„Ja, aber deswegen muss man doch nicht gleich heiraten“, sagte Frau Hoffmann irritiert.
„Im Nachhinein gebe ich Ihnen recht...“, antwortete Frau Kleinschmidt seufzend. „Doch damals war ich der festen Überzeugung, dass Bernd und ich für immer zusammen bleiben würden...“ Frau Hoffmann nickte. „Ich werde kommende Woche meine Namensänderung beantragen“, sagte Frau Kleinschmidt zufrieden.
„Wie lautete denn ihr Mädchenname?“, fragte Frau Hoffmann.
„Behrens...“, sagte Frau Kleinschmidt. „Ursula Behrens...“ Frau Kleinschmidt nahm einen Schluck Spezi. „Und was ist mit Ihnen?“, fragte Frau Kleinschmidt. „Sind Sie verheiratet?“
Frau Hoffmann musste unvermittelt lachen. Die Tatsache, dass Frau Kleinschmidt sie als verheiratete Frau sehen konnte, amüsierte Frau Hoffmann. „Nein, ich bin nicht verheiratet.“
„Und waren Sie einmal verheiratet?“ Frau Hoffmann schüttelte den Kopf. Über ihr Gesicht huschte für einen winzigen Moment ein Ausdruck von Bedauern. „Wollten Sie denn gerne heiraten?“, fragte Frau Kleinschmidt, die dieses kurze Aufblitzen offensichtlich auch bemerkt hatte, worauf Frau Hoffmann ohne weiter darüber nachzudenken, nickte. „Und was ist passiert?“, fragte Frau Kleinschmidt vorsichtig.
„Er ist tödlich verunglückt...“
- Kapitel 33
Herbert kniete vor ihr. In diesem Augenblick hätte sie sich am liebsten in Luft aufgelöst. Es erschien ihr nicht nur albern, wie er vor ihr kniete, noch mehr fürchtete sie sich vor dem, was diesem Niederknien folgen würde. „Renate...“, sagte Herbert in einem Tonfall, der offiziell klingen sollte. „Renate, wir sind nun seit drei Jahren ein Paar...“ Renate konnte kaum atmen. „Ich will den Rest meines Lebens mit dir teilen, will für dich da sein und dich lieben...“ Renate fragte sich, wie Herbert nur denken konnte, dass sie ihn heiraten wolle. Sie fragte sich, ob sie ihm irgendwelche Zeichen gegeben hatte, die er falsch aufgefasst haben könnte. „Ich werde alles, was ich habe mit dir teilen, und ich werde dich mein Leben lang lieben...“ Als er das sagte, fragte sich Renate, wie man jemandem ein solches Versprechen geben konnte. Woher sollte man denn wissen, was in ein paar Jahren passieren würde. Herbert jedoch schien sich seiner Worte sicher zu sein. Er schien nicht den winzigsten Zweifel zu haben. Und in diesem Moment wurde Renate klar, dass sie sich nicht sicher war. Eigentlich stimmte das so nicht. Im tiefsten Inneren war sie sich nämlich sicher, dass sie ihn nicht wollte. Vielleicht konnte man einem Menschen durchaus versprechen ihn für immer zu lieben. Das setzte jedoch voraus, dass man ihn in dem Moment, in dem man diesen Schwur ausspricht, von ganzem Herzen lieben musste. „Liebe Renate...“, Herbert griff in seine Tasche und zog eine kleine Schatulle hervor. Nein, Renate liebte Herbert definitiv nicht genug, um ihm ein solches Versprechen geben zu können. Sie war sich in diesem Moment nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt jemals geliebt hatte. Herbert öffnete die kleine Schatulle. „Renate, willst du meine Frau werden?“ Renate spürte, wie die Blicke ihrer Eltern und ihrer Schwester auf ihr ruhten. Neben ihr glitzerte der übertriebene Osterschmuck auf dem üppig gedeckten Tisch. Noch immer kniete Herbert vor ihr. Eigentlich wusste Renate, was sie sagen wollte. Doch sie wusste auch, dass sie das, was sie sagen wollte, nicht sagen konnte. Sie zwang sich zu einem überglücklichen Lächeln und nahm den zierlichen Diamantring aus der Schatulle. „Ich wäre dir ein guter Mann...“, sagte Herbert, sichtlich nervös, was zweifelsohne an der Tatsache lag, dass seine Renate ihn seit mehreren Minuten mit schrecken geweiteten Augen anstarrte. Er nahm ihr den Ring aus der Hand. „Nimmst du mich zum Mann?“, fragte er noch einmal. Renate konnte es nicht laut sagen. Sie brachte es nicht über sich, eine solche Lüge auszusprechen. Doch, weil der Druck ihrer Eltern so schwer auf ihr lag, dass sie ihn fast sehen konnte, nickte sie mit geschlossenen Augen. „Du willst mich?“, fragte Herbert überschäumend vor Glück. Renate nickte ein zweites Mal. Dann steckte er ihr den Ring an, stand auf und schloss sie fest in seine Arme. Renates Eltern sprangen von ihren Stühlen und klatschten begeistert in die Hände. Die Begeisterung ihrer Schwester hielt sich im Gegensatz dazu in Grenzen. Auch sie stand auf und auch sie klatschte. Ihre Lippen mochten lächeln, ihre Augen hingegen nicht. Sie lagen leblos und fahl in ihren Höhlen.
Die kommenden fünfzehn Minuten wurden Glückwünsche ausgesprochen und Sektgläser geleert. In dieser gesamten Zeit hielt Herbert sie in den Armen, so als hätte sie dieser kleine unschuldig dreinblickende Ring an ihrem Finger nun endgültig zu seinem rechtmäßigen Eigentum gemacht. Renates Mutter Helga weinte vor Rührung, ihr Vater Günther schien stolz, dass seine Renate sich eine so gute Partie hatte an Land ziehen können, Renates Schwester Barbara begutachtete neidisch den funkelnden Stein an Renates linker Hand. Die einzige, die an diesem Abend sicher nicht vor Freude weinte, war Renate. Doch ihre Tränen wurden zweifelsohne als genau das gedeutet. Als Tränen ihres unfassbaren Glücks.
- Kapitel 34
Noch am selben Abend, fragte Herbert, ob er bei seiner zukünftigen Frau schlafen dürfe, was Renates Mutter jedoch nicht erlaubte. Für dieses Verbot war Renate ihr unendlich dankbar gewesen.
Als sie in ihrem Zimmer saß, nahm sie den Ring ab und legte ihn auf ihr Nachtkästchen. Auch, wenn er tatsächlich wunderschön war, erschien er ihr abscheulich und hässlich. Sie legte sich in ihr Bett und löschte das Licht. In dieser Nacht plagten sie Albträume ihrer eigenen Hochzeit. Sie träumte davon, wie sie den langen Gang der Dorfkirche hinunter ging. Sie spürte die Kühle der dicken Steinmauern um sich, die ihr wie ein Gefängnis erschienen. Sie fühlte sich am Arm ihres Vaters, als würde sie zum Schafott geführt, nicht zum Altar. Vielleicht wäre es Renate aber auch insgeheim tatsächlich lieber gewesen zu ihrer Hinrichtung geführt zu werden, als Herbert Huber zu ehelichen.
Am kommenden Morgen wachte Renate erschöpft auf. Der Ring lag unschuldig neben ihr. Sie steckte ihn widerwillig an, dann wusch sie sich und schlüpfte in ihre Kleidung. Auf diesen Tag hatte Renate sich eigentlich schon lange gefreut. Doch die Freude wurde überschattet vom Gefühl ihrer unvermeidbar bevorstehenden Hochzeit. Herbert war der einzige Erbe des angesehensten Bäckermeisters im Ort. Er hatte Vermögen, ein schönes Haus und genoss den Respekt der Gemeinde. Eines schönen Tages würde Renate am Ladentisch stehen und Dreikornleibe verkaufen. Sie würde Butterhörnchen in kleine Tüten packen und den Kindern einen Lutscher schenken. Sie würde ihre Ausbildung nicht brauchen. Die vergangenen drei Jahre wären absolut umsonst gewesen.
„Renate, beeil dich, sonst kommst du noch zu spät!“, rief ihre Mutter nach oben. Seufzend verließ Renate ihr Zimmer und ging die Stufen hinunter in die Küche. „Guten Morgen...“, sagte Helga strahlend. Renate wünschte ihr auch einen guten Morgen und zwang sich zu einem Lächeln. „Es war sehr gut, dass du nicht sofort ja gesagt hast...“, sagte ihre Mutter stolz, „...dieses gespielte Zögern hat den Herbert richtig nervös gemacht...“ Renate griff nach einer Tasse und schenkte sich Kaffee ein. Es wunderte sie nicht, dass ihre Familie ihr Zögern für gespielt gehalten hatte, denn ihrer Meinung nach, gab es für Renate keinen besseren. Herbert war der Sohn, den ihr Vater nie gehabt hatte. Die beiden gingen gemeinsam Angeln, schauten gemeinsam Fußball und tranken gemeinsam Bier. Renates Mutter hatte hauptsächlich die finanzielle Sicherheit im Kopf, wenn es um die Partnerwahl ihrer Töchter ging, was Herbert zum absoluten Hauptgewinn machte. Barbara empfand Herbert als einen vollendeten Gentleman. Es war nicht nur einmal vorgekommen, dass Renate sie dabei erwischt hatte, wie sie Herbert schöne Augen machte. Doch das hatte Renate nie wirklich beunruhigt, was vielleicht schon ein warnendes Anzeichen hätte sein können.
Renate ging die Straße entlang. Sie hatte es nicht weit zu ihrer Ausbildungsstelle. Sie nutze die wenigen Minuten, die sie jeden Morgen hatte, um nachzudenken. Und an diesem Tag dachte sie an ihren ersten Kuss mit Herbert zurück. Während sie sich vorstellte, wie seine Lippen langsam auf ihre trafen, gestand sie sich ein, dass sie es damals schon hätte wissen müssen. Schon bei diesem ersten Kuss war besiegelt gewesen, dass Herbert sie nie würde glücklich machen können.
- Kapitel 35
Es war ein schwüler Sommertag gewesen. Renate und Herbert waren gemeinsam am Seeufer gelegen. Den ganzen Tag lang hatte Herbert schon versucht den perfekten Augenblick abzupassen, um Renate endlich zu küssen. Sie war unterdessen damit beschäftigt gewesen, diesen perfekten Augenblick mit allen Mitteln zu verhindern, was sie bis zu jenem lauen Abend am See auch erfolgreich erreicht hatte.
Am Nachmittag desselben schwülen Tages hatte Herbert sie in ein kleines Restaurant eingeladen. Anschließend hatte ihr eine rote Rose geschenkt und dann plötzlich schien seiner Meinung nach der perfekte Moment geboren. Herbert hatte sie mitten auf dem Marktplatz in die Arme geschlossen, seine Augen geschlossen und zum Kuss angesetzt. In dem Moment, als sein Mund langsam auf ihren zukam, machte Renate Herbert höflich auf die Basilikumreste aufmerksam, die wohl schon seit dem Essen zwischen seinen Zähnen kleben mussten. Peinlich berührt war Herbert augenblicklich in einem kleinen Café verschwunden und hatte sie entfernt.
Eine Stunde später, Herbert und Renate waren gerade mit Herberts Auto unterwegs, beschloss Herbert erneut, dass der perfekte Augenblick zum Greifen nah war. Er fuhr rechts auf den Seitenstreifen, stellte den Motor ab und lehnte sich zu Renate hinüber. In diesem Augenblick entschied Renate, dass es der perfekte Tag sei um abends schwimmen zu gehen, was sie Herbert umgehend mitteilte. Dieser lächelte und fuhr los in Richtung See.
Nachdem sie schwimmen gegangen waren, legte Renate sich auf die große, kratzige Decke, die Herbert im Kofferraum aufbewahrte und schaute in die Baumkronen. Und dann passierte es. Es war so unfassbar, dass Renate zu atmen vergaß. Herbert rollte sich zu ihr, stütze sich über ihr ab und küsste sie. Es schien ihm zu anstrengend geworden zu sein, den perfekten Moment abzupassen. Dieser Kuss war feucht und unbeholfen gewesen. Herberts Zunge fühlte sich an wie Schmirgelpapier und seine Lippen bedeckten ihr halbes Gesicht. Renate überlegte, ob sie eine Ohnmacht simulieren sollte, entschied sich aber dagegen, weil sie sich nicht sicher war, ob ihr schauspielerisches Talent ausreichen würde, um Herbert zu überzeugen.
Seit diesem unbeholfenen, nassen Kuss am Seeufer waren Herbert und Renate ein Paar gewesen, was unter anderem auch bedeutete, dass Renate von diesem Augenblick an viele solcher nassen und unbeholfenen Küsse hatte über sich ergehen lassen müssen.
Renate seufzte. Sie saß an ihrem Schreibtisch. In diesem Zimmer hatte sie den größten Teil der vergangenen drei Jahre verbracht. Sie hatte viel gelernt, auch wenn die Ausbildung nicht ihre Idee gewesen war. Renate hatte nie Buchhalterin werden wollen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie Medizin studiert. Doch weil es nicht nach ihr, sondern nach ihren Eltern ging, hatte sie nicht studiert, sondern etwas Handfestes gelernt. Ihre Eltern waren nämlich der Meinung gewesen, dass eine große Stadt wie München viel zu gefährlich für ihre Renate gewesen wäre. Außerdem hatten sie ohnehin nie verstehen können, warum Renate unbedingt aufs Gymnasium hatte gehen wollen, wo doch die Regelschule für ein Mädchen bei Weitem ausreichte. Also hatte Renate klein beigegeben und war dem Rat ihres Vaters gefolgt, etwas Solides zu lernen. Günther redete mit einem seiner Freunde vom Stammtisch und zwei Wochen später begann Renate ihre Ausbildung zur Buchhalterin.
- Kapitel 36
Herr Bichler überreichte Renate ihr Zeugnis. Sie fragte sich, ob die Tatsache, dass sie die Tochter eines Freundes war, dazu beigetragen hatte, dass sie so gut bewertet worden war. Sie fragte sich ferner, ob sie dieses Zeugnis überhaupt brauchte, da sie in wenigen Monaten Dreikornleibe verkaufen würde. Dennoch lächelte sie und bedankte sich für die Bewertung. Herr Bichler versicherte ihr, dass sie sie sich redlich verdient hätte, und fragte Renate, ob sie es sich vorstellen könne auch weiterhin bei ihm beschäftigt zu sein, was sie strahlen annahm. Denn alles wäre Renate lieber gewesen, als ihrem zukünftigen Gatten den ganzen Tag ausgesetzt zu sein.
Als Renate jedoch am Abend desselben Tages ihre frohe Botschaft beim Abendessen verkündete, stieß sie auf verständnislose Gesichter. Günther räusperte sich. „Das kannst du nicht machen, Renate“, sagte er deutlich. Renate hatte damit gerechnet. Sie hatte gewusst, dass ihre Eltern sie nicht unterstützen würden. Sie hatte gewusst, dass sie der Ansicht waren, dass sie, wenn sie Herbert erst einmal geheiratet hätte, höchstens in der Bäckerei arbeiten würde, wenn sie überhaupt arbeiten würde. Denn eigentlich erwarteten sie sich, dass sie binnen der kommenden zehn Monate stolze Großeltern werden würden, und das im jährlichen Turnus, so lange, bis ein kleiner Sohn das Licht der Welt erblicken würde.
„Was werden denn die Leute denken, wenn du nicht bei deinem Mann in der Bäckerei arbeitest?“, fragte Helga bestürzt. Für Renates Mutter gab es nichts Wichtigeres, als das, was die Leute dachten. Renate war sich zwar sicher, dass die meisten der Ansässigen den Großteil des Tages überhaupt nichts zu denken pflegten, sagte aber nichts. „Renate, du musst dem Hans morgen sagen, dass du leider nicht weiter bei ihm arbeiten kannst“, sagte Helga angespannt. „Der Hans wird das schon verstehen, wennst ihm sagst, dass du jetzt mit dem Herbert verlobt bist...“ Renate schaute aus dem Fenster. Und in diesem Moment wünschte sie sich zu sterben. Sie wünschte sich, an diesem Abend friedlich einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen.
Renate hatte noch immer Todessehnsucht, als es eine Stunde später an der Tür klingelte. Der tiefe Wunsch zu sterben intensivierte sich noch zusätzlich, als Herbert seinen runden Kopf in ihr Schlafzimmer steckte. „Renate-Schatz...“, sagte er und trat ein. Er kam auf sie zu und schürzte die Lippen. Renate wandte sich mit der Ausrede ab, dass sie sich nicht wohl fühle, und dass sie ihn nicht anstecken wolle. „Die Helga hat mich angerufen, und mich gefragt, ob ich nicht vorbeikommen kann, weils dir nicht gut geht...“, sagte Herbert und streichelte Renate liebevoll übers Haar. In diesem Moment wurde Renate klar, dass Herbert ganz ohne jeden Zweifel einen fürsorglichen und aufopfernden Ehemann abgeben würde. Das einzige Problem war, dass sie sich mehr vom Leben wünschte, als einen Haufen Kinder und Dreikornleibe. Sie hätte das sicherlich anders gesehen, hätte sie Herbert wirklich geliebt. Doch wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wusste Renate, dass ihre gesamte Beziehung mit Herbert auf ihrer eigenen Schwäche basierte. Tief in sich wusste sie, dass sie ihn vor drei Jahren hätte abweisen müssen. Und obgleich sie all das wusste, brachte sie es nicht über sich die Verlobung zu lösen. Sie vermochte es nicht ihm die Wahrheit zu sagen und sie vermochte es nicht ihn derart zu verletzen. Herbert zog sie näher an sich heran. „Ein kleiner Infekt kann mich doch nicht davon abhalten dich zu küssen...“, sagte Herbert lächelnd, nahm ihr Gesicht sanft zwischen seine großen rauen Hände und bedeckte es mit seinen Lippen.
- Kapitel 37
Renate saß noch immer auf ihrem Bett. Herbert knöpfte ihre Bluse auf. Sie ließ es geschehen. Herbert zog ihre Bluse aus. Auch das ließ sie geschehen. Herbert öffnete ihren Büstenhalter. Und auch das ließ sie geschehen. Erst konnte sie sich nicht erklären, warum sie es zuließ, doch dann wurde es ihr schlagartig klar. Ihr schlechtes Gewissen ließ es zu. Sie wusste, dass die ihn nicht liebte. Sie hatte es schon vor drei Jahren gewusst. Drei Jahre hatte Herbert ihren vorgeschobenen Wunsch respektiert, dass sie bis zur Ehe warten wolle. Ein oder zwei Mal hatte sie ihm erlaubt sie nackt zu sehen, einmal davon hatte er sie berühren dürfen. Beide Male hatte sie zuvor getrunken.
Eigentlich hatte sie Herbert dazu gezwungen irgendwann um ihre Hand anzuhalten. Man kann sich vorstellen, wie stolz Helga und Günther gewesen waren, dass ihre Renate sich aufsparen wollte. Im Gegensatz zu manchen anderen Töchtern im Ort, war ihre Renate nämlich kein leichtes Mädchen. Und doch war Herbert auch nur ein Mann. Immer wieder hatte er versucht Renate davon zu überzeugen, dass man nicht verheiratet sein müsse, um mit dem Menschen, den man liebe zu schlafen. Drei Mal hatte er es versucht. Und jedes Mal hatte Renate ihn mit Verachtung gestraft. Sie hatte seine Anrufe ignoriert, sie hatte sich verleugnen lassen, sie hatte ihn gemieden. Nach seinem dritten Versuch und dessen Konsequenzen hatte er nie wieder versucht, Renate dazu zu drängen, mit ihm zu schlafen. Er hatte letzten Endes verstanden, dass er sie nur dann voll und ganz haben konnte, wenn er in aller Form um ihre Hand anhielt. Und er hatte genau das getan, was Renate nach Außen hin von ihm erwartet hatte. Er machte sie zu einer ehrbaren Frau.
Seine Berührungen waren grob, was sicherlich keine Absicht, sondern Unbeholfenheit und Gier war. Es war, als müsse er den lustvollen Moment ausnutzen, den Renate ihm geschenkt hatte, weil man nie wissen konnte, wie lang er dieses Mal andauern würde. Seine Hände rieben über ihre Haut, seine Zunge glitt über ihre Brüste. Regungslos saß Renate auf ihrem Bett. Sie starrte auf die enorme Wölbung in Herberts Schritt. Und gerade, als sie sich fragte, ob sie nachgeben sollte und endlich mit ihm schlafen, klopfte Helga an die Tür und bat zu Tisch.
Herbert entschuldigte sich und verschwand im Bad. Renate wusste, was er dort tat, und allein der Gedanke daran verdarb ihr den Appetit. Sie setzte sich an den gedeckten Tisch. „Ich hoffe, ich habe die Turteltauben nicht gestört...“, sagte Helga zwinkernd.
Renate schüttelte den Kopf. „Wir haben uns nur unterhalten...“
„Das ist mein Mädchen...“, sagte Günther stolz.
„Wo ist Barbara?“, fragte Renate nur um das Thema zu wechseln.
„Die ist noch oben...“, antwortete Helga. Renate konnte sich vorstellen, wo Barbara war, denn sie meistens da, wo sich Herbert aufhielt. Manchmal fragte sich Renate, warum nicht Barbara diejenige mit dem Ring am Finger war. Sie war sich sicher, dass ihre kleine Schwester schon in der ersten Nacht mit Herbert geschlafen hätte, und das nicht etwa, weil sie ein leichtes Mädchen war, sondern, weil Barbara schon seit vielen Jahren in Herbert verliebt war, auch wenn diese das natürlich nie bestätigt hatte.
Herbert betrat das Esszimmer, dicht gefolgt von Barbara. „Na, endlich...“, sagte Günther und schenkte sich Bier ein. „Willst du auch eines, mein Junge?“, fragte er grinsend.
Herbert nickte. Die Wölbung in seiner Hose war verschwunden. Sein erwartungsvoller Gesichtsausdruck war jedoch derselbe. Unter dem Tischtuch legte er seine Hand auf Renates Schenkel. Das tat er immer. Diese heimlichen Berührungen mochte sie nicht. Vielleicht deswegen, weil sie in diesen Momenten nichts dagegen tun konnte. Er lächelte sie an. Und in dem Moment, als Helga das Essen verteilte, hauchte er ihr ins Ohr, „Ich habe vorhin mit deinen Eltern geredet...“ Renate verstand nicht und schaute ihn fragend an. „Sie haben erlaubt, dass ich über Nacht bleibe...“
- Kapitel 38
Herberts Hände glitten unter Renates Nachthemd. Er packte ihre Brüste, als wolle er sie ausreißen. Renate lag lethargisch neben ihm. „Was ist denn los, Renate-Schatz?“, fragte Herbert verunsichert.
„Mit mir ist gar nichts...“, sagte Renate leise.
„Aber du wirkst so abwesend...“
„Wenn ich dir doch sage, dass alles in Ordnung ist.“
Er setzte sich auf. „Renate?“ Renate schaute ihm in die Augen. Es waren sanftmütige, treue Augen. „Bist du glücklich?“ Renate wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie setzte sich ebenfalls auf. „Ist es wegen der Stelle, die du ablehnen sollst?“ Renate war froh um diese Frage. Sie gab ihr den Vorwand zu weinen, ohne dass Herbert wusste, worum es wirklich ging. Er nahm sie in die Arme. Es erschien Renate unmöglich, dass sie sich an der Schulter des Mannes ausweinte, der eigentlich der Grund für ihre Tränen war. Er streichelte ihr liebevoll über den Kopf, während sie überlegte, wie sie ihm am schonendsten beibringen sollte, dass sie ihn unter keinen Umständen heiraten konnte. Gerade, als sie sich für den ersten Satz ihrer Abfuhr entschieden hatte, schaute er ihr tief in die Augen und sagte, „Wenn es dich glücklich macht als Buchhalterin zu arbeiten, dann mach es... Es ist mir gleich, was sie anderen denken... Hauptsache, du bist wieder glücklich...“ Herbert strich ihr sanft über die Wangen, über die glänzende Tränen liefen. „Weißt du, Renate-Schatz, du bist die Liebe meines Lebens...“ Die Abfuhr schien in diesem Moment einen plötzlichen Herztod zu erleiden.
So lange hatte sie durchgehalten. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie es zuließ, obwohl sie ihn nicht liebte. Vielleicht tat sie es, gerade weil sie ihn nicht liebte. Vielleicht tat sie es, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, dass sie den Menschen, den sie in wenigen Monaten heiraten würde, nur schätzte. Sie mochte Herbert. Doch sie liebte ihn nicht und sie hatte ihn nicht eine Sekunde lang geliebt. Und doch lag er auf ihr, schwer atmend und keuchend. Er bewegte sich hektisch und ruckartig. Es erschien Renate so, dass wisse er nicht genau, was zu tun war. Sie schloss ihre Augen und unterdrückte die Tränen, denn sie wusste, dass Herbert noch nie so glücklich gewesen war, wie in diesem Moment, weil sie ihm damit endgültig bewiesen hatte, wie sehr sie ihn liebte. Und in der Sekunde, als ihr das klar wurde, erstarrte Herbert über ihr, und sackte auf ihrer Brust in sich zusammen.
Am kommenden Morgen küsste Herbert Renate aus dem Schlaf. „Guten Morgen, meine wunderbare Verlobte...“, sagte er sanft.
Renate lächelte verkrampft. Wenn sie eines nicht leiden konnte, dann waren es Küsse unmittelbar nach dem Aufwachen. Sie verabscheute dieses pelzige Gefühl und den leicht fauligen Geschmack. Herbert lehnte sie zu ihr und küsste sie. Als sie ihn unsanft von sich weg drückte, schaute er sie verstört an. „Du weißt genau, dass ich es nicht leiden kann dich zu küssen, bevor ich mir die Zähne geputzt habe...“, sagte Renate pampig.
Herbert lächelte sie an. „Ich kenne niemanden, der es mit der Zahnpflege so genau nimmt, wie du...“, sagte er kopfschüttelnd. Renate schaute ihn giftig an. Im Grunde ging es nicht ums Zähneputzen, es ging darum, dass sie zugelassen hatte, dass er mit ihr schläft. Denn mit miteinander schlafen hatte das wenig zu tun gehabt. Herbert hatte vielleicht mit Renate geschlafen, Renate hatte aber mit Sicherheit nicht mit Herbert geschlafen. „Na, dann geh Zähneputzen...“, sagte er grinsend. „Ich warte hier...“
- Kapitel 39
Es war kurz nach sieben, als Frau Hoffmann in den Aufzug stieg und nach oben fuhr. Sie fragte sich, weswegen Herr Hofer sie zu sich bestellt hatte, kam aber auf keine triftige Erklärung. Die Türen öffneten sich und Frau Hoffmann ging den dunklen Flur entlang. Die meisten Mitarbeiter der Personalabteilung hatten sich schon längst auf den Heimweg gemacht. Herr Hofer würde nach dieser Unterhaltung auch nach Hause fahren. Einen kurzen Moment fragte sich Frau Hoffmann, wie Herr Hofer wohl lebte. Sie fragte sich, ob er vielleicht ein Haustier hatte und welcher Stadtteil am besten zu ihm passen würde. In ihrer Vorstellung lebte Herr Hofer in einer gemütlichen drei Zimmer Wohnung in Gern. Wenn er ein Haustier haben sollte, war sich Frau Hoffmann sicher, dann eine Katze, weil Herr Hofer ihrer Meinung nach nicht der typische Hundeliebhaber war.
„Frau Hoffmann, kommen Sie doch bitte herein...“ Frau Hoffmann trat ein und setzte sich Herrn Hofer gegenüber auf denselben Stuhl auf dem sie vor Kurzem schon einmal gesessen hatte. Herr Hofer saß mit hochgekrempelten Hemdsärmeln an seinem Schreibtisch. An seinem linken Unterarm entdeckte Frau Hoffmann eine Tätowierung. Es überraschte sie, dass Herr Hofer tätowiert war. Eigentlich schockierte es sie fast ein wenig. Er schien bemerkt zu haben, dass sie seine Tätowierung gesehen hatte, denn er schaute auf seinen Unterarm und lächelte. „Ich war früher ein großer Rockfan...“, sagte er und zog den Ärmel noch ein Stückchen hoch. „Kennen Sie ZZ Top?“ Frau Hoffmann nickte. „Ehrlich?“, fragte er sichtlich begeistert. Sie nickte erneut, und dieses Mal musste auch sie lächeln. „Ich war früher Bassist in einer Band, aber wir sind wie man sieht nie groß raus gekommen...“, sagte er melancholisch. „Wir haben bei verschiedenen kleineren Veranstaltungen gespielt... Es war eine tolle Zeit...“
Frau Hoffmann warf noch einen flüchtigen Blick auf die Tätowierung, dann fragte sie schüchtern, „Weswegen wollten Sie mich denn sprechen, Herr Hofer?“ Er nahm Platz und kruschte in einem Haufen Papier herum. Dann räusperte er sich und zog eines hervor.
„Denken Sie einfach darüber nach...“, sagte Herr Hofer eine halbe Stunde später. Frau Hoffmann schaute ihn ungläubig an. Sie war sich sicher, dass Herr Hofer ihr jeden Augenblick eröffnen würde, dass er sich nur einen kleinen Spaß erlaubt hatte, und dann vor Lachen zusammenbrechen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Er blickte ihr fest in die Augen. „Sie wären die richtige für den Posten...“
Frau Hoffmann ging in Richtung U-Bahn. Sie konnte noch immer nicht glauben, was Herr Hofer ihr soeben unterbreitet hatte. Sie hatte andere Mitarbeiter schon darüber munkeln hören, dass eine Umstrukturierung geplant sei, die mit der Schaffung neuer Stellen verbunden sei, doch sie hatte das als ein albernes Gerücht verbucht, dem keinerlei Glauben beizumessen wäre, und es daher nicht weiter Ernst genommen. Herr Hofer hatte sie gebeten ihm ihre Entscheidung in spätestens zwei Tagen mitzuteilen.
An diesem Abend setzte sich Frau Hoffmann auf ihren Balkon und beobachtete Herrn Peters, weil sie schon einige Tage nicht nach ihm gesehen hatte. Sie war jedoch weniger bei Herrn Peters, als bei Herrn Hofer. Sie dachte über seine Tätowierung nach und fragte sich, ob die an seinem Unterarm die einzige war, die er hatte. Sie fragte sich, wie Herr Hofer wohl ausgesehen hatte, als er noch nicht schwarze Anzüge trug. Frau Hoffmann zog an der Zigarette, die sie wenige Augenblicke zuvor angezündet hatte und schaute Herrn Peters nach, der in diesem Moment von seinem Trainingsgerät abstieg und ins Bad ging, um kühl zu duschen. Zumindest dachte Frau Hoffmann, dass er duschte. Wissen konnte sie es selbstverständlich nicht. Sie schaute hinüber zu Silvia. In ihrer Wohnung war es dunkel. Frau Hoffmann hoffte, dass sie schlafen konnte, und bei diesem Gedanken legte sie ihr Fernglas aufs Fenstersims und begab sich ins Bad und reinigte ihre Zähne.
Neben ihrer Wohnungstür im Flur häuften sich die Tageszeitungen. Seit einigen Tagen hatte sie nicht mehr in die Zeitung hinein gesehen. Sie nahm den Stapel und warf ihn in den Papiermüll. Auch, wenn ein Teil in ihr neugierig war, ein anderer hielt sie zurück. Sie strich mit der Zunge über ihre sauberen und glatten Zähne und legte sich ins Bett. Mit den Füßen rieb sie gegen den weichen Überzug. Und während sie langsam weg driftete, dachte sie an ZZ Top und an Herrn Hofers Unterarm, dann fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
- Kapitel 40
Am kommenden Morgen saß Frau Hoffmann an ihrem Esstisch und starrte auf die Überschrift einer der Tageszeitungen, die sie am Abend zuvor in den Müll geworfen hatte, nur um sie an diesem Tag wieder hervorzukramen. Sie hielt noch immer ihre halbvolle Kaffeetasse in der Hand. Münchner Familie bei schwerem Autounfall tödlich verunglückt. Gestern ereignete sich am späten Nachmittag ein schwerer Unfall auf der A9 in Richtung Nürnberg, der eine vierköpfige Familie aus München das Leben kostete. Der Fahrer des PKWs, Henning W. wurde von einem ins schleudern geratenen Transporter von der Fahrbahn bedrängt und raste in einen Brückenpfeiler. Die Beifahrerin, Monika W. und deren beiden Kinder erlagen noch an der Unfallstelle ihren schweren Verletzungen. Hennig W. verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus im Rettungswagen. Der Unfallverursacher blieb unverletzt.
Frau Hoffmann stellte die Tasse ab, schob die Schere ein Stück zur Seite, schraubte den Deckel von einer eingedrückten Uhutube und verteilte eine dünne Schichte Klebstoff auf der Rückseite des Schnipsels. Wenig später drückte sie den Ausschnitt mit spitzen Fingern auf die nächste leere Seite in ihrem Album.
Ihr Blick fiel auf den Trauernachruf, den sie einige Tage zuvor ausgeschnitten und eingeklebt hatte. Noch nie zuvor hatte sie in so kurzer Zeit gleich zwei solcher Nachrichten gefunden. Sie schlug das Album zu und verstaute es im Regal. Dann nahm sie ihre Tasche, überlegte, ob sie ihren Mantel brauchen würde, entschied sich dagegen und verließ die Wohnung.
Dreiunddreißig Minuten später betrat Frau Hoffmann ihr Büro. Sie schaltete sofort ihren PC an und machte sich an die Arbeit, hauptsächlich deswegen, weil sie versuchen wollte nicht mehr an den Artikel zu denken, den sie kurz zuvor gelesen und ausgeschnitten hatte. Doch es gelang ihr nicht. Sie würde den gesamten Tag daran denken, ganz gleich wie sehr sie versuchen würde sich abzulenken.
Pünktlich zur Mittagspause klopfte Frau Kleinschmidt aus der Finanzabteilung an Frau Hoffmanns Tür. Schweigsam gingen sie zum Aufzug. Frau Kleinschmidt schien zu bemerken, dass Frau Hoffmann bedrückt war, traute sich jedoch dem Anschein nach nicht nachzufragen, was geschehen sei. Stattdessen gingen die beiden Frauen schweigend zum Italiener an der Ecke. Seit Langem hatte sich Frau Hoffmann nicht mehr so elend gefühlt. Das, was sie empfand war weniger ein Gefühl von Trauer, als unbändige Wut.
Frau Kleinschmidt räusperte sich. Frau Hoffmann war durchaus bewusst, dass ihr Schweigen dazu führte, dass Frau Kleinschmidt sich mit der Zeit immer unbehaglicher fühlte. Und obgleich es nicht ihre Absicht war, andere mit ihrer Stimmung anzustecken, konnte sie nicht anders, als zu schweigen. Vielleicht war das auch damit verbunden, dass Frau Hoffmann sich nicht sicher war, ob sie ihre Empfindungen weiter unterdrücken konnte, würde sie erst einmal darüber sprechen.
„Ich weiß, Sie kennen mich nicht gut, Frau Hoffmann...“, sagte Frau Kleinschmidt, nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, „...doch vielleicht hilft es, wenn sie über das sprechen, was sie dermaßen belastet...“ Frau Hoffmann schaute ihr in die Augen. Sie wusste, dass sie Frau Kleinschmidt vertrauen konnte. Sie wusste, dass für Frau Kleinschmidt Verschwiegenheit zum guten Ton gehörte. Frau Hoffmann spürte den Kloß in ihrem Hans anwachsen. Sie spürte, wie sich die Tränen durch ihre Tränenkanäle quetschten. Frau Kleinschmidt schien zu realisieren, dass Frau Hoffmann unmöglich über das sprechen konnte, was sie von Innen zu zerfressen schien. Zumindest nicht an diesem Tag. Frau Kleinschmidt fasste das nicht als persönliche Ablehnung auf. Sie wusste zwar nicht, was Frau Hoffmann bedrückte, aber vielleicht war es einfach noch nicht an der Zeit darüber zu reden. Und weil Frau Kleinschmidt eine aufmerksame und einfühlsame Frau war, lächelte sie Frau Hoffmann freundlich an und brach deren eisiges Schweigen. „Bernd und ich, das ist mein Mann, also nein, vielmehr mein Exmann, wir haben zwei Töchter...“, sagte Frau Kleinschmidt zusammenhangslos. „...das hat die Trennung zusätzlich erschwert...“ Frau Hoffmann war dankbar. Sie war dankbar dafür, dass Frau Kleinschmidt sie zu verstehen schien. Und das ganz ohne Worte. „Hatte ich schon erwähnt, dass Bernd wieder geheiratet hat...“ In ihrer Stimme vibrierte die Verletztheit. Frau Hoffmann schüttelte den Kopf. „Ich habe mir lange vorgemacht, dass mich das nicht stört...“ Frau Hoffmann nickte. „Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre mein Leben schon vorbei...“ Betreten schaute Frau Kleinschmidt auf die Tischplatte. Sie schien sich zu wünschen, dass das Essen bald kommen möge. Sie wagte nicht aufzuschauen.
Frau Hoffmann wusste, dass Frau Kleinschmidt ihre Tränen zurückzuhalten versuchte. „Das kann ich gut verstehen...“, sagte Frau Hoffmann nach einer Weile. Ihre Stimme klang belegt.
Frau Kleinschmidt schaute auf. Ihre Augen schimmerten glasig. „Wissen Sie, Frau Hoffmann...“
„Nennen Sie mich doch Renate...“, unterbrach sie Frau Hoffmann.
Frau Kleinschmidt lächelte. „Weißt du, Renate, ich habe mir mein Leben irgendwie anders vorgestellt...“
- Kapitel 41
Nach dem Essen schien alles gleich ein bisschen besser zu sein, auch wenn die Penne den Schmerz natürlich nicht hatten ausmerzen können, so hatten sie es dennoch geschafft, dass sich Frau Hoffmann und Frau Kleinschmidt nun mit einem kleinen Lächeln gegenüber saßen. Sie tranken wortlos einen Kaffee, bezahlten und verließen das Restaurant. Doch dieses Schweigen war nicht bleiern, es war wissend. Es zeugte von tiefem Verständnis.
Als sich Frau Hoffmann jedoch wenig später an ihren Schreibtisch setzte, flutete sie wieder die Wut. Sie hasste die Tatsache, dass sie noch immer wütend auf ihn war. Nach mehr als sieben Jahren hatte sich nichts daran geändert. Und das war die weitaus erschreckendste Erkenntnis. Nichts hatte sich geändert.
Um viertel nach fünf klingelte Frau Hoffmanns Telefon. In dem Moment, als sie den Hörer des scheußlichen, grünen Apparats abnahm, klopfte es an der Tür. „Hoffmann...“ Es klopfte ein zweites Mal. „Herr Hofer, könnte ich Sie gleich zurückrufen?“ Herr Hofer war einverstanden, bat sie jedoch in der nächsten viertel Stunde anzurufen. Frau Hoffmann sagte zu, bedankte sich und legte auf. Es klopfte ein drittes Mal. „Ja, bitte...“, sagte Frau Hoffmann leicht gereizt. Die Tür öffnete sich und eine Frau Hoffmann gänzlich unbekannte Frau trat ein. In ihrer Hand hielt sie eine kleine Tüte.
„Kann ich mich setzen?“, fragte die junge Frau und stellte die Tüte auf den Boden. Frau Hoffmann war irritiert, nickte jedoch. „Ich habe eine Bitte...“, sagte die junge Frau.
„Wer sind Sie überhaupt?“, fragte Frau Hoffmann forsch.
„Oh, entschuldigen Sie...“, sagte sie junge Frau sichtlich verschämt. „Ich bin Frau Lindner...“
„Ja, und was wollen Sie?“, fragte Frau Hoffmann unfreundlicher, als sie es eigentlich meinte.
„Ich wollte Sie bitten, zukünftig nicht mehr die Firmenadresse für private Postsendungen anzugeben“, sagte die junge Frau schüchtern.
Frau Hoffmann starrte sie fassungslos an. „Ich habe noch nie die Firmenadresse für irgendwelche privaten Postsendungen angegeben“, sagte sie entrüstet. „Es muss sich hierbei um ein Missverständnis handeln...“
Frau Lindner bückte sich nach der Tüte und zog einen dünnen Stapel Briefe hervor, die mit einem braunen Gummiband zusammengehalten wurden. „Wie erklären Sie sich dann, dass all diese Briefe an Sie adressiert sind?“, fragte sie und legte das kleine Bündel auf den Tisch.
Frau Hoffmann nahm es an sich, entferne das Gummiband und schaute die Briefe durch. „Ich kann es mir nicht erklären...“, sagte Frau Hoffmann erschrocken. „Ich habe jedenfalls nie diese Adresse angegeben...“
Frau Lindner stand auf. „Sie verstehen sicher, dass es neben dem ohnehin schon immensen Ausmaß an offiziellen Postsendungen nicht zu tolerieren ist, zusätzlich auch noch die Privatpost der Angestellten sortieren und verteilen zu müssen...“ Frau Hoffmann schaute völlig perplex auf das kleine Briefbündel, das unschuldig vor ihr lag. „Wie dem auch sei...“, sagte die junge Frau, als Frau Hoffmann nicht reagierte, „...vielleicht könnten Sie dem Absender ihre private Anschrift geben.“ Frau Hoffmann nickte. Als Frau Lindner die Tür öffnete, entschuldigte Frau Hoffmann sich für ihren forschen Tonfall und versicherte ihr, dass sie dafür sorgen würde, dass von nun an keine privaten Briefe mehr kommen würden. Frau Lindner lächelte und verabschiedete sich. Dann war Frau Hoffmann wieder allein.
Verständnislos betrachtete Frau Hoffmann die Umschläge. Auf jedem stand von Hand geschrieben ihr Name und die Firmenadresse. Im ersten Moment schien ihr diese Schrift fremd, doch nach und nach dämmerte ihr, dass sie sie kannte. Sie kannte sie von früher. Und je länger sie sie betrachtete, desto sicherer war sie sich.
- Kapitel 42
Mit zitternden Fingern fischte Frau Hoffmann den Brief aus dem Umschlag. Sie entfaltete das Papier, dann begann sie zu lesen. Liebe Renate, da du auf meinen letzten Brief nicht geantwortet hast... Frau Hoffmann legte den Brief zur Seite und öffnete den zweiten Umschlag. Sie zog eine einzelne Seite hervor, die in der Mitte gefaltet war. Liebe Renate, ich weiß, es ist lange her, und ich weiß, dass die Umstände, unter denen wir uns das letzte Mal gesehen haben, nicht die angenehmsten waren, und normalerweise würde ich mich auch nicht einmischen, doch es ist etwas passiert, das dich meiner Meinung nach etwas angeht. Barbara ist schwer krank... Frau Hoffmann erschrak, als sie das las. Seit Jahren hatte sie nicht mehr mit ihrer Schwester gesprochen. Sie hatte ihr auch nie geschrieben, und sie hatte es auch nicht vorgehabt. Doch in Frau Hoffmanns Vorstellung war Barbara auch nicht krank gewesen. In ihrer Vorstellung hatte Barbara die Illusion des perfekt engstirnigen Dorflebens gelebt. Und in dieser Illusion wurde man nicht krank. Man erlitt des Öfteren Krämpfe im Wangenbereich, weil man ununterbrochen damit beschäftigt war, die anderen glauben zu machen, dass man weder Sorgen noch Kummer hätte. Doch krank wurde man nicht. In Frau Hoffmanns Vorstellung hatte sie tagein tagaus Dreikornleibe und Butterhörnchen verkauft. Wir haben natürlich verschiedene Ärzte aufgesucht, doch keiner scheint zu wissen, was ihr fehlt. Das einzige, in dem sie sich einig sind, ist dass es sich um etwas Ernstes handelt. Frau Hoffmann versuchte sich das Gesicht ihrer kleinen Schwester vorzustellen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie es einmal zwischen ihnen gewesen war, damals, bevor alles sich geändert hatte. Ich glaube, es würde ihr viel bedeuten, wenn du kommen würdest. Ich weiß, dass ich damit viel von dir verlange, vielleicht auch zu viel, nach allem, was vorgefallen ist. Das stimmte. Es war viel verlangt.
Frau Hoffmann las den dritten Brief, als plötzlich das Telefon neben ihr anfing zu klingeln. Sie zuckte unvermittelt zusammen und warf dabei den Brief unkontrolliert zur rechten Seite, wo er wie in Zeitlupe auf den Fußboden segelte. Die Tatsache, dass dieser Brief sie in eine andere, weit entfernte, fast schon totgeglaubte Welt gebracht hatte, schien sie vergessen lassen zu haben, wo sie sich eigentlich befand. Frau Hoffmann riss den Hörer von der Gabel. „Hoffmann...“, schnaubte sie hektisch atmend. Als sie Herrn Hofers Stimme hörte, fiel es ihr plötzlich wieder ein. Sie blickte auf ihre große Wanduhr, es war schon fast halb sieben.
Auch, wenn Herr Hofer sich nicht direkt verärgert anhörte, erfreut schien er auch nicht zu sein. Er schien verwundert über die Tatsache, dass Frau Hoffmann ihn nicht wie vereinbart zurückgerufen hatte. Frau Hoffmanns Hände zitterten noch immer, ihr Herz raste. Herr Hofer fragte angespannt, weswegen Frau Hoffmann es denn versäumt habe, sich bei ihm zu melden, worauf Frau Hoffmann nichts zu antworten vermochte. Als sie nach weiteren Sekunden des Schweigens nicht reagierte, fragte er, ob bei Frau Hoffmann alles in Ordnung wäre, weil es schließlich nicht ihre Art sei, sich nicht an Absprachen zu halten. Und dann passierte es. Es überkam Frau Hoffmann mit einer Wucht, die sie so noch nie erlebt hatte. Im Bruchteil einer Sekunde sah Frau Hoffmann das Gesicht ihrer kranken Schwester vor sich. Völlig übermannt von der Angst, ihre Schwester könne vielleicht inzwischen schon längst gestorben sein, schluchzte Frau Hoffmann unvermittelt los. Unzählige Tränen liefen über ihre Wangen. Es war, als hätte diese Nachricht ein bis dahin luftdicht versiegeltes Tor zu Frau Hoffmanns Vergangenheit durchbrochen.
Noch immer hielt Frau Hoffmann den Hörer in der Hand und schluchzte hemmungslos in den Lautsprecher. Sie hörte Herrn Hofer nicht, als dieser verunsichert fragte, ob er Frau Hoffmann zu nahe getreten sei, weil wenn dem so wäre, es sicherlich nicht seine Absicht gewesen war, sie zu kränken. Frau Hoffmann hörte auch nicht, dass er sie fragte, ob er etwas tun könne, und sie bekam auch nicht mit, dass er sagte, dass er zu ihr hinunter kommen würde und anschließend auflegte.
Als es wenige Augenblicke später an ihrer Tür klopfte, hielt Frau Hoffmann noch immer den grünen Telefonhörer fest in der Hand. Sie starrte in die Leere und fragte sich, wie all das nur hatte geschehen können. Sie fragte sich, warum ihre Familie sie nicht unterstützt hatte. Doch eigentlich wusste Frau Hoffmann die Antwort auf diese Fragen. Es klopfte ein weiteres Mal. Es war die Engstirnigkeit ihrer Eltern gewesen, die es sie nicht hatte akzeptieren lassen, dass ihre Tochter sich etwas Anderes vom Leben erwartete, als sie es sich für sie ausgemalt hatten. Frau Hoffmann wischte mit dem Handrücken über ihre Wange. Es klopfte ein drittes Mal, dann öffnete Herr Hofer unaufgefordert die Tür und betrat den Raum.
- Kapitel 43
„Beruhigen Sie sich...“, sagte Herr Hofer und streichelte sanft über Frau Hoffmanns Rücken. Er nahm ihr den Hörer aus der Hand und legte ihn auf die Gabel, dann schob er einen Stuhl neben den, auf dem Frau Hoffmann kauerte und setzte sich zu ihr. Sie schaute in seine dunklen Augen. Sein Gesichtsausdruck war eine zauberhafte Mischung aus Überforderung, dem Anflug von Verzweiflung und ehrlicher Fürsorge. Es hatte nicht viele Menschen in Frau Hoffmanns Leben gegeben, die sie mit diesem Ausdruck angesehen hatten. Im Grunde hatte es nur einen gegeben.
„Wollen Sie vielleicht einen Schluck trinken?“, fragte Herr Hofer und stand auf, ohne auf eine Antwort von Frau Hoffmann zu warten. Er steuerte zum Waschbecken, nahm eines der Gläser, das auf der Ablage rechts daneben stand und ließ kaltes Wasser hineinlaufen. Als er zu ihrem Schreibtisch zurückkam, stieg er beinahe versehentlich auf den Brief, der Frau Hoffmann zuvor vor Schreck auf den Boden gefallen war. Er reichte ihr das Wasserglas, bückte sich, hob ihn auf und legte ihn vor Frau Hoffmann auf den Tisch.
„Weinen Sie deswegen?“, fragte Herr Hofer und zeigte auf den Brief, den er eben aufgehoben hatte. Frau Hoffmann nickte. „Darf ich fragen, von wem er ist?“, fragte Herr Hofer vorsichtig und legte noch vorsichtiger seine Hand auf ihre. Frau Hoffmann räusperte sich. Unter ihren heftigen Schluchzern, brachte sie nur ein einziges Wort heraus, und das war Herbert. „Von Herbert also...“, sagte Herr Hofer sanft. „Und wer ist Herbert?“
Frau Hoffmann nahm einen Schluck Wasser und versuchte tief zu atmen. „Er war mein Verlobter...“, antwortete sie schluchzend.
„Hat er Sie etwa in diesem Brief verlassen?“, fragte Herr Hofer entsetzt.
Frau Hoffmann schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn schon vor Jahren verlassen...“, sagte Frau Hoffmann, nun ein wenig ruhiger. Herr Hofer schaute sie verständnislos an. „Er ist seit zehn Jahren mit meiner Schwester verheiratet.“
„Verstehe...“, sagte Herr Hofer sechsunddreißig Minuten später. Er wirkte nachdenklich. Frau Hoffmann saß regungslos auf ihrem Stuhl, umgeben von Taschentuchfetzen. „Werden Sie denn fahren?“ Frau Hoffmann zuckte mit den Schultern. „Ich könnte mich ja täuschen...“, sagte Herr Hofer betont vorsichtig, „...aber das alles scheint Sie ja doch sehr aufzuwühlen.“ Frau Hoffmann musste unvermittelt schmunzeln. Sie empfand es als sehr taktvoll und überaus höflich ihren halbstündigen Heulkrampf auf diese Art zu umschreiben. Nach längerem Schweigen fragte Herr Hofer, während er seine Hand tröstend auf Frau Hoffmanns legte, „Wie war eigentlich sein Name?“
Frau Hoffman schaute Herrn Hofer lange an. „Von wem sprechen Sie?“, fragte Frau Hoffmann um Zeit zu gewinnen.
„Wie war der Name des Mannes, der vor sieben Jahren tödlich verunglückt ist...“, fragte er leise. Herr Hofer schien zu wissen, dass Frau Hoffmann sofort gewusst hatte, wessen Namen er gemeint hatte. Er schien zu wissen, dass sie genau in diesem Augenblick abwägte, ob sie ihm antworten wolle oder nicht.
Frau Hoffmann holte tief Luft, dann sagte sie, „Sein Name war Henning...“
- Kapitel 44
Renate schaute prüfend auf ihren Einkaufszettel, dann ging sie in Richtung Kühlregal. Bei den Konserven traf sie auf Frau Hartmann, die sie auf ihre bevorstehende Hochzeit ansprach, ein Thema, das Renate wann immer es ging zu vermeiden suchte. Es sei eine Schande, dass es keine offizielle Verlobungsfeier gegeben habe, sie wäre schließlich so gerne Zeugin dieses wunderbaren Augenblicks geworden. Renate lächelte verkrampft. Zu ihrer größten Erleichterung tauchte zwei Regale entfernt Frau Meier auf, mit der Frau Hartmann fast täglich über ihren Gartenzaun hinweg tuschelnde Gespräche zu führen pflegte, weswegen sich letztere entschuldigte und verschwand.
Als sie ihn zum ersten Mal sah, war sie gerade dabei gewesen, vier Liter Milch und zwei Becher Sahne in ihren Wagen zu stellen. Wie gebannt starrte sie ihn an. Er war das, was man gemeinhin als unerwünscht bezeichnete. Oder als Schandfleck. Er trug verwaschene, zerschlissene Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit einem Aufdruck auf der Vorderseite. Was der genau darstellen sollte, konnte Renate nicht erkennen. Ein beträchtlicher Teil seiner stämmigen, muskulösen Arme war von zahlreichen Tätowierungen bedeckt. Seine Haut glich einem seltsam schönen Kunstwerk. Er trug einen großen Ring und Ohrringe. Und als wäre das alles noch nicht schon genug gewesen, hing seinen bulligen Rücken ein langer Pferdeschwanz hinunter.
Sein Einkaufswagen schien winzig im Vergleich zu seiner schrankartigen Statur. Er war mindestens zweieinhalb Köpfe größer als Renate, und mindestens einen Kopf, als jeder Mann, den Renate in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Seine dunkelbraunen Haare sahen seidig weich aus, was Renate erstaunte, weil es ihrer Ansicht nach nicht zu seinem Image passte, dermaßen gepflegtes Haar zu haben.
Als er langsam hinter einem Regal mit Hygieneartikeln verschwand, ertappte Renate sich dabei, wie sie ihm fast schon unwillkürlich folgte. Sie war sich sicher, dass ein Mann wie er ausschließlich von Tiefkühlprodukten und Alkohol lebte. Als er gerade nicht hinsah, studierte Renate den Inhalt seines Einkaufswagens, und zu ihrer größten Verwunderung entdeckte sie anstelle von Vodka Gorbatschow, Bier und Pizza, Nudeln, einen Bund Frühlingszwiebeln, Tomatensaucen, eine Gurke, zwei Liter Milch, einen Viererpack Küchenrolle, Datteltomaten, französischen Weichkäse und dreilagiges Toilettenpapier, also vollkommen normale Dinge. Als sie wieder hoch sah, bemerkte sie erst, dass der Fremde sie interessiert musterte. Weil Renate gelernt hatte, dass es sich nicht gehörte Leute anzustarren, widmete sie sich wieder ihrem Einkaufszettel und verschwand hinter dem nächsten Regal.
An der Kasse stand sie hinter ihm. Er war wie ein Fels, oder ein Bär. Jedenfalls wie etwas, das groß, stark und beschützend auf sie wirkte. Als Renate ihre Einkäufe auf das Rollband legte, trafen sich ihre Blicke. Seine großen braunen Augen schienen sie anzulächeln, noch bevor es seine Lippen taten. Eine Reihe schöner Zähne strahlte ihr entgegen. Renate versuchte wegzusehen, doch es gelang ihr nicht. Sein Gesicht war viel zu sanft und lieb für das eines Schandflecks.
Erst als die Kassiererin sich übertrieben räusperte, schaute Renate verlegen weg. Während sie ihre restlichen Besorgungen auf dem Band verteilte, spürte sie seine Blicke auf sich. Sie schaute ein letztes Mal zu ihm hinüber und lächelte ihn schüchtern an. Er nahm das Toilettenpapier und die zwei Tüten, die in seinen riesigen Händen lächerlich klein aussahen, zwinkerte Renate zu und verließ den Supermarkt. Renate schaute ihm nach. Als seine schrankartigen Schultern langsam immer kleiner wurden, erfüllte sie plötzlich die traurige Gewissheit, dass sie ihn vermutlich nie wieder sehen würde.
Und auch, wenn Renate das natürlich niemals öffentlich zugegeben hätte, so hatte sie noch nie in ihrem ganzen Leben einen so anziehenden Mann gesehen.
- Kapitel 45
Die gesamten kommenden Wochen erklärte sich Renate freiwillig dazu bereit, die Einkäufe für ihre Mutter zu erledigen. Natürlich tat sie das nicht, weil ihr sie Lust hatte einkaufen zu gehen, sondern weil sie insgeheim hoffte den tätowierten Fremden wieder zu sehen. Renate kannte dieses Gefühl nicht. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie so empfunden. Sie war ohne ersichtlichen Grund nervös, was sie für gewöhnlich nie war, wenn sie an ihn dachte hämmerte ihr Herz so stark gegen ihre Rippen, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen, und wenn sie unter der Dusche stand sang sie verträumt vor sich hin. Das mag auf viele Menschen zutreffen, doch Renate hatte bis dahin keinen Grund gesehen unter der Dusche zu singen. Sie hatte schweigend geduscht. Zumindest bis jetzt. Ihr Magen rumorte, wenn sie dann etwas aß, wurde ihr schlecht oder sie brachte kaum etwas hinunter. Sie war sich darüber nicht wirklich im Klaren, was mit ihr los war, vielleicht, weil es sich so neu und fremdartig anfühlte, doch sie konnte nicht aufhören an ihn zu denken. Sie fragte sich, ob er wohl eine tiefe, brummige Stimme hatte, eine Stimme die zu seiner Statur passte. Sie stellte sich seine braunen Augen vor und sein seidig schimmerndes Haar.
Zwei Wochen später, Renate hatte es eigentlich schon aufgegeben, den Fremden wieder zu sehen, spazierte sie über den gepflasterten Marktplatz, um frisches Obst und Gemüse einzukaufen, als sie auf Frau Hartmann traf, die sich aufgeregt mit Frau Huber, also Herberts Mutter, unterhielt. „Ah, Renate...“, sagte Frau Huber lächelnd, als sie Renate entdeckte. Frau Hartmann wandte sich ebenfalls Renate zu und grüßte sie.
„Ist etwas geschehen?“, fragte Renate verwundert.
Frau Hartmann legte ihren Arm um Renates Schulter und sagte, „Du hast sicher auch schon diesen Mann gesehen...“
„Welchen Mann?“, fragte Renate.
„Na, diesen... diesen Henning...“
„Wenn einer schon Henning heißt...“, sagte Frau Huber abschätzig.
Renates Magen zog sich zusammen. „Meinen Sie etwa den Mann mit den vielen Tätowierungen?“, fragte Renate um sicher zu gehen, dass sie von demselben Mann sprachen.
„Ja, genau den...“, sagte Frau Hartmann. „Den mit den Tätowierungen und den Ohrringen und den zerrissenen Hosen...“
„Und der heißt Henning?“, fragte Renate erstaunt.
Frau Hartmann zuckte mit den Schultern. „Es heißt, der kommt aus Hamburg...“
Renates Herz raste. „Ja, und was will der hier?“, fragte Herberts Mutter.
„Ja, des wenn ich wüsste...“, entgegnete Frau Hartmann. „Also wohnen tut er ja bei den Hauers...“
„Die arme Luise...“, sagte Frau Huber anteilnehmend. Es erschreckte Renate, wie bösartig die beiden Frauen über Henning sprachen. Sie konnte nicht verstehen, warum Menschen, die selbst so unvollkommen waren, so über andere herzogen.
„Hoffentlich haut der bald wieder ab...“, sagte Frau Hartmann grimmig. „Nicht auszudenken, was der sonst mit den jungen Mädchen anstellt...“
Renate schlenderte nach Hause. In Gedanken schieb sie seinen Namen. Es gefiel ihr, dass sein Name so ungewöhnlich war. Zumindest für sie war er das. Als sie gerade um die Ecke bog, hörte sie, wie jemand ihr nachrief. Und es war nicht irgendjemand. Es war Herbert.
„Schön, dass ich dich treffe...“, sagte er strahlend und schloss Renate in seine Arme. Herbert hatte keine schrankartige Statur. Er hatte keine stämmigen Arme. Und er hatte auch kein seidig glänzendes Haar. „Gehst du Heim?“, fragte Herbert und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Diese Frage erschien Renate ungeheuer dämlich. Es war schließlich offensichtlich, dass sie auf dem Heimweg war. „Ja, bin ich...“, fragte Renate merklich gereizt „Und was machst du hier?“
„Die Barbara hat mich grad vorhin angerufen... Gib mir mal die Tüten.“
Renate blieb stehen und reichte Herbert die Einkäufe. „Und was wollte sie?“
„Mit mir reden...“, antwortete Herbert knapp.
„Mit dir reden...“, wiederholte Renate. „Und worüber?“
Herbert zuckte mit den Schultern, „Das hat sie mir nicht gesagt...“
„Und warum hat sie dann nicht einfach gleich am Telefon mit dir geredet?“, fragte Renate irritiert.
„Des hab ich sie nicht gefragt...“
Wenig später sperrte Renate die Haustür auf. Herbert trug die Tüten in die Küche, küsste sie auf die Wange und ging in den ersten Stock hinauf. Renate verräumte die Einkäufe, dann machte sie sich auf den Weg in ihr Zimmer. Im Nebenzimmer hörte sie leise Stimmen. Regungslos saß sie auf der Kante ihres Bettes und horchte, verstand jedoch kein einziges Wort, von dem, was nebenan gesprochen wurde. Renate hatte eine vage Vorahnung, worüber Barbara mit Herbert hatte sprechen wollen, konnte sich aber nicht vorstellen, dass ihr ihre eigene Schwester derart in den Rücken fallen würde. Denn, was Barbara anging, musste diese davon ausgehen, dass Renate Herbert liebte, und damit wäre es eine Art von Betrug, sollte sie ihm dennoch ihre Gefühle gestehen. An und für sich spielte es keine Rolle, betrachtete man Renates Gefühle für Herbert, doch es ging ums Prinzip.
Eine Stunde später öffnete Herbert die Tür zu Renates Zimmer. Er schien ein wenig blass um die Nase. „Und, worüber habt ihr geredet?“, fragte Renate neugierig.
„Ach, über nichts Bestimmtes...“, antwortete Herbert vage.
„Ihr habt also über eine Stunde lang über nichts Bestimmtes geredet...“, sagte Renate ungläubig.
„Es war wirklich nichts Wichtiges...“, antwortete Herbert abwesend, und streichelte Renate über die Wange.
Diese Antwort stellte Renate jedoch nicht zufrieden. „Dir ist doch hoffentlich klar, dass ich unmöglich einen Mann heiraten kann, der nicht ehrlich zu mir ist...“
Entsetzt schaute Herbert in Renates große braune Augen. „Es ging um die Hochzeit...“, sagte er wenig glaubhaft. „...ich kann dir das nicht sagen, sonst ist es doch keine Überraschung mehr...“
Renate musterte Herbert eindringlich. Sie wusste, dass er sie soeben angelogen hatte. Sie wusste, dass deren Gespräch rein gar nichts mit einer Überraschung zu tun gehabt hatte. Und wenn es tatsächlich um die Hochzeit gegangen war, dann sicherlich nicht, weil Barbara eine heimliche Idee ausheckte, um ihr eine Freude zu machen, sondern, weil sie ihm die Hochzeit auszureden versuchte. „Es ist ein beruhigendes Gefühl, dass du mich niemals anlügen würdest...“, sagte Renate und legte ihren Kopf auf Herberts schmale Schulter. „Bei jedem anderen, würde ich mir Gedanken machen, aber bei dir weiß ich, dass du immer ehrlich zu mir bist...“ Herbert schluckte. Sie wusste, dass er darunter litt, es ihr zu verschweigen, doch sie wusste auch, dass er noch mehr fürchtete, dass auch nur ein Wort seiner Unterhaltung mit Barbara ans Licht kommen könnte. Und in dem Augenblick, als Herbert seine Arme um Renate legte, wusste sie, dass er ihr niemals erzählen würde, was sich im Nachbarzimmer abgespielt hatte. Zumindest nicht freiwillig.
- Kapitel 46
Renate betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Sie rückte ihr hellblau geblümtes Dirndl zurecht, und zupfte in ihrer Frisur herum. Sie kramte in einem dunkelblauen Beutel und zog wenig später eine schwarze Wimperntusche hervor. Renate schaute mit weit aufgerissenen Augen in den Spiegel und tuschte sich die Wimpern, was sie für gewöhnlich nie tat, dann betrachtete sie sich erneut. Ihre großen, mandelförmigen Augen strahlten ihr ausdrucksvoll umrandet entgegen. Sie legte einen Hauch Parfum auf und verließ zufrieden das Bad.
Barbara saß schon im Flur. Auch sie trug ein Dirndl, und auch sie hatte sich die Haare hochgesteckt. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und es schien, als dämmerte Barbara, dass Renate Bescheid wusste. Über ihr Gesicht huschte etwas verstohlen Schuldbewusstes. Es schien so, als würde sie sich fragen, ob Renate lediglich ahnte, was sie getan hatte, oder ob Herbert es ihr, seinem Versprechen zum Trotz, verraten hatte. Renate betrachtete ihre Schwester. Sie fragte sich, wann es zwischen ihnen anders geworden war. Es schien ein unmöglicher Zufall zu sein, dass Renates und Barbaras einst enges Verhältnis vor ziemlich genau drei Jahren angefangen hatte zu bröckeln. Genau in der Zeit, als Renate ihrer Familie Herbert als ihren festen Freund vorgestellt hatte.
Helga und Günther kamen die Stufen hinunter. Sie sahen aus, als wollten sie den Preis zum beneidenswertesten Ehepaar des Ortes gewinnen. Selbstverständlich trugen auch sie Tracht. Bis auf Renate strahlten alle wie Atomreaktoren, es war schließlich ein wichtiger Anlass. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Festwiese, wo das Dorffest bereits in vollem Gange war.
Renate hatte sich dazu überreden lassen, am Ausschank auszuhelfen, was sie hauptsächlich deswegen getan hatte, weil sie sich dadurch erhoffte, Herberts Küssen zu entgehen. Seit deren erster Liebesnacht, vor wenigen Wochen, die von Renates Seite mit Liebe nichts zu tun gehabt hatte, hatte Herbert jede Nacht versucht mit Renate zu schlafen. Vier Mal hatte sie verzweifelt nachgegeben. Und wieder hatte er keuchend und ächzend auf ihr gelegen, und wieder war er anschließend auf ihrer Brust in sich zusammen gesackt. Renate hatte sich unterdessen drei aus vier Mal gewünscht noch in derselben Nacht zu sterben, was jedoch wieder nicht geklappt hatte. Beim vierten Mal hatte sie ihre Augen geschlossen und an den Fremden gedacht. Dies erschien ihr einerseits zwar unheimlich schäbig, andererseits hatte es jedoch positiv dazu beigetragen, das, was sie in sich fühlte zu genießen, auch wenn es eigentlich Herbert war, den sie spürte.
„Wir sehen uns dann später, Renate-Schatz“, sagte Herbert und küsste sie auf die Wange. „Ich gehe zum Schießstand und versuche dir ein Plüschtier zu schießen...“ Er lächelte schuldbewusst, dann verschwand er in der Menschenmenge. Erleichtert band sich Renate eine weiße Schürze um und zapfte Bier.
Etwa eine Stunde später kam Herbert mit einer riesigen Giraffe zurück. Er stellte sie vor Renate auf die Theke. Renate konnte derart öffentliche Liebesbeweise nicht ausstehen. Vielleicht lag das auch daran, dass sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte. Sie betrachtete die Giraffe und Herberts selbstzufriedenen Gesichtsausdruck. Er schien das für ein tolles Geschenk zu halten, als wäre die Größe das ausschlaggebende Kriterium. Die Tatsache, dass Renate überflüssigen Kram verabscheute – und diese überdimensionale Giraffe war ohne jeden Zweifel der Inbegriff für überflüssigen Kram – schien Herbert nicht weiter zu interessieren. Ein Mann wie Henning, da war sie sich sicher, würde einer Frau nie so eine blöde Plüschgiraffe schenken. Doch Herbert war nicht Henning und deswegen machte Renate Herbert freundlich darauf aufmerksam, dass sie Theke voller Bier wäre und bat ihn die Giraffe ins Auto zu bringen. Er entschuldigte sich für sein unbedachtes Verhalten und trottete mit seiner Giraffe in Richtung Parkplatz. Renate schaute ihm nach um. Und während sich ihre Eltern auf der Tanzfläche einem Walzer hingaben, beobachtete sie Barbara dabei, wie diese Herbert heimlich zum Parkplatz folgte.
- Kapitel 47
Renate war betrübt. Sie konnte Herbert nicht heiraten. Doch genauso wenig wollte sie sich über einen Mann Gedanken machen, der ohnehin niemals in Frage kommen konnte. Erstens würde eine Verbindung mit Henning ihre Mutter zweifelsohne in den Selbstmord treiben, zweitens lebte Henning in Hamburg, und drittens, hatte Renate noch nicht ein Wort mit ihm gesprochen.
Renate erkannte Herbert schon von weitem. Er kam lächelnd auf sie zu, bestellte sich ein Bier, küsste sie auf die Wange und verschwand schließlich im engen Getümmel der Tanzfläche. Barbara stand abseits des Gedränges im Dunklen. Sie wirkte niedergeschlagen. Renate wusste nicht, ob sie Mitleid mit ihr haben, oder sie verachten sollte. An und für sich machte es Renate nichts aus, dass ihre Schwester sich an ihren Verlobten ranmachte, doch gleichzeitig verletzte es sie, von ihr auf eine solche Art hintergangen zu werden. Denn, was wäre, wenn Renate Herbert tatsächlich lieben würde – was sie zugegebenermaßen nicht tat. Doch was wäre, wenn doch? Schließlich wussten weder Barbara noch Herbert, dass sie Herbert nur mochte. Renate dachte an die zahlreichen Annäherungsversuche ihrer Schwester, die sie drei Jahre lang ignoriert hatte. Sie dachte an die verschiedenen Anlässe, bei denen Barbara boshafte Scherze gemacht hatte, die ausnahmslos jedes Mal auf Renates Kosten gegangen waren.
Renate fragte sich, was sie an ihrer Stelle getan hätte, wie sie sich verhalten hätte, wäre sie Situation umgekehrt gewesen. Was hätte sie getan, wenn ihre Schwester mit dem Mann zusammen wäre, den auch sie heimlich liebte. Sie stellte sich Barbara mit Henning vor, was sie so schnell wie nur möglich wieder zu vergessen versuchte, nicht nur, weil sie dieses Bild nicht ertragen konnte, sondern weil es sie erschreckte, dass sie automatisch an Henning gedacht hatte.
Zwei Stunden später betrat der Bürgermeister die Bühne und kündigte eine Band mit dem seltsamen Namen The Black Rabbits an. Die inzwischen betrunkene Gemeinde klatschte und jubelte, als eine Gruppe junger Männer über die provisorische Holzbühne schritt. Und in diesem Augenblick setzte Renates Herz kurzzeitig aus, denn der schrankartige Gitarrist war Henning.
The Black Rabbits spielten vorwiegend alte Rockklassiker, die bei ihrem grölenden Publikum bestens anzukommen schienen. Sogar Frau Hartmann tanzte ungeniert zu deren Interpretation von Highway to Hell. Hennings langes seidiges Haar funkelte im Scheinwerferlicht. Wie gebannt starrte Renate auf die Bühne. Ihre Blicke hafteten an dem Mann, an den sie seit mehreren Wochen heimlich gedacht hatte. Und plötzlich realisierte sie, und diese Erkenntnis traf sie wie ein Fausthieb, dass sie sich schon bei ihrer ersten flüchtigen Begegnung im Supermarkt unsterblich in Henning verliebt hatte.
- Kapitel 48
Herr Hofer hielt Frau Hoffmann die Tür auf. Es war mittlerweile fast halb zehn. Seit Langem hatte Frau Hoffmann sich nicht mehr so klein und einsam gefühlt, auch wenn das Gespräch mit Herrn Hofer durchaus geholfen hatte. Es wunderte Frau Hoffmann, dass sie sich ihm ohne weiteres hatte anvertrauen können. Insbesondere deswegen, weil sie Herrn Hofer nicht als den Typ Mann eingeschätzt hätte, der sich freiwillig die langweilig-tragische Lebensgeschichte einer ebenso langweiligen Kollegin antun würde.
Er begleitete Frau Hoffmann nach draußen. Auf dem großen Vorplatz fragte Herr Hofer, ob er Frau Hoffmann mitnehmen könne, die sich bedankte, jedoch höflich ablehnte. Er fragte, ob Frau Hoffmann denn auch mit dem Auto da sei, woraufhin Frau Hoffmann den Kopf schüttelte und zum U-Bahn-Eingang zeigte, der nur wenige Meter entfernt war. „Mein Auto steht da drüben“, sagte Herr Hofer und zeigte auf einen Volvo, der auf der gegenüber liegenden Straßenseite parkte. „Wenn man es genau nimmt“, sagte er lächelnd, „dann ist es zu meinem Auto näher, als zur U-Bahn.“ Frau Hoffmann schmunzelte. „Jetzt sein Sie nicht so... Ich fahre Sie nach Hause...“ Frau Hoffmann wollte gerade noch einmal dankend ablehnen, da sagte Herr Hofer, „Sagen Sie doch einfach ja...“
„Wo wohnen Sie eigentlich?“, fragte Frau Hoffmann, während sie langsam auf den Volvo zusteuerte. Herr Hofer zog einen Schlüsselbunt aus seiner Hosentasche und antwortete, dass er in Gern wohne. Frau Hoffmann blieb stehen und starrte Herrn Hofer entgeistert an. „Das ist doch ein Scherz...“, sagte sie erstaunt. Herr Hofer, der nicht weniger erstaunt war über Frau Hoffmanns seltsames Betragen, schüttelte den Kopf. „Nein...“, sagte er, „... ich wohne tatsächlich in Gern...“
Eine viertel Stunde später stellte Herr Hofer den Motor ab und Frau Hoffmann öffnete die Tür. „Hier wohnen Sie also...“, sagte er lächelnd und schaute aus dem Fenster. Frau Hoffmann griff nach ihrer Handtasche. „Diese Gegend passt gar nicht zu Ihnen...“, sagte Herr Hofer nachdenklich.
„Warum?“, fragte Frau Hoffmann irritiert.
Er schaute noch einmal aus dem Fenster, hinauf zu den schier endlos wirkenden Plattenbauten. „Es ist so trostlos hier“, sagte Herr Hofer.
Frau Hoffmann schaute zu den Wohnungen, die von unten aussahen wie eng aneinander gereihte Zellen. „Dann passt es doch ziemlich gut zu mir“, sagte sie nüchtern.
„Nein...“, sagte Herr Hofer lächelnd. „Das passt überhaupt nicht zu Ihnen.“
Wenige Minuten später stieg Frau Hoffmann in den Aufzug. In ihrer rechten Hand hielt sie die Post, die sie zuvor aus ihrem Briefkasten geholt hatte. Der Fahrstuhl setzte sich schleppend in Bewegung. Es schien, als wüsste Frau Hoffmann genau wie er sich fühlte. Es schien, als wollte er nicht nach oben fahren. Es schien so, als wäre er entsetzlich müde.
Frau Hoffmanns Schritte hallten durch den Flur. Das Licht der Energiesparlampe flackerte nervös. Seufzend suchte sie ihren Schlüssel. Und während sie ihn suchte, fragte sie sich, wie es sein konnte, dass die Energiesparlampe schon wieder nicht richtig funktionierte, wo es doch immer hieß, dass Energiesparlampen viel länger halten würden, als normale Glühbirnen. Frau Hoffmann fischte den Schlüsselbund aus ihrer Tasche und öffnete ihre Wohnungstür, um wenig später in ihrer trostlosen und leeren Wohnung zu stehen und sich zu fragen, warum ihr Leben so anders verlaufen war, als sie es sich immer gewünscht hatte. Sie fragte sich, warum Gott, oder wer auch immer dafür verantwortlich war, sie ihr gesamtes Leben lang bestraft hatte.
Ihr ganzes Leben war eine Aneinanderreihung unwichtiger oder tragischer Momente gewesen bis sie Henning kennen lernte. Und dann, als es für einen flüchtigen Moment des so schien, als hätte sich nun alles für sie geändert, schlich es sich wieder ein. Die schönsten Jahre ihres Lebens wurden innerhalb von wenigen Sekunden zum dunkelsten Kapitel. Doch es hatte kein Zurück mehr gegeben. Es war zu spät gewesen, um wieder da anzuknüpfen, wo sie ihr altes Leben verlassen hatte. Als Henning starb, war alles mit ihm gestorben. Frau Hoffmann war alleine gewesen. Und das nicht nur an dem Abend, als sie es erfahren hatte, sondern immer. Und während ihre Schwester das Leben führte, das ihre Eltern guthießen, vereinsamte Frau Hoffmann in einem Leben, das sie sich so nicht vorgestellt hatte.
- Kapitel 49
Frau Hoffmann setzte sich auf den Balkon. Auch wenn es nicht abzustreiten war, dass sich ihr Leben in den vergangenen Wochen zum Positiven verändert hatte, schien ihr diese Veränderung nicht einmal annähernd auszureichen, um weiterzumachen. Sie hasste ihr Leben. Sie hasste das Haus in dem sie lebte, sie hasste die Tatsache, dass sie gewöhnlich und langweilig war. Sie hasste es sich selbst zu hassen, und sie hasste das Gefühl, noch immer wütend zu sein. An all diesem Hass konnte auch ihre Bekanntschaft mit Silvia nichts ändern. Eine schicksalhafte Begegnung, die aus deren beiderseitigem Wunsch entstanden war, ihr trostloses Dasein endlich zu beenden. Und auch Herr Peters, Frau Hoffmanns heimlicher Freund, würde ihr gewiss keine Träne nachweinen, weil ihre Existenz keinerlei Bedeutung für ihn hatte. Er hatte schließlich seine journalistische Tätigkeit und seine unzähligen Liebschaften.
Frau Hoffmann zündete sich eine Zigarette an. Sie dachte an Herrn Hofer und daran, dass er ihr geduldig zugehört und sie getröstet hatte. Sie war sich sicher, dass auch Herr Hofer ihretwegen nicht weinen würde, doch immerhin würde er bemerken, dass sie tot war.
Frau Hoffmann drückte den Zigarettenstummel in den Aschenbecher und zündete sich die nächste an. Es schien, als wäre das unbeschreibliche Glück, das sie in ihrem Leben erfahren hatte, unweigerlich mit Henning verbunden gewesen, und als er starb, war es mit ihm gestorben. Frau Hoffmann dachte an seine dunkeln Augen. Sie dachte an die Art, wie er sie in seine Arme geschlossen hatte.
Der Durst trieb Frau Hoffmann in die Küche. Weinend öffnete sie den Schrank über der Spüle, zog ein Glas heraus und füllte es mit Wasser. Als sie wieder auf den Balkon ging, fiel ihr Blick auf den Stapel Briefe, den sie eben aus dem Briefkasten geholt hatte. Sie nahm sie an sich und setzte sich wieder nach draußen, weil sie es in ihrer an Geschmacklosigkeit kaum zu übertreffenden Wohnung nicht länger auszuhalten schien.
Zwischen den Rechnungen fand sie eine Postkarte. Auf der Vorderseite war eine riesige Wiese mit Moonblumen abgebildet. Frau Hoffmann drehte die Postkarte um und las sie. Meine liebe Renate, hieß es da, ich bin mit meiner Mutter spontan weggefahren... Ich habe noch bei dir geklingelt, aber du warst leider nicht zu Hause... Frau Hoffmann seufzte. Ich freue mich schon sehr auf unser nächstes Treffen. Und falls ich es noch nicht gesagt habe, ich danke dir für alles, was du für mich getan hast, auch wenn es dir vielleicht nicht klar ist, wie wichtig das für mich war. Frau Hoffmann lächelte. Wenn es Engel auf dieser Erde gibt, dann bist du einer davon, Renate. Alles Liebe und bis ganz bald, Silvia. Bei diesen letzten Worten brach Frau Hoffmann in Tränen aus. Sie legte die Postkarte auf den Tisch und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Es hatte schon einmal jemanden gegeben, der ihr das gesagt hatte. Doch das lag viele Jahre zurück.
- Kapitel 50
Schluchzend lag Frau Hoffmann auf ihrem Bett. Herberts Briefe lagen auf dem Kopfkissen und in der rechten Hand hielt sie ihr Telefon, das sehr verwundert darüber gewesen sein dürfte die Wärme von Frau Hoffmanns Hand zu spüren, weil Frau Hoffmann es inzwischen mehrere Jahre lang nicht benutzt hatte. Frau Hoffmann wählte die Nummer, die Herbert ihr geschrieben hatte nun schon zum elften Mal. Doch dieses Mal würde sie nicht auflegen. Dieses Mal würde sie erfahren, wie es ihrer Schwester ging. Denn sie hatte beschlossen, alles davon abhängig zu machen, ob Barbara noch am Leben war. Lebte sie, würde auch Frau Hoffmann weiterleben, auch wenn sie nicht wirklich einen Sinn darin sah. Wäre ihre Schwester bereits gestorben, würde sich Frau Hoffmann noch an diesem Abend von ihrem trostlosen, zellenartigen Balkon in den Tod stürzen.
Es klingelte. Ungeduldig klopfte Frau Hoffmann mit dem Finger auf Herberts Briefe. Als sie gerade mit dem Gedanken spielte aufzulegen und sich darüber ärgerte, dass sie für diesen Fall keinen Plan zurecht gelegt hatte, hörte sie Herberts Stimme. Er schien schon geschlafen zu haben. Frau Hoffmann schaute auf die Digitalanzeige ihres Weckers. Es war schon nach Mitternacht.
„Wer ist denn da?“, fragte Herbert verschlafen. Frau Hoffmann wollte antworten, konnte aber nicht. Sie schämte sich ihn geweckt zu haben, und plötzlich schien sie auch nicht mehr wirklich wissen zu wollen, wie es ihrer Schwester ging, weil es diese schließlich auch nie interessiert hatte, wie es ihr gegangen war. Frau Hoffmann horchte, konnte jedoch nicht sagen, ob Herbert aufgelegt hatte, oder ob er noch in der Leitung war und darauf wartete, dass sie sich doch noch zu erkennen gab. „Bist das du, Renate?“, flüsterte Herbert. Frau Hoffmann nickte, was Herbert selbstverständlich nicht sehen konnte. „Renate?“, flüsterte er ein zweites Mal. „Bist du das?“
Frau Hoffmann räusperte sich. „Ja, ich bin’s...“
„Also lebt sie noch“, sagte Frau Hoffmann nüchtern.
„Ja, sie lebt noch“, antwortete Herbert. „Und wie geht es dir?“
Frau Hoffmann wusste nicht wie es ihr ging. „Es geht mir gut“, log sie schließlich, weil sie sich wirklich nicht danach fühlte, Herbert ihr Herz auszuschütten.
„Du klingst aber nicht so gut...“, sagte Herbert vorsichtig.
„Wenn man einmal davon absieht, dass mein gesamtes Leben eine absolute Katastrophe ist und ich immer häufiger mit dem Gedanken spiele vom Balkon zu springen, geht es mir wirklich gut...“
Herbert lachte. „Es ist schön deine Stimme zu hören, Renate.“
„Es ist auch schön deine zu hören...“, sagte Frau Hoffmann. Und es stimmte, auch wenn diese Tatsache Frau Hoffmann sehr überraschte. Es war tatsächlich schön mit ihm zu reden. Es war sehr lange her, dass Frau Hoffmann eine Stimme aus ihrem alten Leben gehört hatte.
„Und? Wirst du kommen?“ Herbert fragte das fast schon flehend. Frau Hoffmann seufzte. „Bitte, Renate...“ Sie seufzte ein weiteres Mal, dann sagte sie zu. „Du kommst? Du kommst wirklich?“, fragte er glücklich.
„Wenn ich es doch sage...“, antwortete Frau Hoffmann an der Schwelle zum gereizten Tonfall.
„Und wann?“, fragte Herbert überschwänglich.
„Das weiß ich noch nicht“, sagte sie. „Ich werde mir frei nehmen müssen.“
„Und wann wirst du es wissen?“
„Das kann ich dir nicht sagen.“
„Denkst du, das wird problematisch?“
„Ich hoffe nicht...“, log Frau Hoffmann, weil sie insgeheim genau wusste, dass es kein bisschen problematisch wäre. Herr Hofer hatte ihr bereits angeboten, ihr ein paar Tage frei zu geben, sollte sie zu ihrer Schwester fahren wollen. Dennoch wollte sie sich nicht auf einen Tag festlegen. Sie hatte zugesagt, damit musste Herbert vorerst zufrieden sein.
„Ich danke dir, Renate...“, sagte Herbert wenige Minuten später. „Ich weiß, dass das alles bestimmt nicht einfach für dich ist.“
„Barbara ist meine Schwester“, sagte Frau Hoffmann. „Und vielleicht wird sie sterben...“
- Kapitel 51
Renate löste die Schleife ihrer Schürze und legte sie zusammen. Auch die letzten Gäste des Dorffestes machten sich inzwischen auf den Nachhauseweg. Renate verabschiedete sich noch kurz bei Bernhard, der sich überschwänglich bei Renate für ihre Hilfe bedankte und ihr ein Bündel Geldscheine zusteckte. Renate schaute auf das Bündel und streckte es ihm wieder entgegen. Bernhard bestand darauf, dass sie es annehme und wünschte ihr eine gute Nacht. Sein Angebot, sie bei sich zu Hause abzusetzen, lehnte sie mit der Begründung dankend ab, dass sie ohnehin noch nicht müde sei und gerne noch ein Stück zu Fuß gehe.
Renate schlenderte über den leer gefegten Festplatz. Es erschien ihr seltsam, dass hier wenige Augenblicke zuvor noch ausgelassen getanzt und gefeiert worden war. Als sie an der Holzbühne vorbei ging, sah sie die Bandmitglieder der Black Rabbits auf einer Bierbank sitzen. Sie versuchte unerkannt an ihnen vorbei zu huschen, weil sie sich vor ihren fünf betrunkenen Gestalten fürchtete. Als sie fast außer Sichtweite war, hörte sie, wie ihr einer der Männer nachstellte. „Hey, Kleine, lauf doch nicht weg...“, sagte er lallend. Renate ging schneller. „Jetzt bleib schon stehen...“ Er hielt Renate am Arm fest und drehte sie zu sich. „Du bist doch die Kleine vom Ausschank...“, sagte er und der Geruch von Bier strömte bei jedem seiner Worte in Renates Nase. Sie hatte ihn mehrfach gesehen. Er hatte sein Bier jedes Mal bei ihr bestellt und sie schmierig angelächelt. „Kannst du nicht sprechen?“, fragte er und schüttelte sie. „Du bist doch die vom Ausschank?“ Renate nickte. Sie bemerkte nicht, wie Tränen über ihre Wangen liefen. Sie bemerkte auch nicht, dass sie zitterte. In Gedanken sah sie schon die Schlagzeilen der Tageszeitungen vor sich. Junge Frau nach Dorffest verschleppt, oder Der Fall Renate H. – noch immer keine Leiche, oder Die Schande von Tüßling – Renate H. tot aufgefunden.
„Lass sie los...“, sagte eine dunkle Stimme, die Renate nicht erkannte. Der Mann, der sich einmischte, schien direkt hinter ihr zu stehen.
„Ich mach doch gar nichts“, antwortete der Mann, der Renate am Arm hielt.
„Lass sie los, Basti, ich meine es ernst...“ Der Tonfall des Mannes klang bedrohlich.
„Misch dich da nicht ein...“, sagte der andere aufgebracht. Renate hörte ihren Puls wie ein dumpfes Meeresrauschen und ihre Fingerkuppen fühlten sich taub an. „Ich habe hier nur ein bisschen Spaß mit der Kleinen vom Ausschank.“
Renate hörte, wie jemand langsam von hinten auf sie zukam. „Eine Frau, die zittert und weint, hat keinen Spaß.“
„Halt dich da raus, klar...“ Dieser Satz war getränkt von Bier und Zigaretten. Basti umschloss Renates Handgelenk noch fester.
„Basti, hör auf mit dem Scheiß...“, sagte der andere nun beschwichtigend. „Du hast zu viel getrunken.“
„Was kann ich dafür, dass er sie nicht angesprochen hat?“
„Ist das etwa die Kleine vom Ausschank?“, fragte der Mann mit der dunklen Stimme, der noch immer hinter Renate stand.
Basti zog Renate näher an sich. „Ja und wenn sie es ist, was dann?“
„Du weißt genau, dass sie ihm gefällt...“
„Ja und?“, fragte Basti, „Mir gefällt sie auch...“ Renate schloss die Augen. Und in diesem Moment wünschte sie sich von ganzem Herzen, sie hätte Bernhards Angebot angenommen.
- Kapitel 52
Er hielt sie in den Armen. Ganz fest hielt er sie. Und es war, als fiele ihre Angst in sich zusammen. „Es ist alles in Ordnung...“, sagte er leise. Er streichelte über ihr Haar. Weit entfernt hörte sie Basti ächzen. Er kauerte noch immer auf dem Boden. Ihr Kopf lag auf seiner großen, breiten Brust. Sie konnte sein Herz schlagen hören. Es hämmerte gegen ihre Schläfe. „Ich bringe dich nach Hause...“ Seine Stimme vibrierte in Renates Körper.
Die nächsten fünfzehn Minuten sprachen sie kein Wort. Renate genoss lediglich seine Wärme und die Geborgenheit, die sie in seinen Armen fand. Es schien, als müsste nichts gesagt werden. So als gäbe es nicht die richtigen Worte. Henning an sich zu spüren, schien vollkommen natürlich, und doch hatten seine Berührungen etwas Schüchternes an sich, etwas fast schon Zaghaftes, etwas, dass auf den ersten Blick nicht wirklich zu seiner Statur passte.
Seine breiten Arme hielten sie fest. Renate wusste, dass an diesen Armen niemand vorbeikommen würde. Mit geschlossenen Augen inhalierte sie seinen herben Duft. Und obwohl sie sich geborgen fühlte, fühlte es sich nicht an, als läge sie an der Brust eines Bruders oder Vaters. Sie hörte Hennings Herz. Es schlug schnell, fast aufgeregt. Und auch ihres schlug schnell und aufgeregt. Das laute Pochen schien ihre Schritte wie eine verliebte Unterhaltung zu begleiten. Es war eine Art Vertrauen und Zuneigung, die beide innerlich mit Wärme zu fluten schien.
Als sie an der Ecke zum Lilienweg ankamen, blieb Renate stehen. Zum ersten Mal schaute sie ihn an. Sein Gesicht war so unbeschreiblich schön, dass es ihr fast unnatürlich erschien. Erst als sie ihn gesehen hatte, war ihr klar geworden, was sie sich immer gewünscht hatte. Sie schaute in seine braunen Augen. Es fühlte sich so an, als warte hinter seinen Lippen eine neue Welt auf sie. Eine Welt, die nichts mit der zu tun hatte, die sie bis zu diesem Tag als die ihre bezeichnet hätte.
Sie hielten sich an den Händen. Der Nachthimmel über ihnen hüllte sie in seine schützende Dunkelheit. Und es schien so, als würde etwas zwischen ihnen stehen, etwas, von dem sie beide nicht wussten, dass es schon bald passieren würde. Dass es vielleicht passieren musste. Henning bückte sich, küsste Renate sanft auf die Stirn und streichelte über ihre Wange.
Langsam ging sie den Lilienweg hinunter, in ihrem Rücken spürte sie seinen Blick. Als sie vor ihrem Gartentor stehen blieb, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. Als sie ihn im Schein der Straßenlaterne sah, wusste sie, dass nach dieser Begegnung nichts mehr so sein würde, wie es einmal war.
Fünf Minuten später lag Renate in ihrem Bett. Genüsslich rieb sie mit ihren Füßen gegen den sanften Stoff ihrer Decke. Und in dem Moment, als sie ihre Augen schloss und langsam weg driftete, war sie froh, Bernhards Angebot doch abgelehnt zu haben.
- Kapitel 53
Am folgenden Tag half Renate bei den Aufräumarbeiten. Schon von weitem sah sie Hennings schrankartige Silhouette. Doch sie sah nicht nur Henning. Auch Herbert arbeitete schon eifrig. Den gesamten Weg war sie nervös gewesen. Und das nicht nur, weil sie hoffte Henning zu sehen, sondern weil sie sich sicher gewesen war, dass Herbert auch dort sein würde. Da waren sie nun alle drei. Henning, dessen bloßer Anblick reichte, um Renates Magen auf Rosinengröße zusammenschrumpfen zu lassen, Herbert, der Verlobte den Renate nicht heiraten wollte, und Renate die versuchte entspannt zu wirken, obwohl sie sich kein bisschen entspannt fühlte. Mit feuchten Händen und weichen Knien ging sie schließlich zu Bernhard und bot ihre Hilfe an.
Ihre Blicke hafteten aneinander. Die Luft zwischen ihnen schien zu knistern wie Holzzweige im Feuer. Henning trug seine zerschlissene Jeans und ein schmutziges Unterhemd, das ursprünglich einmal weiß gewesen war. Seine langen Haare hatte er zu einem losen Knoten zusammen gebunden.
Renate beobachtete ihn bei der Arbeit. Seine Haut schimmerte in der prallen Mittagssonne. Die Muskeln seiner Arme waren gespannt. Er und eine Gruppe anderer junger Männer, zu denen auch Herbert gehörte, zerlegten die Bühne und brachten die einzelnen Bretter zu einem Transporter am Rand der Festwiese. Es schien, als würden sie nicht das Geringste wiegen. Zumindest, wenn Henning sie trug. Herbert hingegen war die Anstrengung deutlich anzusehen.
Eine Stunde später machten alle Helfer eine Pause. Bernhard brachte frische Semmeln und schenkte Bier aus. Es hätte eine gemütliche Situation sein können, wäre da nicht Herbert gewesen, der, bei jeder Möglichkeit, die sich ihm bot, seine Arme um Renate legte.
Die Atmosphäre war angespannt. Renate beobachtete Henning im Augenwinkel. Seine Nüstern waren gebläht, seine Augen wirkten bedrohlich. Es sah so aus, als würde er jeden Moment auf Herbert losgehen. Und auch Herbert schien die negativen Schwingungen zu spüren, wenn er sich auch nicht erklären konnte, was er getan haben könnte, um Fremden dermaßen zu verärgern.
Renate bereute, dass sie Henning nichts von Herbert gesagt hatte. Sie hatte es Henning nicht verschweigen wollen, sie hatte Herbert lediglich vergessen zu erwähnen. Das konnte auch damit verbunden gewesen sein, dass sie in dem Augenblick, als Henning sie an seinen stämmigen Körper gedrückt hatte, Herbert das letzte gewesen war, woran Renate gedacht hatte.
Renate schaute zu Herbert hinüber. Sie wusste, dass sie sich hätte schuldig fühlen müssen. Sie wusste, dass ihr schlechtes Gewissen sie hätte umbringen müssen. Und sie hatte auch ein schlechtes Gewissen, doch das galt nicht Herbert, sondern Henning. Für Renate fühlte es sich so an, als würde sie Henning mit Herbert hintergehen, nicht umgekehrt.
Zehn aufreibende Minuten später, stand Renate auf und entschuldigte sich mit dem Vorwand auf die Toilette zu müssen. Herbert lächelte sie an, stand ebenfalls auf und machte sich daran, das Bierzelt zu zerlegen. Henning schaute Renate wütend nach, was Renate ihm nicht einmal übel nehmen konnte.
- Kapitel 54
Renate verschwand hinter einem Transporter im Gebüsch. Ihr Magen fühlte sich an, als müsse sie sich jeden Moment übergeben, was nicht zuletzt auf die Menge an Bier zurückzuführen war, die sie in sich hineingeschüttet hatte, um die gespannte Situation besser ertragen zu können.
Sie ging in die Hocke und lehnte sich an den Transporter, ihren Kopf stützte sie in die Hände. Sie konnte doch unmöglich alle Menschen, die ihr wichtig waren derart vor den Kopf stoßen. Doch Herbert zu heiraten kam auch nicht in Frage. Gerade als Renate aufstehen und wieder zur Festwiese zurückgehen wollte, stand Henning vor ihr und versperrte ihr den Weg.
„Mit dem bist du zusammen?“, schnaubte Henning wütend. Renate schaute zu Boden. Langsam kam er auf sie zu. „Ich habe dich etwas gefragt...“, sagte Henning bedrohlich. Renate nickte ohne aufzuschauen. Sie war sich sicher, dass Henning jeden Moment gehen würde, sie war sich sicher, dass er nie wieder auch nur ein Wort mit ihr sprechen würde. Doch er ging nicht. Er blieb wie angewurzelt stehen.
Unsanft zog er Renate an sich. Sie beschloss seine Wut zu ertragen. Sie beschloss nichts zu sagen, das es noch schlimmer hätte machen können. Sie hatte Henning getäuscht und sie hatte seinen Zorn verdient. Als er nach einigen Sekunden noch immer nichts gesagt hatte, schaute Renate vorsichtig zu ihm hoch. Seine Haut war von einem dünnen Schweißfilm überzogen. Seine Schlagader vibrierte in seinem breiten Hals. Seine unbändige Wut zog Renate auf eine unerklärliche Art und Weise an. Er hatte etwas von einem wilden Tier an sich, das sie zwar einerseits verschreckte, jedoch andererseits unheimlich faszinierte. Und dann geschah etwas, womit Renate niemals gerechnet hätte.
Henning packte sie und drückte sie gegen den Transporter. Er zog sie an sich und küsste sie mit einer Leidenschaft, die Renate so nicht kannte. Eng umschlungen standen sie verborgen im Gebüsch. Seine Hände glitten über ihren Körper. Die Art wie er Renate küsste, erregte sie in einem Maß, von dem sie nie gedacht hätte, dass sie es empfinden könnte. Sie schlang ihre Beine um seine Hüften und küsste ihn mit einer Inbrunst, die sie ihrem Verlobten in den gesamten drei Jahren ihrer Beziehung nicht ein einziges Mal entgegen gebracht hatte. Renate hätte es nie für möglich gehalten, dass sie so sein konnte. Doch sie konnte.
Zwanzig Minuten später rückte Renate ihren Rock zurecht und zog einzelne Zweige aus ihren Haaren. Die reine Vernunft hatte sie dazu bewogen aufzuhören. Renate spürte, wie das Blut durch ihre Adern schoss. Vereinzelte Schweißperlen liefen über ihre Stirn. Sie wusste, dass Herbert sie fragen würde, wo um Himmels Willen sie so lange gewesen war. Sie fragte sich auch, ob ihm aufgefallen war, dass nicht nur sie, sondern auch Henning fort gewesen war. Und sie fragte sich, wie sie die Tatsache erklären sollte, dass ihr ehemals weißer Rock nun dermaßen verschmutzt aussah.
Henning zog sie noch einmal an sich. Ein letztes Mal küsste er sie, dann verschwand er. Sie schien erst jetzt zu begreifen, dass das alles tatsächlich geschehen war. Sie hatte Herbert betrogen. Sie hatte ihn hintergangen. Und obwohl sie versuchte sich deswegen schlecht zu fühlen, brachte sie es nicht über sich.
- Kapitel 55
Da Barbara noch lebte, konnte Frau Hoffmann nicht vom Balkon springen. Ein Teil in ihr war äußerst erleichtert über diese Tatsache, ein anderer hingegen schien sich heimlich gewünscht zu haben, dass es endlich vorbei wäre. Frau Hoffmann schaute auf ihre Sanduhr. Noch eineinhalb Minuten. Der Schaum der Zahnpasta schmeckte scharf. Wäre Barbara gestorben, würde Frau Hoffmann in diesem Augenblick nicht Zähne putzen. Sie wäre gesprungen. Und auch, wenn es zugegebenermaßen einfach war, das zu behaupten, wenn man es nicht getan hatte, so war sich Frau Hoffmann sicher, dass sie an diesem Abend nicht gezögert hätte. Ganz tief in ihrem Inneren sehnte sie sich nämlich nach Frieden. Sie sehnte sich nach Ruhe. Und am meisten sehnte sie sich nach Henning. Und auch, wenn sie das nie laut ausgesprochen hätte, glaubte sie daran, dass sie nach ihrem Tod wieder mit ihm vereint wäre.
Frau Hoffmann legte sich ins Bett. Ihre Füße waren eiskalt. Sie schien schon zu wissen, was sie in dieser Nacht träumen würde. Sie schien sich darüber klar zu werden, dass dieser Traum sie heimsuchen würde, bis sie endlich ihre Entscheidung getroffen hätte. Sie wusste, dass sie nichts daran ändern konnte. Und das, was sie hätte tun können, nämlich sich zu entscheiden, brachte sie nicht fertig. Henning hatte ihr immer gesagt, dass es im Leben darum gehe, sich zu entscheiden und zu diesen Entscheidungen zu stehen. Verärgert drehte Frau Hoffmann sich zur Seite. Was interessierte es sie, was Henning dazu zu sagen hatte. Henning war tot, und es war seine Schuld gewesen. Er hatte sie alleine gelassen. Und er hatte gewusst, dass sie sich immer davor gefürchtet hatte, dass genau das passieren könnte. Und es war passiert. Sie hatte recht gehabt. Doch Henning hatte sich entschieden und mit seinem Leben für diese Entscheidung bezahlt.
Der Geruch von fauligem Fleisch lag in der Luft wie dichter Nebel. Die junge Frau saß regungslos neben Frau Hoffmann und starrte auf das edle Porzellan, auf dem ein riesiger verdorbener Fleischklumpen lag. Frau Hoffmann legte ihre Hand auf die der jungen Frau. Sie wusste, wie sie sich fühlte, weil sie ein Teil von ihr war, und doch auch wieder nicht.
Frau Hoffmann fühlte sich elend. Sie konnte den Anblick und den entsetzlichen Gestank von verdorbenem Essen nicht mehr ertragen. Sie hätte alles gegeben, um diesen trostlosen und leeren Ort hinter sich lassen zu können, doch sie konnte die junge Frau nicht alleine lassen. Sie brauchte sie, auch wenn sie das nie laut ausgesprochen hatte. Frau Hoffmann spürte ihr Leiden, weil es ihr eigenes war, und sie wusste, dass sie sich dem stellen musste. Sie betrachtete die geflockte Milch, die träge in den Kristallkelchen schwamm, sie betrachtete den schönen Schein, von dem nur sie wusste, dass er nicht echt war. Sie betrachtete ihr Leben, das sich auf dieser reich gedeckten Tafel widerspiegelte.
Nichts von dem, was sie vor sich sah, war lebendig, und doch war es auch noch nicht wirklich tot. Frau Hoffmann hatte es auf eine unnatürliche Art und Weise am Leben gehalten. Die junge Frau stand auf. Frau Hoffmann wusste, was geschehen würde. Sie war nicht nervös, sie wartete nur auf den Moment, in dem es endlich vorbei sein würde. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, ersehnte diesen Moment. Sie war gefasst und ruhig.
Und dann passierte es. Die junge Frau betrachtete ein letztes Mal den leblosen Klumpen Fleisch, dann drehte sie sich zu Frau Hoffmann. Sie schaute ihr tief in die Augen. Frau Hoffmann wusste, dass es so sein musste. Vielleicht wusste sie es auch deswegen, weil es nur so weitergehen konnte, und weil sie wusste, dass es sich in ihrem Leben genauso zugetragen hatte. Die junge Frau nahm Anlauf und ohne einen Laut sprang sie über die Brüstung des Balkons in die bodenlose Tiefe.
Sie war tot. Es war vorbei. Und auch, wenn Frau Hoffmann wusste, dass sie nun aufstehen und gehen konnte, tat sie es nicht. Denn in diesem Moment wurde ihr klar, dass der Tod der jungen Frau nichts gebracht hatte. Es hatte nichts geändert.
- Kapitel 56
Frau Hoffmann saß zitternd in ihrem Bett. Ihr Flanellschlafanzug klebte an ihrer nass geschwitzten Haut. Einzelne Haarsträhnen klebten in ihrem Gesicht. Die Frau, die sie eben im Traum gesehen hatte, war gefasst und ruhig gewesen. Sie hatte es kommen sehen. Sie hatte es sich sogar gewünscht. Doch Frau Hoffmann war nicht gefasst. Sie war auch nicht ruhig. Die Tatsache, dass sie nur in ihrem eigenen Tod die Erlösung zu sehen schien, verängstigte sie. Und in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass ein winziger Teil der jungen Frau noch da war. Der Teil der ihren Magen verkrampfen ließ, oder der Teil, der ihr Herz rasen, oder der, der sie schwitzen und weinen ließ, war der kleine Rest ihres alten selbst. Der Teil, der es überlebt hatte.
Frau Hoffmann ging auf wackeligen Gelenken ins Bad. Ihre Knie fühlten sich an, als wären sie aus Wackelpudding. Ihre Hände zitterten unkontrolliert. Ihre Haut war von einem schimmernden Schweißfilm überzogen. Frau Hoffmann betrachtete sich im Spiegel. Doch die Frau, die sie interessiert musterte, war nicht sie. Diese Frau sah ruhig und gefasst aus. Sie schien nicht zu spüren, was Frau Hoffmann spürte. Diese fremde, harte Frau war Frau Hoffmann unheimlich und gleichzeitig war sie ihr vertraut. Und in diesem Moment dämmerte ihr, dass diese fremde, harte Frau die letzten Jahre ihr Überleben gesichert hatte. Sie hatte dafür gesorgt, dass Frau Hoffmann nicht auseinandergefallen war. Sie hatte die Entscheidungen getroffen, die zu treffen, Frau Hoffmann nicht im Stande gewesen wäre. Frau Hoffmann hatte sie gebraucht. Sie hatte den Scherbenhaufen aufgeräumt und das Atmen übernommen. Sie hatte die alte Wohnung gekündigt und die Wände weiß gestrichen. Sie hatte Hennings persönliche Dinge verpackt und zu seinen Eltern geschickt. Sie hatte eine Beerdigung und einen Umzug gleichzeitig organisiert, und zusätzlich den Termin beim Standesamt abgesagt und die Flugtickets storniert. Sie hatte die Zügel übernommen, weil die Frau Hoffmann von früher, aufgehört hatte zu existieren. Die neue, harte Frau Hoffmann hatte das Medizinstudium abgebrochen und nach Arbeit gesucht. Sie hatte schon in ihrem ersten Vorstellungsgespräch von sich überzeugen können und eine Woche später angefangen. Sie hatte niemandem von Hennings Tod erzählt. Denn im Leben der harten Frau Hoffmann gab es keinen Henning, und dementsprechend auch keinen Platz für Trauer. Die harte Frau Hoffmann hatte neu angefangen. Und weil sie nicht viel Geld hatte, war sie in eine Plattenbausiedlung gezogen, hatte alle Möbel, die sie mit Henning ausgesucht hatte an wohltätige Vereine gespendet und im Gegenzug alte Möbel bei wohltätigen Vereinen abgeholt. Anfangs fiel es der neuen Frau Hoffmann schwer, einzuschlafen. Doch nach einer Weile der intensiven Verdrängungsarbeit meisterte sie auch diese Hürde. Frau Hoffmann war vielleicht nicht lebendig gewesen, aber immerhin lebte sie noch. Sie hatte diesen verhangenen Novembertag überlebt und mit ihr, ein winziger Teil der alten, sanften Frau Hoffmann.
- Kapitel 57
„Wo um Himmels Willen bist du gewesen?“, fragte Herbert aufgebracht. Renate schaute betreten zu Boden. „Geht es dir nicht gut?“, fragte Herbert und kam langsam auf sie zu. „Du bist ganz rot im Gesicht...“
Renate wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Ich habe mich übergeben...“, improvisierte sie wild.
„Du hast was?“, fragte er erschrocken.
„Es lag wohl am Bier...“, sagte Renate gespielt verlegen.
„Komm, setz dich, Renate-Schatz...“ Er stützte sie zu einer Bierbank und setzte sich neben sie.
Weit entfernt spürte Renate Hennings Blicke auf sich. Und auch, wenn er zweifelsohne eifersüchtig war, er schien gleichzeitig seinen Triumph über Herbert in vollen Zügen zu genießen. Renate stand auf, und Herbert tat es ihr gleich. „Ich glaube, ich gehe besser nach Hause...“, sagte sie und streichelte sich vorsichtig über den Bauch. „Mir ist immer noch ganz flau im Magen.“
Herbert bot an sie nach Hause zu begleiten, was Renate dankend ablehnte. Er nickte verständnisvoll und brachte sie zu ihrem Fahrrad. „Soll ich dich sicher nicht nach Hause bringen?“
Renate schüttelte den Kopf. „Ich muss mich nur ein bisschen ausruhen“, sagte sie und legte ihre Tasche in den Fahrradkorb.
„Renate-Schatz...“, Renate schaute Herbert fragend an. „Du bist doch nicht etwa...“, er schaute ihr in die Augen.
„Was?“, fragte sie unsicher.
„Du bist doch nicht etwa schwanger?“, fragte er flüsternd. Völlig erstarrt schaute sie durch ihn hindurch. Diese Möglichkeit hatte sie nicht einmal in Betracht gezogen. „Renate-Schatz?“
Sie schaute Herbert an. „Ich denke nicht...“, sagte sie, und sie wünschte sich, dass sie es nicht war. Wenn man es genau nahm, hatte sie sich noch nie etwas weniger gewünscht, als von Herbert schwanger zu sein. „Ich bin sicher, es lag am Bier.“
Als Renate in den Lilienweg abbog, ging es ihr besser. Es war unwahrscheinlich, dass sie schwanger war, zumal sie ihre Übelkeit von vorhin frei erfunden hatte. Dennoch beschäftigte sie die nicht auszuschließende Möglichkeit, dass er es tatsächlich doch geschafft haben könnte, sie in einer ihrer schwachen Momente zu schwängern. Doch weil es unmöglich war, einen Test in der Apotheke zu kaufen, ohne Gerede zu provozieren, schob sie diesen abscheulichen Gedanken in die hinterste Ecke ihres Gehirns und hoffte, dass man ihr ihre Angst nicht anmerken würde, wenn sie gleich zu Hause ankäme.
Eine Stunde später klopfte es an Renates Tür. Sie lag in ihrem Bett und grübelte. Sie fragte sich, wann sie zuletzt ihre Regel gehabt hatte und verfluchte sich selbst dafür, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die diese Termine zu notieren pflegten. Es klopfte ein zweites Mal, dann öffnete jemand unaufgefordert die Tür. „Renate-Schatz...“ Renate drehte sich um. „Geht es dir besser?“ Sie nickte. Herbert setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. „Ich glaube, ich habe vorhin nicht zeigen können, was ich wirklich empfinde...“, sagte er und drückte sie. „Für mich wäre es das schönste, wenn wir ein Kind bekommen würden...“ Renate versuchte zu verbergen, dass sie sich nichts Furchtbareres vorstellen konnte und lächelte.
Herbert ging in Richtung Tür. „Ach ja...“, sagte er und ging noch einmal zu Renate zurück. „Den hast du liegen lassen...“ Er streckte Renate ihren Kalender entgegen. Renate wusste, dass sie ihn sicher nicht hatte liegen lassen, weil sie ihn nicht gebraucht und daher auch nicht aus ihrer Tasche gezogen hatte, sagte aber nichts, außer danke und nahm ihn an sich. Als Herbert die Tür hinter sich zu gezogen hatte, öffnete sie den Kalender. Sie blätterte ihn durch. Enttäuscht legte sie ihn wenig später wieder weg. Sie war sich sicher gewesen, Henning habe ihr eine Nachricht hinterlassen, was er auch getan hatte. Renate hatte sie lediglich überblättert.
- Kapitel 58
Nach dem Abendessen blätterte Renate den Kalender ein zweites Mal durch. Und dieses Mal sah sie Hennings Nachricht. Sie zuckte zusammen. Heute Abend am Weiher. Ich warte auf dich... Sie schaute auf die Uhr. Es war schon halb neun. Renate versuchte krampfhaft einen guten Grund zu finden, der es rechtfertigen würde, dass sie das Haus um diese Uhrzeit noch verlassen wollte, doch ihr fiel nichts ein. Zumindest nichts, das wirklich glaubhaft geklungen hätte.
Und dann tat sie etwas, das sie noch nie in ihrem Leben getan hatte, sie schlich sich davon. Sie sagte ihren Eltern, dass sie sich noch immer nicht gut fühle und dass sie deswegen früh ins Bett gehen werde. Auf die Frage ihrer Mutter, ob sie denn etwas für Renate tun könne, antwortete diese, dass sie sich sicher wäre, dass sie lediglich Schlaf brauche, was Helga ihr zu glauben schien, denn sie gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange und wünschte ihr eine gute Nacht.
Renate packte ihre Tasche, öffnete die Tür zu ihrem Balkon und kletterte am Gitter des Rosenbuschs hinunter. Sie schob ihr Fahrrad bis zur nächsten Straßenecke, dann stieg sie auf und radelte so schnell sie konnte zum Weiher, wo Henning schon seit über zwei Stunden auf sie wartete.
Als sie zwanzig Minuten später völlig außer Atem ankam, sah sie ihn nicht sofort und sie fürchtete, dass er inzwischen vielleicht schon längst nicht mehr dort wäre, als sie ihn schließlich am Ufer sitzend entdeckte.
Ohne ein Wort, nahm er sie in die Arme und küsste sie. Seine Lippen waren warm und weich. Allein dieser Kuss war all die Lügen wert gewesen. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf seine Hände und den herben Duft, der in der schwülen Abendluft schwebte. Sie spürte seinen Körper an ihrem, sie roch seinen Schweiß und hörte seinen Herzschlag. Sie lagen in der weichen Wiese am Seeufer. Grillen zirpten. Henning knöpfte ihre Bluse auf. Er tat das vorsichtig, so als wolle er ihr die Möglichkeit geben, zu protestieren, was Renate jedoch nicht tat. Mit geschlossenen Augen lag sie im Gras. Wartend. Einzelne Härchen an ihren Armen zitterten im Wind. Es fühlte sich an, als würde sie schweben. Seine großen, warmen Hände streichelten sanft über ihre Haut. Und zum ersten Mal verstand Renate, warum Menschen aus Sexualität eine derart große Sache machen. Sie taten es, weil es eine große Sache war.
Renate öffnete die Augen und betrachtete den Ausdruck in Hennings Gesicht. Er schien sie zu fragen, ob ihr das alles zu schnell ging, er schien ihr zu sagen, dass er keinen Zweifel hatte. Er schien nicht fassen zu können, dass das gerade passierte. Renate schaute in lediglich an, dann lächelte sie. Als er sie wieder küsste, wurde ihr klar, dass sie schon mit ihm hatte schlafen wollen, als sie sich eng verschlungen hinter dem Transporter geküsst hatten. Auch sie zweifelte nicht. Sie hatte keine Angst. Und zum ersten Mal schienen sich Renates Kopf und Körper einig zu sein. Vielleicht auch deswegen, weil sie nicht nachdachte.
Er hielt sie ganz fest, während er sich langsam in ihr bewegte. Jede Zelle schien ihn zu spüren. Er füllte sie voll und ganz aus. Sie bestand nur noch aus Liebe und Verlangen. Die wenigen Momente mit Henning hatten alles andere verdrängt. Alles, was von ihr übrig schien, war eine junge leidenschaftliche Frau, die schwer atmend und schwerelos unter dem Mann lag, den sie begehrte. Sie genoss das Gefühl, dass ihr Körper seinen in sich aufsaugte, sie genoss die Kraft seiner Bewegungen. Sie genoss die schmatzenden, klebenden Geräusche, die ihre Körper machten und sie genoss seinen angestrengten Atem auf ihrer Haut. Es fühlte sich nicht an wie Betrug, es fühlte sich an, wie Vorsehung oder Schicksal, es fühlte sich an, wie ein Wunschtraum. Es fühlte sich unwirklich an. Doch es fühlte sich nicht an wie Betrug.
- Kapitel 59
Renate kletterte auf den Balkon und schlich sich in ihr Zimmer. Das gesamte Haus war totenstill. Niemand hatte es bemerkt. Niemand außer Henning und ihr wussten etwas.
Renate legte sich ins Bett. Sie lächelte. Und sie konnte nicht damit aufhören. Wenn sie die Augen schloss, sah sie sein Gesicht vor sich. Sie roch an ihrer Haut und roch seinen Duft. Sie spürte, wie ihre Halsschlagader vibrierte. Sie atmete tief ein und genoss, wie sich ihre Lungen mit Luft füllten. In Gedanken spürte sie seine Lippen und tauchte ein in diesen Kuss. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich lebendiger gefühlt. Noch nie freier. Plötzlich schien sie zu verstehen, warum so viele Frauen jahrelang vergeblich auf einen Höhepunkt hofften. Sie schliefen mit den falschen Männern. Sie schliefen mit all den Herberts dieser Welt.
Für einen kurzen Moment dachte Renate an die beängstigende Möglichkeit, dass sie schwanger sein könnte, und das nicht von Henning, sondern von Herbert. Doch dann atmete sie erleichtert auf, weil sie es am kommenden Tag wissen würde. Renate dachte an Hennings Gesichtssaudruck, als sie ihm davon erzählt hatte. Sie dachte an ihr vierstündiges Gespräch und an den Moment, in dem sie innerlich explodiert war. Renate kuschelte sich in ihre Decke und rieb mit ihren Füßen gegen den Überzug. Und obwohl Renate sich einzureden versuchte, dass sie sicher nicht schwanger war, fragte sie sich, was sie tun würde, sollte sie es doch sein.
Vier Stunden später wachte Renate auf. Herbert saß neben ihr und streichelte ihr sanft übers Haar. „Guten Morgen, Renate-Schatz...“, sagte er lächelnd.
Renate wusste nicht, was an diesem Morgen gut sein sollte. „Wie spät ist es?“, fragte sie verschlafen.
„Es ist acht Uhr“, antwortete Herbert.
Renate setzte sich auf. „Und warum weckst du mich bitte so früh auf?“, fragte sie gereizt.
Herbert rutschte unsicher hin und her. „Du gehst doch heute mit deiner Mutter ein Kleid aussuchen...“, sagte er vorsichtig. „Hast du das vergessen?“
Renate hatte es vergessen, doch darum ging es nicht. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir vereinbart hätten, dass wir deswegen um acht aufstehen müssen“, sagte sie pampig.
Herbert schaute sie irritiert an. „Aber du stehst doch immer um diese Zeit auf...“
Renate atmete tief durch. „Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen...“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
„Das wusste ich nicht“, sagte Herbert vorsichtig.
„Ich habe es dir ja auch nicht vorgeworfen...“, antwortete Renate genervt.
„Renate, bitte wird nicht gleich böse, wenn ich dich das jetzt frage...“, Renate schaute Herbert angespannt an. „...aber liebst du mich überhaupt noch?“
- Kapitel 60
Frau Hoffmann setzte das Glas an und trank es in einem Satz aus. Die klare Flüssigkeit brannte wie Feuer in ihrem Hals. Ihr Magen zog sich zusammen. Es schien so, als hätte Frau Hoffmann Jahre lang geschlafen. Sie war jeden Tag aufgestanden und sie hatte jeden Tag gearbeitet. Sie hatte gegessen und geschlafen, doch sie hatte nicht gelebt. Zumindest nicht so, wie normale Menschen das tun.
Frau Hoffmann saß auf dem Badewannenrand und weinte. Die Nachricht von Hennings tragischem Unfall schien nicht Jahre her zu sein, es schien vielmehr so, als hätte sie erst in diesem Augenblick davon erfahren. All die Tränen, die sie nicht um ihn geweint hatte, strömten in diesem Moment über ihr Gesicht. Die Tatsache, dass er für immer fort war und nie wieder zurückkommen würde, schien erst jetzt vollständig bei Frau Hoffmann anzukommen. Selbstverständlich hatte sie es gewusst, doch verstanden hatte sie es nicht.
Schluchzend verließ Frau Hoffmann das Bad. Ihr Körper bebte unter der Trauer, die sie nun endlich zuließ. Sie ging in die Abstellkammer und stellte die Leiter auf. Weinend hob sie einen Karton vom obersten Regalboden, stieg von der Leiter und stellte ihn wenig später auf ihr Bett. Diesen Karton hatte die harte Frau Hoffmann vor sieben Jahren gepackt und in die Abstellkammer verbannt, wo er bis zu diesem Augenblick gestanden hatte.
Frau Hoffmann öffnete den Deckel. In dieser Schachtel lagen die schönsten Jahre ihres Lebens begraben. Sie zog einen Stapel Fotos hervor. Und als sie sein Gesicht sah, durchströmte sie eine Art von Schmerz, die sie noch nie zuvor erfahren hatte. Sie hatte nie zugelassen ihn loszulassen, weil all das Schöne in ihrem Leben mit ihm verbunden gewesen war. Sie hatte nicht glauben wollen, dass ihr Leben einen Sinn hatte, wenn er nicht mehr darin vorkam. Und nur weil sie sich nicht getraut hatte den entscheidenden Schritt in die Tat umzusetzen, lebte sie noch.
Vielleicht lebte sie auch deswegen, weil sie wusste, dass Henning den Gedanken nie hätte ertragen können, dass sie sich seinetwegen umbringen wollte. Henning war ein Mensch, der das Leben geliebt hatte. Er hatte das Leben immer als Geschenk gesehen. Und er hatte Frau Hoffmann jeden Tag spüren lassen, dass sie das größte Geschenk seines Lebens gewesen war. Sie war für ihn das Zuhause und die Zuflucht gewesen. Sie liebte die Logik und Henning die Leidenschaft. Sie hatte nachgedacht, er gehandelt. Frau Hoffmann war die Liebe seines Lebens gewesen. Sie hatte ihn glücklich gemacht. Sie und sein Motorrad.
- Kapitel 61
„Das steht dir einfach wunderbar...“, sagte Frau Bauer, die Besitzerin des einzigen Brautmodenladens von Tüßling überschwänglich. Auch Renates Mutter schien hellauf begeistert. Die einzige, die all dem nichts abgewinnen konnte, war Renate, die verkrampft auf einem kleinen weißen Schemel stand und ihre unzähligen Reflektionen verschreckt anstarrte.
„Was ist denn, Liebes?“, fragte Helga und tätschelte Renate die Wange. „Gefällt es dir nicht?“ Renate lächelte, auch wenn es keinen Grund zum Lächeln gab.
Liebst du mich überhaupt noch. Herbert wusste, dass etwas nicht stimmte. Er wusste, dass sie ihn nicht liebte. Er dachte zwar, dass sie ihn einmal geliebt hatte, was nicht den Tatsachen entsprach, doch er wusste, dass sich etwas geändert hatte. Und auch, wenn sie sich geschickt aus der Affäre hatte ziehen können, ohne wirklich auf seine Frage antworten zu müssen, wusste sie dennoch, dass sie ihm und seinen Zweifeln nicht ewig würde ausweichen können.
Sie hatte mit Henning geschlafen, und das nachdem sie ihn nur zwei oder drei Mal gesehen hatte. Und sie hatte nicht nur mit ihm geschlafen, sie hatte es in vollen Zügen genossen. Mit Herbert hatte sie es aus Verzweiflung und aufgrund ihrer heftigen Gewissensbisse getan und das erst nach über drei Jahren. Doch das schlimmste war nicht, dass sie Herbert mit Henning betrogen hatte, noch viel schlimmer war die Tatsache, dass sie es wieder tun würde. Und vielleicht war das schrecklichste, dass sie sich darauf freute es zu tun.
„Was ist denn in letzter Zeit los mit dir?“ Die Stimme ihrer Mutter klang zu gleichen Teilen besorgt und vorwurfsvoll.
„Mit mir ist gar nichts“, sagte Renate kleinlaut. Sie wusste, dass sie es nie über sich bringen würde, ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen. Und das lag vermutlich daran, dass sie und ihre Mutter nie ein wirklich enges Verhältnis gehabt hatten. Am liebsten hätte sich Renate ihrer Schwester anvertraut, doch das konnte sie nicht tun, weil Barbara Herbert davon sicher erzählt hätte.
„Ich bin mir noch nicht sicher...“, sagte Renate, als die Verkäuferin sie fragte, für welches der drei Kleider sie sich denn nun entschieden hätte.
Helga schaute Renate in die Augen. „Monika, wir kommen einfach in den nächsten Tagen noch mal vorbei...“, sagte sie entschuldigend zu Frau Bauer, die freundlich nickte. Als Renate und ihre Mutter wenig später den Laden verließen, fragte Helga ein zweites und ein drittes Mal, was Renate denn so beschäftige, woraufhin Renate antwortete, dass sie sich noch immer nicht gut fühle, was ihre Mutter ihr nicht wirklich zu glauben schien.
Henning und Renate starrten wie gebannt auf den kleinen Teststreifen. Im Kontrollfenster erschien ein kleiner roter Strich, der zeigte, dass der Test funktionierte. Renate konnte kaum atmen. Und auch Henning schien nicht zu wissen, was er sagen, oder tun sollte, denn er wippte nur nervös mit dem rechten Fuß.
„Inzwischen müsste es sich doch schon längst verfärbt haben“, sagte Henning angespannt. Renate faltete den Beipackzettel auf und verglich ihr Ergebnis mit den kleinen Bildchen unter der Überschrift Testergebnis. Sie schaute auf. In ihrem Gesicht breitete sich ein erleichtertes Lächeln aus. „Er ist negativ?“, fragte Henning unsicher.
„Negativ“, sagte Renate triumphierend und warf sich in seine Arme. Sie standen noch lange so da, in dieser Umarmung. Und in diesem Moment, schien tatsächlich alles möglich zu sein.
- Kapitel 62
„Was hättest du getan, wenn er positiv gewesen wäre?“, fragte Renate, die noch immer nackt auf Henning saß. Das kühle Wasser des Weihers umspülte sanft ihre Waden.
„Keine Ahnung“, sagte er und schüttelte seufzend den Kopf. „Was hättest du denn getan?“
Renate schaute ihn fragend an. „Na, was hätte ich wohl getan?“
„Du hättest es vermutlich behalten...“, antwortete Henning leise.
„Vermutlich“, sagte Renate.
„Ja und wärst du denn bei ihm geblieben?“ Henning legte die Hände über sein Gesicht. „Was rede ich denn da? Du bist schließlich mit ihm zusammen...“ Renate stieg langsam von Henning hinunter und setzte sich neben ihn. „Und wie soll das mit uns jetzt weitergehen?“, fragte Henning, der sein Gesicht noch immer mit seinen Händen abschirmte.
„Ich weiß es nicht...“, sagte Renate und schaute über den Weiher.
Henning setzte sich auf. „Und das ist alles?“, fragte er aufgebracht. „Du weißt es nicht?“
„Ja, du weißt es doch auch nicht...“, sagte Renate verärgert.
„Ja, aber von mir hängt das auch nicht ab.“
„Ach, dann hängt also alles von mir ab?“, fauchte sie ihn an.
„Ja, also ich finde schon...“
„Und was soll ich bitte deiner Meinung nach machen?“
Henning zog Renate an sich. „Ist das hier für dich eine kranke Art von Spaß?“, fragte er wütend.
„Nein, natürlich nicht...“, sagte Renate verunsichert.
„Ja, und was ist es dann für dich?“ Henning schaute sie mit einer Intensität an, die auf ihrer nackten Haut brannte.
„Ich habe mich in dich verliebt“, sagte Renate mit zitternder Stimme.
„Dann komm mit mir nach München...“
Renate öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer, wo Herbert bereits auf sie wartete. „Und?“, fragte er lächelnd, „Hast du ein Kleid?“ Renate schüttelte den Kopf. „Ist alles in Ordnung?“ Herbert stand auf und ging langsam auf sie zu.
„Nein...“, sagte Renate, „...ist es nicht...“ Ihr Herz schlug panisch gegen ihren Brustkorb. Sie wusste, dass sie es ihm sagen musste. Sie wusste, dass er es nicht verdient hatte, so behandelt zu werden.
„Was ist denn los?“, fragte Herbert besorgt und nahm ihre Hand.
„Ich denke, es ist besser, wir setzen uns...“ Herbert folgte ihrer Aufforderung und setzte sich auf die Bettkante. Renate setzte sich zu ihm. „Herbert...“, sagte sie seufzend, „... du hast mich gestern gefragt, ob ich dich noch liebe...“ Herbert schloss die Augen. Sie wusste, dass er bereits wusste, was sie sagen würde. Sie wusste, dass sie ihn verletzten würde, und sie wusste, dass sie nichts daran hätte ändern können.
„Geht es um einen anderen Mann?“, fragte Herbert gefasst und öffnete die Augen. Renate nickte. „Doch nicht etwa der Typ mit den Tätowierungen...“ Renate schaute ihn lange an. „Renate...“ Renate nickte und schaute zu Boden. „Das ist nicht dein Ernst...“, sagte Herbert und stand auf. „Das kann nicht dein Ernst sein...“
„Es ist mein voller Ernst“, sagte Renate ruhig.
„Wegen diesem Neandertaler verlässt du mich?“
Renate beschloss darüber hinweg zu sehen, dass er Henning einen Neandertaler nannte. „Es tut mir Leid.“
„Es tut dir Leid?“, fragte Herbert fassungslos.
„Ja, Herbert, es tut mir Leid...“, antwortete sie gefasst.
Voller Verachtung starrte Herbert sie an. Nie im Leben hätte Renate gedacht, dass Herbert sie jemals so ansehen würde. „Barbara hatte vollkommen recht, was dich betrifft...“, sagte er kalt.
Renate schaute ihn an. „Wieso, was hat sie denn gesagt?“ „Sie hat gesagt, dass du es nicht wert bist, so von mir geliebt zu werden.“ Renate sagte nichts dazu. „Sie hat gesagt, dass du mich nicht so liebst, wie ich dich, und sie hat gesagt, dass es ihr unbeschreiblich wehtut dabei zuzusehen, wie du mein Leben zerstörst.“
Renate stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. „Ich denke, wir haben uns nichts mehr zu sagen...“, sagte sie nüchtern.
Herbert starrte sie an. „Das war es also?“, fragte er zitternd.
„Ja, das war’s...“
- Kapitel 63
„Du wirst dich bei Herbert entschuldigen...“, sagte Renates Mutter beschwörend. „Du wirst sofort zu ihm gehen und ihn um Verzeihung bitten...“ Renate schüttelte den Kopf, woraufhin Günther energisch mit der Faust auf die Tischplatte schlug, was die Wassergläser sanft klirren ließ.
„Du wirst dich bei ihm entschuldigen“, sagte ihr Vater drohend. Renate schüttelte wieder den Kopf. „Du tust, was ich sage!“, plärrte Günther nun völlig außer sich, wobei sich seine Stimme überschlug. Helga reichte ihm ein Glas Wasser. „Wenn du dich nicht auf der Stelle entschuldigst, dann brauchst du dich nie wieder hier blicken lassen!“
Zitternd und weinend packte Renate ihre Sachen. Sie hatte gewusst, dass wenn sie sich für Henning entscheiden würde, dass sie sich damit automatisch gegen ihre Familie entscheiden müsste. Und auch, wenn sie wusste, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, schmerzte sie die Tatsache, dass ihre Eltern nur dann zu ihr stehen konnten, wenn sie genau das tat, was sie von ihr erwarteten, auch wenn dies zur Folge hätte, dass sie bis zum Ende ihres Lebens darunter leiden würde.
Eine halbe Stunde später, Renate hatte gerade ihren Koffer zugeklappt, klopfte es an der Tür. Für einen wahnwitzigen Moment glaubte Renate, dass ihre Eltern sie bitten würden zu bleiben. Als dann jedoch Barbara in ihr Zimmer trat, wusste sie, dass es nichts geben würde, das ihre Eltern dazu bewogen hätte, ihre Entscheidung zu ändern, außer sie würde sich doch dazu entschließen Herbert um Verzeihung zu bitten, was Renate wiederrum nie im Leben getan hätte. Es gab nichts zu entschuldigen.
„Wie konntest du ihm das nur antun?“, fragte Barbara kalt.
„Ich bin mir sicher, du wirst ihn gerne trösten“, sagte Renate abschätzig.
Eine Weile schauten sich die beiden Schwestern lediglich an, dann sagte Barbara, „Du bist echt das Letzte...“
„Das mag sein...“, sagte Renate lächelnd, „aber wenigstens schmeiße ich mich nicht an die Männer anderer Frauen.“
„Nein...“, sagte Barbara von oben herab, „...du schläfst lieber mit völlig fremden am Weiher...“
Völlig entgeistert schaute Renate in Barbaras Augen. „Wer weiß davon?“, fragte sie fassungslos.
„Inzwischen wahrscheinlich jeder...“
Als Renate wenig später die Stufen hinunter ging, wusste sie nicht, dass sie sie das letzte Mal hinuntergehen würde. Sie wusste auch nicht, dass sie nie wieder auch nur ein Wort mit ihren Eltern sprechen würde. Und sie wusste auch nicht, dass es ihre Entscheidung sein würde, es nicht zu tun. Doch sie wusste mit Sicherheit, dass Henning auf sie wartete und sie wusste, dass sie diese Entscheidung nicht bereuen würde. Sie würde gehen, und sie würde frei sein.
- Kapitel 64
Frau Hoffmann lag mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Bett. Zwei volle Tage hatte sie nichts anderes getan, als geweint. Sie hatte nicht einmal gegessen, geschweige denn geduscht, oder Zähne geputzt. Die Erkenntnis, dass sie sieben Jahre ihres Lebens damit zugebracht hatte, all die Wut und die Trauer zu unterdrücken, brach unaufhaltsam über sie hinein, und es gab nichts, das diesen Fakt hätte ändern können. Henning hätte das nie gewollt. Er hätte nie gewollt, dass sie seinetwegen aufhört zu leben. Sie war sich sogar sicher, dass er es ihr von ganzem Herzen gegönnt hätte, glücklich zu werden, auch wenn dies bedeutet hätte, dass sie einen anderen Mann kennen und lieben gelernt hätte.
Henning hatte es nie ertragen können Frau Hoffmann leiden zu sehen. Ihr Schmerz war auch seiner gewesen. Und obwohl sie das alles wusste, kam sie nicht gegen die geballte Wut an, die sie ihm gegenüber empfand. Sie versuchte die Trauer zuzulassen, die Wut hingegen zu unterdrücken. Wie konnte sie wütend auf jemanden sein, der tot war? Es war ja nicht so gewesen, dass er absichtlich gestorben war. Es war ein Unfall gewesen, ein tragisches Unglück, für das niemand etwas konnte.
Frau Hoffmann versuchte sich davon zu überzeugen, dass es niemands Schuld gewesen war, sie versuchte sich einzureden, dass solche Dinge eben passierten, und dass man nichts daran ändern konnte. Sie versuchte sich klar zu machen, dass ihre unbändige Wut niemandem etwas brachte. Doch all diese rationalen Versuche führten nicht zu dem erwünschten Resultat. Denn ein anderer Teil in Frau Hoffmann war der Ansicht, dass sehr wohl jemand etwas dafür konnte. Und dieser Jemand war Henning. Es war seine Schuld gewesen.
Frau Hoffmann drehte sich auf den Rücken und betrachtete das Foto, das bis eben neben ihr gelegen hatte. Sie sah eine glückliche, jüngere Version von sich selbst und einen lachenden Henning. Sein Lachen war laut und ansteckend gewesen. Sie hatte es geliebt. Sie hatte ihn geliebt.
Eine Stunde später klingelte erneut das Telefon. Doch Frau Hoffmann würde auch dieses Mal nicht drangehen. Sie hatte es die letzten zwei Tage ignoriert und sie würde es auch dieses Mal ignorieren. Es gab niemanden, mit dem sie hätte sprechen wollen. Und sollte es Herbert sein, der ihr von Barbaras plötzlichem Ableben erzählen wollte, würde sie eine solche Nachricht in diesem Moment ohnehin nicht überstehen.
Frau Hoffmann deckte sich zu. Hennings Foto legte sie auf das separate Kopfkissen neben sich. Schluchzend drehte sie sich auf die Seite und legte ihre Hand auf sein Gesicht. Eine Stunde später erlag sie ihrer eigenen Erschöpfung und schlief ein. Und in dieser Nacht würde sie nicht von verdorbenem Fleisch träumen. Und auch in der darauf folgenden nicht. Frau Hoffmann würde diesen Traum nie wieder träumen. Sie hatte es verstanden. Nach sieben langen Jahren hatte sie es endlich verstanden.
- Kapitel 65
Sie schaute Henning vorwurfsvoll an. Doch es war nicht nur ein vorwurfsvoller Blick. All ihre Gefühle wurden auf unbeschreibliche Weise ohne ihr Zutun von ihrem Gesicht ausgedrückt. Die Trauer, die Wut, die Verzweiflung. Seine Augen betrachteten sie sehnsüchtig. Es schien fast so, als würden sie die Tatsache, dass sie ihr Gesicht die vergangenen sieben Jahre nicht hatten ansehen können, mit einem Blick wieder aufzuholen zu versuchen.
Eine Weile standen sie nur da und schauten einander an. Frau Hoffmann konnte nicht einschätzen, ob es Stunden oder Sekunden gewesen waren. Die Zeit schien nicht länger von Bedeutung zu sein. Sie schien relativ und nebensächlich.
Erst in diesem Moment sah Frau Hoffmann, dass Henning einen schwarzen Anzug trug. Sein langes Haar war zu einem strengen Pferdeschwanz zusammen gebunden. Um seinen breiten Hals hing die Kette, die Frau Hoffmann ihm Jahre zuvor geschenkt hatte. Seine Erscheinung verstörte Frau Hoffmann. Sie konnte sich nicht daran erinnern, Henning jemals in einem schwarzen Anzug gesehen zu haben. Bis auf das eine Mal natürlich.
Er hielt sie fest in den Armen, und obwohl sie sich sicher und geborgen fühlte, war da etwas in ihr, dass sich nicht von ihm halten lassen wollte. Dieser Teil wehrte sich gegen diese Art von Nähe und Zuneigung, die er ihr zu schenken versuchte. Dieser Teil war verspannt und nervös. Er war wütend und voller Vorwürfe.
Frau Hoffmann versuchte sich auf das Gefühl zu konzentrieren, ihn an sich zu spüren. Sie versuchte, sich zu entspannen und in seiner Umarmung gehen zu lassen. Und plötzlich, gab es keine Umarmung mehr. Die Situation arrangierte sich neu, und plötzlich stand Frau Hoffmann in einem durch und durch weißen Raum neben einem weißen Untersuchungstisch. Sein Körper lag leblos und nackt auf der kalten weißen Tischplatte, lediglich auf seinem Schoß lag ein weißes Tuch. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen einen winzigen Spalt weit geöffnet. Wäre seine Haut nicht so farblos und graustichig gewesen, hätte er auch friedlich schlafen können.
Frau Hoffmann schaute zu einem Mann, der ihr vollkommen in weiß gekleidet zur Seite stand und nickte ihm zu. Als sie dann erneut zu Hennings Leiche hinüber sah, wurde ihr unvermittelt unheimlich schlecht. Ihr Magen verkrampfte sich, ihre Hände zitterten. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Da lag der Mann den sie liebte, und nun sah er so aus, wie er wirklich ausgesehen hatte, als Frau Hoffmann seinen Leichnam hatte identifizieren müssen. Die Fleischwunden grob vernäht, eine Binde über seiner Nase, Blutergüsse und zahlreiche Blessuren übersäten seinen einst starken Körper, der nun gebrochen vor ihr lag.
Und weil sie es nicht über sich brachte, ihn zu berühren, stand sie einfach nur neben ihm und schaute ihn an. Sie weinte nicht, sie versuchte lediglich sich nicht zu übergeben. Im Grunde wusste sie selbst nicht, warum sie noch dort stand, doch vielleicht lag es daran, dass sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen, denn plötzlich gab es niemanden mehr. Frau Hoffmann war alleine gewesen. Und der Gedanke in ihre gemeinsame Wohnung zurückzukehren, um dort das Geschirr von ihrem letzten gemeinsamen Essen abzuspülen, erschien ihr so grauenhaft, dass sie es vorzog einfach neben Hennings Leichnam stehenzubleiben. Acht Stunden zuvor war alles noch normal gewesen.
- Kapitel 66
Renate schmiegte sich an Hennings Brust, als sie auf der Suche nach dem perfekten Sofa über den Flohmarkt am Ostbahnhof schlenderten. Die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel. Die Stimmung war gelöst und wohlig. Renate hatte sich noch am Tag ihrer Ankunft vor acht Wochen in München verliebt. Henning hatte ihr die Stadt gezeigt, sie durch die Ludwig-Maximilians-Universität geführt, sie waren im Englischen Garten spazieren gegangen und Henning war mit ihr durch die Kaufingerstraße und über den Viktualienmarkt flaniert.
Die ersten Wochen waren sie bei Freunden von Henning untergekommen, die Renate mit offenen armen empfangen hatten. Max und seine Freundin Ivonne studierten beide an der LMU, er Philosophie und Kunstgeschichte, sie Biologie und Chemie. Es war angenehm gewesen sich mit ihnen zu unterhalten. Sie hatten Renate bestärkt sich bei um einen Studienplatz in Medizin zu bewerben, was sie nach längerem hin und her schließlich auch tat.
Renate und Henning hatten bereits zwölf Wohnungen besichtigt, von denen jedoch jede einen, oder mehrere Haken gehabt zu haben schien. Die erste war zu klein, die zweite zu groß, die dritte ungünstig geschnitten, die vierte, fünfte und sechste waren zu teuer, die siebte zu weit von den öffentlichen Verkehrsmitteln entfernt, für die achte und die neunte kam Henning als Hauptmieter nicht in Frage, was an den Tätowierungen gelegen haben musste, die zehnte und die elfte waren an Hauptverkehrsstraßen gelegen, weswegen man nicht hätte lüften können, ohne einen qualvollen Erstickungstod zu riskieren, und die zwölfte war für das, was sie war einfach viel zu teuer gewesen.
Die dreizehnte Wohnung war dann perfekt. Sie übertraf alles, was Henning und Renate sich erwartet hatten. Sie hatte die perfekte Größe, sie war perfekt geschnitten, die Nachbarn schienen sofort sympathisch, sie hatte eine kleine Terrasse, von der aus man über die Dächer Haidhausens schauen konnte, sie hatte eine Wohnküche und ein Kellerabteil, und sie war nur zwei Minuten vom Rosenheimerplatz entfernt, und dennoch konnte man lüften, ohne sein Leben zu riskieren. Der einzige Nachteil bestand in der Tatsache, dass das Gebäude keinen Lift hatte, was jedoch gleichzeitig der Grund war, weswegen sie sich die Wohnung überhaupt leisten konnten. Der Vermieter schien zwar von Hennings äußerer Erscheinung anfangs abgeschreckt, willigte letzten Endes aber ein, was vermutlich nicht zuletzt damit verbunden gewesen war, dass Henning und er sich als begeisterte Anhänger desselben Fußballvereins herausstellten.
Drei Wochen später zogen Henning und Renate an einem Samstag in ihre gemütliche Altbauwohnung in der Metzstraße. Sie brauchten keine Hilfe bei ihrem Umzug, weil sie nichts hatten, was von Wert gewesen wäre, und doch fühlten sie sich unbeschreiblich reich, als sie die erste Nacht in ihrem neuen Zuhause verbrachten.
Sie aßen Pizza vom Bringdienst direkt aus dem Karton, jagten sich gegenseitig nackt durch die Zimmer, setzten sich auf ihre kleine Terrasse und schauten über die Dächer Münchens, sie tranken billigen Weißwein, lachten und redeten. Als sie sich nachts um zwei auf den Holzfußboden legten, wussten sie, dass dies die wohl ungemütlichste Nacht ihres Lebens werden würde, und doch wussten sie auch, dass es bestimmt auch eine der bedeutendsten sein würde. Sie waren allein, sie waren glücklich und sie genossen jeden einzelnen Augenblick.
- Kapitel 67
Das gesamte Wochenende erschien unwirklich. Henning führte ein Spiel ein, bei dem sich jeder der beiden sonntags etwas wünschen durfte, was der andere umsetzen musste. Zumindest sofern das möglich war. Selbstverständlich war es dem anderen gestattet, ein Mal ein Veto einzulegen. Renate dachte eine Weile nach, dann wünschte sie sich, auf der Terrasse mit ihm zu schlafen, Henning bestand darauf, dass es sonntags verboten war sich anzuziehen, außer es ließe sich wirklich nicht vermeiden.
Und weil es Sonntag war und er es sich gewünscht hatte, zogen sie sich aus und verbrachten den Tag damit auf der Terrasse miteinander zu schlafen. Als abends der Pizzabote klingelte, wickelte sich Renate in ein Handtuch und öffnete die Tür. Der Bote starrte sie dermaßen gierig an, dass Henning völlig nackt die Tür aufriss und ihn fragte, ob er nicht reinkommen wolle, woraufhin der Pizzabote fluchtartig das Haus verließ.
Die darauf folgende Woche machte sich Renate auf die Suche nach einem Nebenjob. Henning hatte bereits zwei Wochen zuvor die Zusage für eine Stelle als Mechatroniker erhalten und die Woche darauf angefangen. Renate bog von der Sendlingerstraße in die Hackenstraße ab und bemerkte im Fenster eines Restaurants ein Stellenangebot, woraufhin sie sich spontan bei der Filialleitung vorstellte. Eine dreiviertel Stunde später stieg Renate beschwingt die Stufen zur S-Bahn hinunter. Sie würde am nächsten Tag wieder hier sein. Sie hatte Arbeit gefunden.
Am selben Tag noch erhielt Renate ein Schreiben von der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie sich darüber freuen würden, ihr zum kommenden Wintersemester einen Studienplatz im Fachbereich Medizin anbieten zu können. Diese Nachricht schien die letzte Bestätigung dafür zu sein, dass sie sich richtig entschieden hatte.
Vier Stunden später sperrte Henning die Wohnungstür auf und rief nach Renate, die ihm freudestrahlend von ihrem Tag erzählte. Und weil auch Henning der Meinung war, dass diese Neuigkeiten Anlass zum feiern boten, erlaubte er Renate ausnahmsweise angezogen zu bleiben, und führte sie spontan zum Essen aus.
Als sie wieder zurückkamen, war es bereits dunkel. Renate und Henning setzten sich auf die Terrasse und schauten schweigend in die Ferne. Die laue Sommernacht legte sich um sie, wie eine weiche warme Decke. „Du, Nati?“, sagte Henning leise. Renate schaute zu ihm hinüber. „Hast du schon einmal zu jemandem gesagt, dass du ihn liebst?“
„Na, zu dir...“, sagte Renate.
„Außer zu mir...“, sagte Henning und streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken.
Renate dachte nach. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr... Ich glaube nicht...“, sagte sie nach einer Weile.
„Du hast es doch bestimmt zu Herbert gesagt...“, sagte Henning angespannt.
„Du weißt, dass ich Herbert nicht geliebt habe...“
„Ja schon, aber hast du es zu ihm gesagt?“
Renate dachte wieder nach. „Irgendwann werde ich es wohl gesagt haben, ja.“, sagte sie schließlich. „Warum willst du das wissen?“
„Nur so...“, brummte Henning.
„Du wirst doch einen Grund gehabt haben, mich das zu fragen.“ Lange schaute Henning sie an.
„Ich hasse es, dass du mit ihm geschlafen hast...“, sagte er nach einer Weile.
„Ja, aber hast du nicht mit vier Frauen geschlafen?“, fragte Renate in einem eifersüchtigen Unterton.
„Das war was vollkommen anderes...“
- Kapitel 68
Als Frau Hoffmann aufwachte, war es noch dunkel, ihr Schlafzimmer schien von einem pechschwarzen Schleier bedeckt. Doch auch die Sonne hätte an der Stimmung nicht wirklich etwas ändern können. Ein Gefühl der absoluten Leere hatte Frau Hoffmann eingenommen, es füllte sie völlig aus. Nichts schien mehr Sinn zu machen. Nichts schien mehr gut.
Frau Hoffmann stand auf. Sie ging in die Küche und trank einen großen Schluck kaltes Wasser direkt aus der Leitung. Sie fragte sich, wie das alles hatte passieren können. Sie fragte sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn Henning überlebt hätte. Vielleicht hätte er ihre Bedenken dann endlich ernst genommen. Vielleicht hätte er sich nicht mehr über sie lustig gemacht. Vielleicht würden sie dann noch immer in der Metzstraße wohnen, und nackt auf der Terrasse frühstücken. Vielleicht hätten sie Kinder. Und vielleicht wäre Frau Hoffmann Ärztin geworden und hätte eine Praxis aufgemacht.
Es war inzwischen zwanzig nach vier. Frau Hoffmann wickelte sich in eine Wolldecke und setzte sich auf den Balkon. Als sie sich eine Zigarette anzündete, bemerkte sie, dass auch bei Herrn Peters noch Licht brannte. Sie griff nach dem Fernglas, das auf dem Fenstersims lag und schaute hindurch.
Sie entdeckte Herrn Peters nicht sofort. Er saß auf dem Sofa und telefonierte. Frau Hoffmann versuchte in seinem Gesicht zu erkennen, ob es ein angenehmes Telefonat war, konnte es aber auch nach längerem Hinsehen nicht mit Sicherheit sagen. Sie fragte sich, ob er wohl gerade mit einer seiner zahlreichen Geliebten sprach, weil kein normaler Mensch um diese Uhrzeit telefonierte. Dann sagte sie sich, dass es bestimmt die Affäre seines letzten Auslandsaufenthalts sei, und dass es bei ihr sicherlich erst früher Abend wäre.
Frau Hoffmann drückte die Zigarette aus, legte das Fernglas weg und stand auf. Als sie wenig später in den Badezimmerspiegel blickte, inspizierte sie ihre aufgequollenen, brennenden Augen. Und auch, wenn es ihr seltsam erschien, so gefiel ihr dieser Anblick. Es war, als würde man endlich wieder sehen, dass sie Gefühle hatte. Von der harten Frau Hoffmann schien in diesem Moment nichts übrig zu sein. An ihre Stelle war die sanfte Frau Hoffmann getreten. Es würde sicher noch dauern, bis diese das Leben so meistern würde, wie es die harte Frau Hoffmann geschafft hatte, und doch fühlte sie sich wohl bei dem Gedanken, dass sie es endlich zulassen konnte wahrhaftig um Henning zu trauern.
Frau Hoffmann vergrub sich in ihrer Decke. Während sie langsam mit ihren Füßen über den sanften Überzug rieb, dachte sie an das schwarze alte Ledersofa, das sie und Henning viele Jahre zuvor auf einem Flohmarkt gekauft hatten. Sie fragte sich, wem das Sofa heute wohl gehörte und sie fragte sich, ob der neue Besitzer es ebenso liebte, wie sie und Henning es geliebt hatten. Sie dachte daran, wie Henning die Wände ihrer alten Wohnung gestrichen hatte und sie dachte an den Standesamttermin, der schon vereinbart gewesen war. Als ihr letzten Endes die Lider zufielen, ging bereits die Sonne auf. Es war viertel nach sechs.
- Kapitel 69
Es war Sonntag. Renate lag auf der Couch und versuchte zu lernen. Der Gedanke Medizin zu studieren hatte im Nachhinein betrachtet nichts mit dem zu tun gehabt, was es hieß, es tatsächlich zu tun. Dies bedeutete nicht, dass Renate ihre Entscheidung bereute, es bedeutete lediglich, dass es ihr viel abverlangte.
Henning stand auf einer Leiter und steckte einen Dübel in die Wand. Renate schaute knapp an ihrem Buch vorbei und beobachtete ihn bei der Arbeit. Er trug eine zerschlissene Jeans, sein Oberkörper war nackt. Sie fühlte sich an ihren ersten Kuss erinnert. Sie inhalierte den süßlichen Duft von Schweiß, der in der Luft lag. Renate legte ihr Buch zur Seite und musterte Henning eindringlich.
„Gibt’s was Neues, wegen der Maschine?“, fragte Renate beiläufig. Henning brummte, was so viel wie nein bedeutete. „Ich dachte, er wollte dir bis gestern Bescheid geben.“
„Das wollte er auch...“
Renate wusste, dass Henning sich nichts sehnlicher wünschte, und doch gefiel ihr der Gedanke nicht. Eigentlich hoffte sie, dass es nicht klappen würde. „Na, und was, wenn es nicht klappt?“, fragte Renate.
„Das klappt...“, sagte Henning angespannt.
„Ich würde alles für sich tun, Nati, alles, nur das nicht...“, sagte Henning und schüttelte seinen Kopf.
Renate schaute ihn wütend an. „Und wann bekommst du sie?“
„Kommende Woche...“, antwortete Henning, während er die Leiter hinauf stieg und ein Bild aufhängte.
„Es ist dir wohl scheißegal, dass ich Angst um dich habe.“
„Mensch, Nati...“, sagte er seufzend.
„Nichts, Mensch Nati...“, sagte Renate verärgert.
Henning stieg die Leiter hinunter. „Du brauchst dir echt keine Sorgen machen.“
„Ich mache mir aber...“
„Ja, dann mach es einfach nicht“, unterbrach sie Henning gereizt.
Am Abend lag Renate im Bett und schmollte. Henning war noch am Telefon mit Walter, seinem Chef, der ihm vermutlich gerade sagte, dass er die Maschine sogar schon früher haben könnte. Renate war normalerweise kein überängstlicher Mensch. Sie gehörte auch nicht zu den Frauen, die versuchten ihre Männer einzusperren oder zu kontrollieren. Fairerweise muss jedoch erwähnt werden, dass Henning ihr nie auch nur den Hauch eines Grunds gegeben hatte, ihm nicht vertrauen zu können.
Der Fußboden knarrte unter Hennings Schritten. Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer und setzte sich zu Renate. Er kam langsam auf sie zu. „Jetzt hör doch auf, Nati...“, sagte er und zog sie an sich. Renate schaute ihn nicht an. „Warum kannst du dich nicht für mich freuen?“, fragte er und ließ sie wieder los.