte, sondern annahm, Burne und Fred seien zwei Sportler aus der Schulmannschaft, die ihrem Mädchen einmal zeigen wollten, was ein College zu bieten hatte.
Phyllis’ Empfindungen, während sie vor den Tribünen von Harvard und Princeton zur Schau gestellt wurde, wo Dutzende ihrer ehemaligen Verehrer saßen, kann man sich vorstellen. Sie versuchte, einen Schritt vorzugehen, sie versuchte, einen Schritt zurückzubleiben – doch die zwei hielten sich an ihrer Seite, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, mit wem sie hier war, und versäumten nicht, sich laut und deutlich über ihre Freunde im Footballteam zu unterhalten, bis sie beinahe das Gewisper ihrer Bekannten zu hören glaubte: »Phyllis Styles muss wirklich übel dran sein, dass sie mit solchen Typen hier aufkreuzen muss.«
Das also war Burne, hochfliegend humorvoll und zutiefst ernsthaft. Aus diesen Wurzeln war die Energie erwachsen, die er nun in Richtung Fortschritt zu lenken versuchte…
So vergingen die Wochen, der März kam, und der Pferdefuß, auf den Amory wartete, trat nicht in Erscheinung. Etwa hundert Junioren und Senioren traten schließlich in heiligem Zorn aus ihren Clubs aus, und die Clubs in ihrer Hilflosigkeit nahmen Burne mit ihrer schärfsten Waffe aufs [190] Korn: Sie machten ihn lächerlich. Jeder, der ihn kannte, mochte ihn – doch wofür er eintrat (und mit der Zeit trat er für immer mehr Dinge ein), geriet vielen Leuten in den falschen Hals, so dass ein Schwächerer als er sich längst geschlagen gegeben hätte.
»Macht es dir nichts aus, dass du an Prestige verlierst?«, fragte Amory eines Abends. Sie besuchten sich mittlerweile mehrmals in der Woche.
»Natürlich nicht. Was ist schon Prestige?«
»Manche behaupten, du seist einfach ein ziemlich origineller Politiker.«
Er brach in schallendes Gelächter aus.
»Das hat Fred Sloane heute zu mir gesagt. Ich fürchte, da muss ich durch.«
Eines Nachmittags schnitten sie ein Thema an, das Amory schon seit langem interessierte – die Frage nach der Wichtigkeit physischer Attribute für den Charakter eines Mannes. Burne hatte zunächst den biologischen Aspekt betrachtet und sagte dann: »Natürlich ist Gesundheit wichtig – ein gesunder Mensch hat doppelte Chancen, gut zu sein.«
»Da bin ich nicht deiner Meinung – ich halte nichts vom ›muskelstarken Christentum‹.«
»Ich schon – ich glaube, dass Christus über große Körperkraft verfügte.«
»O nein«, protestierte Amory, »dazu hat er zu viele Strapazen auf sich genommen. Ich denke mir, als er starb, war er ein erschöpfter Mann – und die großen Heiligen sind auch nicht stark gewesen.«
»Die einen waren’s, die andern nicht.«
»Gut, zugestanden, aber ich glaube nicht, dass [191] Gesundheit irgendetwas mit Moral zu tun hat; natürlich ist es für einen großen Heiligen von Nutzen, wenn er enorme Strapazen aushalten kann, aber diese Marotte der Volksprediger, die sich auf die Zehenspitzen stellen, den starken Mann markieren und lauthals verkünden, dass mit Freiübungen die Welt zu retten sei – nein, Burne, da kann ich nicht mit.«
»Lassen wir das lieber beiseite – es führt zu nichts, und außerdem bin ich selbst noch zu keinem Schluss gekommen. Aber eines weiß ich – die äußere Erscheinung hat eine Menge damit zu tun.«
»Du meinst die Haarfarbe?«, fragte Amory eifrig.
»Ja.«
»Das haben Tom und ich auch schon vermutet«, nickte Amory. »Wir haben uns die Jahrbücher der letzten zehn Jahre vorgenommen und die Bilder vom senior council angesehen. Ich weiß, du hältst nicht viel von dieser erlauchten Versammlung, aber sie repräsentiert nun mal den Erfolg im allgemeinsten Sinne. Nur schätzungsweise fünfunddreißig Prozent von jedem Jahrgang sind blond, wirklich hell – aber in jedem senior council sind zwei Drittel hellhaarig. Immerhin haben wir uns Bilder von zehn Jahrgängen angesehen; das heißt, dass jeder fünfzehnte Hellhaarige des Senior-Jahrs im council ist, dagegen von den Dunkelhaarigen nur jeder fünfzigste.«
»Es stimmt«, pflichtete Burne ihm bei. »Der Hellhaarige ist ein höherstehender Typ, allgemein gesprochen. Ich hab mir mal die Präsidenten der Vereinigten Staaten vorgenommen und dabei herausgefunden, dass weit mehr als die Hälfte von ihnen hellhaarig war – und bedenk dabei, wie sehr im Volk die Zahl der Brünetten überwiegt.«
[192] »Unbewusst denken die Leute so«, sagte Amory. »Von einem blonden Menschen erwartet man, dass er etwas zu sagen hat. Wenn ein blondes Mädchen nichts zu sagen weiß, nennen wir sie ›Puppe‹; einen schweigsamen blonden Mann hält man für dumm. Aber die Welt ist voll von ›schweigenden dunklen Männern‹ und ›trägen Brünetten‹, die keinen Funken Verstand haben, was ihnen aber nicht angekreidet wird.«
»Und der breite Mund, das ausgeprägte Kinn und die ziemlich große Nase sind ohne Zweifel Kennzeichen des edlen Gesichts.«
»Da bin ich mir nicht sicher.« Amory war mehr für die klassischen Gesichtszüge.
»Oh, doch – ich zeig’s dir«, und Burne zog aus seinem Schreibtisch eine Sammlung von Fotografien bärtiger, zerzauster Berühmtheiten – Tolstoi, Whitman, Carpenter und andere.
»Sind sie nicht wundervoll?«
Amory versuchte höflich, ihnen etwas abzugewinnen, und gab dann lachend auf.
»Ehrlich, Burne, ich hab noch nie so viel Hässlichkeit auf einem Haufen gesehen. Sie sehen aus wie die Insassen eines Altmännerheims.«
»Ach Amory, sieh dir Emersons Stirn an; sieh dir Tolstois Augen an.« Sein Ton war vorwurfsvoll.
Amory schüttelte den Kopf.
»Nein! Meinetwegen sehen sie interessant aus oder was auch immer – aber hässlich sind sie auf jeden Fall.«
Unbeeindruckt strich Burne liebevoll mit der Hand über die geräumigen Stirnen, bevor er die Bilder auf einen Stapel legte und wieder im Schreibtisch verstaute.
[193] Nächtliche Spaziergänge gehörten zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, und eines Nachts überredete er Amory, ihn zu begleiten.
»Ich hasse die Dunkelheit«, wandte Amory ein, »früher nicht – außer wenn ich gerade besonders phantasievoll war– aber jetzt – ich bin wirklich ein richtiger Angsthase im Dunkeln.«
»Aber dazu besteht doch überhaupt kein Grund.«
»Schon möglich.«
»Wir gehen ostwärts«, schlug Burne vor, »und dann über die Straßen, die durch den Wald führen.«
»Hört sich nicht besonders verlockend an«, gestand Amory zögernd. »Aber gehen wir.«
Sie legten ein flottes Tempo vor und marschierten eine Stunde lang in heißer Debatte, bis die Lichter von Prince-ton hinter ihnen zu leuchtenden weißen Punkten geworden waren.
»Jeder, der nur ein bisschen Phantasie hat, muss sich fürchten«, sagte Burne ernst. »Und diese nächtlichen Spaziergänge waren etwas, wovor ich mich fürchtete. Ich will dir erzählen, warum ich jetzt überallhin gehen kann, ohne mich zu fürchten.«
»Erzähl«, drängte Amory wissbegierig. Langsam bewegten sie sich auf den Wald zu, und Burnes nervöse, leidenschaftliche Stimme entzündete sich an seinem Thema.
»Es ist etwa drei Monate her, da bin ich nachts häufig allein hierhergegangen und immer an der Kreuzung stehengeblieben, an der wir gerade vorbeigekommen sind. Da ragte der Wald drohend auf, genauso wie jetzt, dort heulten Hunde, dazu die Schatten, und kein menschlicher Laut. [194] Natürlich habe ich den Wald mit allen möglichen Gespenstern bevölkert – genau wie du, hab ich recht?«
»Ja«, gab Amory zu.
»Ich begann es zu analysieren – meine Phantasie bestand darauf, dass das Dunkel voller Gefahren stecke – also steckte ich stattdessen meine Phantasie ins Dunkel und ließ sie nach mir Ausschau halten – ließ sie den streunenden Hund oder den entsprungenen Sträfling oder den Geist spielen, und dann sah ich mich selbst die Straße entlangkommen. Damit war alles in Ordnung – alles kommt wieder in Ordnung, wenn man sich völlig in die Lage eines anderen versetzen kann. Ich wusste, wäre ich der Hund oder der Sträfling oder der Geist, ich wäre keine größere Bedrohung für Burne Holiday als er für mich. Dann fiel mir meine Uhr ein. Vielleicht sollte ich besser zurückgehen und sie zu Hause lassen und es dann mit dem Wald versuchen. Nein, ich entschied, dass ich lieber eine Uhr verlieren wollte, als wieder umzukehren – und dann ging ich hinein in den Wald – nicht nur auf der Straße, die hindurchführt, sondern mitten hinein, bis ich keine Angst mehr hatte; so lange, bis ich mich eines Nachts irgendwohin setzte und eindöste; da wusste ich, dass ich die Angst vor dem Dunkel überwunden hatte.«
»Mein Gott!« Amory atmete schwer. »Das hätte ich nicht geschafft. Ich wäre vielleicht halb durchgekommen, und mit dem ersten Auto, das vorbeifährt und die Dunkelheit noch dichter erscheinen lässt, wenn die Scheinwerfer wieder verschwunden sind, hätte ich kehrtgemacht.«
»Wir sind schon zur Hälfte durch«, sagte Burne plötzlich nach einem Moment des Schweigens, »gehen wir zurück.«
[195] Auf dem Rückweg begann er ein Gespräch über den Willen.
»Der Wille ist alles«, beteuerte er. »Er bestimmt die Scheidelinie zwischen Gut und Böse. Ich kenne niemanden, der ein verkorkstes Leben führte und nicht auch einen schwachen Willen gehabt hätte.«
»Und was ist mit den großen Verbrechern?«
»Die sind meistens unzurechnungsfähig. Wenn nicht, dann sind sie schwach. Einen starken und zurechnungsfähigen Verbrecher gibt es nicht.«
»Burne, ich kann dir absolut nicht zustimmen; wie steht es mit dem Übermenschen?«
»Ja?«
»Er ist böse, denke ich, dennoch ist er stark und zurechnungsfähig.«
»Ich bin noch keinem begegnet. Aber ich wette, dass er dumm oder unzurechnungsfähig ist.«
»Ich bin ihm schon oft begegnet, und er ist keins von beiden. Darum glaub ich, dass du unrecht hast.«
»Hab ich sicher nicht – deshalb bin ich gegen Inhaftierung, außer für die Unzurechnungsfähigen.«
In diesem Punkt konnte Amory ihm nicht zustimmen. Er war der Ansicht, dass der Typus des starken Verbrechers, des Besessenen, der sich selbst etwas vormachte, im Leben wie in der Geschichte weit verbreitet war; man traf ihn in Politik und Wirtschaft an, unter den alten Staatsmännern, unter Königen und Generälen; doch Burne blieb bei seinem Standpunkt, und hier begannen sich ihre Wege zu trennen.
Burne entzog sich mehr und mehr der Welt, die ihn umgab. Er trat vom Posten des Vizepräsidenten des Senior-[196] Jahrgangs zurück und beschäftigte sich fast ausschließlich mit Lesen und Spazierengehen. Er besuchte freiwillig Graduiertenvorlesungen in Philosophie und Biologie und saß dort mit so ergreifend ernstem Ausdruck in den Augen, als wartete er auf etwas, wozu der Vortragende niemals kommen würde. Manchmal sah Amory ihn unruhig auf seinem Platz hin und her rutschen und plötzlich sein Gesicht sich aufhellen; er brannte darauf, über einen Punkt zu diskutieren.
Auf der Straße wurde er immer geistesabwesender, so dass man ihn bereits des Snobismus bezichtigte, doch Amory wusste, dass es nichts dergleichen war, und als Burne einmal nur einen Meter entfernt an ihm vorbeiging, ohne ihn zu bemerken, in Gedanken meilenweit entrückt, war Amory von seinem Anblick so verzückt, dass er beinahe daran erstickt wäre. Burne schien Höhen zu erklimmen, auf denen andere niemals Fuß fassen würden.
»Ich muss dir sagen«, gestand Amory Tom gegenüber, »er ist der erste Gleichaltrige, den ich kenne, von dem ich zugeben muss, dass er mir geistig überlegen ist.«
»Schlechter Zeitpunkt für so ein Geständnis – die Leute halten ihn allmählich für etwas überspannt.«
»Er ist weit über sie erhaben – du musst zugeben, dass du auch so denkst, wenn du mit ihm sprichst – Himmel noch mal, Tom, du hast dich doch früher nicht darum gekümmert, was ›die Leute‹ sagen. Der Erfolg hat dich völlig konventionell gemacht.«
Tom wurde ziemlich ärgerlich.
»Was will er denn erreichen – Säulenheiliger werden?«
»Nein – jedenfalls nicht wie irgendjemand sonst. Er geht [197] nie in die Philadelphian Society. An solchen Schwachsinn glaubt er nicht. Er glaubt auch nicht daran, dass öffentliche Schwimmbäder und ein gutes Wort zur rechten Zeit die Übel der Welt heilen werden; außerdem trinkt er, wenn ihm danach ist.«
»Auf jeden Fall ist er aufs falsche Gleis geraten.«
»Hast du in letzter Zeit mit ihm gesprochen?«
»Nein.«
»Dann darfst du dir überhaupt kein Urteil erlauben.«
Der Streit führte zu nichts, doch Amory bemerkte stärker als je zuvor, wie sich auf dem Campus die Einstellung Burne gegenüber gewandelt hatte.
»Es ist seltsam«, sagte Amory eines Abends zu Tom, als sie dieses Thema wieder etwas einvernehmlicher behandelten, »dass die Leute, die so wütend gegen Burnes Radikalität zu Felde ziehen, eindeutig zur Pharisäerschicht gehören – ich will damit sagen, es sind die gebildetsten Leute am College – die Herausgeber der Zeitungen, wie du und Ferrenby, und die jüngeren Professoren… die ungebildeten Athleten wie Langueduc denken vielleicht, dass er allmählich exzentrisch wird, aber sie sagen höchstens: ›Der gute alte Burne hat wirklich verquere Ideen im Kopf‹, und kümmern sich nicht weiter drum – aber die Pharisäer – Mann! die machen sich erbarmungslos über ihn lustig.«
Am nächsten Morgen traf er Burne, der nach einer Lesung eilig den McCosh Walk entlanglief.
»Wohin des Weges, edler Zar?«
»Zur Prince-Redaktion, ich muss Ferrenby sprechen.« Er wedelte Amory mit einem Exemplar der Morgenausgabe des Princetonian zu. »Von ihm stammt dieser Leitartikel.«
[198] »Willst du ihn bei lebendigem Leib zerreißen?«
»Nein – aber er hat mich völlig aus der Fassung gebracht. Entweder habe ich ihn falsch eingeschätzt, oder er ist plötzlich der Welt schlimmster Radikaler geworden.«
Burne eilte davon, und erst einige Tage später hörte Amory einen Bericht über die nachfolgende Unterhaltung. Burne war, fröhlich die Zeitung schwenkend, in das Allerheiligste des Herausgebers eingetreten.
»Hallo, Jesse.«
»Sei gegrüßt, Savonarola.«
»Ich habe gerade deinen Leitartikel gelesen.«
»Brav, brav – wusste gar nicht, dass du dich in solche Niederungen begibst.«
»Jesse, du hast mich wirklich überrascht.«
»Wie das?«
»Hast du keine Angst, dass dir die Fakultät auf den Pelz rückt, wenn du so gottloses Zeug verzapfst?«
»Was für Zeug?«
»Wie das heute Morgen.«
»Was zum Teufel – der Leitartikel ging doch über das Trainer-System.«
»Ja, aber dieses Zitat…«
Jesse fuhr hoch.
»Welches Zitat?«
»Du weißt schon: ›Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich.‹«
»Ja und – was ist damit?«
Jesse war erstaunt, aber nicht beunruhigt.
»Na ja, du sagst hier – warte mal.« Burne schlug die Zeitung auf und las vor: »›Wer nicht mit mir ist, der ist wider [199] mich‹, wie jener Gentleman sagte, der bekanntlich nur zu groben Unterscheidungen und kindischen Verallgemeinerungen fähig war.«
»Und was ist damit?« Ferrenby sah allmählich beunruhigt aus. »Oliver Cromwell hat das gesagt, nicht wahr? Oder war es Washington oder einer der Heiligen? Lieber Gott, ich weiß es nicht mehr.«
Burne brach in Gelächter aus. »O lieber guter Jesse.«
»Wer hat’s denn nun gesagt, um Himmels willen?«
»Nun«, sagte Burne, der wieder zu Stimme kam, »Matthäus schreibt diese Äußerung Christus zu.«
»O mein Gott!«, schrie Jesse und fiel rücklings in den Papierkorb.
Amory schreibt ein Gedicht
Die Wochen verstrichen. Von Zeit zu Zeit fuhr Amory nach New York in der Hoffnung, einen neuen leuchtendgrünen Autobus zu Gesicht zu bekommen, dessen bonbonfarbener Glanz ihm in der Seele wohltäte. Eines Tages wagte er sich in die Wiederaufführung eines Theaterstücks, dessen Titel ihm entfernt bekannt vorkam. Der Vorhang hob sich – er sah gleichgültig zu, wie ein Mädchen auftrat. Ein paar Sätze blieben im Ohr haften und riefen eine leise Erinnerung in ihm wach. Wo –? Wann –?
Plötzlich glaubte er neben sich eine Stimme flüstern zu hören, eine sehr sanfte, bebende Stimme: »Ach, ich bin so ein armer kleiner Dummkopf; sag’s mir doch, wenn ich etwas falsch mache.«
[200] Wie ein Blitz kam die Erkenntnis und mit ihr eine schnelle, freudige Erinnerung an Isabelle.
Er fand eine leere Seite im Programmheft und begann, eilig zu kritzeln:
Hier im belebten Dunkel sehe ich noch einmal zu,
Wie mit dem Vorhang dort die Jahre sich erheben,
Zwei Jahre unter Jahren ist es her – ein himmlisch stiller Tag
Für uns, als Glücklichsein unsere unvergorenen Seelen
Nicht in Langeweile stürzte; ich konnte neben mir verwundert
Dein lebhaftes Gesicht betrachten, mit großen Augen, fröhlich,
Mit Lächeln jeder Art, und währenddessen rührte mich
Das arme Stück, wie eine schwache Welle an das Ufer rührt.
Gähnend und erstaunt den ganzen Abend lang,
Schau ich alleine zu… und Schwatzen, nichts als Schwatzen
Verdirbt die eine Szene mir, die doch, ich weiß nicht wie,
Voll Zauber war. Du weintest ein, zwei Tränen nur, ich war betrübt um dich
Grad hier! Wo ein Herr X die Scheidung will
Und seine Dame ihm erschlaffend in die Arme sinkt.
»Geister sind dermaßen dumm!«, sagte Alec. »Sie sind ziemlich schwer von Begriff. Einen Geist kann ich jederzeit überlisten.«
»Wie denn?«, fragte Tom.
»Kommt drauf an, wo. Nehmen wir an, im Schlafzimmer. Wenn du mit aller Vorsicht drangehst, kriegt kein Geist dich je im Schlafzimmer zu fassen.«
»Also gut, angenommen, es ist ein Geist in deinem Schlafzimmer – welche Maßnahmen ergreifst du, wenn du abends nach Hause kommst?«, fragte Amory neugierig.
»Du nimmst einen Stock«, antwortete Alec mit gewichtiger Miene, »ungefähr so lang wie ein Besenstiel. Als Erstes musst du den Raum säubern – dazu läufst du mit geschlossenen Augen ins Zimmer und machst das Licht an – als Nächstes gehst du zum Schrank und stocherst mit dem Stock drei- bis viermal vorsichtig durch den Türspalt. Erst wenn nichts passiert ist, kannst du hineinschauen. Aber unter allen Umständen musst du zuerst den Trick mit dem Stock anwenden – niemals zuerst hineinschauen!«
»Das ist natürlich die alte keltische Schule«, sagte Tom ernst.
»Ja – aber dort wird meistens erst einmal gebetet. Jedenfalls säubert man mit dieser Methode die Schränke und auch hinter den Türen…«
»Und das Bett«, schlug Amory vor.
»Um Himmels willen, nein, Amory!«, rief Alec entsetzt. »Das wäre völlig verkehrt – das Bett erfordert eine ganz andere Taktik – lass bloß das Bett aus dem Spiel, das muss [202] dir doch dein Verstand sagen – wenn ein Geist im Zimmer ist, was nur in einem Drittel aller Fälle vorkommt, dann ist er fast immer unter dem Bett.«
»Ja, aber –«, setzte Amory an.
Alec brachte ihn mit einem Wink zum Schweigen.
»Natürlich riskierst du keinen Blick. Du stehst mitten im Zimmer, und bevor er kapiert, was du vorhast, springst du mit einem Satz ins Bett – du darfst niemals nahe an das Bett herangehen; deine Knöchel sind die anfälligsten Körperteile für einen Geist – aber einmal im Bett, bist du in Sicherheit; er kann ruhig die ganze Nacht unterm Bett liegen, aber du bist sicher wie am helllichten Tag. Wenn du noch Zweifel hast, dann zieh dir die Decke über den Kopf.«
»Das ist alles sehr spannend, Tom.«
»Nicht wahr?« Alec strahlte vor Stolz. »Und stammt alles von mir – dem Sir Oliver Lodge der Neuen Welt.«
Amory genoss das College wieder in vollen Zügen. Sein Leben schien erneut eine gerade, bestimmte Richtung eingeschlagen zu haben; jugendlicher Übermut regte sich in ihm und schmückte ihn mit neuen Federn. Er hatte schon wieder genug überschüssige Energie gesammelt, um in eine neue Pose zu verfallen.
»Was soll eigentlich dieses ›abwesende‹ Getue, Amory?«, fragte Alec ihn eines Tages, und als Amory so tat, als sei er völlig in sein Buch versunken, fuhr er fort: »Ach komm, mir brauchst du wirklich nicht den Mystiker Burne vorzuspielen.«
Amory sah unschuldig auf. »Was ist?«
»Was ist?«, äffte Alec ihn nach. »Versuchst du, in Verzückung zu geraten über – lass mal sehen, was du da liest.«
[203] Er schnappte sich das Buch und betrachtete es verächtlich.
»Nun?«, fragte Amory ein wenig steif.
»Das Leben der heiligen Teresa«, las Alec laut. »Grundgütiger!«
»Sag mal, Alec.«
»Was?«
»Stört es dich?«
»Stört mich was?«
»Dass ich den zerstreuten Professor spiele und so.«
»Ach was, nein – natürlich stört es mich nicht.«
»Dann verdirb’s mir nicht. Wenn’s mir Spaß macht, herumzulaufen und den Leuten in aller Unschuld zu erzählen, ich sei ein Genie, dann lass mich doch.«
»So allmählich hält man dich für ziemlich exzentrisch«, sagte Alec lachend, »wenn du darauf hinauswillst.«
Amory setzte sich schließlich durch, und Alec erklärte sich einverstanden, in Gegenwart anderer seine Auftritte zu ertragen, sofern er sich davon erholen durfte, wenn er mit ihm allein war; also »produzierte« sich Amory im großen Stil, lud die exzentrischsten Figuren zum Abendessen ein, grimmig dreinblickende Graduierte, Lehrer mit seltsamen Theorien über Gott und die Welt, und handelte sich damit zynisches Kopfschütteln im hochnäsigen Cottage-Club ein.
Im Februar und März brach sich allmählich die freundliche Sonne wieder Bahn, und Amory verbrachte einige Wochenenden bei Monsignore; einmal nahm er Burne mit, was sich als sehr gelungen erwies, denn es erfüllte ihn mit Stolz und Freude, die beiden einander vorstellen zu können. Monsignore nahm ihn mehrmals mit zu Thornton Hancock [204] und ein- oder zweimal in das Haus einer Mrs. Lawrence, einer eifrigen amerikanischen Rompilgerin, zu der Amory sofort Zuneigung fasste.
Eines Tages kam ein Brief von Monsignore, dem ein interessantes PS angefügt war:
»Weißt du übrigens, dass Clara Page, deine Cousine dritten Grades, seit sechs Monaten Witwe ist und völlig verarmt in Philadelphia lebt? Soweit ich weiß, hast du sie nie kennengelernt, aber du tätest mir einen Gefallen, wenn du sie besuchtest. Meiner Ansicht nach ist sie eine sehr bemerkenswerte Frau und etwa in deinem Alter.«
Amory seufzte und beschloss, ihm den Gefallen zu tun…
Clara
Sie war unvergesslich… Amory war nicht gut genug für Clara, Clara mit dem welligen, goldenen Haar, aber dann war keiner gut genug für sie. Ihr Gutsein war von höherer Art als die Pseudomoral heiratswütiger Frauen und weit entfernt von den öden Traktaten über weibliche Tugend.
Leid umgab sie wie ein Schleier, und als Amory sie in Philadelphia traf, kam es ihm vor, als läge nur Glück in ihren stahlblauen Augen; eine verborgene Stärke, ein Realitätssinn waren durch die Tatsachen, denen sie hatte ins Auge sehen müssen, zur äußersten Entfaltung gelangt. Sie war allein auf der Welt, mit zwei kleinen Kindern, wenig Geld und, was das Schlimmste war, einer Heerschar von [205] Freunden. In diesem Winter in Philadelphia sah er sie den ganzen Abend ein Haus voller Männer bewirten, dabei wusste er, dass sie nicht einen einzigen Bediensteten hatte außer dem kleinen farbigen Mädchen, das oben auf die kleinen Kinder aufpasste. Er sah einen der größten Libertins der Stadt, einen Mann, der Gewohnheitstrinker war und hier wie andernorts berüchtigt dafür, einen Abend lang ihr gegenüberzusitzen und mit einer Art unschuldiger Begeisterung über Mädcheninternate zu diskutieren. Welch überraschende Wendungen kamen Clara in den Sinn! Sie konnte aus der fadesten Luft, die je einen Salon durchweht hatte, faszinierende und nahezu brillante Konversation machen.
Die Vorstellung, dass das Mädchen in tiefste Armut verstrickt war, hatte Amorys Sinn für Dramatik angesprochen. Er kam mit der Erwartung in Philadelphia an, dass Ark Street 921 ein Elendsquartier in einer heruntergekommenen Straße wäre. Er war sogar enttäuscht, als sich herausstellte, dass es keineswegs so war. Sie wohnte in einem alten Haus, das sich seit Jahren im Besitz der Familie ihres Mannes befand. Eine ältliche Tante, die sich geweigert hatte, es zu verkaufen, hatte die Steuern für die nächsten zehn Jahre bei einem Rechtsanwalt hinterlegt und war nach Honolulu abgedampft. Sie überließ es Clara, sich, so gut sie konnte, mit dem Heizungsproblem herumzuschlagen. Es begrüßte ihn keine wildzerzauste, traurig dreinblickende Frau mit einem Baby an der Brust. Vielmehr hatte Amory bei seinem Empfang den Eindruck, dass sie auf dieser Welt nicht die geringsten Sorgen habe.
Eine ruhevolle Kraft und ein verträumter Humor – in starkem Kontrast zu ihrer Nüchternheit –, in diese [206] Stimmungen nahm sie manchmal Zuflucht. Sie konnte äußerst prosaische Dinge tun (obwohl sie klug genug war, sich niemals mit solchen »häuslichen Künsten« wie Stricken oder Stickereien unglaubwürdig zu machen) und unmittelbar darauf ein Buch zur Hand nehmen und ihre Phantasie als ungreifbare Wolke mit dem Wind schweifen lassen. Am eindringlichsten wirkte ihre Persönlichkeit durch das goldene Strahlen, das sie um sich verbreitete. Wie ein offenes Feuer in einem dunklen Raum einen geheimnisvollen und ergreifenden Schein auf die ruhigen Gesichter rundum wirft, warf auch sie Licht und Schatten in die Räume, in denen sie sich aufhielt, bis sie aus ihrem nüchternen alten Onkel einen Mann von drolligem, versponnenem Charme gemacht und den zufällig hereingeschneiten Telegrammboten in ein koboldhaftes Geschöpf von erfrischender Originalität verwandelt hatte. Anfangs irritierte Amory diese Fähigkeit. Er hielt seine eigene Einzigartigkeit für ausreichend, und es brachte ihn ziemlich in Verlegenheit, als sie versuchte, neue interessante Seiten in ihn hineinzulesen, um damit die anderen anwesenden Bewunderer zu vergnügen. Er hatte das Gefühl, als ob ein Regisseur höflich, aber beharrlich versuchte, ihn zu einer neuen Interpretation einer Rolle zu bewegen, die er seit Jahren perfekt beherrschte.
Doch wie Clara sprach, wie sie eine kleine Geschichte über eine Hutnadel, einen betrunkenen Mann und sich selbst erzählte… Die Leute versuchten später, ihre Anekdoten weiterzuerzählen, doch sosehr sie sich bemühten, aus ihrem Mund klangen sie nach nichts. Sie schenkten ihr eine Art unschuldiger Aufmerksamkeit und das schönste Lächeln, das viele von ihnen seit langem gelächelt hatten; Clara [207] hatte für kaum etwas Tränen, doch die Leute lächelten sie mit umflorten Augen an.
Nur sehr selten blieb Amory noch für eine halbe Stunde, wenn der übrige Hofstaat schon gegangen war, und sie aßen Marmeladenbrote zum Tee am späten Nachmittag oder »Ahornzucker-Lunch«, wie sie es nannte, zum Abendbrot.
»Du bist wirklich ungewöhnlich, weißt du das?« Diese Platitüde gab Amory eines Abends um sechs Uhr von sich, als er mitten auf dem Esstisch thronte.
»Kein bisschen«, antwortete sie und sortierte dabei Servietten in der Anrichte. »In Wirklichkeit bin ich völlig langweilig und gewöhnlich. Eine von denen, die sich für nichts anderes interessieren als für ihre Kinder.«
»Das kannst du deiner Großmutter erzählen«, spottete Amory. »Du weißt genau, dass du alles überstrahlst.« Er stellte ihr die eine Frage, von der er wusste, dass sie sie verlegen machen würde. Es war die Frage, die der erste Langweiler schon an Adam gerichtet hatte.
»Erzähl mir etwas von dir.« Und sie gab dieselbe Antwort, die Adam gegeben haben muss.
»Da gibt es nichts zu erzählen.«
Aber schließlich hat Adam dem Langweiler wohl doch alles erzählt, was ihm nachts durch den Kopf ging, wenn im sandigen Gras die Zikaden sangen, und er muss gönnerhaft angemerkt haben, wie anders er war als Eva, dabei aber vergessen haben, wie anders sie war als er… Jedenfalls erzählte Clara Amory an diesem Abend sehr viel von sich. Mit sechzehn war ihr das Leben zur Qual geworden und ihre Ausbildung ebenso schlagartig beendet wie ihre Freizeit. Beim Herumstöbern in ihrer Bibliothek fand Amory ein [208] abgegriffenes graues Buch, aus dem ein vergilbtes Blatt Papier herausfiel, das er unverschämterweise auseinanderfaltete. Es war ein Gedicht, das sie während ihrer Schulzeit geschrieben hatte, über eine graue Klostermauer an einem grauen Tag, und auf dieser Mauer sitzt ein Mädchen mit seinem sich im Wind bauschenden Mantel und denkt über die bunte Welt nach. Im Allgemeinen langweilten ihn solche Gefühlsduseleien, doch dies hier hatte so viel Schlichtheit und Atmosphäre, dass es ihm ein Bild von Clara vor Augen führte, von Clara an solch einem kühlen grauen Tag, mit ihren wunderschönen blauen Augen, die ins Weite starrten und die Tragödien, die sich über die Gärten hinweg anbahnten, vorherzusehen versuchten. Er beneidete dieses Gedicht. Wie gern wäre er dort vorbeigekommen und hätte sie auf der Mauer sitzen sehen und ihr allen möglichen Unsinn oder etwas Romantisches erzählt, während sie über ihm in der Luft thronte. Er begann fürchterlich eifersüchtig auf alles zu werden, was Clara betraf: auf ihre Vergangenheit, ihre kleinen Kinder, auf die Männer und Frauen, die sich um sie scharten, um ihre erfrischende Freundlichkeit in sich aufzusaugen und ihre müden Köpfe bei ihr auszuruhen, wie bei einem fesselnden Theaterstück.
»Dich langweilt offenbar niemand«, warf er ein.
»Doch, jeder Zweite«, gab sie zu, »aber das ist doch ein ganz guter Durchschnitt, findest du nicht?«, und schon wandte sie sich ab, um eine Stelle bei Browning zu suchen, die sich auf das Thema bezog. Er kannte sonst niemanden, der wie sie mitten in der Unterhaltung Stellen und Zitate nachschlagen konnte, um sie ihm zu zeigen, und damit nicht störend vom Thema ablenkte. Sie tat es andauernd und mit [209] so ernsthafter Begeisterung, dass er ihr immer lieber zusah, wie ihr goldenes Haar über das Buch fiel und eine ganz kleine Falte über den Brauen entstand, während sie ihrem Satz nachjagte.
In der ersten Märzhälfte fuhr er an den Wochenenden nach Philadelphia. Meist waren noch andere Besucher da, und offenbar war sie nicht darauf bedacht, ihn allein zu sehen, denn es ergaben sich etliche Gelegenheiten, wo ein Wort von ihr genügt hätte, ihm eine weitere köstliche halbe Stunde der Anbetung zu verschaffen. Aber er verliebte sich immer mehr und schmiedete ins Blaue hinein Heiratspläne. Obwohl dieses Vorhaben ihm ständig durch den Kopf ging und ihm schließlich sogar über die Lippen kam, wusste er doch später, dass dieser Wunsch nicht tief in ihm verwurzelt war. Einmal träumte er, es sei wahr geworden, und er erwachte in kalten Schweiß gebadet, denn in seinem Traum war Clara dumm und flachsblond gewesen, das Gold war aus ihrem Haar geschwunden, sie sprach wie ausgewechselt und gab nur abgeschmackte Platitüden von sich. Doch war sie die erste wirklich beeindruckende Frau, die er kennenlernte, und einer der wenigen guten Menschen, die ihn je interessierten. Sie zog aus ihrer Güte so viel Vorteil. Amory hatte festgestellt, dass die meisten guten Menschen diesen Vorzug entweder als Bürde mit sich herumschleppten oder zu künstlicher Herzlichkeit verkommen ließen, und dann gab es natürlich die unverwüstlichen Tugendbolde und Pharisäer – doch diese zählte Amory niemals zu den Erlösten.
Über ihrem grauen und samtenen Kleid,
Unter ihrem fließenden, schimmernden Haar
Glüht die Farbe der Rose, dem Kummer zum Trotz,
Glüht und verblasst und macht sie schön;
Erfüllt die Luft zwischen ihr und ihm
Mit Licht und Sehnsucht und leisem Geseufz,
Gerade so zart, dass er es kaum hört…
Lachend und leuchtend, Farbe der Rose.
»Magst du mich?«
»Aber natürlich«, sagte Clara ernst.
»Warum?«
»Wir sind uns in manchem sehr ähnlich. Es sind Dinge, die wir beide in uns haben – oder ursprünglich hatten.«
»Willst du damit sagen, dass ich nicht viel aus mir gemacht habe?«
Clara zögerte.
»Das kann ich nicht beurteilen. Ein Mann muss natürlich viel mehr durchmachen, und ich bin immer sehr behütet gewesen.«
»O bitte, Clara, weich nicht aus«, unterbrach Amory sie. »Aber sprich noch ein bisschen über mich, ja?«
»Sicher, liebend gern.« Sie lächelte nicht.
»Das ist nett von dir. Beantworte mir erst ein paar Fragen. Bin ich schrecklich eingebildet?«
»Nein – du bist zwar ungeheuer eitel, aber das ist ganz amüsant für Leute, die nur das sehen.«
»Ich verstehe.«
[211] »Tief in deinem Herzen bist du sehr verletzlich. Du versinkst in tiefe Depression, wenn du das Gefühl hast, du seist gekränkt worden. In Wirklichkeit hast du nicht besonders viel Selbstachtung.«
»Zweimal ins Schwarze getroffen, Clara. Wie schaffst du das nur? Du lässt mich doch nie zu Wort kommen.«
»Natürlich nicht – ich kann einen Mann nie nach dem beurteilen, was er sagt. Aber ich bin noch nicht fertig; der Grund, warum du so wenig Selbstvertrauen hast, obwohl du jedem hergelaufenen Spießer allen Ernstes erzählst, dass du dich für ein Genie hältst, ist der, dass du dir alle möglichen scheußlichen Fehler einbildest und ihnen auch noch nachzuleben versuchst. Zum Beispiel behauptest du immer, du seist süchtig nach Highballs.«
»Bin ich auch – jedenfalls latent.«
»Und du behauptest, du seist ein schwacher Charakter, du habest keinen Willen.«
»Kein bisschen Willen – ich bin Sklave meiner Gefühle, meiner Neigungen, meines Abscheus vor der Langeweile, fast aller meiner Begierden…«
»Das bist du nicht!« Sie schlug mit ihrer kleinen Faust auf die andere. »Du bist Sklave, hilflos ausgelieferter Sklave einer einzigen Sache, und das ist deine Phantasie.«
»Du machst mich wirklich neugierig. Wenn es dich nicht langweilt, dann sprich weiter.«
»Mir fällt auf, dass du immer in einer ganz bestimmten Weise vorgehst, wenn du einen Tag länger vom College wegbleiben willst. Nie entscheidest du dich im ersten Augenblick, wenn die Vorteile von Gehen oder Bleiben noch klar in deinem Bewusstsein sind. Stattdessen lässt du deiner [212] Phantasie ein paar Stunden lang freien Lauf, bis sie ganz auf der Seite deiner Wünsche und Begierden steht, und dann erst entscheidest du. Natürlich denkt sich deine Phantasie, wenn du ihr freien Lauf lässt, tausend Gründe aus, warum du besser bleiben solltest, und also fällst du keine wahre Entscheidung. Du bist befangen.«
»Ja, schon«, wandte Amory ein, »aber ist es nicht mangelnde Willensstärke, meine Phantasie in die falsche Richtung laufen zu lassen?«
»Mein lieber Junge, darin liegt dein großer Irrtum. Das hat nichts mit Willensstärke zu tun; das ist ohnehin so ein dummes, nutzloses Wort; dir mangelt es an Urteilsvermögen – das dich sofort entscheiden lässt, da du ja genau weißt, dass deine Phantasie dir ein Schnippchen schlagen wird, sobald du ihr auch nur die geringste Chance gibst.«
»Donnerwetter!«, rief Amory überrascht. »Nicht im Traum hätte ich an so etwas gedacht.«
Clara zeigte keine Schadenfreude. Sie wechselte sofort das Thema. Doch hatte sie ihn nachdenklich gemacht, und er war überzeugt, dass sie teilweise recht hatte. Er kam sich vor wie ein Fabrikbesitzer, der einen Angestellten der Untreue beschuldigt hat und schließlich herausfindet, dass sein eigener Sohn Woche für Woche die Bücher fälscht. Sein armer, misshandelter Wille, den er der eigenen Verachtung wie der seiner Freunde preisgegeben hatte, stand plötzlich makellos vor ihm, und stattdessen wanderte sein Urteilsvermögen ins Gefängnis, begleitet von dem nicht zu bändigenden Kobold, der Phantasie, die schadenfroh höhnend neben ihm hertanzte. Clara war die Einzige, die er je um Rat gebeten hatte, ohne selbst die Antwort [213] vorwegzunehmen – ausgenommen vielleicht seine Gespräche mit Monsignore Darcy.
Wie wundervoll war es, irgendetwas mit Clara zu unternehmen! Mit ihr einkaufen zu gehen war ein einziger traumhafter Genuss. In jedem Geschäft, in dem sie je eingekauft hatte, wurde über die schöne Mrs. Page geflüstert.
»Wetten, dass sie nicht lange allein bleibt.«
»Brauchst es gar nicht so rauszuposaunen – sie hat keine Ratschläge nötig.«
»Ist sie nicht schön?«
(Ein Abteilungsleiter tritt auf – Schweigen, bis er schmunzelnd weitergeht.)
»Sie gehört zur Gesellschaft, hm?«
»Ja, aber verarmt, glaube ich; wird jedenfalls gesagt.«
»Schaut sie euch an, Mädchen, ist sie nicht hinreißend!«
Und Clara strahlte alle gleichermaßen an. Amory war überzeugt, dass die Ladeninhaber ihr Nachlass gewährten, manchmal mit und manchmal ohne ihr Wissen. Er sah, dass sie sich sehr gut kleidete, stets von allem das Beste im Hause hatte und allerwenigstens vom ersten Abteilungsleiter bedient wurde.
Manchmal gingen sie sonntags gemeinsam in die Kirche, und er schritt neben ihr her und genoss den Anblick ihrer Wangen, auf denen weich der Tau des frühen Morgens schimmerte. Sie war sehr fromm, war es immer gewesen, und Gott allein weiß, zu welchen Höhen sie gelangte und welche Kraft sie daraus bezog, wenn sie dort kniete und ihr goldenes Haar ins Licht der farbigen Glasscheiben tauchte.
»Heilige Cäcilia!«, rief er, völlig unbeabsichtigt, eines Tages aus, und die Leute drehten sich um und starrten sie [214] beide an, der Priester unterbrach seine Predigt, und Clara und Amory wurden flammend rot.
Dies war ihr letzter gemeinsamer Sonntag, denn am gleichen Abend zerstörte er alles. Er konnte nicht anders.
Sie spazierten durch die Märzdämmerung, die so lind war wie im Juni, und das Gefühl des Jungseins machte ihn so froh in der Seele, dass er unbedingt etwas sagen musste.
»Weißt du, was ich denke?«, sagte er mit zitternder Stimme. »Wenn ich den Glauben an dich verliere, dann verliere ich auch den Glauben an Gott.«
Sie sah ihn so erschrocken an, dass er sie nach dem Grund fragte.
»Nichts«, sagte sie langsam, »außer dass mir das schon fünf Männer gesagt haben, und das macht mir Angst.«
»O Clara, ist das dein Schicksal?«
Sie gab keine Antwort.
»Liebe ist für dich wohl –«, begann er.
Sie wandte sich blitzschnell um. »Ich bin niemals verliebt gewesen.«
Sie gingen weiter, und langsam wurde ihm bewusst, wie viel sie ihm offenbart hatte… niemals verliebt… Plötzlich schien sie ganz Tochter des Lichts zu sein. Sein ganzes Wesen zog sich aus ihrem Strahlkreis zurück, und es verlangte ihn nur noch, ihr Kleid zu berühren, mit ähnlich klarer Erkenntnis, wie Joseph sie von Marias ewiger Bedeutung gehabt haben muss. Fast automatisch hörte er sich sagen: »Und ich liebe dich – alles, was an Größe in mir steckt, ist… Ach, ich kann jetzt nicht sprechen, aber wenn ich in zwei Jahren wiederkomme, Clara, und in der Lage bin, dich zu heiraten…«
[215] Sie schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Ich werde nie wieder heiraten. Ich habe meine beiden Kinder, und ich möchte ganz für sie da sein. Ich mag dich – ich mag alle klugen Männer, und dich mehr als jeden anderen –, aber du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich niemals einen klugen Mann heiraten würde…« Sie brach unvermittelt ab.
»Amory?«
»Was ist?«
»Du bist nicht in mich verliebt. Du hattest nie vor, mich zu heiraten, oder?«
»Es war die Dämmerung«, sagte er verwundert. »Ich hatte gar nicht das Gefühl, laut zu sprechen. Aber ich liebe dich – oder bete dich an – oder verehre dich…«
»Da hast du es – du gehst in fünf Sekunden deinen ganzen Gefühlskatalog durch.«
Er lächelte gezwungen.
»Stell mich nicht als so leichtfertig hin, Clara; du bist manchmal sehr niederdrückend.«
»Du bist nicht leichtfertig, vor allem das nicht«, sagte sie ernst, nahm seinen Arm und schaute ihn aus weitgeöffneten Augen an – er konnte ihren freundlichen Ausdruck in der schwindenden Dämmerung sehen. »Leichtfertigkeit ist ein ewiges Nein ans Leben.«
»So viel Frühling in der Luft – und so viel schwere Süße in deinem Herzen.«
Sie ließ seinen Arm los.
»Jetzt bist du wieder in Ordnung, und ich fühl mich großartig. Gib mir eine Zigarette. Du hast mich noch nie rauchen sehen, oder? Ich tu’s vielleicht einmal im Monat.«
[216] Und dann rasten das wunderbare Mädchen und Amory bis zur Ecke wie zwei wildgewordene Kinder, denen das blassblaue Zwielicht zu Kopf gestiegen ist.
»Morgen fahre ich für einen Tag aufs Land«, verkündete sie, als sie keuchend stehenblieb, sich im flimmernden Lichtschein des Laternenpfahls an der Ecke in Sicherheit wiegend. »Diese Tage sind einfach zu herrlich, um sie ungenutzt dahingehen zu lassen, obwohl ich sie in der Stadt vielleicht sogar stärker empfinde.«
»O Clara!«, sagte Amory. »Was für ein Teufel wäre aus dir geworden, wenn der liebe Gott deine Seele nur ein wenig in die andere Richtung gelenkt hätte!«
»Vielleicht«, antwortete sie, »aber ich glaube es nicht. Ich bin nie wirklich wild und bin es niemals gewesen. Der kleine Ausbruch eben war nur der Frühling.«
»Und du bist es auch«, sagte er.
Sie waren mittlerweile weitergegangen.
»Nein – schon wieder falsch; wie kann jemand, der sich so viel auf seinen scharfen Verstand einbildet wie du, mich dauernd so falsch einschätzen? Ich bin das Gegenteil all dessen, was Frühling heißt. Es ist ein bedauerlicher Irrtum, wenn ich zufällig so aussehe, wie es den Vorstellungen irgendeines alten sentimentalen griechischen Bildhauers entspricht, aber ich versichere dir, ohne dieses Gesicht wäre ich eine friedliche Nonne im Kloster ohne…«, und dann fing sie an zu laufen, und ihre erhobene Stimme wehte zu ihm zurück, während er ihr folgte, »…meine süßen Kinder, zu denen ich jetzt zurückmuss, um mich um sie zu kümmern.«
Sie war das einzige Mädchen, das er kannte, bei dem er verstehen konnte, dass sie einen anderen Mann vorziehen [217] würde. Oft traf Amory verheiratete Frauen, die er als Debütantinnen gekannt hatte, und wenn er ihnen tief in die Augen sah, bildete er sich ein, in ihren Gesichtern etwas zu entdecken, das ihm sagte: »Ach, wenn ich dich hätte bekommen können!« Oh, welch enorme Einbildung eines Mannes!
Doch diese Nacht schien eine Nacht der Sterne und Gesänge, und Claras schöne Seele glänzte noch auf den Wegen, die sie gegangen waren.
»Golden, golden ist die Luft«, sang er den kleinen Wasserteichen vor… »Golden ist die Luft, goldene Töne von goldenen Mandolinen, goldene Saiten an goldenen Geigen, lieblich, ach, so überdrüssig lieblich… Flechtwerke von Weidenkörben, die kein Sterblicher trägt; oh, welch junger schweifender Gott, wer weiß oder fragt je?… Wer könnte solches Gold je schenken…«
Amory ist aufgebracht
Unaufhaltsam, Schritt für Schritt, zuletzt jedoch in einer plötzlichen Wallung, während Amory noch redete und träumte, wälzte sich der Krieg geschwind über den Strand und spülte den Sand fort, auf dem Princeton spielte. Jeden Abend erzitterte der Boden der Turnhalle unter dem dröhnenden Stampfen von Infanteriezügen, die schwerfällig um die Basketballmarkierungen marschierten. Das nächste Wochenende verbrachte Amory in Washington und wurde dort von der herrschenden Krisenstimmung angesteckt, die sich auf dem Rückweg im Pullmanwagen in Abscheu gegen die stinkenden Ausländer – Griechen, schätzte er, oder [218] Russen – verwandelte, die ihm gegenüber Schlafwagenplätze besetzt hielten. Er dachte darüber nach, wie viel leichter Patriotismus für eine homogene Nation gewesen war, wie viel leichter es gewesen wäre, so zu kämpfen, wie damals die Kolonien oder die Konföderierten gekämpft haben. Er tat in dieser Nacht kein Auge zu, sondern lauschte dem Gewieher und Geschnarche der Fremden, die das Abteil mit den Ausdünstungen des heutigen Amerika erfüllten.
In Princeton riss jedermann öffentlich Witze und sagte sich unter vier Augen, dass sie zumindest den Heldentod sterben würden. Die Literaturstudenten lasen mit Leidenschaft Rupert Brooke; die Salonlöwen machten sich Sorgen, ob die Regierung Offiziersuniformen in englischem Schnitt genehmigen würde; ein paar hoffnungslose Weichlinge schrieben an die obskursten Abteilungen des Kriegsministeriums und ersuchten um eine leichte Tätigkeit und eine bequeme Schlafkoje.
Nach einer Woche sah Amory Burne und wusste sofort, dass jede Diskussion zwecklos wäre – Burne war Pazifist geworden. Sozialistische Wochenschriften, ein profundes Halbwissen über Tolstoi und sein eigenes heftiges Verlangen nach einer guten Sache, die alle in ihm verborgene Stärke zutage förderte, hatten ihn schließlich dazu bewogen, als sein subjektives Ideal den Frieden zu predigen.
»Als die deutsche Armee in Belgien einmarschierte«, begann er, »wenn die Bevölkerung weiter friedlich ihren Geschäften nachgegangen wäre, hätte das die deutsche Armee derart aus dem Konzept gebracht, dass –«
»Ich weiß«, unterbrach Amory. »Das hab ich alles längst gehört. Aber ich habe keine Lust, mit dir [219] Propagandaphrasen zu dreschen. Möglicherweise hast du recht – aber selbst dann sind wir noch Jahrhunderte von der Zeit entfernt, wo Widerstandslosigkeit für uns Realität werden könnte.«
»Aber, Amory, hör mal…«
»Burne, wir würden uns doch nur streiten…«
»Na schön.«
»Nur eines – ich will dich nicht bitten, an deine Familie oder deine Freunde zu denken, weil ich weiß, dass sie neben deinem Pflichtbewusstsein für dich keinen Pfifferling zählen – aber, Burne, woher weißt du, dass die Magazine, die du liest, und die Gesellschaften, denen du beitrittst, und diese Idealisten, mit denen du dich triffst, nicht völlig auf Seiten der Deutschen sind?«
»Einige sind es, sicher.«
»Woher weißt du, ob sie nicht alle prodeutsch sind – bloß ein Haufen Schwächlinge – mit deutsch-jüdischen Namen?«
»Das ist natürlich möglich«, sagte er langsam. »Wie stark mein Standpunkt von Propaganda beeinflusst ist, die ich gehört habe, kann ich nicht sagen; natürlich halte ich alles für meine innerste Überzeugung – es scheint mir ein Weg, der sich eben vor mir ausbreitet.«
Amory krampfte sich das Herz zusammen.
»Aber bedenk doch nur, wie billig das Ganze ist – als Pazifist wirst du nicht mal zum Märtyrer – du lässt dich einfach nur auf das Schlimmste ein.«
»Das bezweifle ich«, unterbrach er.
»Mir riecht das Ganze zu sehr nach New Yorker Boheme.«
»Ich weiß, was du meinst, und deshalb bin ich nicht sicher, ob ich wirklich agitieren soll.«
»Du bist ein Einzelner, Burne – willst mit Leuten reden, [220] die dir gar nicht zuhören wollen – und das mit deiner Begabung, die Gott dir gegeben hat.«
»So muss Stephanus vor vielen Jahren auch gedacht haben. Dennoch hielt er seine Predigten, und dafür haben sie ihn getötet. Vielleicht dachte er, als er starb, wie sinnlos das alles gewesen ist. Aber weißt du, ich habe mir immer vorgestellt, dass Stephanus’ Tod das Erlebnis war, das Paulus auf dem Weg nach Damaskus widerfuhr und ihn dazu brachte, das Wort Christi in aller Welt zu predigen.«
»Sprich weiter.«
»Das ist alles – dies ist einfach meine Pflicht. Selbst wenn ich im Augenblick nur eine Marionette bin – nur das Opferlamm. Lieber Gott, Amory – du glaubst doch nicht, dass ich etwas für die Deutschen übrig habe!«
»Ich kann nichts weiter dazu sagen – wenn ich die Logik der Widerstandslosigkeit bis an ihr Ende durchdenke, dann sehe ich dort, wie ein fehlendes Glied in der Kette, das riesenhafte Gespenst Mensch stehen, wie er ist und immer sein wird. Und diese Erscheinung steht direkt neben der einen zwingenden Logik von Tolstoi und der anderen zwingenden Logik von Nietzsche…« Amory brach plötzlich ab. »Wann gehst du?«
»Nächste Woche.«
»Ich sehe dich doch noch, oder?«
Als er wegging, hatte Amory den Eindruck, dass sein Gesichtsausdruck stark an den von Kerry erinnerte, als dieser sich zwei Jahre zuvor unter dem Blair Arch verabschiedet hatte. Amory fragte sich voller Unglück, warum er selbst niemals mit der unbedingten Aufrichtigkeit dieser beiden an eine Sache herangehen konnte.
[221] »Burne ist ein Fanatiker«, sagte er zu Tom, »und er liegt völlig falsch und ist, meiner Meinung nach, nichts als eine ahnungslose Marionette in den Händen anarchistischer Zeitungsverleger und von Deutschen bezahlter Schmierfinken– aber er geht mir ständig im Kopf herum – einfach alles aufzugeben, was einem lieb und wert ist…«
Burne nahm eine Woche später mit beherrschter Erregung Abschied. Er verkaufte seinen gesamten Besitz und kam dann ins Zimmer herunter, um auf Wiedersehen zu sagen; er hatte ein schrottreifes altes Fahrrad bei sich, auf dem er nach Pennsylvania heimzuradeln gedachte.
»Peter der Eremit nimmt seinen Abschied von Kardinal Richelieu«, schlug Alec vor, der lässig an der Fensterbank lehnte, während Burne und Amory sich die Hände schüttelten.
Doch Amory war nicht zu solchen Scherzen aufgelegt, und als er Burnes lange Beine die Pedale seines lächerlichen Gefährts in Richtung Alexander Hall treten sah, bis sie außer Sicht waren, wusste er, dass ihm eine schlimme Woche bevorstand. Nicht dass er den Krieg in Frage stellte – Deutschland stand für alles, was er verabscheute; für Materialismus und eine schreckliche und zügellose Gewaltherrschaft; es war Burnes Gesicht, das ihm im Gedächtnis blieb, und schon jetzt hatte er die Hysterie satt, die sich um ihn herum breitmachte.
»Wozu, verdammt noch mal, soll das gut sein, plötzlich Goethe schlechtzumachen«, sagte er zu Alec und Tom. »Wozu Bücher schreiben, die beweisen sollen, dass er mit dem Krieg angefangen hat – oder dass dieser dumme, überschätzte Schiller ein Wolf im Schafspelz ist?«
[222] »Hast du je etwas von ihnen gelesen?«, fragte Tom scharfsinnig.
»Nein«, gestand Amory.
»Ich auch nicht«, sagte er lachend.
»Lasst die Leute ruhig toben«, sagte Alec gelassen, »Goethe wird doch auf seinem guten alten Regal in der Bibliothek bleiben – und weiter jeden langweilen, der ihn lesen will.«
Amory lenkte ein, und das Thema wurde fallengelassen.
»Was hast du vor, Amory?«
»Infanterie oder Fliegerei, ich kann mich nicht entscheiden – alles Technische ist mir ein Greuel, aber die Fliegerei ist natürlich das Einzige, was für mich in Frage kommt…«
»Mir geht’s wie Amory«, sagte Tom. »Infanterie oder Fliegerei – Fliegerei klingt natürlich nach der abenteuerlichen Seite des Krieges – so wie früher die Kavallerie; aber wie Amory kann ich keine Pferdestärke von einer Pleuelstange unterscheiden.«
Irgendwie erreichte Amorys Unzufriedenheit über seinen Mangel an Enthusiasmus seinen Höhepunkt in dem Versuch, die Schuld an dem gesamten Krieg den Vorfahren seiner Generation aufzubürden… all denen, die 1870 Deutschland zugejubelt hatten… All den im Aufstieg begriffenen Materialisten, die deutsche Wissenschaft und Tüchtigkeit vergöttert hatten. So saß er eines Tages in einer Englischvorlesung, als Locksley Hall zitiert wurde und er in tiefe, verachtungsvolle Betrachtungen über Tennyson und alles, wofür er stand, verfiel – denn er sah in ihm einen Vertreter der Viktorianer.
[223] O Viktorianer, ihr habt zu weinen nicht gelernt,
Nur gesät eurer Kinder bittere Ernt’ –
kritzelte Amory in sein Notizbuch. In der Vorlesung wurde etwas über Tennysons Rechtschaffenheit gesagt, und fünfzig Köpfe neigten sich, um mitzuschreiben. Amory nahm eine neue Seite und kritzelte weiter.
Sie schauderten, als sie erfuhren, was es mit Darwin auf sich hatte,
Sie schauderten, als der Walzer aufkam und Newman niederging –
Doch der Walzer kam schon viel früher auf; er strich es durch.
»Und betitelt Ein Lied in der Zeit der Ordnung«, drang von weit her monoton die Stimme des Professors an sein Ohr. »Zeit der Ordnung« – Du lieber Gott! Alles in die Kiste gestopft, und auf dem Deckel sitzen mit heiterem Lächeln die Viktorianer… Und Browning in seiner italienischen Villa ruft tapfer: »Alles gehört den Besten.« Erneut kratzte Amorys Feder übers Papier.
Ihr knietet in dem Tempel, und er neigte sich euerm Gebet,
Ihr danktet ihm für euren »grandiosen Gewinn« und tadeltet ihn für »Cathay«.
Warum gelang ihm jedes Mal nur ein Zweizeiler? Jetzt brauchte er etwas, das sich hierauf reimte:
[224] Trotz Wissenschaft hieltet ihr an ihm fest, trotz all seiner Fehler zuvor –
Wie auch immer…
Ihr traft eure Kinder zu Hause – »Ich hab für alles gesorgt!«, rieft ihr,
Nahmt eure fünfzig Jahre Europa, und dann, in allen Ehren – starbt ihr.
»Dies war weitgehend auch Tennysons Idee«, kam wieder die Stimme des Vortragenden. »Swinburnes Lied in der Zeit der Ordnung hätte ebenso gut Tennysons Titel sein können. Gegen Chaos und Verschwendung hielt er das Idealbild der Ordnung.«
Endlich hatte Amory es. Er schlug eine neue Seite auf und kritzelte die verbleibenden zwanzig Minuten der Unterrichtsstunde wie ein Wilder. Dann ging er nach vorn zum Pult und legte eine aus seinem Notizbuch gerissene Seite darauf.
»Hier ist ein Gedicht an die Viktorianer, Sir«, sagte er kalt.
Der Professor nahm es neugierig auf, während Amory sich rasch in Richtung Tür entfernte.
Dies hatte er geschrieben:
Lieder in der Zeit der Ordnung
Ließt ihr uns, zu singen
Beweise ohne Mitte
Antworten aufs Leben, gereimt,
[225] Schlüssel der Gefängniswächter
Und alte Glocken, zu läuten
Die Zeit war das Ende der Rätsel
Wir waren das Ende der Zeit…
Hier waren einheimische Meere
Und ein Himmel, den wir erreichen konnten
Gewehre und eine bewachte Grenze
Fehdehandschuhe – doch nicht zum Werfen.
Tausende alter Gefühle
Und für jeden eine Platitüde,
Lieder in der Zeit der Ordnung
Und Zungen, dass wir sie singen.
Das Ende vieler Dinge
Der frühe April glitt in einem Dunstschleier vorbei – im Dunst langer Abende auf der Veranda des Clubs, während drinnen das Grammophon Poor Butterfly spielte… denn Poor Butterfly war das Lied des vergangenen Jahres gewesen. Der Krieg schien sie kaum zu berühren, und es hätte ein ganz normaler Frühling des letzten Studienjahrs sein können wie alle zuvor – abgesehen von dem alle zwei Tage stattfindenden Exerzieren, dennoch kam es Amory bitter zu Bewusstsein, dass dies der letzte Frühling unter dem alten Regime war.
»Dies ist der große Protest gegen den Übermenschen«, sagte Amory.
[226] »Vermutlich«, stimmte Alec zu.
»Er ist absolut unvereinbar mit jeglicher Utopie. Solange es ihn gibt, werden die Schwierigkeiten und all das latente Böse, nach dem es die Menge gelüstet, nicht aufhören.«
»An sich ist er nichts weiter als ein hochbegabter Mensch ohne Moralgefühl.«
»Ganz recht, nichts weiter. Ich glaube, der schrecklichste Gedanke dabei ist – dass alles schon mal da gewesen ist, und wie bald wird es wieder geschehen? Fünfzig Jahre nach Waterloo war Napoleon für die englischen Schulkinder genauso ein Held wie Wellington. Wie können wir wissen, ob nicht unsere Enkel Hindenburg ebenso vergöttern werden?«
»Aber was macht das möglich?«
»Die Zeit, verdammt noch mal, und die Historiker. Wenn wir nur endlich lernten, das Böse als Böses zu betrachten, egal, ob es in abstoßender oder nichtssagender oder prächtiger Gestalt auftritt.«
»Mein Gott! Sind wir in den letzten vier Jahren nicht scharf genug mit dem Universum ins Gericht gegangen?«
Dann kam die Nacht, welche die unwiderruflich letzte sein sollte. Tom und Amory würden am nächsten Morgen in verschiedene Ausbildungslager aufbrechen und wanderten nun noch einmal die schattigen Pfade entlang, wie sie es so oft getan hatten, und sie glaubten die Gesichter all der Leute, die sie gekannt hatten, um sich her zu sehen.
»Das Gras ist heute Nacht voller Geister.«
»Der ganze Campus wimmelt von ihnen.«
Sie blieben beim Little stehen und sahen dem aufgehenden Mond zu, der das Schieferdach vom Dodd in silbernes und die raschelnden Bäume in bläuliches Licht tauchte.
[227] »Weißt du was«, flüsterte Tom, »was wir jetzt empfinden, birgt alles, was in den letzten zweihundert Jahren an großartiger Jugend hier in Saus und Braus gelebt hat.«
Zum letzten Mal brach ein Singen aus und flutete vom Blair Arch zu ihnen herüber – gebrochene Stimmen zu einem langen Abschied.
»Und was wir hier zurücklassen, ist mehr als nur dieser Jahrgang; es ist das ganze Erbe der Jugend. Wir sind nur eine Generation – und wir brechen alle Verbindung ab zu dem, was uns hier scheinbar an die Generationen von Stulpenstiefeln und langen Strümpfen gebunden hat. Wir sind Arm in Arm mit Burr und ›Light-Horse‹ Harry Lee durch all diese tiefblauen Nächte gegangen.«
»Das sind sie wirklich«, schweifte Tom ab, »tiefblau – die kleinste Spur von Farbe würde sie verderben, sie bizarr machen. Turmspitzen, vor einem Himmel, der die Morgendämmerung verheißt, und die Schieferdächer im blauen Licht – es schmerzt… beinahe…«
»Adieu, Aaron Burr«, rief Amory der einsam daliegenden Nassau Hall zu, »du und ich, wir kannten seltsame Winkel dieses Lebens.«
Seine Stimme hallte in der Stille nach.
»Die Fackeln sind gelöscht«, flüsterte Tom, »ah, Messalina, die langen Schatten formen Minarette auf dem Stadion…«
Einen Augenblick lang umwogten sie die Stimmen aus ihrem Freshman-Jahr, und als sie sich ansahen, schimmerten Tränen in ihren Augen.
»Verdammt!«
»Verdammt!«
[228] Das letzte Licht verblasst und schwebt überm Land – dem niedrigen, weiten Land, dem sonnigen Land der Turmspitzen; die Geister des Abends stimmen wieder ihre Leiern und ziehen singend als schwermütige Musikanten die langen Alleen entlang; schwache Feuer antworten als Echo auf die Nacht von Turm zu Turm: O Schlaf, der träumt, und Traum, der niemals endet, presst aus den Blütenblättern dieser Lotosblume etwas, das man behalten könnte, das Kostbarste einer Stunde.
Nicht mehr zu warten auf das Mondzwielicht in diesem abgeschiedenen Tal von Stern und Spitze, denn ein ewiger Morgen der Begierde vergeht und wird zum irdischen Nachmittag. Hier, Heraklit, fandest du in Feuer und Strömendem die Prophezeiung, die du auf die vergangenen Zeiten herabschleudertest; in dieser Mitternacht wird mein Verlangen sehen, verborgen unter der schwelenden Glut, gebündelt in der Flamme: den Glanz und die Traurigkeit der Welt.