Turmspitzen und Wasserspeier
Zuerst nahm Amory nur die Fülle des Sonnenscheins wahr, der sich über die weiten grünen Rasenflächen breitete, auf den bleigefassten Fensterscheiben tanzte und Turmhelme, Spitzen und Zinnen umspielte. Allmählich wurde ihm klar, dass er wirklich den University Place hinaufging; befangen wegen seines Koffers, nahm er im Gehen eine neue Haltung an und blickte starr geradeaus, wenn er jemandem begegnete. Mehrmals hätte er schwören können, dass sich jemand prüfend nach ihm umsah. Er fragte sich unsicher, ob wohl an seiner Kleidung etwas auszusetzen war, und wünschte, er hätte sich morgens im Zug rasiert. Er fühlte sich unnötig steif und unbehaglich zwischen all diesen barhäuptigen jungen Leuten in weißem Flanell, die höhere Semester sein mussten, nach der Selbstverständlichkeit zu urteilen, mit der sie auf und ab schlenderten.
University Place Nr. 12 war ein großes schäbiges Gebäude, zurzeit offensichtlich unbewohnt, obwohl es, soviel er wusste, gewöhnlich ein Dutzend Erstsemester beherbergte. Nach kurzem Geplänkel mit seiner Wirtin begab er sich wieder auf Erkundungstour, war jedoch kaum einen Block weit gekommen, als er mit Erschrecken feststellen musste, dass er offenbar der einzige Mensch in der Stadt war, der einen Hut trug. Er kehrte schnellstens nach [61] University Nr. 12 zurück, ließ seine steife Melone dort und schlenderte nun barhäuptig die Nassau Street hinunter, blieb stehen, um sich Sportlerfotografien anzusehen, die in einem Schaufenster ausgestellt waren, darunter eine Vergrößerung von Allenby, dem Footballkapitän; als Nächstes erregte das Schild »Jigger-Shop« über einer Süßwarenauslage seine Aufmerksamkeit. Es klang vertraut, also schlenderte er hinein und nahm auf einem Barhocker Platz.
»Schoko-Sundae«, bestellte er bei einer Farbigen.
»Doppelter Schoko-Jigger? Sonst noch was?«
»Ja – gern.«
»Speckbrötchen?«
»Ja – gern.«
Er vertilgte vier Stück und fand sie sehr schmackhaft, dann konsumierte er einen weiteren doppelten Schoko-Jigger, bis sich ein wohliges Gefühl in ihm breitmachte. Er inspizierte flüchtig die Kissenbezüge, die bunten Lederwimpel und eine Reihe von Gibson-Girls, welche die Wände zierten, und schlenderte dann mit den Händen in den Hosentaschen weiter die Nassau Street hinunter. Allmählich lernte er zwischen höheren und Anfangssemestern zu unterscheiden, obwohl die Freshman-Kappe bis zum folgenden Montag nicht in Erscheinung trat. Diejenigen, die zu offensichtlich, zu nervös bemüht waren, sich ganz wie zu Hause zu fühlen, waren Freshmen; jeder Zug brachte eine neue Ladung, die unverzüglich mit der hutlosen, weißbeschuhten, bücherbeladenen Menge verschmolz, die scheinbar nichts anderes zu tun hatte, als endlos die Straßen auf und ab zu flanieren und große Rauchwolken aus brandneuen Pfeifen auszustoßen. Gegen Nachmittag bemerkte Amory, [62] dass die zuletzt Angekommenen ihn für ein höheres Semester hielten, und er bemühte sich nach Kräften, zugleich freundlich blasiert und beiläufig kritisch dreinzuschauen, denn dies war der vorherrschende Gesichtsausdruck, soweit er das bis jetzt hatte feststellen können.
Um fünf Uhr nachmittags verspürte er das Bedürfnis, seine eigene Stimme zu hören, und kehrte zu seinem Haus zurück, um zu sehen, ob mittlerweile sonst noch jemand eingetroffen war. Nachdem er die wacklige Treppe erklommen hatte, betrachtete er resigniert sein Zimmer und entschied, dass jeder Versuch einer geistreicheren Ausschmückung als der mit Schulfahne und Princeton-Tiger-Bildern ein hoffnungsloses Unterfangen war. Es klopfte an der Tür.
»Herein!«
Ein schmales Gesicht mit grauen Augen und einem heiteren Lächeln erschien in der Tür.
»Hast du zufällig ’n Hammer?«
»Nein – tut mir leid. Vielleicht hat Mrs. Twelve, oder wie sie heißt, einen.«
Der Fremde kam ins Zimmer.
»Wohnst du hier?«
Amory nickte.
»Elender Schuppen für die Miete, die wir zahlen müssen.«
Amory konnte nicht umhin zuzustimmen.
»Ich hab an den Campus gedacht«, sagte er, »aber da soll’s so wenige Freshmen geben, dass sie völlig untergehen. Können nur rumsitzen und nachdenken, was sie tun sollen.«
Der Grauäugige beschloss, sich vorzustellen.
»Blaine.«
Sie begrüßten sich mit dem klatschenden Handschlag nach unten, wie er gerade Mode war. Amory grinste.
»Wo warst du vorher?«
»Andover – und du?«
»St. Regis.«
»Wirklich? Da war ein Cousin von mir.«
Sie unterhielten sich ausführlich über den Cousin, dann verkündete Holiday, dass er um sechs Uhr mit seinem Bruder zum Abendessen verabredet sei.
»Komm doch mit, und iss einen Happen mit uns.«
»Gerne.«
Im Kenilworth lernte Amory Burne Holiday kennen – der mit den grauen Augen war Kerry –, und sie aßen gemeinsam eine dürftige Mahlzeit, bestehend aus wässriger Suppe und anämischem Gemüse, und starrten dabei die anderen Freshmen an, die entweder höchst unbehaglich in kleinen Grüppchen dasaßen oder sich in einer großen Gruppe offenbar schon wie zu Hause fühlten.
»Die Mensa soll ziemlich schlecht sein«, sagte Amory.
»Hab ich auch schon gehört. Aber man muss da essen – bezahlen muss man auf jeden Fall.«
»Schande!«
»Zumutung!«
»Ja, in Princeton muss man im ersten Jahr eben alles schlucken. Genau wie in der verdammten prep school.«
Amory stimmte zu.
»Obwohl, hier ist wenigstens was los«, beharrte er. »Ich wär nicht für ’ne Million nach Yale gegangen.«
»Machst du bei irgendwas mit?«, erkundigte sich Amory bei dem älteren Bruder.
»Ich nicht – aber Burne will bei der Studentenzeitung mitmachen – beim Daily Princetonian, weißt du.«
»Ja, kenn ich.«
»Und du, machst du bei irgendwas mit?«
»Ja, klar. Ich werd’s mal mit dem Freshmen-Football probieren.«
»In St. Regis schon gespielt?«
»Ein bisschen«, stapelte Amory tief, »aber ich werd so verdammt dünn dabei.«
»Du bist doch nicht dünn.«
»Aber letzten Herbst war ich noch ziemlich stämmig.«
»Aha!«
Nach dem Essen gingen sie ins Kino, wo Amory ebenso fasziniert war von den frechen Sprüchen eines Zuschauers vor ihm wie vom wilden Gebrüll und Geschrei.
»Oho!«
»O Honeybaby – du bist so groß und stark, und so sanft!«
»Pack sie!«
»Nun pack sie schon!«
»Küss sie, los, küss die Lady, mach schon!«
»Oh-h-h-!«
Ein paar begannen By the Sea zu pfeifen, und das übrige Publikum machte lärmend mit. Danach folgte ein nicht wiederzuerkennendes Lied, das mit lautem Gestampfe begleitet wurde, und schließlich ein endloses, völlig ungereimtes Klagelied.
She works in a Jam Factoree
And – that-may-be-all-right
But you can’t-fool-me
For I know – DAMN – WELL
That she DON’T-make-jam-all-night!
Oh-h-h-h!
Als sie sich hinausdrängelten und dabei neugierige, unpersönliche Blicke austauschten, stellte Amory fest, dass ihm das Kino gefiel und er sich dabei genauso amüsieren wollte wie die höheren Semester in der Reihe vor ihm, mit den Armen auf der vorderen Sitzlehne, mit gälisch unflätigen und bissigen Zwischenrufen und einer Haltung, die eine Mischung aus kritischem Witz und gelassener Amüsiertheit war.
»Wie wär’s mit einem Sundae – einem Jigger, wollte ich sagen?«, fragte Kerry.
»Klar.«
Sie schlemmten genüsslich und schlenderten dann gemütlich zurück zum Haus Nr. 12.
»Herrlicher Abend.«
»Fabelhaft.«
»Geht ihr Koffer auspacken?«
»Glaub schon. Komm, Burne.«
Amory beschloss, noch eine Weile auf der Eingangstreppe sitzen zu bleiben, und sagte den beiden gute Nacht.
Die Bäume waren zu einem geisterhaft dunklen Wandvorhang vor dem letzten Streifen Zwielicht geworden. Der frühe Mond hatte die Bogengänge in blasses Blau getaucht, und mit tausend Zauberfäden, die sich vom Mond [66] herabspannen, durchwebte ein Lied die Nacht – ein Lied von allertiefster Traurigkeit, unendlich vergänglich, unendlich kummervoll.
Ihm fiel ein, dass ein Ehemaliger aus den neunziger Jahren ihm erzählt hatte, eine von Booth Tarkingtons Vergnügungen habe darin bestanden, in den frühen Morgenstunden mitten auf dem Campus zu stehen und Tenorgesänge zu den Sternen zu schicken, was in den jüngeren Semestern, die ihm in ihren Betten lauschten, gemischte Gefühle weckte, je nach ihrer seelischen Verfassung.
In diesem Augenblick durchbrach weit unterhalb des im Dunkeln liegenden University Place eine weißgekleidete Phalanx die melancholische Stimmung, und Gestalten in weißen Hemden und weißen Hosen marschierten in schwungvollem Rhythmus die Straße hinauf, mit untergehakten Armen und zurückgeworfenen Köpfen:
Going back – going back,
Going – back – to – Nas-sau – Hall,
Going back – going back –
To the – Best – Old – Place – of – All.
Going back – going back,
From all – this – earthly – ball,
We’ll – clear – the – track – as – we – go – back
Going – back – to – Nas-sau – Hall!
Amory schloss die Augen, als die gespenstische Prozession näher kam. Bei den höchsten Tönen des Liedes setzten alle aus bis auf die Tenöre, die die Melodie bravourös über die riskante Stelle hinwegretteten, bis der eigenwillige Chor [67] wieder einsetzte. Erst jetzt öffnete Amory die Augen; er befürchtete, der Anblick könnte die wundervolle Illusion von Harmonie zerstören.
Er seufzte tief. An der Spitze des weißen Zuges marschierte tatsächlich Allenby, der Footballkapitän, schlank und herausfordernd, als wüsste er, dass alle Hoffnungen des College in diesem Jahr auf ihm ruhten und dass von seinen hundertfünfundvierzig Pfund erwartet wurde, dass er sie durch die roten und blauen gegnerischen Linien zum Sieg tragen würde.
Amory war fasziniert von den Reihen verschränkter Arme, die an ihm vorbeizogen, den Gesichtern, die über den Polohemden nicht zu erkennen waren, den Stimmen, die zu einem Triumphgesang verschmolzen – und dann zog die Prozession durch den schattigen Campbell Arch, und die Stimmen wurden schwächer, je weiter der Zug sich ostwärts über den Campus bewegte.
Die Minuten vergingen, und Amory saß ganz ruhig da. Er bedauerte die Vorschrift, die es Freshmen verbot, nach dem Zapfenstreich außer Haus zu sein, denn er wollte die schattigen, duftenden Pfade durchstreifen, wo das Wohnheim Witherspoon wie eine dunkle Mutter über Whig und Clio, ihren attischen Kindern, schwebte, wo die schwarze gotische Schlange des Little sich zu Cuyler und Patton hinunterschlängelte und diese ihrerseits das Geheimnis über den sanft geneigten Abhang ergossen, der sich zum See hinabsenkte.
Princeton bei Tag sickerte langsam in sein Bewusstsein – West und Reunion, die an die sechziger Jahre erinnerten; [68] die Seventynine-Hall, ziegelrot und hochmütig, Upper and Lower Pyne, aristokratische elisabethanische Damen, die nicht recht zufrieden schienen, zwischen Ladenbesitzern leben zu müssen, und über allem strebten die großen verträumten Spitzen der Holder- und Clevelandtürme in das klare Himmelsblau.
Vom ersten Augenblick an liebte er Princeton – seine behäbige Schönheit, seine kaum fassliche Bedeutsamkeit, die wilden Vergnügungen bei Märschen im Mondlicht, das dichte Gedränge gutaussehender, wohlhabender Menschen bei den großen Spielen und vor allem die Kampfstimmung, die in seiner Klasse herrschte. Von dem Tag an, da die Freshmen in ihrem Collegedress erschöpft und mit flackerndem Blick in der Turnhalle saßen, um jemanden aus der Hill School zum Präsidenten ihres Jahrgangs zu wählen, eine Berühmtheit aus Lawrenceville zum Vizepräsidenten zu bestimmen und einen Hockeystar aus St. Paul zum Schriftführer, bis zum Ende des Sophomore-Jahres hörte es nicht mehr auf: das gesellschaftliche Wertesystem, das sie in Atem hielt, das selten beim Namen genannt und nie offen eingestanden wurde, das Schreckgespenst des Big Man.
Zuerst wurde nach Schulen eingeteilt, und Amory, der Einzige aus St. Regis, beobachtete, wie sich Gruppen bildeten und erweiterten und erneut bildeten; die Schüler aus St. Paul, Hill und Pomfret aßen an bestimmten Tischen, die in stiller Übereinkunft in der Mensa für sie reserviert waren, hatten ihre eigenen Ecken zum Umkleiden in der Turnhalle und errichteten unwillkürlich um sich eine Barriere aus nicht ganz so bedeutenden, aber gesellschaftlich ehrgeizigen Typen, die ihnen die freundlichen, recht unbedarften [69] Highschool-Abgänger vom Leib hielten. Von dem Moment an, da Amory das erfasst hatte, empörte er sich gegen gesellschaftliche Schranken als künstliche Abgrenzungen der Starken, mit denen sie ihre schwachen Gefolgsmänner stützten und die noch nicht so Starken ausschlossen.
Da er beschlossen hatte, zu den Göttern seiner Klasse zu gehören, begann er, in der Footballmannschaft der Freshmen zu trainieren, doch in der zweiten Woche als Quarterback, die ihm bereits eine flüchtige Erwähnung im Princetonian eingebracht hatte, verstauchte er sich das Knie so sehr, dass er den Rest der Saison aussetzen musste. Das zwang ihn, sich zurückzuziehen und die Situation neu zu überdenken.
»Univee 12« beherbergte ein Dutzend buntgemischter Fragezeichen. Es gab dort drei oder vier unauffällige und ziemlich verschreckt wirkende Jungen aus Lawrenceville, zwei Möchtegernwilde aus einer New Yorker Privatschule (die Kerry Holiday die »plebejischen Saufbolde« getauft hatte), einen jungen Juden, ebenfalls aus New York, und, als Entschädigung für Amory, die beiden Holidays, denen sofort seine Zuneigung gehörte.
Die Holidays galten als Zwillinge, doch tatsächlich war Kerry, der dunkelhaarige, ein Jahr älter als sein blonder Bruder Burne. Kerry war groß, mit lustigen grauen Augen und einem überraschenden und sehr anziehenden Lächeln; er wurde sofort der Vertrauensmann des Hauses, stutzte allzu Vorwitzige zurecht, tadelte dünkelhaftes Benehmen und erfreute alle mit seinem ausgefallenen, spöttischen Humor. Amory überschüttete ihre wachsende Freundschaft mit seinen Vorstellungen davon, was ein College bedeutete und bedeuten sollte. Kerry, der keineswegs geneigt war, jetzt [70] schon irgendetwas ernst zu nehmen, tadelte ihn milde, dass er sich zu einem so unpassenden Zeitpunkt bereits Gedanken über die Kompliziertheiten des gesellschaftlichen Systems machte; doch mochte er ihn, nahm Anteil und amüsierte sich zugleich.
Burne, hellhaarig, schweigend und ernst, tauchte im Haus nur als geschäftiger Geist auf – schlüpfte bei Nacht still herein und bei Tagesanbruch wieder hinaus, um seine Arbeit in der Bibliothek aufzunehmen –, er war auf den heißbegehrten ersten Platz beim Princetonian aus und lag in heftigem Wettbewerb mit vierzig anderen. Im Dezember warf ihn die Diphtherie nieder, und ein anderer gewann den Wettbewerb, doch als er im Februar ins College zurückkehrte, machte er sich wieder unverdrossen ans Werk, den Preis doch zu gewinnen. Amorys Bekanntschaft mit ihm beschränkte sich notwendigerweise auf Dreiminutengespräche vor oder nach den Vorlesungen, und so gelang es ihm nicht, Burnes einziges, ihn völlig beanspruchendes Interesse zu durchdringen und herauszufinden, was sich dahinter verbarg.
Amory war bei weitem nicht zufrieden. Er vermisste die Stellung, die er in St. Regis errungen hatte, wo er bekannt und bewundert gewesen war; dennoch regte ihn Princeton ungemein an, und auf lange Sicht war vieles dazu bestimmt, den Machiavelli in ihm zum Leben zu erwecken, wenn er nur einen Anfang finden könnte. Die Clubs der höheren Semester, über die er im letzten Sommer einen nicht sehr auskunftswilligen Absolventen ausgequetscht hatte, erregten seine Neugier: Ivy, exklusiv und atemberaubend vornehm; Cottage, eine beeindruckende Mischung aus schillernden Abenteurern und blendend gekleideten Schürzenjägern; [71] Tiger Inn, breitschultrig und athletisch, belebt durch das ernsthafte Bestreben, die prep-school-Normen zu verfeinern; Cap and Gown, antialkoholisch, religiös angehaucht und politisch einflussreich; der spektakuläre Colonial, der literarische Quadrangle und ein Dutzend andere, je nach Alter und Stellung.
Alles, was ein jüngeres Semester in ein zu günstiges Licht rückte, wurde mit der abfälligen Bemerkung »Der produziert sich« gebrandmarkt. Das Kino florierte durch bissige Zwischenrufe, doch wer sie machte, produzierte sich unweigerlich; über Clubs zu sprechen hieß, sich zu produzieren; sich für etwas heftig einzusetzen, ob für feuchtfröhliche Partys oder völlige Abstinenz, hieß, sich zu produzieren; kurzum, als Person aufzufallen wurde nicht toleriert, und nur wer sich bedeckt hielt, war wirklich einflussreich, bis bei den Clubwahlen im Sophomore-Jahr jeder seinen Platz in einer Schublade bekam, den er bis zum Ende seiner College-Karriere behielt.
Amory erkannte, dass es ihm nichts einbrachte, für das Nassau Literary Magazine zu schreiben, dass es jedoch eine Menge einbrachte, zum Vorstand des Daily Princetonian zu gehören. Sein verschwommener Wunsch, als Schauspieler bei der English Dramatic Association unsterblichen Ruhm zu erlangen, schwand dahin, als er herausfand, dass die geistreichsten Köpfe und Talente sich um den Triangel-Club scharten, eine Musical-Gruppe, die jedes Jahr zu Weihnachten auf Tournee ging. Ansonsten fühlte er sich in der Mensa merkwürdig verlassen und unruhig angesichts neuer Sehnsüchte und Ambitionen, die seine Seele aufrüttelten, und so verstrich sein erstes Semester, hin- und hergerissen zwischen [72] Neid auf die keimenden Erfolge und ärgerlichem Staunen darüber, dass er und Kerry nicht sofort zur Klassenelite gehörten.
Viele Nachmittage lungerten sie vor den Fenstern von Univee 12 herum und beobachteten die Klasse auf dem Weg zur oder von der Mensa, sahen zu, wie Einzelne sich bereits an Prominentere anschlossen, beobachteten den einsamen Streber mit seinem eiligen Schritt und gesenktem Blick und beneideten die sorglose Sicherheit der großen Schulgruppen.
»Wir sind die verdammte Mittelklasse, das ist es!«, beklagte er sich eines Tages bei Kerry, während er ausgestreckt auf dem Sofa lag und mit genüsslicher Hingabe eine Packung Fatimas rauchte.
»Warum auch nicht? Wir sind doch nach Princeton gegangen, damit wir auf die kleinen Colleges runtersehen und uns was drauf einbilden können, uns besser anziehen, was darstellen…«
»Ich hab gar nichts gegen dieses schillernde Kastensystem«, gestand Amory. »Von mir aus können ein paar tolle Hechte ganz oben sein, aber nur, wenn ich auch einer bin, Kerry, verdammt noch mal.«
»Aber bis jetzt bist du eben bloß ein netter kleiner Bourgeois.«
Amory lag einen Moment still da und sagte kein Wort.
»Nicht mehr – lange«, sagte er schließlich. »Aber ich kann’s nicht leiden, wenn ich arbeiten muss, um irgendwas zu erreichen. Das hinterlässt Spuren bei mir, verstehst du.«
»Höchst ehrenhafte Narben.« Plötzlich verrenkte Kerry den Hals nach der Straße. »Da geht Langueduc, falls du wissen willst, wie er aussieht – und Humbird gleich hinter ihm.«
[73] Amory stand schwungvoll auf und schaute suchend durch die Fenster.
»Hm«, sagte er mit prüfendem Blick auf diese Berühmtheiten, »Humbird sieht wirklich phänomenal aus, aber dieser Langueduc – das ist ein ziemlich grober Klotz, was? Der Sorte misstraue ich. Ungeschliffene Diamanten sehen immer riesig aus.«
»Jedenfalls«, sagte Kerry, als die Aufregung sich gelegt hatte, »bist du ein literarisches Genie. Es liegt ganz bei dir.«
»Ich frage mich« – Amory zögerte –, »ob ich’s sein könnte. Manchmal glaube ich es wirklich. Aber das klingt höllisch eingebildet, und ich würd’s auch niemandem sagen außer dir.«
»Na, dann los. Lass deine Haare wachsen, und schreib Gedichte wie dieser D’Invilliers in der Lit.«
Amory griff lässig nach einem Stapel Zeitschriften auf dem Tisch.
»Sein letztes gelesen?«
»Hab noch keins verpasst. Sie sind wirklich einmalig.«
Amory schaute das Heft flüchtig durch.
»Hey!«, sagte er überrascht. »Er ist ein Freshman, oder?«
»Na klar.«
»Hör dir das an! Meine Güte!«
Ein Serviermädchen spricht:
Schwarzer Samt breitet seine Falten über den Tag,
Weiße Kerzen, in silbernen Haltern gefangen,
Flackern mit dünner Flamme wie Schatten im Wind,
Pia, Pompia, komm – komm fort von hier –
[74] »Was zum Teufel soll das bedeuten?«
»Es spielt in der Küche.«
Ihre Zehen sind steif wie die des Storchs im Flug;
Sie liegt auf dem Bett, auf den weißen Laken,
Die Hände auf ihren lieblichen Busen gepresst, einer Heiligen gleich,
Bella Cunizza, komm ins Licht!
»Guter Gott, Kerry, um was in aller Welt geht’s denn da? Ich schwör dir, ich versteh kein Wort, und dabei bin ich doch literarisch ausgefuchst.«
»Es ist ziemlich verzwickt«, sagte Kerry, »du musst nur an Totenbahren und saure Milch denken, wenn du’s liest. Das ist nicht so ein Gesäusel wie das meiste andere.«
Amory warf das Heft auf den Tisch.
»Na, jedenfalls hänge ich ganz schön in der Luft«, seufzte er. »Ich weiß, dass ich was Besonderes bin, aber ich finde jeden anderen, der was Besonderes ist, zum Kotzen. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich mich aufs Geistige werfen und ein großer Dramatiker werden soll oder dem Goldenen Schatz eine lange Nase machen und ein Princeton-Slicker werden.«
»Warum entscheiden?«, meinte Kerry. »Lass dich lieber treiben wie ich. Ich häng mich an Burnes Rockschöße und lass mich ziehen, bis ich einer der Führenden bin.«
»Ich kann mich nicht treiben lassen – ich will beteiligt sein. Ich will die Fäden ziehen, auch für jemand anderen, oder Vorsitzender vom Princetonian werden oder Präsident vom Triangle-Club. Ich will bewundert werden, Kerry.«
[75] »Du denkst zu viel an dich.«
Das ließ Amory hochfahren.
»Nein. Ich denke auch an dich. Wir müssen einfach loslegen und in der Klasse mitmischen, und zwar jetzt, wo’s noch Spaß macht, den Snob zu spielen. Ich würd zum Beispiel gern ’ne Mieze zum Studentenball im Juni mitbringen, aber bis dahin muss ich so weit sein, dass ich sie allen ganz lässig vorstellen kann – dem Footballkapitän und den Salonlöwen und dem ganzen Fußvolk.«
»Amory«, sagte Kerry ungeduldig, »du drehst dich im Kreis. Wenn du berühmt werden willst, dann fang an und tu irgendwas; wenn nicht, dann nimm’s nicht so ernst.« Er gähnte. »Komm, lassen wir mal den Rauch abziehen. Gehen wir runter und schauen beim Footballtraining zu.«
Nach und nach machte sich Amory diesen Standpunkt zu eigen, beschloss, seine Karriere im nächsten Herbst zu starten, und begnügte sich vorerst damit zu beobachten, wie Kerry für sich aus Univee 12 Spaß herausholte.
Sie füllten das Bett des jungen Juden mit Zitronencremetorte; durch das Rohr in Amorys Zimmer bliesen sie jede Nacht das Gas im ganzen Haus aus, sehr zur Bestürzung von Mrs. Twelve und dem örtlichen Klempner; sie bauten die gesamte Habe der plebejischen Saufbolde – Bilder, Bücher und Möbel – im Waschraum auf, was die beiden in tiefe Verwirrung stürzte, als sie bei ihrer Rückkehr von einer Sause in Trenton einigermaßen benebelt die Umräumung bemerkten; sie waren maßlos enttäuscht, als die plebejischen Saufbolde beschlossen, das Ganze als Scherz aufzufassen; vom Abendessen bis zur Morgendämmerung [76] spielten sie Red Dog, Siebzehnundvier und Jackpot-Poker und überredeten einen Mitschüler, zu seiner Geburtstagsfeier den Champagner in Strömen fließen zu lassen. Den großzügigen Spender, der selbst nüchtern geblieben war, warfen Kerry und Amory aus Versehen zwei Treppen hinunter und besuchten ihn, reumütig und mit beschämten Mienen, die ganze folgende Woche in der Krankenstation.
»Sag mal, wer sind all diese Frauen?«, fragte Kerry eines Tages, als wollte er gegen Amorys Briefmengen protestieren. »Ich hab mir neulich die Poststempel angeschaut – Farmington und Dobbs und Westover und Dana Hall – was steckt dahinter?«
Amory grinste.
»Alle aus St. Paul und Minneapolis.« Er zählte sie auf. »Marylyn De Witt – sie ist hübsch und hat einen eigenen Wagen, das ist verdammt angenehm; dann Sally Weatherby– die wird allmählich zu dick; und dann Myra St. Claire, eine alte Flamme, lässt sich gerne küssen, wenn man will…«
»Was hast du denn für eine Masche bei denen?«, fragte Kerry. »Ich hab schon alles Mögliche versucht, aber diese blöden Hühner haben nicht mal Angst vor mir.«
»Du bist eben der Typ ›netter Junge‹«, meinte Amory.
»Genau. Die Mütter denken immer, mit mir kann dem Mädchen nichts passieren. Ehrlich, es ist zum Kotzen. Wenn ich mal einer die Hand halten will, fängt sie an zu lachen und lässt mich machen, als gehörte sie gar nicht zu ihr. Sobald ich ihre Hand halte, koppelt sie sie irgendwie von sich ab.«
»Dann sei doch eingeschnappt«, riet Amory. »Oder erzähl ihnen, du wärst ein gefährlicher Wilder, bring sie dazu, [77] dass sie dich bessern wollen – geh wütend weg – komm nach ’ner halben Stunde wieder – bring sie durcheinander.«
Kerry schüttelte den Kopf.
»Keine Chance. Letztes Jahr hab ich einem Mädchen von St. Timothy wirklich einen sehr verliebten Brief geschrieben. An einer Stelle ging’s mit mir durch, und ich schrieb: ›Mein Gott, wie ich dich liebe!‹ Sie hat eine Nagelschere genommen, das ›Mein Gott‹ weggeschnitten und den restlichen Brief in der ganzen Schule rumgezeigt. Es klappt einfach nicht. Ich bin eben der ›gute alte Kerry‹ und dieser ganze Quatsch.«
Amory lächelte und versuchte sich vorzustellen, er sei der »gute alte Amory«. Es war völlig unmöglich.
Der Februar triefte von Regen und Schnee, der Orkan der Zwischenprüfungen für die Freshmen zog vorbei, und das Leben in Univee 12 ging weiter seinen abwechslungsreichen, wenn auch ziellosen Gang. Einmal pro Tag tat sich Amory bei Joe’s an einem Clubsandwich, Cornflakes und Pommes frites gütlich, meist in Gesellschaft von Kerry oder Alec Connage, der nebenan wohnte. Dieser war ein ruhiger, ziemlich zurückhaltender Slicker aus Hotchkiss und wie Amory ein unfreiwilliger Einzelgänger, da seine gesamte Klasse nach Yale gegangen war. Joe’s war unappetitlich und hygienisch nicht ganz einwandfrei, doch man bekam unbegrenzten Kredit eingeräumt, eine Annehmlichkeit, die Amory zu schätzen wusste. Sein Vater hatte mit Bergwerksaktien spekuliert, und darum entsprach sein monatlicher Wechsel, so großzügig er auch war, nicht im mindesten seinen Erwartungen.
Joe’s hatte außerdem den Vorteil, dass man dort vor den [78] prüfenden Blicken der höheren Semester sicher war, und so ging Amory, begleitet von Freund oder Buch, jeden Nachmittag um vier dorthin, um seine Verdauung neuen Experimenten auszusetzen. Eines Tages im März fand er alle Tische bereits besetzt und ließ sich auf einem Stuhl einem Freshman gegenüber nieder, der eifrig über sein Buch gebeugt am hintersten Tisch saß. Sie nickten sich kurz zu. Zwanzig Minuten saß Amory da, vertilgte Speckbrötchen und las Mrs. Warrens Gewerbe (Shaw hatte er mehr durch Zufall entdeckt, als er während der Zwischenprüfungen in der Bücherei herumstöberte); der andere Freshman, der ebenso intensiv mit seinem Band beschäftigt war, verputzte in der Zeit drei Glas Malzschokolade.
Immer wieder wanderten Amorys Augen neugierig zu dem Buch seines Tischgenossen. Er entzifferte von hinten Titel und Verfassernamen – Marpessa von Stephen Phillips. Das sagte ihm nichts, denn seine Kenntnis von Gedichten beschränkte sich auf solche Sonntagsklassiker wie Come into the Garden, Maude und die paar Brocken Shakespeare und Milton, die ihm aufgezwungen worden waren.
Da er Lust hatte, sein Gegenüber anzusprechen, spiegelte er eine Weile Interesse für sein Buch vor und rief dann laut, als sei es unbeabsichtigt: »Ha! Phantastisch!«
Der andere Freshman sah auf, und Amory heuchelte Verlegenheit.
»Sprichst du von deinen Speckbrötchen?« Seine rauhe, freundliche Stimme passte gut zu der großen Brille und dem Eindruck immenser Klugheit, den er erweckte.
»Nein«, erwiderte Amory, »ich meinte Bernard Shaw.« Zur Erläuterung hielt er ihm sein Buch hin.
[79] »Ich habe noch nie etwas von Shaw gelesen, obwohl ich es immer schon wollte.« Der Junge schwieg und fuhr dann fort: »Hast du je etwas von Stephen Phillips gelesen, oder magst du überhaupt Gedichte?«
»Ja, sehr«, bestätigte Amory eifrig. »Von Phillips habe ich allerdings nicht viel gelesen.« (Er hatte noch nie von einem Phillips gehört, außer von dem seligen David Graham.)
»Er ist ganz gut, finde ich. Natürlich sehr viktorianisch.« Sie gerieten in eine Diskussion über Dichtung, in deren Verlauf sie einander vorstellten und Amorys Gefährte sich als niemand anders herausstellte als »diese grässliche Intelligenzbestie Thomas Parke D’Invilliers«, dessen Name unter den leidenschaftlichen Liebesgedichten in der Lit stand. Er war höchstens neunzehn, hatte hängende Schultern, blasse blaue Augen und – das schloss Amory aus seiner ganzen Erscheinung – wenig Ahnung vom Kampf um gesellschaftlichen Erfolg und dergleichen fesselnde Phänomene. Immerhin mochte er Bücher, und es schien ewig herzusein, dass Amory so jemanden kennengelernt hatte; wenn nur die Gruppe aus St. Paul am Nachbartisch ihn nicht auch für so einen Sonderling hielt – ansonsten freute er sich enorm über diese neue Bekanntschaft. Doch schienen die andern sie nicht zu beachten, und so ließ er sich gehen, sprach über Dutzende von Büchern, über Bücher, die er gelesen oder über die er gelesen hatte, Bücher, von denen er nie gehört hatte, rasselte die Titel nur so herunter, als sei er ein versierter Brentano-Spezialist. D’Invilliers ließ sich gerne ein wenig täuschen und war völlig begeistert. Er hatte sich schon fast damit abgefunden, dass es in Princeton offenbar nur tödliche Spießer oder tödliche Streber gab, und nun jemanden [80] zu finden, der über Keats reden konnte, ohne zu stottern, und sich dennoch offensichtlich die Hände wusch, war ein unerwarteter Genuss. »Je Oscar Wilde gelesen?«, fragte er.
»Nein. Wer hat das geschrieben?«
»Das ist ein Mann – weißt du das nicht?«
»O ja, sicher.« In Amorys Gedächtnis begann etwas zu dämmern. »Handelt nicht diese komische Oper Patience von ihm?«
»Ja genau, das ist er. Ich habe gerade ein Buch von ihm gelesen, Das Bildnis des Dorian Gray, du musst es unbedingt auch lesen. Es wird dir gefallen. Ich kann es dir leihen, wenn du willst.«
»Ja, sehr gern – danke.«
»Willst du nicht mit auf mein Zimmer kommen? Ich habe noch ein paar andere Bücher.«
Amory zögerte, warf einen Blick auf die Gruppe aus St. Paul, in der auch der großartige und höchst gepflegte Humbird saß – und überlegte, wie entscheidend diese neue Freundschaft für ihn sein würde. Es war ihm nie gelungen, schnell Freunde zu gewinnen, und genauso wenig, sie ebenso schnell wieder loszuwerden – dazu war er nicht rücksichtslos genug –, also wog er den zweifellos vorhandenen Reiz und Wert einer Bekanntschaft mit Thomas D’Invilliers gegen den drohenden Blick aus kalten Augen hinter schildpattgefassten Brillengläsern ab, den er vom Nachbartisch auf sich gerichtet fühlte.
»Ja, ich komm mit.«
So kam er zu Dorian Gray und The Mystic and Sombre Dolores und La Belle Dame Sans Merci; einen Monat lang konnte ihn nichts anderes fesseln. Die Welt wurde [81] bleich und anziehend, und er bemühte sich, Princeton mit den übersättigten Augen von Oscar Wilde und Swinburne zu sehen – oder von »Fingal O’Flaherty« und »Algernon Charles«, wie er sie in einer scherzhaften Anwandlung nannte. Er las jeden Abend enorme Mengen – Shaw, Chesterton, Barrie, Pinero, Yeats, Synge, Ernest Dowson, Arthur Symons, Keats, Sudermann, Robert Hugh Benson, die Savoy-Operetten – alles wild durcheinander, denn plötzlich war ihm aufgegangen, dass er seit Jahren nichts gelesen hatte.
Zunächst war Thomas D’Invilliers für ihn eher eine Gelegenheitsbekanntschaft als ein Freund. Amory traf ihn vielleicht einmal in der Woche, und dann strichen sie gemeinsam die Decke von Toms Zimmer golden, schmückten die Wände mit unechter Tapisserie, die sie auf einer Versteigerung erstanden hatten, und statteten den Raum mit großen Kerzenhaltern und gemusterten Vorhängen aus. Amory mochte ihn, weil er klug und literarisch gebildet war, ohne verweichlicht oder geziert zu sein. In Wirklichkeit war Amory der Affektiertere von beiden und bemühte sich krampfhaft, aus jeder Bemerkung ein Epigramm zu machen, was nicht zu den schwierigsten Kunststückchen gehört, wenn man sich mit Pseudoepigrammen zufriedengibt. Univee 12 amüsierte sich. Kerry las Dorian Gray und spielte Lord Henry, indem er Amory überallhin verfolgte, ihn ständig »Dorian« nannte und so tat, als wollte er dessen verderbte Neigungen und seinen Hang zu kultivierter Langeweile herausfordern. Als er dieses Spiel auch in der Mensa fortsetzte, geriet Amory wütend aus der Fassung und trug seine Epigramme fortan nur noch D’Invilliers vor oder einem geeigneten Spiegel.
[82] Eines Tages versuchten Tom und Amory, ihre eigenen und Lord Dunsanys Gedichte zur Musik aus Kerrys Grammophon zu rezitieren.
»Singen!«, schrie Tom. »Nicht rezitieren! Singen!«
Amory, der gerade vortrug, sah verärgert drein und verlangte eine Platte mit weniger Klavier. Daraufhin wälzte sich Kerry am Boden und erstickte fast vor Lachen.
»Leg doch ›Hearts and Flowers‹ auf!«, heulte er. »O Gott, ich mach mir gleich in die Hosen.«
»Stell das verdammte Grammophon ab«, schrie Amory, rot vor Zorn. »Ich geb doch hier keine Vorstellung.«
Unterdessen versuchte Amory vorsichtig, in D’Invilliers ein Gefühl für das gesellschaftliche Wertesystem zu wecken, denn er spürte genau, dass dieser Dichter im Grunde konventioneller war als er selbst, und er brauchte nur etwas Haarwasser, einen weniger anspruchsvollen Konversationsstil und einen dunkleren braunen Hut, um ganz normal auszusehen. Doch sein Loblied auf dunkle Krawatten und Livingstone-Kragen stieß auf taube Ohren, ja D’Invilliers reagierte sogar mit leichtem Unmut auf seine Bemühungen; also begnügte sich Amory damit, ihn einmal in der Woche zu besuchen und ihn gelegentlich nach Univee 12 mitzunehmen. Dies rief gelindes Gekicher bei den anderen Freshmen hervor, die die beiden »Doktor Johnson und Boswell« nannten.
Alec Connage, ebenfalls häufiger Gast, mochte ihn auf irgendeine Art, fürchtete ihn jedoch als Intelligenzbestie. Kerry, der sein poetisches Geschwätz durchschaute und die soliden, ja beinahe rechtschaffenen inneren Tiefen dahinter erkannte, amüsierte sich königlich über ihn und ließ ihn [83] stundenlang Gedichte rezitieren, während er mit geschlossenen Augen auf Amorys Sofa lag und zuhörte.
Schläft oder wacht sie? Denn ihr Hals
trägt doch das Purpurmal des allzu heftigen Kusses,
in dem gequält das Blut stockt und versiegt;
sanft, so sanft gebissen – und schöner noch durch dieses Mal…
»Das ist gut«, bemerkte Kerry sanft. »Das gefällt Holiday dem Älteren. Das muss ein großer Dichter sein.« Und Tom, hocherfreut, ein Publikum zu haben, las rauschhaft die Gedichte und Balladen vor, bis Kerry und Amory sie fast so gut kannten wie er selbst.
Amory machte sich daran, an Frühlingsnachmittagen in den Gärten der großen Landsitze in der Nähe von Princeton Gedichte zu schreiben, während Schwäne in künstlichen Teichen für eine stimmungsvolle Kulisse sorgten und träge Wolken friedlich über den Weiden dahinsegelten. Zu bald schon kam der Mai, und mit einem Mal konnte er keine Wände mehr ertragen und durchwanderte den Campus zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei Sternenlicht und Regen.
Ein feuchtes, symbolisches Zwischenspiel
Die Abendnebel sanken nieder. Wogten vom Mond herab, ballten sich zu dichten Schwaden um die Dächer und Türme und ließen sich darauf nieder, während die verträumten Turmspitzen in luftiger Höhe in den Himmel stachen. [84] Gestalten, die den Tag mit ihrem Ameisengewimmel sprenkelten, huschten nun als schattenhafte Geister vorbei, mal nah, mal fern. Die gotischen Hallen und Arkaden schienen unendlich viel geheimnisvoller, wie sie so plötzlich aus der Dunkelheit aufragten, von Myriaden schwach leuchtender gelber Rechtecke erhellt. Aus unbestimmter Richtung schlug eine Glocke die Viertelstunde, und Amory blieb bei der Sonnenuhr stehen und streckte sich im feuchten Gras aus. Die Kühle tat seinen Augen wohl und hielt den schnellen Lauf der Zeit an – der Zeit, die an den müßigen Aprilnachmittagen so heimtückisch verstrichen war, die im lang anhaltenden Zwielicht der Frühlingsabende so ungreifbar schien. Abend für Abend war der Gesang der älteren Semester in melancholischer Schönheit über den Campus zu ihm gedrungen und hatte durch den Panzer seines studentischen Selbstbewusstseins ein neues Gefühl brechen lassen, eine tiefe und ehrfürchtige Verehrung für die grauen Mauern und gotischen Spitzen und alles, was sie als Bewahrer vergangener Zeiten symbolisierten.
Angesichts des Turmes, der sich vor seinem Fenster emporreckte, höher und höher, bis seine äußerste Spitze fast mit dem Morgenhimmel verschmolz, befiel ihn eine erste Ahnung, wie vergänglich und unbedeutend die Campusbewohner doch waren, außer als Träger der apostolischen Nachfolge. Ihm behagte das Wissen, dass die gotische Architektur in ihrem Aufwärtsstreben besonders gut zur Universität passte, und die Vorstellung wurde ihm vertraut. Die stillen Grünflächen, die ruhig daliegenden Hallen, in denen mitunter ein einsames Licht von später Gelehrsamkeit zeugte, ergriffen heftig Besitz von seiner Phantasie, und die [85] makellose Reinheit der Turmspitze wurde zum Symbol für diese Wahrnehmung.
»Verdammt noch mal«, flüsterte er hörbar, benetzte seine Hände mit dem Tau und fuhr sich damit durchs Haar. »Im nächsten Jahr werde ich arbeiten!« Dabei wusste er genau, dass er vor dem Geist der Türme und Spitzen, der ihn in eine träumerisch nachgiebige Stimmung versetzte, später zurückschrecken würde. Jetzt war er sich nur seiner Inkonsequenz bewusst, doch wenn er sich anstrengte, würden auch sein Unvermögen und seine Unzulänglichkeit zutage treten.
Das College träumte fort – im Wachen. Er spürte seinen langsamen Pulsschlag als nervöse Erregung in sich. Es war ein Strom, dessen Oberfläche sich nur leicht kräuselte, wenn er einen Stein hineinwarf, der, kaum dass er seine Hand verlassen hatte, spurlos verschwunden sein würde. Bisher hatte er nichts gegeben und nichts genommen.
Ein verspäteter Freshman, dessen Ölmantel vernehmlich raschelte, patschte über den aufgeweichten Pfad. Irgendwo aus einem unsichtbaren Fenster rief eine Stimme die unvermeidliche Formel: »Halt den Kopf raus!« Hundert kleine Geräusche aus dem Strom, der unter dem Nebel dahinzog, drangen nach und nach auf ihn ein.
»O Gott!«, schrie er plötzlich und zuckte vor dem Klang seiner Stimme in der Stille zusammen. Der Regen tröpfelte weiter. Er blieb noch einen Moment liegen, ohne sich zu rühren, die Hände ineinandergeklammert. Dann sprang er auf und klopfte vorsichtig seine Kleider ab.
»Verdammt, bin ich nass!«, sagte er laut zu der Sonnenuhr.
Der Krieg begann im Sommer nach seinem Freshman-Jahr. Abgesehen von einem eher sportlichen Interesse an dem deutschen Vorstoß auf Paris, vermochte ihn die ganze Sache weder zu erregen noch zu interessieren. Er erwartete davon dasselbe wie von einem unterhaltsamen Melodram, nämlich, dass es lang und blutig sein würde. Ein schnelles Ende hätte ihn ähnlich erzürnt wie den zahlenden Besucher eines Preisboxkampfes, bei dem die Hauptakteure sich weigerten, den Kampf aufzunehmen.
Das war seine ganze Reaktion.
»Ha-Ha Hortense!«
»O. k., ihr Ballettratten!«
»Los geht’s!«
»He, ihr Ballettratten – hört doch mal auf zu würfeln, und schüttelt ein bisschen eure müden Hüften!«
»He, hallo, Ballettratten!«
Der Ballettmeister kochte vor hilfloser Wut, während der Präsident des Triangle-Clubs, dem die blanke Angst in den Augen stand, zwischen autoritären Wutausbrüchen und Anfällen nervöser Erschlaffung hin- und herschwankte, in denen er zusammengesunken dasaß und sich fragte, wie zum Teufel die Show jemals bis Weihnachten aufführungsreif werden sollte.
»Also dann. Wir üben den Piratensong.«
Die Ballettratten nahmen einen letzten Zug aus ihren [87] Zigaretten und schlurften auf ihre Plätze; die Primaballerina stürzte vor und wedelte affektiert mit Händen und Füßen, um die Stimmung anzuheizen; und während der Trainer sie mit Klatschen, Stampfen, Tamtam und Dadadam begleitete, stümperten sie mühsam einen Tanz zusammen.
Der Triangle-Club war ein wild wimmelnder Ameisenhaufen. Jedes Jahr führte er ein Musical auf und ging während der Weihnachtsferien mit der gesamten Besetzung, mit Tanzgruppe, Orchester und Kulissen auf Tournee. Text und Musik waren das Werk jüngerer Semester, und der Club selbst war die einflussreichste Institution auf dem Campus; über dreihundert Studenten bewarben sich jedes Jahr um die Aufnahme.
Amory war nach einem leicht errungenen Sieg im ersten Princetonian-Wettbewerb des Sophomore-Jahres mit der noch unbesetzten Rolle des »Boiling Oil, Leutnant der Piraten« betraut worden. In der vergangenen Woche hatten sie Ha-Ha Hortense! täglich von zwei Uhr nachmittags bis acht Uhr morgens im Casino geprobt, aufrecht gehalten von starkem schwarzem Kaffee und einem vormittäglichen Nickerchen während der Vorlesung. Ein seltsamer Anblick, dieses Casino. Ein großer, scheunenartiger Zuschauerraum, übersät mit Jungen, die als Mädchen oder als Piraten oder als Babys verkleidet waren; soeben wurden die Kulissen in fieberhafter Eile zusammengenagelt; der Beleuchter probte und handelte sich mit seinen irrlichternden Strahlen zornige Blicke ein; das Orchester übertönte alles mit seinen ständigen Stimmproben oder dem fröhlichen Tamtatam eines Triangle-Songs. Irgendwo am Rand steht der Liedtexter, kaut auf seinem Bleistift herum und hat genau zwanzig [88] Minuten Zeit, um sich eine Zugabe auszudenken. Der Geschäftsführer streitet mit dem Sekretär, wie viel Geld für »diese verdammten Milchmädchenkostüme« ausgegeben werden darf; ein betagter Ehemaliger, der 1898 Präsident war, thront auf einer Kiste und denkt, wie viel einfacher es doch zu seiner Zeit zuging.
Wie eine Show des Triangle je zustande kam, blieb ein ewiges Rätsel, aber das Spannende an dem Rätsel war, ob einer sich genug angestrengt hatte, um das kleine goldene Dreieck auf seiner Uhrkette tragen zu dürfen. Ha-Ha Hortense! wurde sechsmal umgeschrieben und beschäftigte laut Programm neun Koautoren. Alle Triangle-Shows sollten ursprünglich »etwas ganz anderes« werden – »nicht bloß ein gewöhnliches Musical«, doch wenn die verschiedenen Autoren, der Präsident, der Choreograph und der Fakultätsausschuss ihren Senf dazugegeben hatten, entpuppte es sich doch wieder als die gute alte Triangle-Show mit den guten alten Witzen und dem Starkomödianten, der kurz vor der Tournee gefeuert oder krank oder sonst irgendetwas wurde, und immer gab es im Ballett den Mann mit dem starken dunklen Bartwuchs, der »sich um keinen Preis zweimal am Tag rasieren will, verdammt noch mal!«.
In Ha-Ha Hortense! gab es eine herrliche Stelle. Es gehört zur Tradition in Princeton, dass ein Yale-Absolvent, der Mitglied des weithin bekannten »Skull and Bones«-Club ist, bei Erwähnung dieses geheiligten Namens den Raum verlassen muss. Es gehört ebenfalls zur Tradition, dass die Mitglieder dieses Clubs im späteren Leben unweigerlich erfolgreich werden und Geld, Wählerstimmen, Zinsscheine oder was ihnen sonst beliebt, anhäufen. Daher wurde also bei [89] jeder Vorstellung von Ha-Ha Hortense! ein halbes Dutzend Sitze freigehalten und mit den übelstaussehenden Vagabunden besetzt, die man von der Straße weg anheuern konnte und die vom Maskenbildner des Triangle-Clubs noch schlimmer zugerichtet wurden. Diese sechs Vagabunden erhielten Anweisung, in dem Moment, wenn in der Show »Firebrand, der Häuptling der Piraten« auf seine schwarze Flagge deutete und sagte: »Ich bin Yale-Absolvent, seht meine ›Skull and Bones‹!« – in genau diesem Moment also, sich auffällig zu erheben und mit gekränkter Würde und tiefmelancholischem Blick den Saal zu verlassen. Unbewiesenen Gerüchten zufolge soll sich bei einer solchen Gelegenheit ein echter zu den sechs angeheuerten Yalies gesellt haben.
Die ganzen Ferien hindurch spielten sie vor der vornehmen Gesellschaft von acht Städten. Amory gefielen Louisville und Memphis am besten: Hier wusste man Fremde zu empfangen, außerordentlich guten Punsch zu servieren und mit einem erstaunlichen Angebot weiblicher Schönheit zu glänzen. An Chicago schätzte er einen gewissen Schwung, der den starken Akzent vergessen ließ – doch war es eine Yale-Stadt, und da eine Woche später der Yale-Glee-Club erwartet wurde, erfuhr der Triangle nur eingeschränkte Würdigung. In Baltimore dagegen war Princeton zu Hause, und jedermann liebte sie. Überall wurden in reichlichem Maße starke Getränke genossen; unweigerlich betrat einer der Schauspieler höchst angeheitert die Bühne und behauptete, seine besondere Auffassung der Rolle verlange dies. Es gab drei reservierte Eisenbahnwaggons; doch keiner dachte daran zu schlafen, außer im dritten Wagen, der »Viehwaggon« genannt wurde und in dem sich die bebrillten [90] Schwätzer aus dem Orchester zusammenpferchten. Alles ging so rasend schnell, dass keine Zeit blieb, sich zu langweilen, doch als sie, fast am Ende der Ferien, in Philadelphia ankamen, waren sie heilfroh, der von betäubendem Blumenduft und Theaterschminke geschwängerten Atmosphäre zu entkommen, und die Ballettratten schnallten sich mit erleichtertem Seufzen die drückenden Korsetts ab.
Als die Truppe sich auflöste, machte Amory sich eiligst auf den Weg nach Minneapolis, denn dort verbrachte Sally Weatherbys Cousine Isabelle Borgé den Winter, während ihre Eltern im Ausland weilten. Er kannte Isabelle nur als kleines Mädchen, mit dem er damals, als er zum ersten Mal nach Minneapolis kam, manchmal gespielt hatte. Sie lebte jetzt in Baltimore – doch hatte sie seit damals interessante Erfahrungen gemacht.
Amory fühlte sich sehr beschwingt, selbstsicher, nervös und bester Laune. Nach Minneapolis zurückzueilen, um dort ein Mädchen zu treffen, das er als Kind gekannt hatte, erschien ihm der Gipfel der Gefühle, und so telegrafierte er seiner Mutter ohne Gewissensbisse, dass sie nicht auf ihn warten solle… setzte sich in den Zug und dachte die nächsten sechsunddreißig Stunden über sich nach.
»Petting«
Auf der Triangle-Tournee war Amory ständig mit jenem großartigen, weitverbreiteten amerikanischen Phänomen in Berührung gekommen, der »Petting-Party«.
Keine der viktorianischen Mütter – und die meisten [91] Mütter waren viktorianisch – ahnte auch nur im Geringsten, wie wohlbewandert ihre Töchter in der Kunst des Küssens waren. »Dienstmädchen tun so etwas«, sagte Mrs. Huston-Carmelite zu ihrer umschwärmten Tochter. »Die lassen sich erst küssen und dann einen Antrag machen.«
Aber die »Umschwärmte Tochter« verlobt sich jedes halbe Jahr zwischen sechzehn und zweiundzwanzig, bis sie schließlich eine Heirat mit dem jungen Hambell, von Cambell & Hambell, einfädelt, der sich einfältigerweise für ihre erste Liebe hält, und zwischen den Verlobungen erlebt die U. T. (die auf Bällen durch Abklatschen ausgesucht wird – einem System, das das Überleben der Geeignetsten begünstigt) weitere gefühlvolle letzte Küsse im Mondenschein, am Kaminfeuer oder draußen im Dunkeln.
Amory sah Mädchen Dinge tun, die ihm selbst in seiner Erinnerung unvorstellbar vorkamen: um drei Uhr morgens nach dem Ball noch in den unmöglichsten Cafés zu essen, über alle Dinge des Lebens halb ernsthaft, halb spöttisch, jedoch mit einer kaum verhohlenen Erregung zu sprechen, die nach Amorys Ansicht von tiefem moralischem Verfall zeugte. Doch war ihm nie bewusst, wie weit verbreitet diese Haltung war, bis er die Städte zwischen New York und Chicago als eine einzige jugendliche Liebesintrige kennenlernte.
Nachmittags im Plaza, draußen senkt sich die winterliche Dämmerung, von unten die schwachen Klänge eines Schlagzeugs… nervös stolzieren sie im Foyer auf und ab, aufs feinste herausgeputzt, trinken noch einen Cocktail und warten. Dann kommen durch die schwingenden Drehtüren drei Pelzbündel hereingetrippelt. Später ins Theater; dann [92] ein Tisch im Midnight Frolic – natürlich ist die Mutter dabei, aber sie trägt nur dazu bei, alles noch heimlicher und herrlicher zu machen, wie sie einsam an dem verlassenen Tisch thront und denkt, dass diese Vergnügungen doch nicht halb so schlimm sind, wie sie immer hingestellt werden, nur ziemlich langweilig für sie. Doch die U. T. ist wieder verliebt… war das nicht sonderbar? Dass die U. T. und der junge Mann aus Williams einfach nicht mehr ins Taxi hineinpassten, obwohl noch so viel Platz war, und sie ein eigenes nehmen mussten. Sehr seltsam! Ist Ihnen nicht aufgefallen, wie die U. T. glühte, als sie genau sieben Minuten zu spät ankam? Doch die U. T. »kommt heil davon«.
Aus der »Schönen« war der »Flirt« geworden und aus dem »Flirt« der »Baby-Vamp«. Die »Schöne« hatte jeden Nachmittag fünf oder sechs Besucher. Wenn die U. T. durch einen unglücklichen Zufall zwei gleichzeitig hat, wird es für den, der nicht mit ihr verabredet ist, ziemlich ungemütlich. Die »Schöne« war in den Pausen zwischen den Tänzen von einem Dutzend Herren umringt. Versuchen Sie, die U. T. zwischen den Tänzen zu finden, versuchen Sie es mal.
Das gleiche Mädchen… versunken in einer Atmosphäre von Urwaldmusik und der Infragestellung moralischer Werte. Amory fand es faszinierend, dass er jedes umschwärmte Mädchen, das er vor acht Uhr abends kennenlernte, höchstwahrscheinlich noch vor zwölf geküsst haben würde.
»Was um Himmels willen wollen wir eigentlich hier?«, fragte er eines Abends das Mädchen mit den grünen Kämmen im Haar, mit dem er in irgendjemandes Limousine vor dem Country-Club von Louisville saß.
[93] »Keine Ahnung. Mich hat nur der Teufel geritten.«
»Seien wir ganz offen – wir werden uns nie wiedersehen. Ich wollte mit dir hier rausgehen, weil ich fand, dass du das bestaussehende Mädchen weit und breit bist. Dir ist es doch egal, ob du mich jemals wiedersiehst, oder?«
»Ja, schon – aber ist das deine Masche bei allen Mädchen? Was hab ich getan, dass ich mir so was anhören muss?«
»Und du warst gar nicht müde vom Tanzen oder wolltest eine Zigarette oder was du sonst gesagt hast? Du wolltest einfach –«
»Ach komm, gehen wir rein«, unterbrach sie ihn, »wenn du bloß analysieren willst. Über so was braucht man doch nicht zu reden.«
Als die handgestrickten, ärmellosen Westen Mode wurden, nannte Amory sie in einem Geistesblitz »Petting-Hemden«. Dieser Name ging von Küste zu Küste, auf den Lippen von Salonlöwen und U. T.s.
Beschreibung
Amory war nun achtzehn Jahre alt, knapp einen Meter achtzig groß und außerordentlich, wenn auch nicht im klassischen Sinne, gutaussehend. Er hatte ein ziemlich junges Gesicht, zu dessen Unschuld die durchdringenden grünen Augen, umrahmt von langen dunklen Wimpern, nicht recht passen wollten. Ihm fehlte die intensive sinnliche Anziehungskraft, die so oft mit der Schönheit bei Männern und Frauen einhergeht; seine persönliche Ausstrahlung schien eher von innen zu kommen, und er konnte sie nicht an- und [94] abstellen wie einen Wasserhahn. Doch niemand, der ihn je gesehen hatte, konnte sein Gesicht vergessen.
Isabelle
Sie blieb oben an der Treppe stehen. Kunstspringer auf dem Brett, Primaballerinen vor der Premiere oder kräftige, stämmige junge Männer am Tag des großen Spiels mochten Ähnliches empfinden wie sie in diesem Moment. Ein Trommelfeuer oder ein schrilles Potpourri von Themen aus Thaïs und Carmen hätten ihren Auftritt begleiten sollen. Nie zuvor war sie so besorgt um ihr Aussehen gewesen und nie zuvor so damit zufrieden. Vor einem halben Jahr war sie sechzehn Jahre alt geworden.
»Isabelle!«, rief ihre Cousine Sally vom Eingang zum Ankleidezimmer.
»Ich bin fertig.« Sie hatte vor Nervosität einen leichten Kloß im Hals.
»Ich musste noch mal nach Hause schicken, um ein anderes Paar Schuhe zu holen. Es dauert nur eine Minute.«
Isabelle wandte sich zum Ankleidezimmer, um einen letzten Blick in den Spiegel zu werfen, doch etwas bewog sie, stehenzubleiben und über die breite Treppe des Minnehaha-Clubs hinunterzuschauen. Ärgerlicherweise machten die Stufen eine Kurve, und sie konnte unten in der Halle nur zwei Paar männliche Füße erspähen. Die uniformen schwarzen Halbschuhe gaben keinerlei Hinweis auf die Person ihres Trägers, doch fragte sie sich gespannt, ob wohl das eine Paar zu Amory Blaine gehörte. Obwohl sie ihm noch nicht [95] begegnet war, hatte dieser junge Mann schon einen beträchtlichen Teil ihres Tages in Anspruch genommen – des ersten Tages seit ihrer Ankunft. Schon im Auto auf dem Weg vom Bahnhof war Sally herausgeplatzt, während sie sie noch mit Fragen, Erzählungen, Enthüllungen und übertriebenen Geschichten überschüttete:
»Du erinnerst dich doch noch an Amory Blaine. Also, er ist ganz verrückt darauf, dich wiederzusehen. Er ist extra einen Tag länger vom College weggeblieben, und heute Abend kommt er. Er hat schon so viel von dir gehört und sagt, dass er sich an deine Augen erinnert.«
Das hatte Isabelle gefallen. Es klärte die Fronten zwischen ihnen, obwohl sie durchaus fähig war, ihre Liebesaffären selbst zu arrangieren, mit oder ohne vorherige Ankündigung. Doch dann befiel sie anstelle der freudig-erwartungsvollen Spannung ein beklemmendes Gefühl, das sie fragen ließ:
»Was meinst du damit, er hat viel von mir gehört? Was für Sachen hat er gehört?«
Sally lächelte. Sie genoss es, ihre ziemlich extravagante Cousine möglichst wirkungsvoll in Szene setzen zu können.
»Er weiß, dass – dass du hübsch bist und so weiter« – sie schwieg einen Moment –, »und ich nehme an, er weiß auch, dass du schon geküsst worden bist.«
Hierbei hatte sich Isabelles kleine Faust plötzlich unter der Felldecke zusammengekrampft. Sie war daran gewöhnt, von ihrer verwegenen Vergangenheit eingeholt zu werden, und es weckte immer denselben Groll in ihr; doch in einer fremden Stadt war ein solcher Ruf von Vorteil. Sie war also »leicht zu haben«? Na – sie würden’s schon erleben.
[96] Isabelle sah im frostigen Morgenlicht den Schnee am Fenster vorübergleiten. Es war hier so viel kälter als in Baltimore, das hatte sie vergessen; die Seitentür war vereist, und in den Ecken der Fenster hatte sich Schnee zusammengeballt. Ihre Gedanken spielten noch immer mit dem einen Thema. Ob er sich so kleidete wie dieser Junge dort, der gelassen eine belebte Geschäftsstraße entlangschlenderte – in Mokassins und einer Art winterlichem Karnevalskostüm? Typisch Westküste! Natürlich war er nicht so: Schließlich ging er nach Princeton, war dort ein Sophomore oder so was. Sie hatte wirklich keine genaue Vorstellung von ihm. Auf einem längst vergilbten Schnappschuss, den sie in einem alten Kodakalbum aufbewahrte, hatten sie seine großen Augen beeindruckt (denen er mittlerweile vermutlich an Größe nachgewachsen war). Jedenfalls hatte er im vergangenen Monat, seit ihr Winterbesuch bei Sally beschlossen war, die Ausmaße eines ernst zu nehmenden Gegenspielers angenommen. Kinder sind die durchtriebensten Kuppler und ersinnen ihre Anschläge in Windeseile, und Sally hatte in ihrer Korrespondenz mit Isabelle alle Register gezogen, die ihre Wirkung auf Isabelles leicht erregbares Temperament nicht verfehlten. Schon seit einiger Zeit war Isabelle sehr starker, wenn auch sehr flüchtiger Gefühle fähig…
Sie hielten vor einem weitläufigen, weißen Gebäude, das etwas zurückgesetzt an der schneebedeckten Straße lag. Mrs. Weatherby begrüßte sie herzlich, und ihre verschiedenen jüngeren Cousins und Cousinen wurden aus den Ecken hervorgeholt, in die sie sich artig verdrückt hatten. Isabelle ging ihnen taktvoll entgegen. Wenn sie wollte, nahm sie alle für sich ein, denen sie begegnete – außer älteren Mädchen [97] und bestimmten Frauen. Alle ihre Wirkungen waren sorgfältig von ihr berechnet. Das halbe Dutzend Mädchen, mit dem sie an diesem Morgen die Bekanntschaft erneuerte, war überaus beeindruckt, und zwar mindestens ebensosehr von ihrer persönlichen Ausstrahlung wie von ihrem Ruf. Amory Blaine war überall Gesprächsthema. Offenbar sehr locker in Liebesdingen, weder beliebt noch unbeliebt – jedes der Mädchen schien zu irgendeiner Zeit eine Affäre mit ihm gehabt zu haben, doch keine wollte wirklich mit der Sprache herausrücken. Er musste sich einfach in sie verlieben… Sally hatte diese Informationen an ihre junge Clique weitergegeben, und diese erzählte wiederum alles Sally, sobald sie Isabelle zu Gesicht bekommen hatten. Isabelle beschloss im Geheimen, dass sie sich notfalls zwingen würde, ihn zu mögen – das war sie Sally schuldig. Doch angenommen, sie wäre schrecklich enttäuscht von ihm? Sally hatte ihn in so glühenden Farben geschildert – er sah gut aus, konnte »distinguiert sein, wenn er wollte«, hatte seine Masche und war ziemlich unberechenbar. Kurz, er vereinte in sich alle romantischen Eigenschaften, nach denen sie sich aufgrund ihres Alters und ihrer Herkunft sehnte. Sie fragte sich, ob es wohl seine Tanzschuhe waren, die sich dort zögernd im Foxtrottschritt auf dem weichen Teppich bewegten.
Alle Eindrücke und all ihre Vorstellungen schwirrten in Isabelles Kopf kaleidoskopartig durcheinander. Sie verfügte über diese seltsame Mischung aus gesellschaftlichen und künstlerischen Begabungen, die man oft in zwei Schichten findet: bei Damen der Gesellschaft und bei Schauspielerinnen. Ihre Bildung, oder besser ihre Verbildung, war völlig von den Jungen bestimmt, die sich bisher um ihre Gunst [98] gerissen hatten; sie war von einem instinktiven Feingefühl geleitet, und der Umfang ihrer Liebesaffären war nur durch die Anzahl der dafür in Frage Kommenden, die in telefonischer Reichweite waren, begrenzt. Die Lust am Flirt leuchtete aus ihren großen, schwarzbraunen Augen und schimmerte durch ihre intensive sinnliche Anziehungskraft.
So wartete sie also an diesem Abend oben am Treppenabsatz, während die Schuhe geholt wurden. Als sie gerade ungeduldig zu werden begann, kam Sally aus dem Ankleidezimmer, wie immer guten Mutes und strahlender Laune, und gemeinsam gingen sie hinunter in das untere Stockwerk, während in Isabelles unaufhörlich rotierendem Hirn zwei Gedanken aufblitzten: Sie war froh über ihre glühenden Wangen an diesem Abend, und sie fragte sich, ob er wohl gut tanzte.
Unten im großen Clubraum umringten sie für einen Moment die Mädchen, denen sie schon am Nachmittag begegnet war, dann hörte sie Sally eine Reihe von Namen hersagen und sah sich einem Sextett schwarz und weiß gekleideter, fürchterlich steifer, entfernt bekannter Gestalten gegenüber, denen sie zunickte. Irgendwo fiel auch der Name Blaine, doch konnte sie ihn zunächst nicht zuordnen. Einen Augenblick lang herrschte sehr verwirrtes, jugendlich unbeholfenes Durcheinander, allgemeines Zurücktreten und Irgendwo-Anstoßen, bis sich schließlich jeder im Gespräch mit der Person wiederfand, nach der es ihn am wenigsten verlangt hatte. Isabelle setzte sich mit Froggy Parker, Freshman in Harvard, mit dem sie einst Himmel und Hölle gespielt hatte, auf die Treppe. Eine witzige Anspielung auf die Vergangenheit war alles, was sie benötigte. Was Isabelle in [99] Gesellschaft aus einem einzigen Einfall machen konnte, war bemerkenswert. Zunächst wiederholte sie ihn entzückt mit ihrer enthusiastisch klingenden tiefen Altstimme, in der eine Spur von südlichem Akzent mitschwang; dann hielt sie ihn weit von sich weg und lächelte ihn an – mit ihrem wundervollen Lächeln; dann gab sie ihn in mehreren Variationen zum besten und spielte eine Art geistiges Hasch-mich-Spiel mit ihm – und dies alles in Form eines sogenannten Dialoges. Froggy war hingerissen und bemerkte kaum, dass das Ganze nicht ihm galt, sondern den grünen Augen, die unter glänzendem, sorgfältig mit Brillantine geglättetem Haar hervorblitzten – denn Isabelle hatte links von sich Amory entdeckt. Wie eine Schauspielerin auch in der größten Aufwallung ihrer magnetischen Kräfte einen ziemlich genauen Eindruck von den meisten Zuschauern in der ersten Reihe gewinnt, so taxierte Isabelle ihren Gegenspieler. Zunächst einmal hatte er kastanienbraunes Haar, und ein Gefühl der Enttäuschung sagte ihr, dass sie erwartet hatte, er wäre dunkelhaarig und so schlank wie aus der Strumpfbandwerbung… Ansonsten – leicht errötet, mit einem klaren, vielversprechenden Profil, das sich deutlich von dem gutsitzenden Abendanzug und dem seidenen Rüschenhemd abhob; diese Art Hemden sehen Frauen mit Begeisterung an Männern, die Männer hingegen sind sie allmählich leid.
Während dieser Prüfung beobachtete Amory sie schweigend.
»Und was meinst du dazu?«, fragte sie plötzlich und warf ihm einen unschuldigen Blick zu.
In diesem Moment entstand eine allgemeine Unruhe, und Sally führte sie zu ihrem Tisch. Amory kämpfte sich durch [100] an Isabelles Seite und flüsterte: »Du bist meine Tischdame, wusstest du das schon? Wir sind einander für den Abend zugeteilt.«
Isabelle schnappte nach Luft – das kam ja sehr gelegen. Dennoch hatte sie das Gefühl, als sei der Hauptdarstellerin eine gute Stelle weggenommen und einer Nebenfigur übertragen worden… Sie durfte nicht im Geringsten die Führung verlieren. Helles Gelächter über das allgemeine Durcheinander beim Plätzesuchen ertönte von der Tafel, und dann hefteten sich neugierige Blicke auf sie, als sie sich nahe ans Kopfende setzte. Sie genoss das ausgiebig, und Froggy Parker war so hingerissen von ihren immer stärker glühenden Wangen, dass er vergaß, Sally den Stuhl zurechtzurücken, und in völlige Verwirrung versank. Amory saß auf der anderen Seite, ganz Selbstvertrauen und Eitelkeit, und starrte sie mit offener Bewunderung an. Er begann ohne Umschweife und Froggy mit ihm:
»Ich habe viel von dir gehört, seit du noch Zöpfe hattest…«
»War das nicht komisch heute Nachmittag…«
Beide hielten inne. Isabelle wandte sich schüchtern Amory zu. Ihr Gesicht war jedem stets Antwort genug, aber sie entschloss sich zu sprechen.
»Wie – von wem?«
»Ach, von allen Möglichen – die ganzen Jahre, seit du weggegangen bist.«
Sie errötete geziemend. Froggy zu ihrer Rechten hatte den Kampf bereits verloren, obwohl er es noch nicht bemerkt hatte.
»Ich will dir sagen, was mir von dir in Erinnerung [101] geblieben ist in all den Jahren«, fuhr Amory fort. Sie neigte sich ein wenig zu ihm und blickte sittsam auf den Sellerie, der vor ihr lag. Froggy seufzte – er kannte Amory und die Situationen, für die Amory wie geboren schien. Er wandte sich Sally zu und fragte sie, ob sie im nächsten Jahr woanders zur Schule gehen würde. Amory fuhr sogleich mit schwerem Geschütz auf.
»Ich kenne ein Adjektiv, das genau auf dich passt.«
Das war eine seiner bevorzugten Eröffnungen – er dachte dabei selten an ein bestimmtes Wort, aber es rief stets Neugier hervor, und wenn er zu sehr in die Ecke gedrängt wurde, konnte er immer rasch etwas Schmeichelhaftes von sich geben.
»Ja? Was für eins?« Isabelles Gesicht war ein Meisterstück hingerissener Neugierde.
Amory schüttelte den Kopf.
»Ich kenne dich noch nicht gut genug.«
»Wirst du’s mir sagen – später?«, flüsterte sie fast.
Er nickte.
»Setzen wir uns nach draußen.«
Isabelle nickte.
»Hat dir schon mal jemand gesagt, was für wunderschöne Augen du hast?«, fragte sie.
Amory gab sich Mühe, sie noch wunderschöner aussehen zu lassen. Er war nicht ganz sicher, doch bildete er sich ein, dass ihr Fuß soeben seinen unter dem Tisch berührt hatte. Vielleicht war es aber auch nur das Tischbein gewesen. Es war schwer zu sagen. Dennoch erregte es ihn. Er überlegte blitzschnell, ob es schwierig wäre, sich das kleine Kabinett oben zu sichern.
Isabelle und Amory waren sicher weder unschuldig noch übermäßig verdorben. Zudem hatte es bei dem Spiel, das sie spielten, wenig Sinn, sich als Amateur auszugeben – einem Spiel, das in den kommenden Jahren vermutlich ihre Hauptbeschäftigung sein würde. Ihr Kapital war, wie seines auch, gutes Aussehen und ein nervöses Temperament, und der Rest ergab sich aus der ihr zugänglichen Lektüre populärer Romane und dem, was sie von den Unterhaltungen etwas älterer Cliquen im Ankleidezimmer aufgeschnappt hatte. Isabelle hatte sich schon mit neuneinhalb einen koketten Gang zugelegt, und sosehr sie auch mit großem, verträumtem Blick die Unschuld vom Lande spielte, so wenig ließ sich Amory davon täuschen. Er wartete, dass die Maske von ihr abfiel, stellte jedoch gleichzeitig nicht ihr Recht in Frage, sie zu tragen. Sie hingegen war von seiner einstudierten Haltung, mit der er blasierte Weltklugheit zur Schau trug, nicht beeindruckt. Sie hatte in einer größeren Stadt gelebt und rangierte daher ein wenig höher. Doch akzeptierte sie seine Pose – sie gehörte zu den Dutzend kleinen Konventionen einer solchen Affäre. Ihm war klar, dass er diese besondere Gunst nur deshalb genoss, weil Isabelle geschult war; er wusste, dass er lediglich das lohnendste Objekt in Sichtweite darstellte und dass er seine Chancen verbessern musste, bevor er seinen Vorteil verlor. Und so näherten sie sich einander mit so viel schlauer Berechnung, dass ihre Eltern das blanke Entsetzen gepackt hätte.
Nach dem Abendessen begann man schwungvoll zu tanzen… Schwungvoll? Die Jungen klatschten Isabelle alle [103] paar Schritte ab und zankten sich dann in den Ecken herum: »Du gönnst mir keinen Zentimeter!«, und: »Ihr hat’s auch nicht gefallen – sie hat’s mir beim nächsten Abklatschen gesagt.« Und das stimmte – sie sagte es zu jedem und drückte jede Hand zum Abschied auf eine Weise, die besagte: »Du weißt – mit dir zu tanzen macht mir den Abend erst schön.«
Doch nach Ablauf von zwei Stunden taten die weniger raffinierten Schönlinge gut daran, ihre pseudoleidenschaftlichen Blicke auf andere Objekte zu richten, denn Schlag elf Uhr saßen Isabelle und Amory auf der Couch in dem kleinen Kabinett, das vom Leseraum im oberen Stockwerk abging. Sie war sich bewusst, dass sie ein hübsches Paar abgaben und für diese Abgeschiedenheit wie geschaffen waren, während die weniger Bevorzugten sich unten tummelten und schwatzten.
Die Jungen, die an der offenen Tür vorbeikamen, schauten neidvoll herein – die Mädchen lachten nur, runzelten die Stirn und dachten sich ihren Teil.
Sie hatten jetzt ein ganz bestimmtes Stadium erreicht. Sie hatten über die jeweiligen Fortschritte seit ihrem letzten Zusammentreffen berichtet, und vieles davon wusste Isabelle bereits von anderen. Er war also ein Sophomore, im Vorstand des Princetonian und hoffte, im letzten Studienjahr Vorsitzender zu werden. Er erfuhr, dass unter den Jungen, mit denen sie in Baltimore ausging, ein paar »schreckliche Draufgänger« waren, die in künstlich berauschtem Zustand auf Bällen erschienen; die meisten waren schon zwanzig oder so und fuhren höchst verführerische rote Studebakers. Mindestens die Hälfte von ihnen war offenbar schon aus mehreren Schulen und Colleges herausgeflogen, doch waren [104] einige Sportgrößen darunter, bei deren Namen er sie bewundernd ansah. In Wirklichkeit war Isabelles nähere Bekanntschaft mit den Universitäten noch im Anfangsstadium. Sie hatte etliche junge Männer kennengelernt, die fanden, sie sei ein »hübsches Ding – sollte man im Auge behalten«. Doch Isabelle flocht die Namen so geschickt in die Erzählung heiterer Begebenheiten ein, dass selbst ein Wiener Aristokrat sich hätte blenden lassen. Eine solche Macht haben junge, tiefe Altstimmen auf bequemen Sofas.
Er fragte sie, ob sie ihn für selbstgefällig halte. Sie antwortete, es gebe einen Unterschied zwischen Selbstgefälligkeit und Selbstsicherheit. Sie bewundere Selbstsicherheit bei Männern.
»Ist Froggy ein guter Freund von dir?«, fragte sie.
»Ziemlich gut – wieso?«
»Er tanzt miserabel.«
Amory lachte.
»Er tanzt, als hätte er das Mädchen auf dem Rücken und nicht in seinen Armen.«
Das gefiel ihr.
»Du kannst wirklich gut Leute einschätzen.«
Amory bestritt dies vehement. Er gab ihr jedoch noch sein Urteil über mehrere andere Leute ab. Dann sprachen sie über Hände.
»Du hast wirklich schöne Hände«, sagte sie. »Sie sehen aus, als spieltest du Klavier. Spielst du?«
Wie gesagt, sie hatten ein ganz bestimmtes Stadium erreicht – und mehr als das: ein sehr entscheidendes Stadium. Amory war einen Tag länger geblieben, um sie zu sehen, und sein Zug fuhr um achtzehn Minuten nach Mitternacht. [105] Sein großer Koffer und sein Handgepäck warteten schon am Bahnhof auf ihn; seine Uhr begann schwer in seiner Tasche zu lasten.
»Isabelle«, sagte er unvermittelt. »Ich möchte dir etwas sagen.« Sie hatten leichthin über den »seltsamen Ausdruck in ihren Augen« gesprochen, und Isabelle konnte aus seinem veränderten Verhalten erraten, was nun kommen würde – tatsächlich hatte sie sich bereits gefragt, wie bald es wohl kommen würde. Amory griff über ihre Köpfe und schaltete das elektrische Licht aus, so dass sie im Dunkeln saßen; nur ein roter Schimmer von den Lampen im Leseraum fiel durch die Tür. Dann begann er:
»Ich weiß nicht, ob du’s schon weißt, was du – was ich sagen will. Lieber Himmel, Isabelle, das klingt wie eine abgedroschene Phrase, aber es ist keine.«
»Ich weiß«, sagte Isabelle sanft.
»Vielleicht werden wir uns nie wieder so sehen wie heute– ich hab manchmal verdammtes Pech.« Er saß entfernt von ihr, lehnte am anderen Ende des Sofas, aber sie konnte seine Augen deutlich im Dunkeln sehen.
»Natürlich werden wir uns wiedersehen – Dummkopf.« Eine fast unhörbare Betonung lag auf dem letzten Wort, so dass es beinahe zärtlich klang. Mit leicht rauher Stimme fuhr er fort:
»Ich hab mich schon in viele Leute verliebt – in Mädchen, mein ich –, und ich nehm an, du auch – in Jungen, mein ich – aber, ernstlich, du…«, er brach plötzlich ab und beugte sich vor, das Kinn auf die Hände gestützt: »Ach, es hat ja doch keinen Sinn – du gehst deinen Weg und ich vermutlich meinen.«
[106] Ein Moment Schweigen. Isabelle war aufgewühlt; sie knüllte ihr Taschentuch zu einer festen Kugel und ließ es in dem schwachen Licht, das sie umflutete, absichtlich auf den Boden fallen. Ihre Hände berührten sich für einen Augenblick, doch keiner sprach. Immer stärker und süßer wurde das Schweigen. Draußen war ein anderes verirrtes Paar aufgetaucht und klimperte auf dem Klavier im Nebenraum. Nach dem üblichen Anfang mit Chopsticks spielte einer der beiden Babes in the Woods, und in hellem Tenor drangen die Worte in das Kabinett:
Give me your hand –
I’ll understand
We’re off to slumberland.
Isabelle summte leise mit und erschauerte, als sie spürte, wie Amorys Hand die ihre umschloss.
»Isabelle«, flüsterte er. »Du weißt, dass ich verrückt nach dir bin. Du machst dir doch auch ein bisschen was aus mir.«
»Ja.«
»Wie viel denn – magst du irgendeinen anderen lieber?«
»Nein.« Er konnte sie kaum verstehen, obwohl er sich so nahe zu ihr hinbeugte, dass er ihren Atem an seiner Wange spürte.
»Isabelle, ich gehe jetzt für sechs lange Monate aufs College zurück – warum sollten wir nicht – wenn ich nur etwas von dir hätte, an das ich mich erinnern könnte…«
»Schließ die Tür…« Ihre Stimme war nur ein Hauch, und fast war er unsicher, ob sie überhaupt gesprochen hatte. Als er die Tür schloss, schien die Musik draußen zu erzittern.
Kiss me good night.
Was für ein wundervolles Lied, dachte sie – alles war wundervoll an diesem Abend, und am wundervollsten diese romantische Szene im Kabinett, mit ihren ineinander verschlungenen Händen und ihren Silhouetten, die sich im Dunkeln immer näher kamen. Ihr Leben breitete sich als unendliche Folge solcher Szenen vor ihr aus: im Mondlicht unter blassem Sternenhimmel, auf den Rücksitzen behaglicher Limousinen und in niedrigen, gemütlichen Roadsters, die unter schützenden Bäumen geparkt waren – nur der Junge würde ein anderer sein, und dieser hier war so süß. Er nahm sanft ihre Hand. Mit einer plötzlichen Bewegung drehte er sie um, hielt sie an die Lippen und küsste ihre Handfläche.
»Isabelle!« Sein Flüstern verschmolz mit der Musik, und sie schienen näher aufeinander zuzutreiben. Ihr Atem ging schneller. »Darf ich dich nicht küssen, Isabelle – Isabelle?« Mit halbgeöffneten Lippen wandte sie ihm im Dunkel den Kopf zu. Plötzlich hörten sie Stimmengewirr und das Geräusch schneller Schritte näher kommen. Blitzschnell griff Amory hinauf und drehte das Licht an, und als die Tür sich öffnete und drei Jungen, darunter auch der zornige und tanzwütige Froggy, hereingestürzt kamen, blätterte er in den Magazinen, die auf dem Tisch lagen, während sie vollkommen unbefangen in heiterster Ruhe dasaß und die Eindringlinge sogar mit einem freundlichen Lächeln willkommen hieß. Doch ihr Herz schlug wie wild, und sie hatte das Gefühl, als sei ihr etwas Kostbares vorenthalten worden.
Es war offensichtlich vorbei. Es wurde lautstark nach [108] einem Tanz verlangt, sie wechselten einen schnellen Blick – der seine verzweifelt, der ihre bedauernd –, und dann ging der Abend weiter wie zuvor, mit den inzwischen beruhigten Schönlingen und dem ewigen Abklatschen.
Um Viertel vor zwölf schüttelte Amory ihr ernst die Hand, inmitten einer kleinen Gruppe, die sich versammelt hatte, um ihm eine gute Reise zu wünschen. Einen Augenblick lang verlor er sein Gleichgewicht, und auch sie schien etwas verwirrt, als die spöttische Stimme eines unsichtbaren Witzboldes rief: »Nimm sie mit nach draußen, Amory!«
Er nahm ihre Hand und drückte sie ein wenig, und sie gab den Druck zurück, wie sie es an diesem Abend bei zwanzig anderen Händen getan hatte – das war alles.
Als sie um zwei Uhr morgens wieder im Haus der Weatherbys waren, fragte Sally, ob sie und Amory sich im Kabinett gut »amüsiert« hätten. Isabelle wandte sich ruhig zu ihr um. In ihren Augen brannte das Feuer der Idealistin, der unberührten Träumerin von Jeanne-d’Arc-Träumen.
»Nein«, antwortete sie, »solche Dinge tue ich nicht mehr; er hat mich darum gebeten, aber ich habe nein gesagt.«
Als sie in ihr Bett stieg, fragte sie sich, was wohl morgen in seinem Expressbrief stehen würde. Er hatte einen so wunderschönen Mund – ob sie jemals –?
»Vierzehn Englein um sie steh’n«, sang Sally schläfrig im Nachbarzimmer.
»Verdammt!«, murrte Isabelle, klopfte das Kissen zu einem üppigen Polster zurecht und streckte sich vorsichtig zwischen den kalten Bettlaken aus. »Verdammt!«
Mit Hilfe des Princetonian hatte Amory es endlich geschafft. Die unbedeutenderen Snobs – fein ausbalancierte Gradmesser des Erfolges – erwärmten sich für ihn, je näher die Clubwahlen rückten, und Tom und er wurden von Gruppen höherer Semester aufgesucht, die höchst umständlich hereinkamen, mühsam auf der Kante eines Möbelstückes balancierten und von allem Möglichen redeten, nur nicht von dem einen Thema, das ihnen wirklich am Herzen lag. Amory amüsierte sich über die ernsten Blicke, die auf ihn gerichtet waren, und sobald es sich bei seinen Besuchern um Vertreter eines Clubs handelte, an dem er kein Interesse hatte, war es sein größtes Vergnügen, sie mit unorthodoxen Bemerkungen zu schockieren.
»Ja, mal sehen…«, sagte er eines Abends zu einer bestürzten Delegation, »welchen Club vertretet ihr denn?«
Vor Besuchern von Ivy, Cottage und Tiger Inn spielte er den »netten, unverdorbenen, unschuldigen Jungen«, blieb ganz unbefangen und tat, als habe er keine Ahnung vom Zweck ihres Besuches.
Als Anfang März der schicksalhafte Morgen endlich anbrach und der Campus sich in ein Tollhaus verwandelte, schlüpfte Amory unauffällig mit Alec Connage ins Cottage und beobachtete das plötzlich völlig neurotische Verhalten seiner Klasse mit größter Verwunderung.
Da gab es Gruppierungen, die hektisch von Club zu Club sprangen; andere, die vor zwei oder drei Tagen Freundschaft geschlossen hatten und nun tränenüberströmt und wild entschlossen bekundeten, unter allen Umständen [110] demselben Club beitreten zu müssen, nichts sollte sie trennen; langgehegter Groll kam wütend zum Ausbruch, wenn die plötzlich prominent Gewordenen sich erinnerten, wie herablassend sie als Freshmen behandelt worden waren. Völlig Unbekannte wurden zu hochwichtigen Persönlichkeiten, sofern sie nur bestimmte, heißbegehrte Einladungen erhielten; andere, scheinbar »todsichere« Kandidaten stellten fest, dass sie sich unerwartet Feinde gemacht hatten, fühlten sich gescheitert und im Stich gelassen, schwangen wilde Reden und drohten, das College zu verlassen.
In Amorys Clique wurden einige nicht zugelassen, weil sie grüne Hüte trugen, »verdammte Modegecken« waren, zu viel »Hang zum Himmel« zeigten, sich irgendwann »weiß Gott nicht wie ein Gentleman« betrunken hatten oder was für unerfindliche, geheime Gründe es sonst noch geben mochte, die nur den Verteilern der schwarzen Wahlkugeln bekannt waren.
Diese Orgie der allgemeinen Verbrüderung fand ihren Höhepunkt in einer riesigen Party im Nassau Inn, wo aus ungeheuren Kesseln Punsch ausgeschenkt wurde und das gesamte untere Stockwerk sich in ein einziges trunkenes, wirbelndes, lärmendes Durcheinander von Gesichtern und Stimmen verwandelte.
»He, Dibby – gratuliere!«
»Tom, alter Junge, hast ’n netten Haufen im Cap.«
»Sag mal, Kerry…«
»O Kerry – hab gehört, du bist im Tiger gelandet – bei all den Gewichthebern!«
»Na, jedenfalls bin ich nicht im Cottage – zur Freude der Salonlöwen.«
[111] »Overton soll ohnmächtig geworden sein, als er die Einladung zum Ivy kriegte – und glaubt ihr vielleicht, er hätte sich gleich eingetragen? Von wegen – hat sich aufs Fahrrad geschwungen und ist zum Murray-Dodge-Haus rübergeprescht – hatte Angst, es wär ein Irrtum.«
»Wie bist du denn in den Cap gekommen – du alter Schwerenöter?«
»Gratuliere!«
»Gratulier dir auch. Hab gehört, du hast eine tolle Clique.«
Als die Bar schloss, teilte sich die Gesellschaft in Gruppen auf und strömte singend über den verschneiten Campus, von dem seltsamen Irrglauben besessen, dass nun das Snob-Spielen und die Anspannung vorbei seien und sie in den nächsten zwei Jahren tun und lassen könnten, was sie wollten.
Noch lange danach dachte Amory an den Frühling seines Sophomore-Jahres als die glücklichste Zeit seines Lebens zurück. Seine Vorstellungen entsprachen dem Leben, wie er es vorfand; er wollte nichts weiter, als sich treiben zu lassen und zu träumen und an den schönen Aprilnachmittagen ein Dutzend neugewonnener Freundschaften zu genießen.
Eines Morgens kam Alec Connage in sein Zimmer und weckte ihn in dem Sonnenschein und dem besonderen Glanz der Campbell Hall, der durch sein Fenster schien.
»Wach auf, Erbsünder, und rapple dich auf. Sei in einer halben Stunde vor dem Renwick-Haus. Jemand hat ein Auto aufgetrieben.« Er nahm die Schreibtischabdeckung und legte sie, mit allem darauf befindlichen Krimskrams, behutsam auf das Bett.
[112] »Und wo habt ihr das Auto her?«, fragte Amory zynisch.
»Streng vertraulich – aber sei kein Spielverderber, sonst darfst du nicht mitkommen.«
»Ich werd wohl besser weiterschlafen«, sagte Amory ruhig, legte sich wieder hin und langte neben seinem Bett nach einer Zigarette.
»Weiterschlafen!«
»Warum nicht? Ich hab um halb zwölf einen Kurs.«
»Alter Miesepeter! Aber schön, wenn du nicht mitwillst an die Küste…«
Mit einem Satz war Amory aus dem Bett, die Gegenstände auf der Schreibtischabdeckung flogen in alle Richtungen. Die Küste… seit Jahren hatte er sie nicht mehr gesehen – seit den Pilgertouren, die er mit seiner Mutter unternommen hatte.
»Wer kommt noch mit?«, fragte er, als er in seine Unterhosen schlüpfte.
»Dick Humbird und Kerry Holiday und Jesse Ferrenby und – ach, fünf oder sechs insgesamt. Mach schnell, Junge!«
Zehn Minuten später schlang Amory im Renwick-Haus seine Cornflakes hinunter, und um halb zehn rollten sie fröhlich aus der Stadt, zum Sandstrand von Deal Beach.
»Weißt du«, sagte Kerry, »der Wagen ist von da unten. Er wurde in Asbury Park von Unbekannten gestohlen, die ihn in Princeton stehengelassen und sich dann Richtung Westen davongemacht haben. Unser herzloser Ritter Humbird hat die offizielle Erlaubnis von der Stadt, den Wagen abzuliefern.«
»Hat irgendwer Geld dabei?«, erkundigte sich Ferrenby und wandte sich vom Vordersitz zu ihnen um.
[113] Im Chor erscholl ein einhelliges, nachdrückliches Nein.
»Das macht die Sache spannend.«
»Geld – was ist schon Geld? Wir können den Wagen verkaufen.«
»Oder Überführungsgebühren verlangen oder so was.«
»Und wie kriegen wir etwas zu essen?«, fragte Amory.
»Aber, aber«, gab Kerry zurück und warf ihm einen tadelnden Blick zu, »zweifelst du etwa an Kerrys Fähigkeiten, mal drei Tage zu hungern? Andere Leute haben jahrelang von gar nichts gelebt. Lies mal die Pfadfinderzeitschrift.«
»Drei Tage«, sinnierte Amory, »und ich hab Vorlesungen.«
»Ein Tag davon ist schon mal Sonntag.«
»Trotzdem, ich kann nur sechs Vorlesungen schwänzen, und wir haben noch mehr als eineinhalb Monate vor uns.«
»Werft ihn raus!«
»Das wird ein langer Spaziergang nach Hause.«
»Amory, du produzierst dich, wenn ich mal einen neuen Ausdruck prägen darf.«
»Solltest du dich nicht lieber einmotten lassen, Amory?« Amory ließ sich ergeben zurückfallen und versank in die Betrachtung der vorbeiziehenden Szenerie. Irgendwie schien Swinburne darauf zu passen.
Oh, des Winters Regen und Verwüstungen sind vorbei,
Und die Zeiten des Schnees und der Sünden,
Die Tage, die Liebsten und Liebste scheiden,
Das Licht, das verliert, die Nacht, die gewinnt;
Und erinnerte Zeit ist vergessener Kummer,
Und Fröste sind überwunden, Blumen hervorgebracht,
[114] Und im grünen Unterholz und Gebüsch
Blüte um Blüte der Frühling beginnt.
Die reichen Ströme nähren von Blumen sich –
»Was ist los, Amory? Amory denkt an Poesie, an liebliche Vögel und Blumen. Ich seh’s ihm an.«
»Nein, tu ich nicht«, log er. »Ich denke an den Princetonian. Eigentlich sollte ich heute Abend etwas abliefern; aber ich kann ja anrufen.«
»Oh«, sagte Kerry respektvoll, »diese wichtigen Leute…« Amory errötete, und ihm schien, als sei Ferrenby, ein abgeschmetterter Bewerber, leicht zusammengezuckt. Natürlich machte Kerry nur Spaß, aber er hätte den Princetonian wirklich nicht erwähnen müssen.
Es war ein ruhiger Schönwettertag, und als sie der Küste näher kamen und salzige Brisen vorüberstrichen, stellte er sich den Ozean und die endlos weiten Sandflächen und die roten Dächer über dem blauen Meer vor. Dann brausten sie durch die kleine Stadt, und plötzlich überflutete ihn ein tiefes Freudengefühl…
»Herr im Himmel! Schaut euch das an!«, rief er.
»Was?«
»Schnell, lasst mich raus – seit acht Jahren habe ich es nicht mehr gesehen! Oh, edle Herren, ich flehe euch an, haltet an!«
»Was für ein verrücktes Kind!«, bemerkte Alec.
»Ich glaube auch, dass er ein bisschen exzentrisch ist.«
Ihm zu Gefallen wurde der Wagen am Straßenrand abgestellt, und Amory rannte zur Strandpromenade. Zuerst [115] bemerkte er, dass das Meer blau war und dass es Unmengen davon gab und dass es toste und toste – all die Banalitäten übers Meer, die man sich vorstellen kann –, doch wenn ihm jemand gesagt hätte, dass es sich um Banalitäten handelte, hätte er ihn verwundert angestarrt.
»So, und jetzt gehen wir was essen«, befahl Kerry, der mit den anderen daherkam. »Komm, Amory, reiß dich los und kehr ins praktische Leben zurück.«
»Wir probieren erst mal das beste Hotel aus«, fuhr er fort, »und dann das nächstbeste und so weiter.«
Sie schlenderten die Promenade entlang zum imposantesten Hotel weit und breit, betraten das Restaurant und setzten sich an einen Tisch.
»Acht Bronx-Cocktails«, bestellte Alec, »und ein Clubsandwich und Pommes frites. Nur eine Portion. Die lassen wir umgehen.«
Amory aß nur wenig; von seinem Stuhl aus konnte er das Meer sehen und die Brandung fühlen. Nach dem Lunch blieben sie sitzen und rauchten in aller Ruhe.
»Was sagt die Rechnung?«
Irgendwer warf einen Blick darauf.
»Acht fünfundzwanzig.«
»Übler Wucher. Wir geben ihnen zwei Dollar und einen für den Kellner. Kerry, sammle das Kleingeld ein.«
Der Kellner kam, und Kerry überreichte ihm feierlich einen Dollar, warf zwei Dollar auf die Rechnung und wandte sich zum Gehen. Sie schlenderten lässig zum Ausgang, wurden aber im nächsten Moment von dem misstrauischen Ganymed eingeholt.
»Ein kleines Missverständnis, Sir.«
[116] Kerry nahm die Rechnung und prüfte sie kritisch.
»Keineswegs!«, sagte er, schüttelte würdevoll den Kopf, zerriss die Rechnung in vier Stücke und überreichte die Fetzen dem Kellner, der so verblüfft war, dass er völlig fassungslos dastand und glotzte, während sie hinausgingen.
»Wird er uns nicht jemanden hinterherschicken?«
»Nein«, sagte Kerry, »einen Moment wird er denken, wir wären die Söhne des Besitzers oder so was; dann wird er noch mal auf die Rechnung schauen und den Geschäftsführer rufen, und bis dahin…«
Sie ließen den Wagen in Asbury stehen und fuhren mit der Straßenbahn nach Allenhurst, wo sie die dichtgedrängten Häuschen auf ihre Schönheit untersuchten. Um vier Uhr nahmen sie in einem Schnellimbiss Erfrischungen zu sich, und diesmal bezahlten sie einen noch geringeren Anteil der Gesamtrechnung; etwas an ihrer Erscheinung und ihrem Savoir-faire machte ihren Auftritt so überzeugend, dass sie ungehindert davonkamen.
»Da siehst du’s, Amory, wir sind marxistische Sozialisten«, erklärte Kerry. »Wir glauben nicht an Eigentum und machen hier die Probe aufs Exempel.«
»Die Nacht rückt heran«, bemerkte Amory.
»Warte und vertrau auf Holiday.«
Um halb sechs waren sie bester Stimmung, bummelten in einer Reihe untergehakt die Promenade auf und ab und sangen ein monotones Liedchen über die traurigen Meereswogen. Dann entdeckte Kerry ein Gesicht in der Menge, das seine Aufmerksamkeit erregte, er raste fort und kam im nächsten Moment mit einem der reizlosesten Mädchen zurück, das Amory jemals gesehen hatte. Ihr blasser Mund [117] reichte von einem Ohr zum anderen, sie hatte ein ausgeprägtes Pferdegebiss und kleine, fürchterlich schielende Augen, aus denen sie einschmeichelnd über ihre seitwärts gebogene Nase hinwegblinzelte. Förmlich stellte Kerry sie einander vor.
»Dies ist Kaluka, Königin von Hawaii! Darf ich Ihnen die Herren Connage, Sloane, Humbird, Ferrenby und Blaine vorstellen.«
Das Mädchen machte rundum Knickse. Armes Geschöpf; Amory vermutete, dass ihr bisher niemand auch nur die geringste Beachtung geschenkt hatte – möglicherweise war sie nicht ganz richtig im Kopf. Was sie von sich gab, während sie neben ihnen herlief (Kerry hatte sie zum Abendessen eingeladen), war nicht dazu angetan, diese Vermutung zu entkräften.
»Sie isst am liebsten ihre einheimischen Gerichte«, sagte Alec mit gesetzter Stimme zum Kellner, »aber Hausmannskost tut’s auch.«
Während des ganzen Abendessens sprach er in höchst respektvollem Ton mit ihr, während Kerry, der an ihrer anderen Seite saß, ihr völlig blödsinnig den Hof machte und sie damit zum Kichern und Grinsen brachte. Amory war mit der Beobachterrolle zufrieden und dachte darüber nach, mit welcher Leichtigkeit Kerry den banalsten Dingen Leben und Glanz verleihen konnte. Mehr oder weniger schienen sie alle diese Gabe zu besitzen, und ihre Gesellschaft war angenehm entspannend. Eigentlich mochte Amory nur einzelne Menschen und fürchtete sie, wenn sie in Gruppen auftraten, es sei denn, er stand im Mittelpunkt der Gruppe. Er fragte sich, wie viel jeder von ihnen zu der Partie beitrug, [118] denn es gab so etwas wie eine geistige Steuer, die jeder zu entrichten hatte. Alec und Kerry waren die Seele des Ganzen, doch nicht das Zentrum. Irgendwie waren der stille Humbird und Sloane mit seiner unduldsamen Hochnäsigkeit das Zentrum.
Schon seit dem Freshman-Jahr war Dick Humbird Amory als die perfekte Verkörperung des Aristokraten vorgekommen. Er war schmächtig, aber gut gebaut – mit schwarzen Locken, klaren Gesichtszügen und ziemlich dunkler Hautfarbe. Was immer er sagte, klang unangreifbar richtig. Er besaß unbegrenzten Mut, durchschnittlich guten Verstand und ein ausgeprägtes Ehrgefühl, einen heiteren Charme, gepaart mit noblesse oblige, was keineswegs dasselbe wie Rechtschaffenheit war. Er konnte sich Ausschweifungen hingeben, ohne sich dabei zu ruinieren, und selbst seine leichtlebigsten Abenteuer hatten nie etwas mit »Sich-Produzieren« zu tun. Andere kleideten sich wie er, versuchten zu sprechen wie er… Amory fand, dass er möglicherweise den Lauf der Welt aufhielt, aber anders hätte er ihn nicht haben wollen…
Er unterschied sich von dem gesunden Typ, der für die Mittelschicht stand – er schien niemals zu schwitzen. Manche Leute konnten kein vertrauliches Wort mit einem Chauffeur wechseln, ohne dass es ein schlechtes Licht auf sie warf; Humbird hätte im Sherry mit einem Farbigen dinieren können, und niemand hätte etwas daran auszusetzen gehabt. Er war kein Snob, obwohl er kaum die Hälfte seiner Klasse kannte. Seine Freunde kamen aus allen Schichten, von den obersten bis zu den untersten, doch es war unmöglich, mit ihm eine Freundschaft zu »pflegen«. Die [119] Bediensteten beteten ihn an und behandelten ihn wie einen Gott. Er schien ein bleibendes Beispiel für das, was die Oberschicht stets zu sein versuchte.
»Er sieht aus wie die gefallenen englischen Offiziere auf den Fotos in der Illustrated London News«, hatte Amory zu Alec gesagt.
»Tja«, hatte Alec geantwortet, »wenn du die bestürzende Wahrheit wissen willst, sein Vater war Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft und hat bei Grundstückspekulationen in Tacoma ein Vermögen gemacht; er ist erst seit zehn Jahren in New York.«
Amory hatte eine merkwürdige Enttäuschung verspürt.
Ihr jetziger Ausflug war nur darum möglich, weil die Klasse nach den Clubwahlen enger zusammengerückt war– als wollten sie einen letzten verzweifelten Versuch unternehmen, miteinander vertraut zu werden, zusammenzuhalten und sich dem eisernen Zugriff der Clubs zu entziehen. Es war ein Abstieg aus den Höhen der Konvention, die sie so unerbittlich angestrebt hatten.
Nach dem Abendessen begleiteten sie Kaluka zur Promenade und schlenderten dann am Strand entlang zurück nach Asbury. Das Meer am Abend war ein ganz neues Erlebnis, all seine Farben und die Abgeklärtheit seines Alters waren verschwunden, und es war nun die trostlose Öde, die nordische Sagen so traurig machte. Amory dachte an Kiplings
Strände von Lukanon, bevor die Robbenjäger kamen.
Da war immer noch eine Musik, doch nun eine unendlich traurige.
[120] Um zehn Uhr abends hatten sie keinen Cent mehr. Für ihre letzten elf Cent hatten sie großartig zu Abend gespeist, waren singend durch die Casinos und die erleuchteten Bogengänge auf der Strandpromenade gezogen und hatten bei jedem Tanzorchester haltgemacht, um begeistert zuzuhören. Auf einem Platz hatte Kerry eine Sammlung für die französischen Kriegswaisen veranstaltet, die einen Dollar und zwanzig Cents einbrachte und von der sie Brandy kauften, falls es ihnen in der Nacht kalt werden sollte. Sie beschlossen den Tag mit einer Filmvorführung und brachen bei der alten Komödie alle gleichzeitig an den unpassendsten Stellen wichtigtuerisch in brüllendes Gelächter aus, sehr zum Ärger des übrigen Publikums. Sie hatten sich strategisch geschickt Einlass verschafft, indem jeder beim Hineingehen bedeutungsvoll auf seinen Hintermann wies. Sloane als Schlusslicht spielte den Unwissenden und leugnete jede Verantwortung, sobald die anderen sich drinnen verteilt hatten; als daraufhin der Kartenabreißer wütend hineinstürzte, folgte er ihm ganz ungeniert.
Später fanden sich alle wieder vor dem Casino ein und trafen Vorbereitungen für die Nacht. Auf Kerrys Betreiben erlaubte ihnen der Wachmann, auf der Terrasse zu schlafen, und nachdem sie aus den Strandbuden einen Riesenstapel grober Decken zusammengetragen hatten, die ihnen als Matratzen und Zudecken dienen sollten, redeten sie noch bis Mitternacht und fielen dann in traumlosen Schlaf, obwohl Amory sich nach Kräften bemühte, wach zu bleiben und den herrlichen Mond zu betrachten, der sich auf dem Wasser spiegelte.
So ging es weiter, zwei fröhliche Tage lang, mit [121] Straßenbahn oder Auto die Küste hinauf und hinunter oder auf Schusters Rappen die belebte Strandpromenade entlang; manchmal speisten sie mit den Reichen, häufiger aber nahmen sie ihr frugales Abendmahl auf Kosten eines nichtsahnenden Restaurantbesitzers ein. In einem Schnellfoto-Geschäft ließen sie sich in acht verschiedenen Posen fotografieren. Kerry bestand darauf, sie zuerst als »Universitätsauswahlmannschaft« zu gruppieren und dann als verwegene Gang aus der East Side, die Mäntel verkehrt herum angezogen, er selbst in der Mitte auf einem Pappmond sitzend. Die Bilder sind vermutlich noch im Besitz des Fotografen – jedenfalls wurden sie nie abgeholt. Das Wetter war phantastisch, wieder schliefen sie draußen, und wieder sank Amory unfreiwillig in den Schlaf.
Der Sonntag brach an, unerschütterlich und anständig, und selbst das Meer schien zu murmeln und zu klagen; so kehrten sie auf den Fords über Land fahrender Farmer nach Princeton zurück und bekamen einen gehörigen Schnupfen, trugen jedoch keine weiteren Schäden von dem Ausflug davon.
Stärker noch als im Vorjahr vernachlässigte Amory seine Studien, nicht absichtlich, sondern mehr aus Faulheit und weil er zu viele andere Interessen hatte. Analytische Geometrie und die melancholischen Hexameter von Corneille und Racine konnten ihn kaum begeistern, und selbst Psychologie, worauf er sehr gespannt gewesen war, entpuppte sich als stupides Fach, in dem Muskelreaktionen und biologische Begriffe weit wichtiger waren als die Erforschung der Persönlichkeit und ihrer Beeinflussung. Es war ein Mittagskurs, und er nickte regelmäßig dabei ein. Da er [122] herausgefunden hatte, dass »subjektiv und objektiv, Sir« fast immer die richtige Antwort war, brachte er diese Phrase bei jeder Gelegenheit an, und die ganze Klasse freute sich, wenn eine Frage an ihn gerichtet wurde und er, durch einen Rippenstoß von Ferrenby oder Sloane geweckt, verschlafen seine Antwort murmelte.
Sie unternahmen jede Menge Ausflüge – nach Orange oder an die Küste, seltener nach New York und Philadelphia; eines Abends allerdings geleiteten sie feierlich vierzehn Kellnerinnen aus dem Child’s hinaus und spendierten ihnen eine Fahrt die Fifth Avenue hinunter – im Oberstock eines Autobusses. Sie schwänzten alle mehr Veranstaltungen als erlaubt, was ihnen einen zusätzlichen Kurs im nächsten Jahr einbrachte, doch war der Frühling einfach zu kostbar, um sich bei vergnügten Streifzügen von irgendetwas stören zu lassen. Im Mai wurde Amory in das Ballkomitee der Sophomores gewählt, und nach einer langen nächtlichen Diskussion stellten Alec und er eine vorläufige Liste möglicher Kandidaten ihres Semesters für den senior council auf und rechneten sich selbst die sichersten Chancen aus. Der senior council sollte aus den achtzehn wichtigsten Vertretern des Senior-Jahrgangs bestehen, und angesichts Alecs Position als Leiter des Footballteams und Amorys Chance, Burne Holiday im Kampf um den Vorsitz des Princetonian knapp zu besiegen, schien ihre Annahme mehr als berechtigt. Seltsamerweise stellten sie beide D’Invilliers als mögliche Kandidaten auf, was ein Jahr zuvor nur Kopfschütteln in der Klasse hervorgerufen hätte.
Den ganzen Frühling hindurch führte Amory, wenn auch mit Unterbrechungen, einen Briefwechsel mit Isabelle [123] Borgé, in dem sie sich gelegentlich heftig zankten und der hauptsächlich von seinen Bemühungen lebte, neue Worte für Liebe zu finden. Isabelle erwies sich in ihren Briefen als allzu besonnen und unsentimental, doch hoffte er wider alle Vernunft, dass sie sich nicht als zu exotisches Gewächs entpuppte, damit sie die lange Wartezeit des Frühlings ebenso überdauerte, wie sie den kurzen Moment im Kabinett des Minnehaha-Clubs überdauert hatte. Im Mai verfasste er fast jede Nacht dreißigseitige Schreiben und sandte sie ihr in dicken Umschlägen, die außen mit »Teil 1« und »Teil 2« beschriftet waren.
»Ach Alec, ich glaube, ich hab das College satt«, sagte er traurig, als sie gemeinsam durch die Dämmerung spazierten.
»Ich glaube, ich auch, irgendwie.«
»Alles, was ich mir wünsche, ist ein kleines Haus irgendwo auf dem Land, irgendwo, wo es warm ist, und eine Frau, und nur gerade so viel zu tun, dass ich kein Moos ansetze.«
»Ich auch.«
»Ich würd gern abgehen.«
»Was sagt dein Mädchen dazu?«
»Oh!« Amory holte erschreckt Luft. »Sie denkt nicht im Traum daran, zu heiraten… das heißt, nicht jetzt. Ich rede von der Zukunft, verstehst du.«
»Mein Mädchen denkt schon daran. Ich bin verlobt.«
»Wirklich?«
»Ja. Sag niemandem ein Wort davon, bitte, aber es stimmt. Vielleicht komme ich nächstes Jahr nicht wieder her.«
»Aber du bist doch erst zwanzig! Und dann vom College abgehen?«
»Was denn, Amory, gerade eben hast du doch gesagt –«
[124] »Ja«, unterbrach ihn Amory, »aber das war nur Wunschdenken. Ich würd nicht im Traum daran denken, vom College abzugehen. Ich bin nur oft so traurig in diesen herrlichen Nächten. Irgendwie habe ich das Gefühl, sie kommen nie wieder, und ich genieße sie nicht so, wie ich könnte. Ich wünschte, mein Mädchen lebte hier. Aber heiraten – keine Chance. Schon deswegen nicht, weil mein Vater sagt, dass nicht mehr so viel Geld da ist wie früher.«
»Wie sinnlos verschwendet sind diese Nächte!«, stimmte Alec zu.
Doch Amory seufzte und nutzte die Nächte. Er hatte einen Schnappschuss von Isabelle, den er wie ein Heiligtum in einer alten Taschenuhr aufbewahrte, und fast jeden Abend um acht löschte er alle Lichter bis auf die Schreibtischlampe und schrieb ihr, vor dem offenen Fenster mit ihrem Bild vor sich, leidenschaftliche Briefe.
Ach, es ist so schwer, Dir zu schreiben, was ich wirklich fühle, wenn ich so viel an Dich denke; Du bist für mich ein Traum geworden, den ich nicht mehr zu Papier bringen kann. Dein letzter Brief ist angekommen, und er war wunderbar! Ich habe ihn ungefähr sechsmal gelesen, besonders den letzten Teil, aber manchmal wünschte ich mir, Du wärest ganz offen und sagtest mir, was Du wirklich von mir denkst; aber Dein letzter Brief war fast zu schön, um wahr zu sein, und ich kann den Juni kaum erwarten! Du musst es unbedingt schaffen, zum Ball zu kommen. Es wird sicher sehr nett, und ich möchte Dich so gerne dorthin mitnehmen, zum Abschluss eines wundervollen Jahres! Ich denke oft über das nach, was Du [125] an jenem Abend gesagt hast, und frage mich, wie ernst Du es wirklich gemeint hast. Wenn’s eine andere gewesen wäre als gerade Du – aber, weißt Du, ich dachte mir gleich, als ich Dich sah, dass Du launisch seist, und Du bist so beliebt und all das, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass Du mich am liebsten magst.
O meine liebe Isabelle, die Nacht ist wundervoll. Irgendwo weit entfernt auf dem Campus spielt jemand Love Moon auf einer Mandoline, und mit der Musik scheinst Du durchs Fenster hereinzuschweben. Jetzt spielt er Goodbye, Boys, I’m Through, wie gut das auf mich passt. Denn für mich ist alles vorbei. Ich habe beschlossen, nie wieder Cocktails zu trinken, und ich weiß, dass ich mich nie wieder verlieben werde – ich könnte es nicht –, zu sehr bist Du Bestandteil meiner Tage und Nächte geworden, als dass ich je an ein anderes Mädchen denken könnte. Ich sehe sie dauernd, und sie interessieren mich nicht. Ich spiele nicht den Unnahbaren – das ist es nicht. Ich bin verliebt, das ist es. O liebste Isabelle (irgendwie kann ich Dich nicht einfach Isabelle nennen – ich hab nur Angst, dass mir das »liebste« auch im Juni vor Deiner Familie herausrutscht), Du musst einfach zum Ball kommen, und dann besuche ich Dich für einen Tag bei Dir zu Hause, und das wird einfach herrlich…
Und so weiter, ein ewiger Monolog, der ihnen beiden unendlich reizvoll, unendlich neu vorkam.
Der Juni kam, und die Tage wurden so heiß und träge, dass sie keinen Gedanken an die Prüfungen verschwenden [126] konnten, sondern verträumte Abende auf dem Hof des Cottage zubrachten und endlose Themen erörterten, bis der Streifen Land Richtung Stony Brook im blauen Dunst verschwand, der Flieder um die Tennisplätze weiß blühte und Worte sich schweigend in Rauch auflösten… Schließlich den verlassenen Prospect entlang und die McCosh-Avenue hinunter, ein Lied auf den Lippen, bis zur Nassau Street, wo es stets hoch herging.
Tom D’Invilliers und Amory waren in diesen Tagen bis spät in die Nacht unterwegs. Das Spielfieber hatte die Sophomore-Klasse erfasst, und manch schwüle Nacht hindurch würfelten sie bis drei Uhr morgens. Nach einer solchen Sitzung kamen sie aus Sloanes Zimmer und sahen, dass der Tau schon fiel und die Sterne am Himmel verblassten.
»Leihen wir uns Fahrräder und machen eine Tour«, schlug Amory vor.
»Gute Idee. Ich bin kein bisschen müde, und genaugenommen ist das die letzte Nacht in diesem Jahr, denn Montag gehen schon die ganzen Ballvorbereitungen los.«
Sie fanden zwei nicht abgeschlossene Fahrräder im Holder Court und machten sich etwa um halb vier Uhr morgens auf den Weg, die Lawrenceville Road entlang.
»Was machst du diesen Sommer, Amory?«
»Frag mich nicht – dasselbe wie immer, nehm ich an. Ein oder zwei Monate in Lake Geneva – ich rechne fest damit, dass du im Juli kommst, hörst du? – und dann Minneapolis, und das heißt eine Sommerparty nach der anderen, Süßholzraspeln, sich langweilen – aber sag, Tom«, sprach er plötzlich weiter, »ist das nicht ein famoses Jahr gewesen?«
»Nein«, erklärte Tom mit Nachdruck – ein neuer Tom, [127] mit Kleidung von Brooks und Schuhen von Franks –, »ich hab das Spiel gewonnen, aber ich glaub, dass ich es nicht noch einmal spielen will. Für dich ist es ganz richtig – du bist ein Gummiball, und irgendwie passt es zu dir, aber ich hab’s satt, mich aufzuführen, als gehörte ich zu den Snobs in diesem Winkel der Welt. Ich möchte irgendwohin, wo man nicht außen vor bleibt, weil man die falsche Krawattenfarbe oder die verkehrten Mantelaufschläge hat.«
»Dazu ist es zu spät, Tom«, widersprach Amory, während sie durch die aufklarende Nacht fuhren, »wo immer du jetzt hingehst, wirst du unbewusst jeden nach dem Maßstab abschätzen, ob er’s ›hat‹ oder ›nicht hat‹. Ob du willst oder nicht, wir haben dich geprägt; du bist einer aus Princeton!«
»Ja, aber«, wandte Tom ein, und seine rauhe Stimme nahm einen wehmütigen Ton an, »warum soll ich dann überhaupt wieder herkommen? Ich weiß jetzt, was Princeton zu bieten hat. Wozu soll ich mich noch zwei Jahre mit Haarspaltereien und Herumlungern im Club rumschlagen? Es bringt mich alles nur noch mehr durcheinander, und ich werde zum kompletten Spießer. Ich hab ja jetzt schon kaum noch Rückgrat, dass ich mich frage, wie ich damit überhaupt zurechtkomme.«
»Das alles trifft nicht den Punkt, Tom«, unterbrach ihn Amory. »Dir sind nur etwas plötzlich die Augen aufgegangen über die Versnobtheit der Welt. Princeton macht unweigerlich aus einem denkenden Wesen ein Mitglied der Gesellschaft.«
»Vermutlich denkst du, du hättest mir das beigebracht, nicht wahr?«, fragte Tom spöttisch und fasste Amory im Halbdunkel scharf ins Auge.
»Etwa nicht?«
»Manchmal glaube ich«, sagte er langsam, »dass du mein böser Engel bist. Aus mir hätte ein ganz guter Dichter werden können.«
»Na komm, das ist wohl ein bisschen hart. Du hast dir doch das College im Osten ausgesucht. Entweder werden dir dort die Augen geöffnet für die Habgier der Menschen, oder du gehst blind durch alles hindurch – wie Marty Kaye –, und das hättest du schwer bereut.«
»Ja«, stimmte er zu, »du hast recht. Das hätte mir auch nicht gefallen. Trotzdem ist es hart, schon mit zwanzig zum Zyniker zu werden.«
»Ich bin schon seit meiner Geburt einer«, murmelte Amory. »Ich bin ein zynischer Idealist.« Er schwieg und fragte sich, ob das irgendetwas bedeutete.
Sie hatten die still daliegende Schule von Lawrenceville erreicht und machten sich auf den Rückweg.
»Gut, so Rad zu fahren, nicht?«, meinte Tom schließlich.
»Ja, ein guter Abschluss, einfach sagenhaft, heute Nacht ist alles gut. Wie sehne ich mich nach einem langen, heißen Sommer und Isabelle!«
»Ach, du und deine Isabelle! Ich wette, sie ist so ein Pflänzchen… Lass uns ein paar Gedichte aufsagen.«
Und Amory trug den vorbeirauschenden Büschen die Ode an eine Nachtigall vor.
»Aus mir wird nie ein Dichter«, sagte Amory, als er geendet hatte. »Dazu bin ich einfach nicht empfindsam genug; es gibt nur ein paar Dinge, deren Schönheit mir geradezu ins Auge springt – Frauen, Frühlingsabende, Musik in [129] der Nacht, das Meer; aber für solche Feinheiten wie ›silbern schmetternden Hörnerklang‹ habe ich einfach kein Gefühl. Vielleicht wird noch ein Intellektueller aus mir, aber ich werde wohl immer nur mittelmäßige Gedichte schreiben.«
Sie erreichten Princeton, als die Sonne den Himmel hinter der graduate school in eine farbige Landkarte verwandelte, und nahmen eilig eine erfrischende Dusche, die ihnen den Schlaf ersetzen musste. Am Mittag drängten sich schon die hellgekleideten Ehemaligen mit ihren Chören und Kapellen auf den Straßen, und in den Zelten, über denen sich orangefarbene und schwarze Banner im Wind kräuselten und wieder strafften, fanden große Wiedersehensszenen statt. Amory betrachtete lange das Haus mit der legendären Aufschrift »Sixty-nine«. Dort saßen ein paar grauhaarige Männer in ruhigem Gespräch, während die Klassen als lebendiges Panoramabild an ihnen vorüberzogen.
Im Licht der Bogenlampe
Dann plötzlich, Anfang Juni, funkelte das Schicksal Amory aus smaragdgrünen Augen an. Am Abend nach seiner Radtour nach Lawrenceville machte sich eine Gruppe Abenteuerlustiger nach New York auf und trat gegen Mitternacht in zwei Autos den Rückweg nach Princeton an. Die Stimmung war ausgelassen, und alle Stadien der Nüchternheit waren vertreten. Amory saß im hinteren Wagen; sie hatten eine falsche Abzweigung genommen und sich verirrt und mussten sich jetzt beeilen, die anderen wieder einzuholen.
[130] Die Nacht war klar, und das heitere Dahinfahren stieg Amory zu Kopf. Schattenhaft formten sich zwei Strophen eines Gedichtes in seinem Kopf…
So glitt der graue Wagen im Dunkel weiter durch die Nacht, und kein Leben rührte sich, als er vorbeifuhr… Wie der stille Ozean vor dem Hai in sternenfunkelnd glitzernden Bahnen vorbeitreibt, höchste Schönheit, die mondumhüllten Bäume stehen klar umrissen da, Paar um Paar, und Nachtvögel mit schlagenden Flügeln durchkreuzen klagend die Lüfte.
Für einen Moment vorbei an einem Gasthof voll Lichter und Markisen, einem gelben Gasthof unter gelbem Mond – dann Schweigen, in dem das wachsende Gelächter abebbt… Der Wagen rollte weiter in den Juniwinden, sanfter die Schatten mit zunehmender Entfernung, dann verwehten die gelben Schatten ins Blaue…
Sie kamen mit einem Ruck zum Stehen, und Amory tauchte auf, verwirrt. Eine Frau stand am Straßenrand und sprach mit Alec, der am Steuer saß. Später erinnerte er sich, dass sie in ihrem alten Morgenrock wie eine Hexe aussah, und er erinnerte sich an den rauhen, hohlen Klang ihrer Stimme, als sie sagte:
»Seid ihr aus Princeton?«
»Ja.«
»Da liegt einer von euch getötet, und zwei andere sind so gut wie tot.«
»O mein Gott!«
»Da!«, zeigte sie, und sie starrten voll Schreck auf eine [131] Gestalt, die im hellen Schein einer Bogenlampe am Straßenrand mit dem Gesicht nach unten in einer immer größer werdenden Blutlache lag.
Sie sprangen aus dem Wagen. Amory ahnte, wem dieser Hinterkopf – und dieses Haar – dieses Haar… und dann drehten sie die Gestalt um.
»Das ist ja Dick – Dick Humbird!«
»Um Gottes willen!«
»Fühl, ob sein Herz noch schlägt!«
Und dann wieder die hartnäckige Stimme der Alten, schaurig krächzend und siegesgewiss: »Der ist mausetot, glaubt’s mir. Der Wagen hat sich überschlagen. Zwei von denen, die nicht verletzt sind, haben die anderen gerade reingetragen, aber der hier ist hinüber.«
Amory rannte ins Haus, und die anderen folgten mit der leblosen Masse, die sie in dem schäbigen kleinen Wohnzimmer auf das Sofa legten. Auf einer anderen Couch lag Sloane mit durchstoßener Schulter. Er war halb im Delirium und rief dauernd etwas von einer Chemievorlesung um zehn nach acht.
»Ich weiß nicht, was passiert ist«, brachte Ferrenby mühsam heraus. »Dick ist gefahren, und er wollte das Steuer nicht abgeben; wir haben ihm gesagt, dass er zu viel getrunken hat – und dann kam diese verdammte Kurve – o mein Gott!…« Er warf sich zu Boden, vergrub sein Gesicht und brach in trockenes Schluchzen aus.
Der Arzt war eingetroffen, und Amory ging zum Sofa hinüber, wo ihm jemand ein Laken reichte, um die Leiche damit zu bedecken. Mit plötzlicher Härte hob er eine von Dicks Händen hoch und ließ sie schwer zurückfallen. Die [132] Stirn war kalt, doch das Gesicht nicht ausdruckslos. Er sah auf die Schuhbänder – Dick hatte sie heute Morgen gebunden. Er hatte sie gebunden – und jetzt war er nur noch diese schwere weiße Masse. Alles, was vom Charme und von der Persönlichkeit des Dick Humbird, den er gekannt hatte, übriggeblieben war – es war alles so schrecklich, so unvornehm, so irdisch. Alle Tragödien haben diesen Zug ins Groteske und Schmutzige – so unnütz, vergeblich… wie ein Tier zu sterben… Amory erinnerte sich an eine Katze, die schrecklich zugerichtet an einer Allee seiner Kindheit gelegen hatte.
»Jemand fährt mit Ferrenby nach Princeton.«
Amory trat aus der Tür und schauderte leicht im späten Nachtwind – einem Wind, der einen zertrümmerten Kotflügel auf dem Haufen verbeulten Blechs klagend scheppern ließ.
Crescendo!
Durch einen gnädigen Zufall verging der nächste Tag im Wirbel. Sobald Amory allein war, kamen seine Gedanken im Zickzack unweigerlich immer wieder auf den roten Mund, der so widersinnig mitten in dem weißen Gesicht geklafft hatte, doch mit bewusster Anstrengung gelang es ihm, die Erinnerung daran durch die Vorfreude auf den heutigen Tag zuzudecken und sie eiskalt aus seinen Gedanken zu verbannen.
Isabelle und ihre Mutter trafen um vier Uhr in der Stadt ein, rollten durch eine fröhliche Menschenmenge die heitere [133] Prospect Avenue entlang, um im Cottage Tee zu trinken. An diesem Abend fanden die jährlichen Clubdinners statt, daher überließ er Isabelle um sieben Uhr zeitweilig einem Freshman und vereinbarte ein Wiedersehen um elf Uhr in der Turnhalle, wenn die höheren Semester zum Ball der Freshmen zugelassen wurden. Isabelle entsprach all seinen Erwartungen, und er brannte darauf, diesen Abend zum Höhepunkt seiner Träume werden zu lassen. Um neun standen die höheren Semester vor den Clubs, während die Fackelparade der Freshmen lärmend an ihnen vorbeizog, und Amory fragte sich, ob der Anblick der Gruppen in ihren Abendanzügen vor dem dunklen, imposanten Hintergrund und im Schein der Fackeln dem großäugigen, jubelnden Freshman diese Nacht wohl genauso glanzvoll erscheinen ließ wie ihm im Jahr zuvor.
Auch der nächste Tag brachte viel Wirbel. In einer fröhlichen Sechserrunde aßen sie im privaten Lunchraum des Clubs zu Mittag; Isabelle und Amory sahen sich über das gebratene Huhn hinweg zärtlich an und wussten, dass ihre Liebe ewig dauern würde. Bis fünf Uhr früh tanzten sie sich auf dem Ball die Füße wund, die solo erschienenen Herren klatschten Isabelle mit fröhlicher Hemmungslosigkeit ab, die um so ausgelassener wurde, je weiter der Abend fortschritt, und der Wein, den sie in den Taschen ihrer Mäntel in der Garderobe gelagert hatten, vertrieb die mahnende Müdigkeit bis zum nächsten Tag. Diese Solo-Herrenriege ist eine höchst homogene Masse Mensch. Stets reagiert sie mit schönster Einmütigkeit. Tanzt eine dunkelhaarige Schönheit vorbei, wird anerkennend durch die Zähne gepfiffen, die Welle wogt vorwärts, und einer, der [134] schneller ist als der Rest, stürzt mutig vor und klatscht ab. Wenn dann das ein Meter achtzig große Mädchen (das Kaye aus deiner Klasse mitgebracht hat und das er dir schon den ganzen Abend vorzustellen versucht) vorbeigaloppiert, wogt die Linie zurück, die Gruppen schauen sich um und vertiefen sich in entfernten Ecken des Saales in angeregte Gespräche, denn da kommt Kaye, bekümmert und schwitzend, und boxt sich auf der Suche nach vertrauten Gesichtern durch die Menge.
»Ich sag’s dir, alter Junge, ich hab da ein furchtbar nettes –«
»Tut mir leid, Kaye, aber für diesen Tanz bin ich schon besetzt. Muss bei einem Freund abklatschen.«
»Na, und für den nächsten?«
»Was – ähm – öh – ich schwör’s dir, da muss ich auch irgendwo abklatschen – sag mir Bescheid, wenn sie einen Tanz frei hat.«
Zu Amorys Freude schlug Isabelle vor, den Ball eine Weile zu verlassen und in ihrem Wagen spazieren zu fahren. Eine köstliche Stunde lang, die viel zu schnell verging, glitten sie auf den stillen Straßen rund um Princeton dahin und sprachen verlegen und erregt von Dingen, die sie nur oberflächlich bewegten. Amory fühlte sich seltsam jung und unerfahren und machte keine Anstalten, sie zu küssen.
Am nächsten Tag fuhren sie durch New Jersey, aßen in New York zu Mittag und sahen am Nachmittag ein Problemstück, bei dem Isabelle den ganzen zweiten Akt hindurch weinte, was Amory ziemlich verlegen machte – obwohl es ihn auch mit Zärtlichkeit erfüllte, sie so zu sehen. Er war versucht, sich hinüberzubeugen und ihre Tränen [135] fortzuküssen, und im Schutz der Dunkelheit stahl sich ihre Hand in seine, um dort sanft gedrückt zu werden.
Um sechs kamen sie auf dem Sommersitz der Borgés in Long Island an, und Amory eilte hinauf, um sich in einen Smoking zu werfen. Als er seine Manschettenknöpfe an-legte, wurde ihm bewusst, dass er das Leben genoss, wie er es vielleicht nie wieder genießen würde. Alles schien vom Schmelz seiner Jugend in ein besonderes Licht getaucht. Er hatte es geschafft, stand den Besten seiner Generation in Princeton in nichts nach. Er liebte und wurde wiedergeliebt. Er drehte alle Lichter an, betrachtete sich im Spiegel und versuchte, in seinem Gesicht die Eigenschaften auszumachen, die ihn klarer sehen ließen als die große Masse, ihn feste Entschlüsse treffen ließen und ihm ermöglichten, andere zu beeinflussen und selber seinem eigenen Willen zu folgen. Es gab nur wenig in seinem jetzigen Leben, was er hätte anders machen wollen… Oxford wäre vielleicht ein noch besserer Schauplatz gewesen.
Schweigend bewunderte er sich selbst. Wie gut er doch aussah, und wie vorzüglich ihm ein Smoking stand! Er ging in die Vorhalle und wartete am Treppenabsatz, denn er hörte Schritte näher kommen. Es war Isabelle, und vom Scheitel ihres leuchtenden Haares bis zur Sohle ihrer kleinen goldenen Slipper war sie ihm noch nie so schön vorgekommen.
»Isabelle!«, rief er, ohne es gewollt zu haben, und breitete die Arme aus. Wie im Märchen lief sie auf ihn zu und warf sich in seine Arme, und in der kurzen Minute, in der sich ihre Lippen zum ersten Mal berührten, erfuhr seine Eitelkeit die höchste Befriedigung, erreichte sein jugendlicher Egoismus den Gipfel.