Für meine Schwester Tanja
Imprint
Titel: Renate Hoffmann
Autorin: Anne Freytag
Coverbild: © Michael Tasca
Copyright: © 2013 Anne Freytag
- Kapitel 1
Renate Hoffmann stand vor ihrer Wohnungstür. Ihr Blick fiel auf die ocker-senf-farbene Wand im Flur. Das künstliche Licht der Energiesparlampe flackerte und summte. Sie zögerte. Normalerweise zögerte Renate Hoffmann nie. Frau Hoffmann gehörte zu jenen Menschen, die immer alles bis ins kleinste Detail durchdachten und anschließend dem zuvor festgelegten Plan akribisch folgten. Doch an diesem Tag zögerte sie. Vielleicht lag es am nervösen Flackern der Lampe. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie seit mehreren Tagen immer wieder derselbe Gedanke heimsuchte.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und zog an der Tür. Ihre Wohnungstür klemmte schon seit Jahren, doch das störte sie nicht. Im Gegenteil, sie mochte die Tatsache, dass niemand außer ihr wusste, wie sie fast lautlos zu öffnen war. Nachdem sie ihren Mantel und den Schal auf einen Bügel und diesen dann an den linken Kleiderhaken gehängt hatte, ging sie in die Küche. In einem geregelten Leben sitzt jeder Handgriff. Alles ist Routine. Frau Hoffmann führte ein solches Leben. Sie musste sich nicht fragen, was sie essen würde, weil sie für jeden Wochentag ein bestimmtes Mikrowellengericht hatte. Sie musste sich auch nicht damit beschäftigen, welche Sendung sie im Fernsehen ansehen würde, weil sie seit Jahren dieselben Folgen ihrer Lieblingsserie ansah.
Die Lasagne dampfte, als Frau Hoffmann die durchsichtige Folie abriss. Der Teller, ein Glas und das Besteck lagen schon wartend auf einem Tablett. Die Videokassette war schon zur richtigen Stelle gespult. Frau Hoffmann hielt nichts von DVDs. Diese neuartige Technik erschien ihr nicht nur übertrieben, sie war ihr regelrecht unheimlich. Neue Dinge im Allgemeinen schreckten sie eher ab. Dies könnte auch damit verbunden sein, dass Frau Hoffmann nie wirklich gute Erfahrungen mit neuen Dingen gemacht hatte.
Als sie den letzten Bissen Lasagne mit einem Schluck Leitungswasser hinunter gespült hatte, drückte sie auf den Pauseknopf. Diese doch sehr bequeme Erfindung schätzte Frau Hoffmann sehr, denn sie konnte es nicht ertragen neben benutztem Geschirr zu sitzen. Der Anblick von Essensresten und verkrustetem Besteck rief bei Frau Hoffmann einen sofortigen Würgreiz hervor. Das geschah sogar dann, wenn sie weder das Geschirr noch das Besteck im Blickfeld hatte. Allein der Gedanke an verkrustete Essensreste genügte. Deswegen schätzte sie die Pausetaste. Diese kleine Taste ermöglichte es ihr, sich des widerlichen Geschirrs zu entledigen, ohne auch nur eine Sekunde ihrer Lieblingsserie zu verpassen.
Um kurz nach zehn machte sich Frau Hoffmann auf den Weg ins Badezimmer, so wie immer zu dieser späten Stunde. Sie wusch sich die Hände exakt fünfundvierzig Sekunden. Dann putzte sie genau drei Minuten lang ihre Zähne, reinigte die Zahnzwischenräume weitere zwei Minuten mit Zahnseide und gurgelte anschließend dreißig Sekunden mit einer antibakteriellen Mundspülung. Immer in dieser Reihenfolge. Wenn sie nach etwas über sechs Minuten fertig war, verließ sie möglichst schnell das Bad, was vermutlich mit ihrer tiefen Abscheu vor dem Spiegel verbunden gewesen war. Wie dem auch sei, sie blieb immer nur so lange im Bad, wie unbedingt nötig.
Für jeden Außenstehenden wäre Frau Hoffmanns Wohnung geschmacklos und ungemütlich. Frau Hoffmann hingegen mochte, dass ihre Einrichtung sich auf Gebrauchsgegenstände reduzierte. Außerdem hatte sie in einer Zeitung gelesen, dass puristische Einrichtung auf einen aufgeräumten Menschen schließen lässt. Und dieser Gedanke gefiel ihr. Die Tatsache, dass nichts von dem, was in ihrer Wohnung stand, geschmackvoll war, störte sie nicht. Vielleicht fiel es ihr aber auch einfach nicht auf.
Als sie sich an jenem Abend streckte, um das Licht auszuschalten, schlich sich wieder der Gedanke ein. Und obwohl sie versuchte, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen, begleitete er sie die ganze Nacht. Was Frau Hoffmann nicht ahnte, war, dass dieser Gedanke ihr gesamtes Leben verändern würde.
- Kapitel 2
Am kommenden Morgen wachte Frau Hoffmann mit stechenden Kopfschmerzen auf. Die ganze Nacht hatte sie wirres Zeug geträumt. Es war, als hätte sie die Kontrolle über ihr Leben verloren. Doch dann tröstete sie sich damit, dass man seine Träume eben leider nicht steuern könne und ging ins Bad. Nachdem sie ihren Schlafanzug ausgezogen hatte, faltete sie ihn sorgfältig und legte ihn auf die Heizung. Das machte sie immer so. Mit dem Rücken zum Spiegel schlüpfte sie in ihre Unterwäsche, die mit Wäsche nicht viel zu tun hatte, dann ging sie ins Schlafzimmer, öffnete den Schrank und zog eines der sechs Kostüme heraus. Sie alle waren dunkelgrau. Wenn man es genau nimmt, sahen alle vollkommen gleich aus, weswegen ihre Kollegen manchmal boshaft munkelten, es sie immer dasselbe. Das stimmte natürlich nicht. Frau Hoffmann war eine überaus reinliche Frau. Nie im Leben hätte sie dasselbe Kostüm an zwei darauf folgenden Tagen getragen.
An dieser Stelle schaute sie auf die Uhr, weil sie es so gewöhnt war. Doch eigentlich war das nicht nötig, denn sie wusste ganz genau, wie spät es war. Sie bückte sich nach ihrer Handtasche, sah noch einmal in den Spiegel im Flur, was sie viel Überwindung kostete, dann zog sie ihren Mantel und den Schal vom Bügel und verließ die Wohnung.
In der U-Bahn drängten sich fremde Körper an ihr vorbei. Diese unfreiwillige Nähe war für Frau Hoffmann ein tiefer Eingriff in ihre Privatsphäre. Mehr noch, dieser Kontakt kam körperlichen Schmerzen gleich. Die Mischung aus den verschiedensten Gerüchen und Geräuschen verstärkten das dumpfe Hämmern in ihrem Kopf noch zusätzlich. Es war, als würde jemand von innen gegen ihre Schläfen trommeln. In diesem Augenblick fragte sie sich, warum sie sich nicht einfach ein Auto gekauft hatte. Frau Hoffmann hätte sich ein Auto durchaus leisten können, doch dann stieg jedes Mal die Vernunft in ihr hoch, dass sie schließlich nur drei Stationen zu ihrer Arbeit zu fahren hatte und dort unmöglich einen Parkplatz finden würde. Abgesehen davon hatte sie Angst davor Auto zu fahren. Das lag weniger daran, dass sie sich vor dem Akt des Fahrens fürchtete, als vielmehr am dichten Verkehr, der sie unheimlich nervös machte.
Nur noch eine Station. Sie war immer erleichtert, wenn sie daran dachte, bald wieder aussteigen zu können. Langsam drückte sie sich an den anderen Fahrgästen vorbei. Ihre Brüste rieben gegen den Rücken eines fremden Mannes. Bei dieser Berührung lief es ihr eisig über den Rücken. Es war jedoch kein schönes Gefühl. Im Gegenteil.
Dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Man braucht wohl nicht zusätzlich zu erwähnen, dass Frau Hoffmann unvorhergesehene Situationen aufs Abgrundtiefste verabscheute. Der Zug wurde langsamer, und das nicht etwa weil er sich der rettenden Station näherte, nein, denn diese war noch achtzehn Sekunden entfernt – Frau Hoffmann zählte immer die Sekunden zwischen den verschiedenen Stationen – nein, der Zug stoppte in einem Tunnel. Noch eine Sache, die Frau Hoffmann nicht leiden konnte. Die beklemmende Dunkelheit und die aufreibende Ungewissheit, wie lange er dort verweilen würde, ließen ihr rechtes Augenlid nervös zucken.
Nervös schaute sie auf die Uhr. In sieben Jahren war Frau Hoffmann nicht ein einziges Mal zu spät bei der Arbeit erschienen. Es ging ihr dabei weniger um die unwahrscheinliche Möglichkeit Ärger zu bekommen, als um ihre Prinzipien. Ein geregeltes Leben ist unweigerlich strikten Regeln unterworfen. Punkt. So war es auch in Frau Hoffmanns Leben. Und auch in ihrem Beruf. Sie war Buchhalterin in einem großen Unternehmen. Manche Leute schätzen diese Tätigkeit gering, doch sie waren eben unwissend. Man konnte nicht einfach Geld von der Soll-Seite buchen, ohne denselben Betrag auf einem anderen Konto im Haben zu buchen. Das Prinzip mag einfach erscheinen, doch die Denkweise zu verinnerlichen ist um ein Vielfaches schwieriger. Frau Hoffmann wusste das. Denn Frau Hoffmann war eine kluge Frau, auch wenn viele ihr nur wenig Intelligenz zuschrieben.
Als sie eine Stunde später mit zerzaustem Haar und kleinen Schweißperlen auf der Stirn aus dem Aufzug stieg, war der Kopfschmerz fast schon unerträglich geworden. Sie ging ohne Umwege in ihr Büro und schloss die Tür hinter sich. Niemand hatte ihr zu spätes Erscheinen bemerkt. Das lag vielleicht daran, dass Frau Hoffmann bei der Arbeit keine Freunde hatte. Frau Brunner aus dem Nachbarbüro telefonierte ständig mit ihren diversen Freundinnen und lachte laut durch die gesamte Etage. Meistens sagte sich Frau Hoffmann im Stillen, dass dies kein professionelles Verhalten war, doch wenn sie ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, was sie nicht war, war sie enttäuscht darüber, dass es niemanden gab, den sie hätte anrufen können. Es war ja nicht so, dass jemand sie unfreundlich behandelte. Das tat niemand. Aber es gab eben auch niemanden, der sie bemerkte oder vermisste, geschweige denn mit ihr sprach. Normalerweise störte sie sich nicht an dieser Tatsache, oder sie gestand es sich nicht ein. Doch an jenem Tag hätte sie gerne jemandem von dieser schrecklichen Stunde im U-Bahn-Tunnel erzählt.
Neun Stunden später schaltete sie den Computer und die Schreibtischlampe aus, schlüpfte in ihren grauen Mantel und verließ ihr Büro. Viele ihrer Kollegen waren schon längst weg. Zu Hause bei ihren Familien. Oder ihren Partnern. Oder vielleicht auch nur bei ihren Hunden und Katzen. Frau Hoffmann hatte keine Haustiere, weil sie es als unfair empfand ein Tier zu halten, das den ganzen Tag alleine in einer Wohnung eingesperrt war. Dazu kam, dass sie den Geruch von Hunden verabscheute und sich vor lautem Gebell fürchtete.
Sie stieg in den Aufzug und drückte auf E. Als die Türen sich langsam schlossen, kam wieder der verhasste Gedanke, der sich in den vergangenen Tagen immer häufiger Platz verschaffte. Frau Hoffmann kniff die Augen zusammen und versuchte krampfhaft an etwas Anderes zu denken, was ihr nach einer kleinen Weile auch gelang.
Sie schlenderte die Straße entlang, was sie gewöhnlich nie tat, denn schlendern tun für gewöhnlich nur Menschen, die müßig sind, was Frau Hoffmann ganz sicherlich nicht war, doch an jenem Abend schlenderte sie nach Hause. Nicht etwa, weil sie sich in einem Anfall von Spontaneität dazu entschieden hätte, sondern weil sie sich insgeheim viel zu sehr davor fürchtete, dass die U-Bahn erneut zwischen zwei Bahnhöfen stecken bleiben könnte.
- Kapitel 3
Es war kurz nach zehn. Und noch immer saß Frau Hoffmann auf dem Sofa und starrte durch den Fernseher, obwohl sie sich schon längst auf den Weg ins Bad machen müsste, um sich dort ihrer all abendlichen Zahnpflege zu widmen. Auf ihrem Schoß lag eine Zeitung, neben ihr auf der Couch eine Schere. Sie hatte die Todesanzeigen aufgeschlagen. Oben rechts fehlte ein Trauernachruf. Diesen legte sie auf den kleinen Tisch vor dem Fernseher. Unser geliebter Ehemann, Vater und treuer Freund Henning hat uns vor seiner Zeit verlassen. Möge er im Himmel seinen letzten Frieden finden. Wir, diejenigen, die zurückbleiben, weinen im Stillen und ertragen die Leere, die an seine Stelle tritt. Doch eines Tages werden wir wieder vereint werden. Und diesen Tag ersehen wir voller Freuden. In Liebe, deine Frau Melanie, deine Kinder Nikolai und Nina und deine engen Freunde Peter und Ferdinand.
Frau Hoffmann weinte nicht gerne. Sie hasste es, dass die Nase anschließend immer verstopft war und die Augenlider anschwollen. Sie blinzelte mehrfach und wischte sich hastig mit dem Handrücken über die Wange. Dann stand sie auf und öffnete die Türe zu ihrem Balkon. Der kühle Wind streifte sanft über ihr Gesicht. Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Das Licht des Mondes schimmerte in den Pfützen, die sich auf dem Boden gesammelt hatten. Zögernd ging sie zum Geländer. Frau Hoffmann ging nicht oft auf den Balkon. Doch wenn sie dann draußen stand, mochte sie das Gefühl des Windes auf ihrer Haut. Sie stützte sich auf die Brüstung und schaute in die Tiefe. Sie hatte so viele Dinge nicht getan. Und meistens deswegen, weil sie entweder unvernünftig oder zu gefährlich gewesen wären. Vielleicht war der Gedanke, den sie seit Tagen schon zu verdrängen suchte, in Wirklichkeit die Lösung all ihrer Probleme. Vielleicht war er nicht schlecht, sondern ein Weg aus dem Elend, in dem sie sich jeden Tag befand.
Erst hatte sie an weniger drastische Methoden gedacht, doch diese dann wieder verworfen, weil die Gefahr unentdeckt zu bleiben einfach zu groß gewesen wäre. Außerdem wollte sie nicht, dass ihr Tod ein Spiegelbild ihres Lebens wäre. Tabletten wären die feige Variante. Einen Fön in die Badewanne zu werfen, erschien ihr zu unsicher. Was wenn sie überleben würde? Und wie schon gesagt, was wenn erst der Geruch ihrer verwesenden Überreste die Nachbarn aufschrecken würde. Der Gedanke, dass sie stinkend und faulend in ihrem Bett, oder schlimmer noch, nackt in der Badewanne, gefunden würde, waren noch ekelerregender als Essensreste und verkrustetes Besteck. Nein, das käme nicht in Frage. Lieber blutverschmiert auf der kargen Betonanlage vor dem Hauseingang. Elf Stockwerke sollten reichen.
Als sie gerade versuchte, auf das vom Regen feuchte Geländer zu klettern, um ihrem Leben ein Ende zu machen, fragte sie sich, ob sie es womöglich bereuen könnte nicht mehr am Leben zu sein. Und in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie das gar nicht beurteilen konnte, weil sie die meisten Dinge, die die meisten Menschen als normal empfanden, nicht getan hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine Zigarette geraucht. Noch nie hatte sie eine weite Reise unternommen. Noch nie war sie mit Freunden auf einer Party gewesen. Sie hatte in ihrem ganzen Leben nur mit zwei Männern geschlafen, wovon der eine nicht nur nicht erwähnenswert sondern vollkommen bedeutungslos gewesen war. Außerdem lag das inzwischen schon viele Jahre zurück. Sie hatte noch nie masturbiert, weil man in ihrer Familie der Meinung war, dass man so etwas Triebgesteuertes einfach nicht tut. Sie hatte nie einen schönen Sternenhimmel gesehen und noch nie im Meer gebadet.
Sie nahm ihren Fuß langsam wieder von der Brüstung. Sie wollte zwar sterben, doch sie konnte es noch nicht heute tun. So ein impulsives Verhalten sah ihr auch gar nicht ähnlich. Das mit der Reise und den Freunden und dem Sternenhimmel würde wohl nichts mehr werden. Und an der Tatsache, dass sie nur mit zwei Männern geschlafen hatte, konnte sie auf die Schnelle auch nichts ändern. Doch sie konnte noch anfangen zu rauchen. Und sie hatte durchaus noch die Möglichkeit zu masturbieren, bevor sie sich vom Balkon stürzte.
An diesem Abend machte Frau Hoffmann etwas, das sie noch nie zuvor in ihrem Leben getan hatte. Sie ging ohne Zähne zu putzen ins Bett. Sie benutzte nicht einmal ihre antibakterielle Mundspülung. Das war genug rebellisches Verhalten für den Anfang. Die Sache mit dem Masturbieren verschob sie auf den nächsten Tag.
Als sie im Bett lag schaute sie ein letztes Mal auf ihren Wecker. Seit über sieben Jahren war sie nicht mehr so spät ins Bett gegangen. Es war viertel nach elf.
- Kapitel 4
Den gesamten folgenden Tag war Frau Hoffmann ungewohnt beschwingt. Nicht einmal der leicht faulige Geschmack in ihrem Mund konnte ihr die Laune verderben. Sie vollführte ihr morgendliches Ritual bis ins kleinste Detail, dann verließ sie ihre Wohnung um sieben Uhr achtunddreißig. Sechs Minuten später stieg sie in die U-Bahn. Um sie herum stauten sich Unmengen an Menschen in Anzügen und Kostümen. Lederaktentaschen, Laptopkoffer, Kinder mit immensen Rucksäcken.
Ein Mann erregte ihre Aufmerksamkeit ganz besonders. Er sah gut aus, jedoch nicht so gut, dass man es ihm hätte anmerken können, dass er wusste, dass er gut aussah. Dafür war seine Nase zu groß und seine Stirn zu kurz. Dennoch hatte er etwas ungemein Anziehendes an sich.
Als es an der Zeit war auszusteigen, wählte Frau Hoffmann den längeren Weg, um den Mann mit der großen Nase aus der Nähe betrachten zu können, obwohl dies bedeutete, dass sie einen schwitzenden und leicht übel riechenden Mann passieren musste. Ein derartiges Verhalten passte eigentlich überhaupt nicht zu ihr, dennoch tat sie es. Sie drückte sich an all den Fahrgästen, die im Zwischengang standen vorbei und schob sich neben ihn. Als der Zug langsamer wurde, presste sie sich an ihm vorbei in Richtung der Türen. Sie spürte seine Wärme und roch sein After Shave. Ihre Brüste rieben über seinen Brustkorb. Und zu ihrem eigenen Erstaunen gefiel ihr dieses Gefühl. Der Zug hielt an, sie schaute ihm kurz in die Augen, er erwiderte ihren Blick, dann stieg sie aus und ging zur Arbeit.
Sie saß auf der Toilette und schaute an sich hinunter. Seit sie beschlossen hatte zu sterben, fühlte sie sich anders. Vielleicht fühlte sie sich auch einfach zum ersten Mal nach langer Zeit wieder lebendig. Womöglich lag es aber auch daran, dass ihr Körper gegen sein ihm bald bevorstehendes Ende zu rebellieren versuchte. Sie schloss ihre Augen und dachte an die flüchtige Berührung in der U-Bahn. Es ging in ihren Gedanken weniger um den Mann, den sie berührt hatte, als um die Tatsache, dass es ihr gefallen hatte, ihn zu spüren.
Acht Stunden später verließen die ersten ihrer Kollegen ihre Büros. Frau Hoffmann hörte, wie sie sich von einander verabschiedeten. Dann wurde es still. Und in eben diesem Moment beschloss auch sie, an diesem Abend früher zu gehen. Sie griff nach ihrem Mantel und der Tasche nachdem sie ihren PC und die Schreibtischlampe ausgeschaltet hatte und verließ das Zimmer. Auf dem Weg zur U-Bahn machte sie einen kleinen aber nicht weniger wichtigen Umweg. Sie kaufte sich eine Schachtel Zigaretten. Und weil sie keine Ahnung hatte, welche sie nehmen sollte, entschied sie sich letzten Endes für ein gelbes Päckchen mit einem Helm, aus dessen beiden Seiten große Flügel ragten. Wie man die Marke aussprach, wusste Frau Hoffmann selbstverständlich nicht. Und das hatte nichts damit zu tun, dass Frau Hoffmann zu schlicht gewesen wäre – sie sprach nur leider kein Französisch.
- Kapitel 5
Als sie die Türe ihres Balkons öffnete, war sie aufgeregt. Ihre Stimmungslage kam der eines Kindes gleich, das in wenigen Momenten seine Geschenke auspacken darf. Es kam ihr albern vor, derart nervös zu sein wegen einer Sache, die, rein objektiv betrachtet, überhaupt nichts Spannendes an sich hatte.
Ihre Fingerspitzen waren eiskalt, als sie eine Zigarette aus der Schachtel zog. Unbeholfen klemmte sie sie sich in den Mundwinkel und steckte sie an. Sie zog, inhalierte und hustete. Diesen Vorgang wiederholte sie einige Male, dann wurde ihr schwindlig und sie setzte sich auf einen der beiden Balkonstühle. In diesem Moment fragte sie sich, warum sie überhaupt zwei Stühle hatte, wo sie doch ohnehin nie jemand besuchte. Sie griff nach der Armlehne des zweiten Stuhls, zog ihn näher an sich heran und legte ihre Füße auf die Sitzfläche. Sie dachte daran, was wohl ihre Mutter sagen würde, wenn sie sie so sehen würde. Doch dann wurde ihr klar, dass das keine Rolle mehr spielte, denn in wenigen Tagen würde sie sich ohnehin umbringen.
Ihr Blick fiel auf den Häuserblock auf der gegenüberliegenden Seite. Aus der Entfernung sahen die einzelnen Wohnungen aus wie unendlich viele Käfige, die auf einander gestapelt worden waren. In manchen Fenstern brannte Licht, andere waren pechschwarz. In einigen waren kleine Punkte zu erkennen. Die Tatsache, dass manche von ihnen sich bewegten, ließ darauf schließen, dass es Menschen waren. Frau Hoffmann kniff ihre Augen zusammen, um mehr erkennen zu können. Sie konzentrierte sich so sehr auf die kleinen Punkte, dass sie die Zigarette für einen kurzen Moment vergaß. Erst der brennende Schmerz an ihrem Zeigefinger ließ sie aufschrecken.
Ihr Mund war trocken, ihr Hals kratzte. Vorsichtig schleckte sie über die Fingerkuppe ihres Fingers, dann nahm sie ihre Beine von der Sitzfläche und ging in die Küche.
Ihr war schwummrig zumute, ihre Knie fühlten sich ungewohnt weich an, und doch war sie glücklich. Zumindest so glücklich, wie sie es vermochte zu sein. Und in dieser Sekunde kam ihr ein Gedanke, der sie noch glücklicher machte, was an und für sich schon fast unheimlich war. Sie ging in den Flur und öffnete die Tür zu ihrer Abstellkammer. Mit einem gezielten Handgriff zog sie die kleine Leiter hervor, sie klappte sie auf und stieg auf die höchste Stufe. Sie griff nach einer dunkelbraunen Schachtel und kletterte wieder hinunter.
Wenige Minuten später schaute sie zufrieden in ihre linke Hand. Dann verstaute sie den Karton wieder im Regal, klappte die Leiter zusammen und stellte sie auf ihren Platz zurück. Frau Hoffmann konnte nicht verstehen, dass manche Menschen Dinge verlegten oder nicht finden konnten. In ihrem Leben hatte alles einen festen Platz.
Sie ging zurück auf den Balkon und setzte sich auf den Stuhl, ihre Beine legte sie auf den zweiten. Dann zündete sie sich eine Zigarette an, inhalierte und hustete. Doch dieses Mal schon um einiges weniger als bei der ersten. Sie nahm das Fernglas, das in ihrem Schoß lag und hielt es sich vor die Augen.
Frau Hoffmann wanderte von Fenster zu Fenster. Sie sah Menschen, die gemeinsam an einem Tisch saßen und aßen. Sie sah Menschen vor ihren Fernsehern sitzen, und andere, die telefonierend durch ihre Wohnzimmer gingen. Sie zog an ihrer Zigarette und versuchte sich einzureden, dass sie ihr schmeckte, was ihr nicht gelang. Sie beobachtete ein Paar bei einem schlimmen Streit. Beide hatten angespannte Gesichter und fuchtelten energisch mit ihren Armen. Es erschien ihr seltsam, einen Streit zu sehen, ohne die dazu gehörigen Geräusche zu hören. Die Nachbarwohnung war dunkel, doch in der daneben brannte Licht. Und was sie in dieser Wohnung sah, verschlug ihr kurzzeitig den Atem. Da war ein Mann in den besten Jahren. Er trainierte auf einem Sportgerät. Daran war nicht Tragisches, doch das war auch nicht der Grund für Frau Hoffmanns Entsetzen. Es war vielmehr die Tatsache, dass er völlig nackt trainierte.
Frau Hoffmann richtete sich in ihrem Stuhl langsam auf. Sie starrte wie hypnotisiert auf den nackten Nachbarn, der laut singend auf seinem Sportgerät saß. In eben jenem Augenblick wurde ihr klar, dass es schon sehr lange her war, dass sie einen Mann nackt gesehen hatte. Und noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Mann seines Alters unbekleidet gesehen.
Dem älteren Herren war anzusehen, dass ihm das, was er machte, Freude bereitete. In seinem Gesicht war durchweg der Anflug eines Lächelns zu sehen. Diese Unbekümmertheit imponierte Frau Hoffmann, und vielleicht steckte sie sie sogar ein wenig an.
- Kapitel 6
Es war zehn nach zehn, und Frau Hoffmann saß noch immer auf dem Balkon und beobachtete andere Menschen dabei zu leben. Der nackte Herr war gerade von seinem Trainingsgerät abgestiegen und verließ das Zimmer. Kurze Zeit später wurde auch seine Wohnung dunkel, also wanderte sie weiter. Ein paar Wohnungen weiter links im selben Stockwerk saß ein Mann vor dem Fernseher. Er saß mit dem Rücken zum Fenster, was es Frau Hoffmann ermöglichte zu sehen, was er sich ansah. Es war ein Pornofilm, ohne jedwede Handlung. Ein einzelner Mann war mit drei großbusigen Frauen zu Gange, alle hatten sie schmerzverzerrte Gesichter. Frau Hoffmann versuchte, in dem, was sie da sah, etwas Erotisches zu erkennen, konnte aber nichts entdecken, obwohl sie sich wirklich bemühte.
Zwei Stockwerke tiefer fand sie dann ein Paar, das gelangweilt vor dem Fernseher saß. Keiner der beiden regte sich. Fast eine viertel Stunde beobachtete sie starr deren Gesichter, doch es schien, als wären sie ausgestopft. Es wurde nicht ein einziges Mal gelacht oder die Stirn gerunzelt.
Frau Hoffmann vermochte dieser Eintönigkeit nichts abzugewinnen. Vielleicht lag es auch an der Tatsache, dass diese Eintönigkeit sie insgeheim an ihr eigenes tristes Dasein erinnerte, was wiederum Grund genug war, das Fernglas beiseite zu legen.
Für einen kurzen Augenblick dachte sie an den nackten Herren auf seinem Trainingsgerät. Und vielleicht entwischte ihr deswegen ein flüchtiges Lächeln, weil sein Leben ihrem in keiner Weise zu gleichen schien.
Frau Hoffmann saß zufrieden auf ihrem Balkon. Es hatte ihr Spaß gemacht, ihre Nachbarn heimlich zu beobachten. Bedenkt man die Tatsache, dass sie zu der eher bemitleidenswerten Sorte Mensch zählte, der es nicht häufig vergönnt war, Gefühle wie Spaß zu empfinden, war das eine außergewöhnliche Erfahrung gewesen.
Zwanzig Minuten später lag Frau Hoffmann in ihrem Bett. Sie glitt genüsslich mit ihrer Zunge über ihre sauberen Zähne. Sie liebte dieses glatte Gefühl. Frau Hoffmann löschte das Licht und legte sich auf die Seite. Für die Masturbation fehlte ihr an jenem Abend nicht nur die Energie, sondern vor allem die Inspiration. Denn auch wenn Frau Hoffmann sich im tiefsten Inneren dunkel daran erinnerte, dass sie nicht immer so gewesen war, so war dennoch nicht zu leugnen, dass Frau Hoffmann weiß Gott seit langer Zeit keine leidenschaftliche Frau mehr war. Alles andere als das.
Mit diesem doch eher ernüchternden Gedanken im Kopf schlief sie eine Stunde später ein.
- Kapitel 7
Am nächsten Morgen passierte etwas Seltsames. Frau Hoffmann öffnete die Augen. Durch ihr Schlafzimmer glitzerten vereinzelte Sonnenstrahlen. Als sie sich zu ihrem Nachttisch drehte und den Wecker näher an ihr Gesicht führte, um die Uhrzeit ablesen zu können, setzte ihr Herz für einen Schlag aus. Es war acht Uhr neununddreißig.
Wie gelähmt starrte sie auf die Anzeige der Digitaluhr. Es war schlichtweg unmöglich, dass sie verschlafen hatte. Und es war vollkommen ausgeschlossen, dass sie vergessen hatte, den Wecker zu stellen, weil der Wecker jeden Tag um dieselbe Uhrzeit klingelte, ohne dass man ihn am Abend vorher selbst stellen musste. Das bedeutete, dass der Wecker mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geklingelt hatte. Das wiederum implizierte jedoch unweigerlich, dass Frau Hoffmann den Wecker überhört haben musste, was sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte.
Eine Weile schaute sie ratlos durchs Zimmer. Für den Bruchteil einer Sekunde spielte sie mit dem wahnwitzigen Gedanken im Büro anzurufen und sich kurzerhand krank zu melden, was jedoch ihr unerschöpfliches Pflichtbewusstsein nicht zuließ. Also stieg sie aus dem Bett und machte sich fertig.
Zweiundzwanzig Minuten später saß sie in der U-Bahn. In ihrem Magen rumorte das schlechte Gewissen. Sie fühlte sich ungeheuer klein und auf eine seltsame Art schuldig, die in keiner Weise im Verhältnis zu dem Vergehen stand, das sie begangen hatte. Rein objektiv betrachtet war es vollkommen lächerlich, welches Chaos diese Begebenheit in Frau Hoffmann auslöste. Obgleich Frau Hoffmann sich diese Unverhältnismäßigkeit durch rationales Argumentieren auszureden versuchte, änderte selbst der logischste Ansatz nichts daran, wie sie sich fühlte.
Schwer atmend stolperte Frau Hoffmann den Flur entlang. Sie stieß hastig die Türe zu ihrem Büro auf, und erblickte zu ihrem Entsetzen Herrn Walter, ihren direkten Vorgesetzten, der mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch saß. Es wirkte ein wenig so, als habe er sich diese Pose von einem seiner Filmhelden abgeguckt. Wäre es nicht dermaßen unpassend gewesen, hätte Frau Hoffmann tatsächlich über das lächerliche Betragen ihres Vorgesetzten schmunzeln können. Er räusperte sich, schaute pikiert auf die Uhr und musterte Frau Hoffmann von oben bis unten.
Er trug seinen dunkelblauen Anzug wie ein Offizier seine Uniform. Er brauchte diesen Anzug. Erst dieser machte einen Geschäftsmann aus ihm. Manchmal trug er ihn sogar, wenn er zu Hause war. Seine Frau hatte immer so einen Blick, wenn er ihn trug. Er mochte diesen Blick. Immer, wenn sie ihn so ansah, fühlte er sich männlich. Herr Walter hatte viele Anzüge, doch den blauen mochte er am liebsten. Die mächtigsten Männer trugen dunkelblaue Anzüge mit roten Krawatten. Deswegen schätzte er diesen Anzug. Denn auch, wenn Herr Walter nicht wirklich mächtig war, so gab ihm sein Anzug das Gefühl, als wäre er es doch.
Die rote Krawatte hatte er wie jeden Tag zu seinem straffen Windsorknoten gebunden. Sie betonte sein leichtes Doppelkinn und ließ seinen Hals unvorteilhaft breit erscheinen. Seine hohe Stirn lag inszeniert in Falten, seine buschigen Augenbrauen hingen wie kleine haarige Dächer über seinen schmalen Augen. In seinem Gesichtsausdruck war etwas Abschätziges zu sehen, so als wäre sie ein kleines Bröckchen Dreck auf einem ansonsten tadellos reinen Fußboden. Verunsichert ging Frau Hoffmann an ihm vorbei und setzte sich an ihren Schreibtisch. Den Mantel und den Schal behielt sie an.
Es schien so, als würde Herr Walter auf eine Art Entschuldigung warten, oder zumindest darauf, dass Frau Hoffmann ihr unmögliches Verhalten plausibel erklärte. Als weder das eine noch das andere einzutreten schien, stützte er sich mit dem Ellenbogen auf der Tischplatte ab und räusperte sich erneut. Nach weiteren Sekunden beklemmenden Schweigens sagte er dann schließlich: „Schön, dass Sie auch noch rein schauen...“ Innerlich kochte Frau Hoffmann, doch anstatt etwas zu sagen oder ihn gar zurechtzuweisen, starrte sie eingeschüchtert in ihren Schoß. „Ich weiß ja, dass Sie nicht die Kommunikativste sind, Frau Hoffmann, aber genau in diesem Augenblick verstreicht ein weiterer passender Moment für eine Entschuldigung oder Erklärung...“ Er versuchte nicht einmal seinen arroganten Tonfall zu kaschieren, im Gegenteil, es war offensichtlich, dass er seine übergeordnete Stellung in vollen Zügen genoss.
Frau Hoffmann gingen viele Dinge gleichzeitig durch den Kopf, so beispielsweise der Gedanke, einfach aufzustehen und demonstrativ den Raum zu verlassen, oder aber Herrn Walter anzuschreien, was er sich eigentlich einbildete, so mit ihr zu reden. Was sie dann jedoch sagte, hatte nichts mit jenen Gedanken zu tun. Und in dem Augenblick, als sie dann sagte, was sie sagte, hasste sie sich selbst dafür sich dermaßen zu verraten.
„Ich habe meinen Wecker überhört.“
„So so... Sie haben also ihren Wecker überhört“, wiederholte er sie mokierend.
„Es wird nicht wieder vorkommen...“, entgegnete Frau Hoffmann kleinlaut.
„Na, das wollen wir hoffen...“ Der Klang seiner Stimme verriet, dass ihn diese Situation unbändig befriedigte. Er stand auf. „Wissen Sie eigentlich, wie viele Menschen gerne Ihre Stelle hätten?“ Frau Hoffmann schüttelte den Kopf ohne aufzuschauen. Im Augenwinkel sah sie Herrn Walter geschäftig durch ihr Büro stolzieren. „Es sind viele, Frau Hoffmann...“ Frau Hoffmann nickte. „Sogar Sie müssten mitbekommen haben, dass wir uns in einer schweren Krise befinden.“ Und wieder nickte sie wie ein artiges Schulkind. „Arbeitsplätze sind nicht mehr sicher. Die Zeiten, in denen man Arbeitnehmern jeden Wunsch von den Augen ablesen musste, sind vorbei. Es kann jeden treffen. Wirklich jeden. Verstehen Sie das?“
„Ja, natürlich.“ Frau Hoffmanns Stimme war ein kleines, schüchternes Flüstern, als sie das sagte.
Eigentlich sah Frau Hoffmann die gesamte Situation natürlich völlig anders. Sie war nämlich der Meinung, dass es keinerlei Anlass gab, sie wegen einer derartigen Nichtigkeit auf diese Art und Weise zu behandeln. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, fast täglich Überstunden geleistet. Sie gehörte nicht zu jenen Angestellten, die am Anfang jedes Jahres ihre Kalender zückten und die Feiertage markierten. Sie gehörte auch nicht zu den Mitarbeitern, die sich an Brückentagen frei zu nehmen pflegten. Und sie zelebrierte es auch nicht, wenn ein Feiertag auf einen Werktag fiel. Frau Hoffmann arbeitete gerne. Vielleicht auch deswegen, weil sie ansonsten nichts mit sich anzufangen wusste.
Zwanzig Minuten später saß Frau Hoffmann zähneknirschend an ihrem Schreibtisch. Sie transpirierte leicht, was vermutlich größtenteils daran lag, dass sie noch immer den gefütterten Mantel und ihren Schal trug. Als sie beides ausgezogen hatte, inspizierte sie die ovalen Schweißflecke im Achselbereich ihres Kostüms, die die vergangenen dreizehn Minuten als eine Art feuchtes Andenken an ihre eigene Schwäche hinterlassen hatten. Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Doch deren Ursprung lag weniger in der Wut über Herrn Walter, als darüber, dass Frau Hoffmann nicht einmal über das Mindestmaß an Selbstwert verfügte, das nötig gewesen wäre, um ihn in die Schranken zu weisen.
- Kapitel 8
Den gesamten Tag nagte ihre eigene unbändige Schwäche an Frau Hoffmann, das Gefühl des Versagens. Die Unsicherheit hatte sie an einen Punkt gebracht, dass selbst der Gedanke an ihr triumphales Ende sie nicht aufzuheitern vermochte. Frau Hoffmann war nie ein Rebell gewesen. Sie hatte sich an Regeln gehalten, vor allem deswegen, wie sie es sich selbst einredete, weil ohne Regeln kein gesellschaftliches Leben möglich wäre. Natürlich wusste Frau Hoffmann, dass meistens gerade diejenigen, die die Regeln aufstellten, sich am wenigsten an sie hielten. Das änderte nichts an der Tatsache, dass Frau Hoffmann kein Rebell war. Und manchmal ärgerte sie das entsetzlich, auch wenn sie das niemals zugeben würde.
Vier Stunden später stand Frau Hoffmann unvermittelt auf. Obwohl sie wirklich versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, schlichen sich immer wieder Flüchtigkeitsfehler ein. Und das passierte Frau Hoffmann nie. Sie war gut, in dem was sie tat. Mehr noch, sie war ein Picasso der Buchhaltung. Und deswegen stand sie auf. Sie verließ ihr Büro und ging zielstrebig den Flur hinunter, stieg in den Aufzug und drückte die acht.
Die Türen öffneten sich und Frau Hoffmann ging, nun ein wenig weniger zielstrebig, den Korridor hinunter. Ihr Herz schlug gegen ihre Rippen, ihre Hände waren von einem feuchten Film überzogen. Sie wischte sie am Rock ihres Kostüms ab, dann klopfte sie an der vorletzten Tür auf der rechten Seite.
„Da haben Sie vollkommen Recht…“, sagte Herr Hofer kopfschüttelnd. „Und was soll das überhaupt heißen, es kann jeden treffen?“
Frau Hoffmanns Hände waren nicht mehr feucht. Ihr Herz schlug auch wieder normal. Sie fühlte sich gut. Na ja, vielleicht nicht gut, aber zumindest fühlte sie sich nicht mehr schlecht. Frau Hoffmann verschrenkte die Arme. Ihre Unterarme berührten die Schreibtischplatte. „Sollen denn in nächster zeit Stellen abgebaut werden?“, fragte sie vorsichtig.
„Die wirtschaftliche Situation ist im Augenblick zwar tatsächlich besorgniserregend, ich rechne dennoch nicht mit Personalabbau. Unsere Auftragslage sieht gut aus. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Frau Hoffmann spürte Herrn Hofers tiefe Stimme durch die Tischplatte.
In diesem Moment fragte sie sich, weshalb sie sich über den möglichen Verlust ihres Arbeitsplatzes überhaupt Gedanken machte, wo sie doch in absehbarere Zeit, ohnehin vom Balkon springen würde, und lächelte. Herr Hofer interpretierte dieses Lächeln freilich verkehrt, doch das kümmerte Frau Hoffmann nicht. Sie bedankte sich bei Herrn Hofer für seine Zeit, stand auf und ging zur Tür. „Und, Frau Hoffmann…“ Sie drehte sich noch einmal um.
„Ja?“
„Sollte sich sein Verhalten nicht ändern, kommen Sie bitte zu mir.“
Frau Hoffmann nickte verlegen, verließ das Büro und ging den langen kargen Korridor hinunter.
Zwei Stunden später klopfte es an Frau Hoffmanns Tür. Herr Hofer steckte seinen Kopf ins Zimmer, strahlte sie an und sagte, „Ich habe eben mit Herrn Walter gesprochen.“ Frau Hoffmann erwiderte sein Lächeln. „Er wird sich in Zukunft sicher anders verhalten.“ Er nickte, dann schloss er die Tür hinter sich. Für einen kurzen Moment fragte sich Frau Hoffmann, ob Herr Hofer tatsächlich auf ihrer Seite war, oder es nur vorgab zu sein, weil das eben sein Job war. Sie stellte sich die beiden Herren im Gespräch vor. Sie stellte sich vor, wie sie gemeinsam über sie lachten, so wie es die anderen Kollegen ständig taten. Das Gefühl des Triumphs war nur kurzlebig gewesen. Ein Teil von Frau Hoffmann, ein beträchtlicher nebenbei bemerkt, war sich nämlich sicher, dass Herr Hofer Herrn Walter vermutlich nicht in die Schranken gewiesen hatte. In ihrer Fantasie waren die beiden Männer nämlich eng befreundet. Sie spielten vermutlich regelmäßig samstags Golf, so wie alle Herren der Chefetage. Ein kleiner Zweifel bestand aber dennoch, denn Herrn Hofers Lächeln war aufrichtig gewesen. Er schien Frau Hoffmanns Anliegen tatsächlich ernst genommen zu haben. Und genau das kannte Frau Hoffmann nicht. Vielleicht tat sie Herrn Hofer unrecht. Vielleicht hatte er sich tatsächlich für sie eingesetzt. Und bei diesem Gedanken entwischte Frau Hoffmann ein klitzekleines, kaum sichtbares Lächeln.
Den restlichen Tag unterliefen Frau Hoffmann keine Fehler mehr. Ihre Gedanken waren nicht mehr bei Herrn Walter. Sie war jedoch nicht so konzentriert, wie man es von ihr gewöhnt war. Ein paar ihrer Gedanken kreisten nämlich um Herrn Hofer. Vor allem um sein Lächeln.
- Kapitel 9
Wie gebannt starrte Frau Hoffmann durch ihr Fernglas. Sie lächelte. Das passierte Frau Hoffmann immer häufiger, seit sie beschlossen hatte, sich umzubringen. Der nackte Herr hieß in Frau Hoffmanns Fantasie inzwischen auch nicht mehr nackter Herr, sondern Herr Peters. Sie war noch nie besonders kreativ gewesen, was sich in Herrn Peters Namen einmal mehr bestätigte. Dennoch passte dieser Name zu ihm. Und das war nicht alles. Er hatte eine Geschichte. Herr Peters arbeitete als freischaffender Journalist. Nach Frau Hoffmanns Auffassung war das ein aufregender und spannender Beruf, der sie immer fasziniert hatte, für den sie jedoch keinerlei Talent mitbrachte. Im Gegensatz zu ihr, schien Herr Peters jedoch im höchsten Maße verbal versiert zu sein. Ein Mann, der nackt auf seinem Hometrainer lief, musste einfach einen außergewöhnlichen Beruf haben. Die Tatsache, dass er allein lebte, schien ihre Theorie zu untermauern. Herr Peters war sein Leben lang beruflich sehr eingespannt gewesen. Auf einer seiner zahlreichen Reisen hatte er zwar sein Herz verloren, doch diese Liebe war nicht von Dauer gewesen. Vielleicht hatte er viele Kinder quer über den Erdball verstreut. Er war ein guter Liebhaber gewesen und vielleicht wäre er es noch. Herr Peters war der typische Eigenbrödler. Er genoss es allein zu sein. Er genoss seine eigene Gesellschaft ebenso, wie die anderer Menschen, wenn nicht noch mehr. Das implizierte jedoch nicht, dass er kein offener und aufmerksamer Mensch war, denn das war er. Doch er war anders. Und er war stolz darauf.
Eine viertel Stunde später verschwand Herr Peters im Bad. Frau Hoffmann vermutete zumindest, dass er im Bad verschwand. Vielleicht ging er auch gleich zu Bett, oder trank einfach nur einen Schluck kaltes Wasser. Doch in dem Leben, das Frau Hoffmann für Herrn Peters geschaffen hatte, ging er ins Bad. Er duschte sich kühl, dann ging er mit einem Lächeln auf den Lippen zu Bett.
Das Licht in seiner Wohnung erlosch. Jedes Mal, wenn es bei Herrn Peters dunkel wurde, überkam Frau Hoffmann ein seltsames Bedauern. Sie sah ihn gerne. Er hatte eine Aura, die sie inspirierte. Manchmal wünschte sie sich, ihr Leben wäre ein bisschen mehr wie seines, mit Ausnahme der vielen Kinder, denn die hätte sie schließlich selber bekommen müssen. Die Realität und ihre Fantasie waren inzwischen zu einer Einheit geworden. Die Tatsache, dass Herr Peters vermutlich gar kein freischaffender Journalist und vielleicht sogar kinderlos war, kam ihr nicht ein Mal in den Sinn.
Sie zündete sich eine Zigarette an. Und dieses Mal musste sie nicht husten. Diese Tatsache erfüllte sie, auch wenn das lächerlich war, und Frau Hoffmann sich dieser Lächerlichkeit durchaus bewusst war, mit Stolz. Sie wanderte zur nächsten erleuchteten Wohnung. Sie entdeckte eine junge Frau, die regungslos auf einem Stuhl saß, das Telefon in ihrer linken Hand. Frau Hoffmann empfand sofort tiefes Mitleid für die junge Frau. Sie war sich sicher, dass sie eine schlechte Nachricht erhalten hatte.
Die Fassungslosigkeit der jungen Frau setzte Frau Hoffmann unerwartet zu. Sie schnürte ihr regelrecht die Luft ab. Diesen leeren Ausdruck hatte Frau Hoffmann schon einmal gesehen. Sie hatte ihn sogar gespürt. Er erinnerte sie dunkel an etwas, das vor langer Zeit geschehen war, an etwas, woran sie unter keinen Umständen erinnert werden wollte.
Frau Hoffmann empfand es als geschmacklos in einer solchen Situation zu rauchen. Sie drückte die Zigarette aus, schaute den Stummel verächtlich an, dann wandte sich wieder der jungen Frau zu. Sie verspürte den Wunsch, sie in ihre Arme zu schließen. Dieser Wunsch erschreckte sie, denn es passte überhaupt nicht zu Frau Hoffmann, jemanden umarmen zu wollen. Im Gegenteil. Frau Hoffmanns sensomotorische Grenze hatte für gewöhnlich die Ausmaße Russlands. Dieser unumstößliche Fakt stand im absoluten Widerspruch zu der Tatsache, dass Frau Hoffmann der jungen Frau Trost spenden wollte. Und doch war dieser Wunsch fast schon unerträglich stark.
Frau Hoffmann war nicht immer so gewesen. Sie hatte früher keine Berührungsängste gehabt. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass Frau Hoffmann einmal tatsächlich leidenschaftlich gewesen war. Zumindest fast. Doch seit dieser Zeit war viel geschehen. Ihr Leben hatte sie dazu gezwungen abzubiegen. Es hatte anderes für sie geplant. Und dieser Plan führte sie hier her. Auf diesen Balkon in einem lieblosen Plattenbau, mit ocker-senf-farben Wänden in den Fluren und einem Aufzug, der es verdient hätte, als scheußlichster Aufzug der Welt ins Guinessbuch der Rekorde aufgenommen zu werden.
Als Frau Hoffmann an diesem Abend im Bett lag, schien das Gewicht ihrer Gefühle sie noch fester in ihre viel zu weiche Matratze zu drücken. Die Last der Fassungslosigkeit der jungen Frau erinnerte Frau Hoffmann an den Tag in ihrem Leben, der alles unwiderruflich verändert hatte. Sie hatte sich selbst in der jungen Frau gesehen. So muss sie ausgesehen haben, als man es ihr mitgeteilt hatte. Und auch in ihrem Fall war niemand da gewesen, der sie in die Arme hätte schließen können. Sie war allein gewesen. Und sie war es noch. Seit diesem Tag. Diesem Tag im November.
- Kapitel 10
Sie saß mit der jungen Frau an einer reich gedeckten Tafel. Auf wunderschönem Porzellan lag verdorbenes Essen. Fisch, Fleisch, Vorspeisen. Geflockte Milch schwamm zäh in den Kristallkelchen. Auf einem großen Teller lagen Reste eines gigantischen Fleischklumpens, der von einer weißlichen schleimigen Schicht überzogen war. Unzählige Fliegen begutachteten den Klumpen auf der Suche nach den letzten genießbaren Fetzen. Es roch nach einer abartigen Mischung aus ranzigem Käse, Fisch, sauerer Milch und dem beißenden Geruch von fauligem Fleisch. Frau Hoffmann legte tröstend ihre Hand auf die der jungen Frau. Die Tränen der Frau waren gelblich weiß, was Frau Hoffmann zu Beginn irritierte, nach und nach jedoch normal zu sein schien. Die beiden Frauen sprachen kein Wort. Bis auf das Surren der Fleischfliegen war es absolut still. Der entsetzliche Gestank der verwesenden Überreste veranlasste Frau Hoffmann durch den Mund zu atmen. Der Gedanke jedoch, diesen Gestank überhaupt einzuatmen, die Tatsache, dass dieser widerwärtige Geruch genüsslich über ihre Geschmacksknospen glitt, ließ Frau Hoffmann in unregelmäßigen Abständen unvermittelt würgen.
Frau Hoffmann saß in ihrem Bett. Dieser Gedanke tröstete sie in einem Maß, das sie sich nicht wirklich erklären konnte. Es war schließlich nur ein Traum gewesen. Nichts weiter. Ein Konstrukt ihres Unterbewusstseins. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an, so als wäre sie von einem dünnen weichen Film überzogen, was Frau Hoffmann angestrengt zu ignorieren versuchte. Kurzzeitig fragte sie sich, warum sie derartig widerwärtige Dinge träumte, doch nach wenigen Minuten schien der Traum weit genug von ihr entfernt, um wieder einschlafen zu können.
Wenige Stunden später wurde Frau Hoffmann vom Klingeln ihres Weckers aus dem Schlaf gerissen. Sie fühlte sich elend, so als hätte sie die ganze Nacht schwer gearbeitet. Ihre Muskeln waren verspannt, ihre Augen schmerzten. Sie stand auf. Ihre Gelenke zitterten unter ihrem eigenen Gewicht. Auf eine seltsame Art und Weise fühlten sich ihr Körper und ihre Glieder fremd an, so als hätte man ihren Kopf von ihrem eigentlichen Körper entfernt und auf einem fremden montiert. Jeder Schritt erforderte höchste Koordination und Anstrengung. Frau Hoffmann versuchte, sich an ihre ersten Schritte zu erinnern, und ob das Gefühl dem ähnelte, was sie gerade empfand, doch es gelang ihr nicht sich daran zu erinnern.
Ihr Spiegelbild zeigte eine Frau Mitte dreißig im karierten Flanellschlafanzug, deren Augenlider geschwollen und von grauen Schatten unterlegt waren. Spröde Lippen und gelblich weiße Flecke zierten müde Haut. Frau Hoffmann war mit Sicherheit nie eine Schönheit gewesen, doch dieser Anblick versetzte sogar ihr einen Schock.
Das Thermometer piepte drei Mal. Frau Hoffmann zog es unter ihrer bedeckten Zunge hervor und betrachtete die Digitalanzeige. 39,9°. Vertieft in unwichtigen Gedanken saß Frau Hoffmann auf dem kalten Rand ihrer Badewanne. Sie haderte mit sich selbst. Sie führte ein inneres Zerwürfnis darüber, ob es angebracht wäre, der Arbeit fernzubleiben, oder nicht. Jeder normale Mensch hätte sich zum Telefon geschleppt und sich für die nächsten Tage entschuldigt. Doch Frau Hoffmann erschien es verkehrt, sich krank zu melden. Der Fakt, dass sie hohes Fieber hatte, beruhigte zwar ihr Gewissen, doch lange nicht genug, um sich entspannen zu können. Andererseits fühlte sie sich dermaßen schwach und unansehnlich, dass sie sich nicht dazu aufraffen konnte, zur Arbeit zu fahren. Genau genommen fühlte sie sich so sogar jämmerlich, dass sie es schier nicht fertigbrachte, sich vom Wannenrand zu erheben, geschweige denn eine weitere Strecke als vom Bad bis ins Schlafzimmer zurückzulegen. Das, was sie jedoch am meisten davon abzuhalten schien, die Wohnung zu verlassen, war erstaunlicherweise die Tatsache, dass sie aussah, wie sie aussah, nicht etwa das Fieber. Das Verblüffende daran war wiederum, dass es Frau Hoffman so gar nicht ähnlich sah, sich in Eitelkeiten zu verlieren. Frau Hoffmann schenkte ihrem Aussehen für gewöhnlich keinerlei Beachtung. Sie ging zum Friseur, weil sie ihre Haare nun mal nicht daran hindern konnte, zu wachsen, und eine Wimpernzange hätte sie vermutlich für ein chirurgisches Instrument gehalten.
Und dennoch schien Ihr Aussehen das ausschlaggebende Kriterium zu sein. Denn hätte man es ihr nicht angesehen, wie sie sich fühlte, hätte sie sich sicher zusammengerissen und wäre zur Arbeit gegangen. Vielleicht lag es letzten Endes daran, dass Frau Hoffmann es nicht leiden konnte, wenn man sehen konnte, wie es ihr wirklich ging. Ihrer Ansicht nach war das nämlich privat, also etwas, das niemanden etwas anging. Vielleicht fürchtete sie aber auch nur, dass man die Leere, die in ihr lebte, durch ihre durchsichtig wirkende Haut sehen könnte. Sie selbst sagte sich natürlich, dass es unverantwortlich wäre, zur Arbeit zu gehen, weil sie womöglich ihre Kollegen anstecken könnte. Insgeheim war sie zwar der Meinung, dass die meisten einen schweren Infekt verdient hätten, schuld an deren Leiden wollte sie aber dennoch nicht sein.
- Kapitel 11
Die Luft war trocken und schien ohne Sauerstoff zu sein. Die Heizung tickte leise und unregelmäßig. Frau Hoffmann lag zitternd unter ihrer Decke. Ihre Haut war feucht, ihre Haare klebten strähnig in ihrem Gesicht. Mit weit geöffneten Augen lag sie da und starre an die Decke. Sie wollte sie nicht schließen. Denn jedes Mal, wenn sie das tat, sah sie edles Porzellan und verdorbenes Fleisch.
Mit dem letzten Quäntchen Kraft schob Frau Hoffmann den Fernseher näher an ihr Sofa. Sie hätte alles getan, um die Bilder nicht mehr ertragen zu müssen. Sie hätte sogar masturbiert. Doch stattdessen spulte sie die Videokassette zurück und schaute ihre Lieblingsserie. An jenem Tag jedoch erschien ihr die Handlung plötzlich konstruiert, unrealistisch und fad. Sie war sich sicher, dass dieser plötzliche Sinneswandel mit ihrer Krankheit zusammenhing. Außerdem beruhigte sie sich, dass Serien nicht zwangsläufig realistisch zu sein hätten. Vielleicht war es vielmehr so, dass sie unrealistisch sein mussten, denn welchen Sinn sollte es auch haben, sich etwas anzusehen, das dem eigenen Leben entsprach.
Frau Hoffmann lag auf dem Sofa und schaute in die Leere. Das Flimmern des Fernsehers schmerzte in ihren Augen. Das Standbild zuckte über die Mattscheibe. Für einen kurzen Moment spielte sie mit dem Gedanken, sich ins Bad zu schleppen, die Familienpackung Schlaftabletten hervorzukramen und doch die feige Variante zu wählen. Sie empfand es als intelligenten Schachzug, sich umzubringen, wenn man ohnehin krank war. Doch dann wurde ihr klar, dass sie sich viel zu schwach fühlte, um aufzustehen, weswegen sie sich kurzerhand doch gegen den Selbstmord entschied.
Die Sonne verschwand hinter den gegenüberliegenden Plattenbauten, die Nacht verschluckte den Tag. Die Wohnungen der Nachbarn leuchteten um die Wette. Schwerfällig rappelte Frau Hoffmann sich auf, klemmte sich ihre Decke unter den Arm und ging zum Balkon. Mit jedem Schritt verstärkten sich ihre pochenden Kopfschmerzen. Vom Fenstersims nahm sie das Fernglas, dann wickelte sie sich ihre Decke um die Schultern und setzte sich ans Fenster.
Herr Peters betrat das Wohnzimmer, wie immer nackt. Manchmal fragte sich Frau Hoffmann, ob er das absichtlich tat. Sie fragte sich, ob er insgeheim genau wusste, dass man ihn vom gegenüberliegenden Haus beobachtete, es vielleicht sogar genoss. Doch seine Art erschien ihr so natürlich, so gelassen, dass sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Frau Hoffmann wäre nicht einmal gegen Bezahlung nackt durch die Wohnung gelaufen, auch wenn dafür mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemand bezahlen würde. Vielleicht lag das auch daran, dass Frau Hoffmann sich nur zu gut vorstellen konnte, wie ihre Nachbarn vom gegenüberliegenden Plattenbau mit ihren Ferngläsern an den Fenstern klebten und über ihren nackten Anblick spotten würden. In diesem Fall war Frau Hoffmann, wie so oft, viel zu streng mit sich selbst. Denn auch, wenn Frau Hoffmann keine Schönheit war, so hatte sie durchaus eine Figur, die sich im Vergleich zu anderen wirklich sehen lassen konnte. Doch Frau Hoffmann war sich dessen, wie so vielen anderen Dingen, nicht bewusst. Herr Peters hingegen schien dem, was andere über ihn denken mochten, ohnehin keine große Bedeutung beizumessen. Er sah aus wie ein Mann, der zu sich selbst stand, mehr noch, sich selbst schätzte. Vielleicht war das mit ein Grund, warum er Frau Hoffmann derart faszinierte. Nackt herumlaufen war eine Sache, doch mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dazu gehörte eine gehörige Portion Eigenliebe.
Herr Peters stieg auf seinen Hometrainer und rannte los. Er schien sich durch die Lauferei von irgendetwas zu befreien. Er wirkte jedes Mal sofort gelöst und entspannt. Seine Gesichtszüge wurden zart, sein Mund formte sich fast augenblicklich zu einem Lächeln. Frau Hoffmann konnte sich das nicht erklären. In ihrer Welt war es nämlich eine sportliche Höchstleistung, Einkaufstaschen vom Supermarkt an der Ecke bis nach Hause zu tragen.
- Kapitel 12
Frau Hoffmann stand in ihrer Küche. Zu ihrem eigenen Entsetzen trug sie nur ihre graue Unterwäsche und dicke orange Wollsocken mit Anti-Rutsch-Beschichtung an der Sohle. Sie öffnete den Kühlschrank. Der karge Inhalt schaute sie traurig an. Sie schien etwas zu suchen, war sich aber nicht im Klaren, was es war. Vielleicht suchte sie etwas zum Anziehen, fragte sich aber warum sie ihre Kleidung im Kühlschrank vermutete. Als sie die Türe schloss, stand Herr Peters neben ihr, wie immer nackt. Sie erschrak zwar, jedoch nicht einmal annähernd so sehr, wie man es hätte annehmen können, bedenkt man die Tatsache, dass Frau Hoffmann niemals männlichen Besuch hatte, geschweige denn nackten. Herr Peters lief auf seinem Hometrainer, der nun in Frau Hoffmanns Küche stand. Er schaute sie neugierig musternd an. Frau Hoffmann erwiderte seinen Blick. Dann plötzlich fing er an zu reden. Seine Stimme und seine Art zu sprechen amüsierten Frau Hoffmann. Tatsächlich fand sie ihn so komisch, dass sie unvermittelt kurz aufquietschte, was Herrn Peters nicht weiter interessierte. Er sprach nasal gedrückt und dehnte jedes Wort in unnatürliche Längen. Seine Stimme und seine Intonation erinnerten sie spontan an Herrn Pofalla, den sie eigentlich nicht mochte. Herrn Peters Interpretation Pofallas hingegen gefiel ihr äußerst gut.
„Warum beobachten Sie mich?“, fragte Herr Peters. Frau Hoffmann zuckte mit den Schultern. „Dann denken Sie nach.“ Frau Hoffmann dachte nach, dann schließlich sagte sie, dass sie es wirklich nicht wisse. „Ich mag Ihre Socken.“, sagte Peters unvermittelt. „Wo haben Sie die denn gekauft?“ Frau Hoffmann schaute hinunter zu ihren Füßen.
„Auf einem Weihnachtsmarkt in Bayreuth“, antwortete sie.
„Sind sie warm?“ Sie nickte. Unermüdlich lief Herr Peters weiter. Die gesamte Situation erschien Frau Hoffmann absurd, was nicht bedeutete, dass sie sie nicht amüsierte. Im Gegenteil. Herrn Peters Stimme und seine nasale Intonation ließen Frau Hoffmann unfreiwillig schmunzeln, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, weil sie nicht unhöflich sein wollte. Schließlich war er ihr Gast. „Gefällt Ihnen die Tatsache, dass ich nackt bin?“ Seine Stimme war plötzlich nicht mehr nasal, sie war dumpf und warm. Sie bebte in ihrem Körper. Diese direkte Frage erschreckte Frau Hoffmann. Sie empfand sie als ungehobelt und deplatziert. Obwohl sie versuchte, es nicht zu tun, wanderten ihre Augen über Herrn Peters nackten Körper. Sie glitten wie Hände über dessen Haut. „Antworten Sie mir“, sagte Peters fordernd. Seine Stimme machte Frau Hoffmann nervös.
„Ich finde es ungewöhnlich“, antwortete sie ausweichend.
„Ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie es ungewöhnlich finden“, sagte Peters und drehte die Augen gen Decke. „Ich habe Sie gefragt, ob Ihnen die Tatsache gefällt, dass ich nackt bin.“ Erneut streichelte ihr Blick seine Haut.
Schwer atmend lag Frau Hoffmann auf der kühlen Platte ihres Esstisches. Ihre Beine ragten steil nach oben, ihre Waden schaukelten, die orangen Socken baumelten an ihren Füßen. Die Lust, die sie empfand, entwich ihren leicht geöffneten Lippen als zaghaftes Hauchen. Ihre Muskeln zuckten, ihre Brüste pressten sich gegen seinen Oberkörper. Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr so gut gefühlt. Herr Peters begehrte sie. Er verwöhnte sie auf eine Art, an die sie sich nur noch dunkel erinnerte. Der Gedanke, wie er sich in ihr bewegte, schien einen Hebel in Frau Hoffmanns Gehirn umzulegen. Aus dem leisen, zaghaften Hauchen wurde hurenhaftes Stöhnen. Ihre Hände glitten über seinen Rücken, hielten sich an ihm fest, zogen ihn noch näher an ihren schwitzenden Körper. Seine Bewegungen wurden fester, vielleicht sogar ein wenig grob, doch es war ihr nicht unangenehm. Es war, als würde jeder Stoß noch tiefer in sie dringen, so als würde er Stellen in ihrem inneren erreichen, die vor ihm nur einer erreicht hatte.
Und dann kam der Moment, den Frau Hoffmann insgeheim seit Jahren ersehnte. In ihrem Kopf gab es keinen Raum mehr für Gedanken. Es gab keinen Raum mehr für Vernunft oder Kontrolle. Plötzlich war sie frei, frei von allen Zweifeln, doch vor allem frei von Angst. In diesem wunderbaren freien Augenblick erstarrte sie unter der Last seines Körpers. Ihre Füße verkrampften sich, ihr Mund war zu einem stummen Schrei geformt. Es fühlte sich so an, als würden unzählige kleiner Explosionen durch ihre Zellen wandern und auf benachbarte Zellen überspringen. Wärme schoss durch ihren Körper. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die saugenden Bewegungen ihres Unterleibs. Der stumme Schrei wich einem ermatteten Lächeln.
Schwitzend und mit schmerzendem Nacken wachte Frau Hoffmann auf. Das Fernglas lag auf ihrem Schoß. Sie saß noch immer eingewickelt in ihre Decke auf dem Stuhl am Fenster. Die Lichter der gegenüberliegenden Wohnungen waren längst erloschen. Herr Peters lag friedlich schlafend in seinem Bett. Sie wischte sich über ihr Kinn, als ihr Blick auf ihren rechten Ärmel und die zwei großen nassen Flecke fiel. In ihrem ganzen Leben hatte Frau Hoffmann noch nie im Schlaf gesabbert. Irritiert und leicht angewidert schrubbte sie mit dem anderen Ärmel über die nassen Flecke.
Frau Hoffmann stand im Bad. Auf ihrer Stirn schimmerte der Schweiß. Das Thermometer piepte drei Mal. 37,3°. Frau Hoffmann schaute ungläubig auf das Display, dann klemmte sie es erneut unter die Zunge. Als die zweite und die dritte Messung dasselbe Ergebnis anzeigten, sagte sie sich, dass das Thermometer defekt sein müsse, hielt die silbern schimmernde Spitze unter den Wasserstrahl und ging zu Bett.
Frau Hoffmann schaltete das Licht aus und drehte sich zur Seite. In den letzten Sekunden, bevor sie einschlief, dachte sie noch einmal an den Traum, den sie eben gehabt hatte, sie betrachtete die Bilder, die wie ein Film vor ihrem inneren Auge abliefen. Dann driftete ihr Bewusstsein immer weiter weg, bis es schließlich völlig verschwand.
- Kapitel 13
Am kommenden Morgen wachte Frau Hoffmann ungewohnt beschwingt auf. Vereinzelte Sonnenstrahlen tauchten ihr karg eingerichtetes Schlafzimmer in sanftes Licht. Erst als sie sich auf die linke Seite drehen wollte, um noch einige Minuten zu dösen und dem Nichtstun zu frönen, was sie für gewöhnlich nie tat, bemerkte sie, dass sich ihre rechte Hand tief in ihrem Schritt vergraben hatte. Diese Tatsache verstörte Frau Hoffmann in einem Maße, das man sich als normaler Mensch wohl kaum erklären kann. Sie hob ihre Bettdecke an und schaute skeptisch an sich hinunter, so als könnte das, was sie da spürte unmöglich ihre eigene Hand sein. Vorsichtig bewegte sie ihre Fingerkuppen. Sie spürte schwitzige Haut und feuchte kleine Locken. Irritiert zog sie ihre Hand hervor und schaute sie vorwurfsvoll an.
Erst einige Stunden später kamen Bruchstücke des Traums der vergangenen Nacht zu Frau Hoffmann zurück, was im Nachhinein die höchst unwahrscheinliche Lage ihrer Hand erklärte. Teilweise war sie schockiert darüber, derartige Fantasien zu haben, andererseits, so musste sie sich selbst eingestehen, hatte ihr die Vorstellung mit Herrn Peters zu schlafen, tatsächlich gefallen. Sie hatte sich schön und unbefangen gefühlt. In seinen Armen war sie wieder zu jener Frau geworden, an die sie sich nur noch vage zu erinnern vermochte. Er hatte ihre Wünsche erfüllt, noch bevor sie sich darüber im Klaren gewesen war, dass sie sie eigentlich hatte. Er hatte sie auf eine Art verstanden, wie sie schon seit langem keiner mehr verstanden hatte.
Sie schloss die Augen und dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, mit ihm zu schlafen. In ihren Gedanken ging es nicht um Herrn Peters, sondern um das, was sie dabei empfunden hatte, als sie ihn in sich spürte. Vielleicht ging es im Grunde eigentlich darum, überhaupt wieder etwas zu spüren.
In den vergangenen Jahren hätte der bloße Gedanke an Sex Frau Hoffmann den eiskalten Schauer des Ekels über den Rücken getrieben. Vielleicht auch deswegen, weil Frau Hoffmann über eine nur sehr eingeschränkte Erfahrung in dieser Hinsicht verfügte. Und bestimmt hatte es auch mit den Männern zu tun, von denen sie umgeben gewesen war. Doch der Hauptgrund war der unumstößliche Fakt gewesen, dass keiner von ihnen seinen Platz hätte einnehmen können.
Nie im Leben hätte sie einen anderen Mann wirklich an sich heran lassen können. Ferner bleibt die Frage bestehen, welcher Mann es sich wünschen würde, näher an Frau Hoffmann heran zu kommen. Das lag weniger an ihrem wenig ansprechenden Aussehen, als an ihren zahlreichen Neurosen. Sicherlich hätte sich ihre eher biedere und unscheinbare Erscheinung auch nicht positiv auf das starke Geschlecht ausgewirkt, doch das wäre immer noch das kleinere Übel gewesen. Nichts, was man mit einem ordentlichen Haarschnitt, neuer Garderobe und ein wenig Schminke nicht in den Griff bekommen hätte. Im Gegensatz dazu wären ihre Kontrollsucht und ihr negative Aura weit weniger leicht zu kaschieren gewesen.
Viele Stunden später kreisten ihre Gedanken noch immer um den geträumten Liebesakt mit ihrem nackten Nachbarn. Die Tatsache, dass es sich dabei keineswegs um einen Liebesakt gehandelt hatte, störte sie nicht weiter. Sie ging ins Bad, vollführte ihr Zahnpflegeprogramm, schlüpfte in einen frischen Flanellpyjama und ging zu Bett.
In dem Moment, als sie unter die Decke schlüpfte, ahnte sie noch nicht, wozu ihre Gedanken sie wenige Minuten später hinreißen würden. Denn an diesem ansonsten so gewöhnlichen Abend sollte endlich der Zeitpunkt gekommen sein, etwas schier Unbegreifliches zu tun.
Doch in dem Moment, als sie zu Bett ging, wusste sie das noch nicht, und noch weniger ahnte sie, wie schön es sein würde. Sie ahnte nicht, wie befreit sie sich fühlen würde. Und am wenigsten ahnte sie, wie wahnsinnig triebgesteuert sie sein konnte.
- Kapitel 14
Frau Hoffmann starrte in ihren Schrank. Alles war grau. Von ihrer nahtlose Unterwäsche, die selbst einen Mann ohne jegliche Ansprüche augenblicklich in die Flucht geschlagen hätte, über die Kostüme, bei denen jede Faser noch zu unterstreichen schien, dass sie das langweiligste aller Leben führte, bis hin zu den Socken, den wenigen Pullovern und den Faltenhosen. Alles schien ein exaktes Spiegelbild der Trostlosigkeit zu sein, die sich ihr Leben nannte. Für einen winzigen Augenblick dachte Frau Hoffmann an die oberflächliche Aussage, dass Kleider Leute machten, doch dann tröstete sie sich damit, dass sie eben nicht zu den Menschen zählte, die jedem noch so albernen Trend nacheiferten und griff nach einem ihrer tristen Kostüme.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Das Grau ihres Kostüms machte sie noch blasser und unscheinbarer, als sie es ohnehin schon war. Ihr langweiliges mittelbraunes Haar hing wie ein dünner, fransiger Vorhang um ihr ausdrucksloses Gesicht. Ihre Augen schienen leer und farblos.
Normalerweise hätte Frau Hoffmann nun das Bad verlassen. Normalerweise hätte sie sich darüber gefreut sich nicht länger im Spiegel ansehen zu müssen. Doch an diesem Tag entschied sie sich anders. Sie kramte im obersten Fach des Regals, das zu ihrer Rechten stand, in einer an grotesker Kitschigkeit und Geschmacklosigkeit kaum zu überbietenden Schatulle. Wenige Sekunden späte – Frau Hoffmann wusste schließlich, wo sie ihre Habseligkeiten hatte – spannte sie triumphierend ein graues Haargummi zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand. Sie nahm ihre wenigen dünnen, fransigen Haare zu einem Büschel zusammen und wickelte den Gummi vier Mal herum, dann musterte sie ihr Spiegelbild. Und als wäre das nicht schon genug Veränderung für einen Tag gewesen, griff sie nach einem schweinchenrosanen Beutel, holte mit spitzen Fingern eine goldene Quaste hervor, öffnete sie und strich vorsichtig roséfarbenes Rouge mit einem staubigen Pinsel auf ihre markanten Wangenknochen.
Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Selbstverständlich war die Veränderung nur minimal, doch immerhin war es eine Veränderung. Ihre Wangen schimmerten in einem zarten, gesunden Ton, ihr vorhangähnliches Haar war straff zu einem kleinen Dutt drapiert. Frau Hoffmann schaute auf die Uhr. Für einen kurzen Augenblick zuckte sie der späten Uhrzeit wegen zusammen, dann fasste sie sich und verließ das Badezimmer, jedoch nicht ohne ein letztes Mal einen schüchternen Blick in den Spiegel zu werfen. Sie war zufrieden.
In der U-Bahn meinte Frau Hoffmann zu sehen, dass ein Mann sie anlächelte, was nicht den Tatsachen entsprach, denn er lächelte einer Frau zu, die hinter Frau Hoffmann saß. Das änderte jedoch nichts daran, dass Frau Hoffmann sich an diesem Tag schöner fühlte als sonst, denn sie wusste schließlich nicht, dass sein Lächeln nicht ihr gegolten hatte. Beschwingt verließ sie zwei Stationen später die U-Bahn. Sie war gut gelaunt. Die Sonne strahlte wärmend auf ihren Rücken. Die großen Bäume sahen nicht länger aus wie leblose Holzskelette. Die ersten Blätter zeigten stolz ihre hellgrün leuchtenden Kleider. Der Frühling lächelte Frau Hoffmann entgegen und sie lächelte zurück.
Sie öffnete die Tür zu ihrem Büro, ging zum Fenster und kippte es einen Spalt, dann legte sie den Mantel und den Schal ab und machte sich an die Arbeit. Etwa drei Stunden später klopfte es. Vertieft in diverse komplizierte Buchungssätze reagierte sie erst nicht darauf. Als es dann jedoch ein zweites Mal klopfte, schaute sie auf, räusperte sich und sagte, Ja, bitte. Die Tür wurde einen Spalt weit aufgeschoben, dann steckte zu Frau Hoffmanns größter Verwunderung Herr Hofer seinen Kopf ins Zimmer. Er lächelte. Frau Hoffmann stand auf.
„Oh, nicht doch, bleiben Sie doch bitte sitzen“, sagte Herr Hofer freundlich. Er öffnete die Tür und trat ein. „Ich wollte nur sehen, ob es Ihnen besser geht.“ Frau Hoffmann sagte nichts, sie setze sich auch nicht wieder hin. Sie stand nur da und starrte Herrn Hofer entgeistert an. Als Frau Hoffmann nach einigen Sekunden noch immer nichts gesagt hatte, befeuchtete Herr Hofer verunsichert seine Lippen und ging rückwärts in Richtung Tür. „Wie es scheint, geht es Ihnen wieder besser“, stammelte er kaum hörbar vor sich hin. „Ich wollte Sie nicht bei der Arbeit stören.“ Er drehte sich um und öffnete die Tür. Noch immer stand Frau Hoffmann wie festgetackert hinter ihrem Schreibtisch, ihre Hände lagen auf der Tischplatte.
„Es geht mir viel besser“, platze es unvermittelt aus ihr heraus. Ihre Stimme war schrill, was sie für gewöhnlich nie war. Herr Hofer zuckte zusammen, blieb stehen und drehte sich wieder zu ihr. In seinem Gesicht blitze für den Bruchteil einer Sekunde Erleichterung auf. „Und Ihnen?“, fragte Frau Hoffmann. Ihre Stimme klang unnatürlich laut. Es kam eher einem Schreien gleich als einer normalen Frage.
„Mir?“, fragte Herr Hofer verständnislos.
„Ich meine, wie geht es Ihnen?“ Sie redete noch immer viel zu laut. Sie klang wie jemand, der versuchte sich mit einem schwerhörigen zu unterhalten.
„Mir geht es sehr gut, danke“, sagte Herr Hofer und lächelte verhalten, dann drehte sich erneut zur Tür. Und dieses Mal ging er wirklich.
Frau Hoffmann blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihrem inneren Auge ließ sie die Situation noch einmal Revue passieren. Wieso in aller Welt hatte sie ihn bloß so angeschrien? Irritiert und verwirrt setzte sich Frau Hoffmann an ihren Schreibtisch. Sie war sich sicher, dass Herr Hofer nie wieder nach ihr sehen würde. Und dieser Gedanke stimmte sie missmutig, wenn nicht vielleicht sogar ein klein wenig traurig.
- Kapitel 15
Frau Hoffmann ging in Gedanken versunken durch den Flur. Die Energiesparlampe war endlich ausgewechselt worden. Die ocker-senf-farbene Wand bemerkte sie nicht. Sie streckte den Schlüssel ins Schloss, zog die Tür fest an sich heran und schob sie auf.
Da Frau Hoffmann ein misstrauischer und argwöhnischer Mensch war, fragte sie sich, warum Herr Hofer sie wirklich aufgesucht hatte. Es konnte doch unmöglich daran liegen, dass er lediglich nach ihr hatte sehen wollen. Niemand sah nach Frau Hoffmann. Und jetzt, wo es endlich einmal jemand getan hatte, hinterfragte sie dessen Absichten. Sie war sich sicher, dass er sie in Wahrheit nur hatte kontrollieren wollen. Das musste es sein. Er hatte bestimmt herausfinden wollen, ob Frau Hoffmann tatsächlich krank gewesen war, oder ob sie ihr schlechtes Befinden schlichtweg simuliert hatte. Und als er in ihr gesund gefärbtes Gesicht geblickt hatte, war es für ihn natürlich völlig klar gewesen. In diesem Augenblick ärgerte Frau Hoffmann sich über sich selbst, und sie verfluchte das rosafarbene Rouge.
Frau Hoffmann dachte den gesamten restlichen Abend an Herrn Hofer. Sie dachte an ihn, als sie mit einer Gabel mehrfach in die Folie ihres Mikrowellengerichts einstach – an diesem Abend gab es Hühnchen mit Bohnen – sie dachte an ihn, als sie den Fernseher einschaltete, sie dachte an ihn, als sie das benutzte Geschirr in die Geschirrspülmaschine einräumte, und sie dachte an ihn als sie im Bad stand und ihre Zähne putzte. Und die ganze Zeit fragte sie sich, ob er tatsächlich nur nach ihr hatte sehen wollen. Und jedes Mal, wenn sie sich gerade davon überzeugt hatte, dass er bestimmt nicht grundlos vorbei gekommen war, hoffte sie, dass sie sich täuschte. Und jedes Mal, wenn sie hoffte, sich zu täuschen, fragte sie sich, warum sie dieser kurze Besuch überhaupt derart beschäftigte.
Frau Hoffmann wickelte sich in ihre Bettdecke. Sie schaute auf die Uhr. Und in diesem Augenblick fragte sie sich, warum sie noch am Leben war. Sie hatte angefangen zu rauchen, und masturbiert hatte sie auch. Nun gab es keinen Grund mehr zu warten. Sie war nicht der Typ Mensch, der wichtige Dinge vor sich herzuschieben pflegte. Und die Entscheidung war längst gefallen. Nun war der Zeitpunkt gekommen, den Plan in die Tat umzusetzen. Darin war Frau Hoffmann konsequent. Pläne in die Tat umzusetzen fiel ihr nicht schwer.
Und in dem Moment, als sie das Licht löschte, beschloss sie, sich am kommenden Abend vom Balkon zu stürzen. Für einen kurzen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, wieder aufzustehen und es gleich hinter sich zu bringen, doch dann hörte sie den Regen unaufhörlich gegen die Fensterscheiben prasseln, was so gar nicht in ihre Vorstellung eines perfekten Selbstmords passte. In ihrer Vorstellung war der Betonboden nämlich warm und trocken. Selbstverständlich spielte das eigentlich keinerlei Rolle, für Frau Hoffmann jedoch tat es das doch. Es war schließlich ihr Selbstmord. Außerdem hatte sie bereits Zähne geputzt. Es mochte ihr nicht schwerfallen, Pläne in die Tat umzusetzen, Spontaneität jedoch gehörte bei Leibe nicht zu ihren Stärken. Und deswegen würde sie es am kommenden Abend tun.
Die wenigen Minuten bevor sie einschlief, nutzte sie, um darüber nachzudenken, was sie zu diesem Anlass tragen sollte und entschied sich für das einzige schwarze Kostüm, das sie besaß. Sie hatte es nur ein einziges Mal getragen, an einem eisigen Dezembertag vor sieben Jahren. Seitdem war es im Keller gehangen und hatte darauf gewartet, gebraucht zu werden. Frau Hoffmann konnte sich nichts Passenderes vorstellen, als in diesem schwarzen Kostüm in den Tod zu springen. Als sie es damals getragen hatte, hatte es sich auch so angefühlt, als würde sie sterben, nur dass dieses Mal nicht ihr Herz, sondern ihr Körper brechen würde. Die Zeit war gekommen.
- Kapitel 16
Am folgenden Morgen fühlte Frau Hoffmann sich unendlich schlapp. Sie hatte schon wieder diesen abscheulichen Traum gehabt. Den Traum mit dem verdorbenen Fleisch auf teurem Porzellan. Und wieder hatte sie versucht nicht zu atmen, um den abartigen Gestank nicht einatmen zu müssen. Und wieder war sie zitternd aufgewacht.
Die Tatsache, dass Menschen überhaupt träumten, verärgerte Frau Hoffmann. Sie fragte sich, was es überhaupt für einen Sinn hatte zu träumen. Wenn das Unterbewusstsein etwas zu sagen hatte, warum wählte es dann eine Sprache, die Frau Hoffmann nicht verstand? Warum sagte es nicht einfach, was es zu sagen hatte?
Und warum drängte es sich so auf. Vielleicht wollte Frau Hoffmann nichts von dem wissen, was es ihr zu sagen hatte. Doch das schien ihr Unterbewusstsein nicht weiter zu interessieren. Und auch das ärgerte Frau Hoffmann, denn ihrer Meinung nach hatte es ihrem Unterbewusstsein nicht egal zu sein, was sie dachte. Es gehörte schließlich ihr.
Als sie 41 Minuten später in ihr Büro eintrat, fand sie eine Nachricht auf ihrem Schreibtisch, in der sie gebeten wurde sich um halb zehn im Konferenzraum einzufinden. Im ersten Moment erschrak sie, weil sie schlechte Nachrichten vermutete, doch dann atmete sie erleichtert durch, da sie am kommenden Tag ohnehin nicht mehr am Leben sein würde, und schlechte Nachrichten dementsprechend keine wirklich weitreichenden Folgen für sie hätten. Abgesehen davon war das Memo nicht direkt an Frau Hoffmann adressiert, sondern an alle Mitarbeiter der Finanzabteilung und der Buchhaltung.
Um kurz vor halb zehn stieg sie in den Aufzug und drückte die sieben. Ihr war mulmig zumute, doch sie ließ sich ihre Nervosität nicht anmerken. Sie konzentrierte sich auf die Tatsache, dass ihr nichts und niemand etwas tun konnte. Zumindest nichts, das wirklich hätte Schaden anrichten können. In wenigen Stunden würde ein argloser Passant ihren gebrochenen, leblosen und blutverschmierten Körper auffinden. In wenigen Stunden würde alles vorbei sein. Mit diesem tröstenden Gedanken im Kopf verließ Frau Hoffmann den Aufzug und betrat wenige Sekunden später das Konferenzzimmer.
Der Raum war brechend voll. Alle Mitarbeiter drängten sich um den blankpolierten, ovalen Tisch aus Kirschbaumholz. Da Frau Hoffmann schon einige Minuten früher angekommen war, hatte sie einen der spärlichen Sitzplätze ergattert. Sie fragte sich, ob sie Herrn Hofer bei dieser Sitzung über den Weg laufen würde, erinnerte sich dann aber daran, dass Herr Hofer weder zur Finanzabteilung noch zur Buchhaltung gehörte.
Herr Walter betrat den Raum. Er schlug mit seiner immensen Handfläche auf die Tischplatte, was manche der Angestellten mehrere Nerven kostete. Das Gemurmel und Getuschel verstummte augenblicklich. Frau Hoffmann erschrak nicht. Sie war ruhig und gefasst.
Ein solches Verhalten passte zu Herrn Walter. Es erschien ihr natürlich, dass ein solcher Mann einen Tisch brauchte um sich Gehör zu verschaffen. Herr Walter war nicht der Typ Mensch, dem eine Menschenmenge freiwillig folgen würde. Er war eher der Typ Mann, der andere schikanieren musste.
„Die meisten von Ihnen dürften noch nicht mitbekommen haben, dass ich als Ihr direkter Vorgesetzter mit sofortiger Wirkung abgelöst werde“, sagte Herr Walter brummig. Frau Hoffmann studierte die verschiedenen Gesichter. Viele schauten erstaunt drein, keiner jedoch schien enttäuscht oder gar traurig über diese Nachrichten. „Und nicht nur, dass man mich gebeten hat zu gehen, man lässt mich auch noch meine Nachfolgerin vorstellen.“ Sogar Frau Hoffmann fand, dass das zu weit ging. Das hatte selbst Herr Walter nicht verdient. Niemand hatte es verdient derart vorgeführt zu werden. Die Tür zum Konferenzzimmer öffnete sich fast lautlos. Alle Köpfe wandten sich der Tür zu. Jeder versuchte die Frau zu sehen, die es geschafft hatte Herrn Walter zu verdrängen. „Darf ich Ihnen Ihre zukünftige Vorgesetzte Frau Caitlin Connelli vorstellen...“ Er streckte seinen Arm aus und zeigte auf die junge Frau, die eben den Raum betreten hatte. Caitlin Connelli ging elfengleich zum Kopfende des Tisches. Sie lächelte. Der Raum schien von ihrem Lächeln geflutet zu werden. Er schien plötzlich heller und wärmer.
Niemand sagte ein Wort. Alle Augen waren auf Frau Connelli gerichtet. Die Augen der männlichen Angestellten leuchteten. Sie wanderten über ihre Haut, ihre Kurven, und ihre sinnlichen Lippen. Der Ausdruck in ihren Augen war gierig. So, als wäre Frau Connelli ein köstliches, kleines Törtchen. Die Blicke der Frauen hingegen waren bösartig. Arrogant musterten sie ihre Konkurrentin. Dass diese Konkurrentin zur selben Zeit auch ihre Chefin war, machte die Situation nicht besser. Keine der anwesenden Frauen schien über diese Tatsache erfreut zu sein. Im Gegenteil. Die geballte Verachtung der weiblichen Belegschaft überschwemmte das Zimmer, das eben noch so warm und hell gewesen war. In diesem Augenblick schienen sie sich alle dasselbe zu wünschen, nämlich, dass Herr Walter seinen Posten behalten solle. Alles schien besser, als für diese Halbgöttin arbeiten zu müssen.
„Wie Herr Walter schon erwähnt hat, heiße ich Caitlin Connelli“, sagte die elfenhafte, junge Frau. Frau Hoffmann fand im Grunde schon den Namen affig. Doch sie sagte nichts. Stattdessen betrachtete sie die neue Chefin, die niemals ihre Chefin werden würde. „Ich bin in München geboren und aufgewachsen“, sagte sie sanft. Ihre Stimme war ebenso perfekt wie ihr Körper und ihr Gesicht. „Meine Eltern kommen aus Irland, daher der englische Name“, fuhr sie fort. Frau Hoffmann hörte ihr nicht zu. Es interessierte sie nicht, was diese Frau zu sagen hatte. Zum ersten Mal schien es so, dass Frau Hoffmann und ihre Kolleginnen sich einig waren. Für so eine Frau zu arbeiten schien absolut unmöglich. Nicht in hundert Jahren würde Frau Hoffmann die direkten Anweisungen einer Mitte zwanzigjährigen entgegennehmen. Geschweige denn befolgen. Frau Hoffmann musterte Caitlin kindlich neugierig. Caitlin hatte große blaue Augen. Kindchenschema. Ihre Wimpern waren lang und dicht. Sie hatte relativ helle Haut, ihre Wangen waren zart gefärbt. Bestimmt Rouge, dachte Frau Hoffmann. Ihre Lippen waren perfekt. Selbst Frau Hoffmann musste sich das eingestehen. Dieser Mund schien wie eine Welt voller Geheimnisse. Eine Lustgrotte für die Sinne. Ihr rotes Haar fiel in weichen Locken über ihre zierlichen Schultern. Sie glänzten fast schon aufdringlich, wenn es nach Frau Hoffmann ging. Caitlin Connelli hatte den Körper, für den sie meisten Frauen augenblicklich töten würden. Sie hatte die Proportionen, sie hatte die richtige Größe, sie hatte die richtigen Beine. Alles an ihr war schön. Alles an ihr war besser, als an jeder der anderen anwesenden Frauen. Und dieses Wissen legte sich wie flüssiges Blei auf die gesamte weibliche Belegschaft.
- Kapitel 17
„Ich hoffe jedenfalls, dass wir gemeinsam zu guten Ergebnissen kommen werden“, sagte Frau Connelli. Sie strahlte in den überfüllten Raum. „Mir ist klar, dass es nicht einfach sein dürfte mich als neue Vorgesetzte zu akzeptieren, zumal einige von Ihnen schon viele Jahre hier arbeiten und vielleicht denken, dass sie diesen Posten mehr verdient hätten als ich.“ Frau Hoffmann schaute sich unter den Mitarbeitern um. Viele schienen genau das zu denken. „Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht einfach so hier gelandet bin“, fuhr sie fort. „Ich bin qualifiziert für diesen Job.“ In Frau Connellis Stimme lag eine Bestimmtheit, die Frau Hoffmann beeindruckte. „Ich habe hart gearbeitet und ich bin gut in dem, was ich tue.“ Aus den hinteren Reihen war unverkennbar unterdrücktes Kichern zu hören. „Und damit meine ich nicht meine Fähigkeiten im Bett“, sagte Caitlin Connelli lächelnd. Bei diesem Satz leuchteten die Augen der Männer, die Gesichter der Frauen schienen von so viel Direktheit merklich überrascht. „Sie finden vielleicht, dass ich zu jung bin, und vielleicht finden Sie auch, dass ich zu gut aussehe, um auch noch intelligent zu sein“, sie stütze sich auf der blankpolierten Tischplatte ab. „Mag sein, dass ich jung bin, das ändert nichts daran, dass man mich für diese Stelle ausgewählt hat...“ Die Stille war bedrohlich, sie war greifbar und aufreibend. „Man hat mich für diese Stelle besetzt. Mich. Und keinen von Ihnen...“ In manch einem Gesicht spiegelte sich Entsetzen. „Entweder Sie können sich mit den neuen Umständen abfinden, oder Sie können es nicht.“
„Und was genau soll das heißen?“, fragte eine eher unscheinbare Frau aus der dritten Reihe.
„Das könnte zum einen bedeuten, dass Sie gehen müssen“, antwortete Frau Connelli gelassen, „oder aber, dass ich gehen muss...“ Die unscheinbare Frau nickte verunsichert. Sie schien zu hoffen, dass die zweite Möglichkeit eintreten möge. „Das würde aber nicht viel ändern“, fuhr Connelli fort. „Denn wenn Sie gehen, kommt ein Ersatz, und wenn ich gehe kommt ein Ersatz.“ Sie lächelte selbstsicher. „Und das bedeutet nicht, dass einer von Ihnen dann meinen Platz übertragen bekäme.“ Frau Connelli schaute sich um. In ihrem Gesicht war etwas, das Frau Hoffmann imponierte, und es waren nicht ihre ebenmäßigen Gesichtszüge. „Machen Sie sich nichts vor“, sagte Connelli trocken, „Man würde höchstwahrscheinlich wieder auf eine externe Führungskraft zurückgreifen.“
Frau Hoffmann saß wieder an ihrem Schreibtisch. Frau Connelli war eine beeindruckende Frau. Sie war so, wie Frau Hoffmann gerne wäre. Und dabei ging es nicht um den Chefposten, den sie sich unter den Nagel gerissen hatte. Es ging mehr um ihre Schönheit und ihre Selbstsicherheit. Wenn Caitlin Connelli einen Raum betrat wurde sie nicht übersehen. Sobald sie in einen Raum betrat, gab es nichts anderes mehr. Sie war der Raum. Sie überschattete alles und jeden. Diese Präsenz faszinierte Frau Hoffmann. Diese Ausstrahlung. Dann dachte Frau Hoffmann an die Feindseligkeiten, die Caitlin Connelli tagein tagaus zu erdulden hatte. Sie dachte an die Neider und Nacheiferer. Sie dachte an all die Menschen, denen sie im Laufe ihres Lebens hatte beweisen müssen, dass sie mehr war als nur schön. Sie dachte daran, dass vermutlich all die eifersüchtigen Frauen gegen sie intrigiert und die meisten Männer sie nur als Körper wahrgenommen hatten. Als Lustobjekt.
Doch dann wurde Frau Hoffmann klar, dass es Schlimmeres gab. Zum Beispiel überhaupt nicht beachtet und bemerkt zu werden. Und die Feindseligkeiten hatte Frau Hoffmann auch immerzu erdulden müssen, nur ohne die positive Kehrseite, dass alle Männer versucht hatten sie zu bezirzen. Sicherlich war es für Caitlin Connelli auch nicht immer einfach gewesen, doch für wen war es das schon? Außerdem, so dachte Frau Hoffmann, wäre es eine schöne Abwechslung in ihrem Leben gewesen deswegen belächelt zu werden, weil man sie insgeheim beneidete und nicht weil man sie bemitleidete.
Als Frau Hoffmann einige Stunden später müde in Richtung U-Bahn trottete und über ihren bevorstehenden Selbstmord nachdachte, überhörte sie eine kurze Unterhaltung zwischen Frau Seizinger und Frau Bogner. Natürlich wusste Frau Hoffmann deren Namen nicht. Doch sie wusste, dass Frau Seizinger Herrn Walters Sekretärin gewesen war, also nun für Frau Connelli arbeitete. Und auch Frau Bogner kannte sie vom Sehen, auch wenn ihr nicht sofort einfiel, woher. Die beiden Frauen sprachen über Caitlin Connelli. Es waren keine Nettigkeiten, die sie austauschten. Im Gegenteil. „Sie hätten sehen müssen, wie mein Chef sie angesehen hat“, sagte Frau Bogner kopfschüttelnd. „Es war schon fast zu peinlich, um es zu beobachten.“
„Was finden all die Männer nur an diesem pubertären Rotschopf?“, fragte Frau Seizinger mit hoch gezogenen Brauen.
„Also Herr Hofer war ganz aus dem Häuschen“, entgegnete Frau Bogner verständnislos. Und in diesem Moment fiel Frau Hoffmann wieder ein, woher sie sie kannte. Sie hatte sie gesehen, als sie Herrn Hofer aufgesucht hatte. Sie hatte an ihrem Schreibtisch gesessen und telefoniert. „Ich kann mir gut vorstellen, wie die Connelli an den Job gekommen ist“, sagte Frau Bogner gehässig. „Eine, die so aussieht.“
Frau Seizinger nickte zustimmend. „Und in dem Alter.“
„Sie sagen es, meine Liebe...“, antwortete Frau Bogner in einem tragenden Flüstern. „Ich hab mir ja gleich so was gedacht...“
„Anders lässt sich das ja auch nicht erklären.“ Frau Seizinger legte sanft ihre Hand auf Frau Bogners Schulter und lehnte sich noch weiter zu ihr hinüber. Frau Hoffmann hatte Mühe zu verstehen, was sie sagte. Sie schlich hinter den beiden Frauen her und horchte. Und dann verstand sie, was Frau Seizinger sagte. „Ist nicht Herr Hofer für alle wichtigen Einstellungen zuständig?“ Frau Bogner nickte nachdenklich. „Und ist Herr Hofer nicht alleinstehend?“ Für einen winzigen Augenblick schaute Frau Bogner entsetzt. Doch dann nickte sie.
„Ja...“, sagte sie abwesend. „Seine Frau hat ihn vor vier Jahren wegen eines anderen verlassen.“ Frau Bogner schaute mit schrecken geweiteten Augen zu Frau Seizinger. „Frau Seizinger, Sie meinen doch nicht etwa?“
Frau Seizinger nickte. „Denken Sie einmal darüber nach, Frau Bogner“, antwortete sie flüsternd. „Er ist ein gut aussehender Mann... Und haben Sie nicht gerade noch betont, wie er sie angesehen hat.“ Frau Bogner nickte. „Na, da haben wir’s. Dann ist ja klar, wie das Einstellungsgespräch ausgesehen hat“, sagte Frau Seizinger gespielt pikiert. Frau Hoffmann blieb stehen, während sich die beiden Frauen immer weiter von ihr entfernten. Sie konnte das nicht glauben. Herr Hofer war nicht der Typ für derartiges Verhalten. Doch dann dachte Frau Hoffmann an die Gesichter der vielen Männer im Konferenzzimmer. Und in diesem Moment fiel es ihr schwer sich einzureden, dass Herr Hofer nicht der Typ für derartiges Verhalten war. Denn er war auch nur ein Mann. Kein Mann bei Verstand hätte eine Renate Hoffmann einer Caitlin Connelli vorgezogen. Frau Hoffmann wusste das. Und doch fügte ihr der Gedanke an Herrn Hofer und Frau Connelli körperliche Schmerzen zu.
- Kapitel 18
Frau Hoffmann starrte in die Tiefe. Das kleine Etikett des schwarzen Kostüms juckte entsetzlich zwischen ihren Schulterblättern. Das hatte es damals schon getan. Den ganzen Tag hatte es gejuckt. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, es herauszuschneiden, entschied sich dann jedoch dagegen. Die paar Minuten würde sie den Juckreiz einfach ignorieren. Frau Hoffmann überlegte, ob sie einen Abschiedsbrief hinterlassen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. Erstens gefiel ihr die Vorstellung, dass ohne Abschiedsbrief ein Kapitalverbrechen nicht sofort auszuschließen wäre und zweitens gab es niemanden, von dem sie sich hätte verabschieden wollen.
Für einen kurzen Augenblick dachte Frau Hoffmann an ihre Schwester. Sie hatte sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Das letzte Mal auf der Beerdigung. Frau Hoffmann hatte es damals schlichtweg unverschämt gefunden, dass sie es gewagt hatte dort aufzutauchen. Sie hätte nicht kommen dürfen. Nicht nach allem, was geschehen war.
Frau Hoffmann zündete sich eine Zigarette an. Inzwischen mochte sie den herben Geschmack des Tabaks, jedoch nicht so sehr, dass sie es bereute nicht schon früher mit dem Rauchen angefangen zu haben. Während sie den Rauchschwaden hinterher schaute, die sich langsam in den schwarzen Himmel schlängelnden und sich schließlich in der Dunkelheit verloren, versuchte sie sich an das Gefühl zu erinnern, das sie empfunden hatte, als sie vor ein paar Wochen auf diesem Balkon gestanden hatte. Sie wollte sich auf ihren Sprung vorbereiten. Doch ständig schlichen sich Gedanken über Caitlin Connelli ein, die es Frau Hoffmann unmöglich machten sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren. Frau Hoffmann beschloss daher, ein letztes Mal zu Herrn Peters in die Wohnung zu schauen. Sie dachte, es wäre ein schöner letzter Akt, einen Menschen zu beobachten, der so vollkommen zufrieden zu sein schien. Doch Herr Peters war nicht zu Hause.
Erstaunt schaute Frau Hoffmann auf die Uhr. Es war 21:34. Um diese Zeit war Herr Peters für gewöhnlich immer zu Hause. Es ärgerte sie, dass er nicht da war. Dieser Ärger wurde von der plötzlichen Angst verdrängt, Herrn Peters könnte etwas zugestoßen sein. Frau Hoffmann versuchte sich zu beschwichtigen, dass er gewiss nur bei einem wichtigen Geschäftsessen sei und dass es ihm bestimmt gut gehe. Dennoch quälte sie der Gedanke, dass er vielleicht eben doch nicht bei einem wichtigen Geschäftsessen war und es ihm vielleicht nicht gut ging. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Für einen Außenstehenden mag das seltsam klingen, doch Herr Peters war Frau Hoffmanns einziger Freund, der einzige Mensch, an dem ihr wirklich etwas lag, auch wenn er nicht einmal wusste, dass sie existierte.
Um sich abzulenken wanderte Frau Hoffmann mit ihrem Fernglas zur Wohnung der fassungslosen jungen Frau, die sie neulich Abend beobachtet hatte, einen Tag bevor sie zum ersten Mal den Traum mit dem verdorbenen Fleisch gehabt hatte. In ihrem Wohnzimmer brannte Licht, doch es schien leer. Erst auf den zweiten Blick entdeckte sie sie. Auch sie stand auf ihrem Balkon. Und ohne sich erklären zu können warum, wusste Frau Hoffmann augenblicklich, warum sie dort stand. Vielleicht wusste Frau Hoffmann es deswegen, weil sie aus demselben Grund auf ihrem stand.
Die junge Frau schien das nicht geplant zu haben. Sie trug weder ein schwarzes Kostüm, noch rauchte sie eine letzte Zigarette. Sie schien aus einem Impuls heraus zu handeln, was Frau Hoffmann für sehr gefährlich und unbedacht hielt. Die junge Frau stützte sich auf dem Geländer ab und stemmte sich hoch. Für einen kurzen Moment dachte Frau Hoffmann daran, ihre Zigarette über die Brüstung zu werfen und sich im selben Moment wie die junge Frau in die Tiefe zu stürzen. Die Tatsache, dass zwei Frauen am selben Abend aus zwei gegenüber liegenden Plattenbauten sprangen, würde die Beamten der Kriminalpolizei ganz ohne jeden Zweifel irritieren. Frau Hoffmann dachte an Herrn Peters und daran, dass er vielleicht einen schweren Unfall gehabt hatte. Sie dachte an Herrn Hofer und an Caitlin Connelli. Und für einen winzigen Augenblick dachte sie, dass sie den Chefposten viel mehr verdient hatte.
Frau Hoffmann holte aus, warf ihre Zigarette über die Balustrade und schaute der Glut nach, bis sie die Dunkelheit schließlich verschluckte, dann stütze sich auf dem Geländer ab und warf ihr rechtes Bein über die Brüstung. Sie würde es tun. Es war an der Zeit, den Plan in die Tat umzusetzen. Sie saß auf dem Geländer. Ihr linkes Bein auf der sicheren Seite, unter ihrem rechten weit entfernt kahler Beton. Sie schaute erneut hinüber zu der fassungslosen jungen Frau. Sie verharrte in einer ähnlichen Position. Gleich würde alles vorbei sein. Sie wartete auf das Gefühl, das sie vor einigen Wochen gehabt hatte. Sie wartete auf die Bestärkung. Doch dieser Gedanke war plötzlich nicht mehr so befreiend. Ihr Herz raste, ihre Hände waren feucht. Sie hatte Angst. Und es war nicht eine Art von Angst, die Frau Hoffmann kannte. Dieses Gefühl war allumfassend und neu.
Im Augenwinkel sah Frau Hoffmann, wie das Licht in Herrn Peters Wohnung anging. Es ging ihm gut. Er war nicht tödlich verunglückt. Er lebte. Frau Hoffmanns Augen füllten sich mit Tränen, die heiß und schwer über ihre Wangen liefen. Die Tatsache, dass Herr Peters nach Hause gekommen war, erleichterte sie in einem Maß, das selbst sie sich nicht erklären konnte. Sie war überwältigt von Freude. Ihr Blick fiel auf die junge Frau. Sie hatte sich keinen Millimeter bewegt. Vielleicht hatte sie Zweifel. Vielleicht hielt sie ihre Angst zurück. Vielleicht war es auch der schier unbändige Überlebenswille, der auch in Frau Hoffmann wütete.
Zitternd saß Frau Hoffmann auf dem Geländer. Sie hatte sich entschieden. Und doch konnte sie sich nicht dazu überwinden es zu tun. Es schien so, als würde sich ihr Körper mit aller Macht gegen den grausamen Akt der Gewalt, den Frau Hoffmann im Begriff war zu begehen, zu wehren. Sie versuchte ihr linkes Bein über das Geländer zu heben. Doch etwas in ihr hielt sie davon ab es zu tun. Es fühlte sich schwer und taub an. Und so seltsam es sich vielleicht anhören mag, ihr linkes Bein hielt sie am Leben, und das schien es zu wissen.
- Kapitel 19
Auf einmal ging alles unheimlich schnell. Frau Hoffmann schaute zum Balkon der fassungslosen Frau hinüber. Und dann tat sie etwas, das nicht nur nicht zu ihr passte, sondern das vollkommen im Widerspruch zu dem stand, weswegen sie auf dem Geländer ihres Balkons saß.
Frau Hoffmann holte tief Luft und schrie so laut sie es vermochte, „Nicht springen!“ Ihre Stimme hallte durch den Hof. Die hohen Mauern der umliegenden Plattenbauten verstärkten das Hallen. Die junge Frau zuckte zusammen. Frau Hoffmann war über ihren panischen Aufschrei ebenso erstaunt, wie die junge Frau, die wie erstarrt das Geländer ihres Balkons umklammerte. „Bitte, nicht springen!“, schrie Frau Hoffmann ein zweites Mal.
Die junge Frau schaute sich suchend um, dann sah sie Frau Hoffmann. Der Schock, dass jemand sie davon abzuhalten versuchte in den Tod zu springen, erstickte jedes ihrer Worte. Sie starrte lediglich in Frau Hoffmanns Richtung. Vorsichtig stieg Frau Hoffmann von der Brüstung des Balkons. Ihr rechter Fuß schien erleichtert darüber zu sein, wieder festen Boden unter sich zu spüren.
Frau Hoffmann bemerkte die Lichter nicht, die in den verschiedenen Wohnungen eingeschaltet wurden. Sie bemerkte auch nicht die Menschen, die auf ihre Balkone traten, um zu sehen, wer da eben so laut geschrien hatte. Und sie bemerkte auch nicht Herrn Peters, der sein Küchenfenster öffnete und suchend durch den dunklen Hof schaute. Frau Hoffmanns Augen lagen fest auf der fassungslosen jungen Frau. Und sie wusste, dass allein die Tatsache, dass sie in diesem Moment dort war und sie ansah ihr Trost spendete.
Die junge Frau bewegte sich keinen Millimeter. Es schien so, als würde sie abwägen, ob sie auch dann noch bereit war zu springen, wenn sie wusste, dass jemand ihr dabei zusah. Vielleicht war ihr aber auch in diesem Augenblick klar geworden, dass der Sprung in den Tod nicht die einzige Möglichkeit war, die ihr blieb. Vielleicht wurde ihr gerade klar, dass es in diesem Moment noch die Möglichkeit gab sich für das Leben zu entscheiden. Vielleicht dachte sie auch gar nichts. Vielleicht waren das vielmehr Frau Hoffmanns Gedanken.
Die beiden Frauen sahen sich an und es schien so, als würden sich deren Blicke miteinander unterhalten. Es schien so, als läge eine überdimensionale Sprechblase zwischen ihren Balkonen, die niemand außer ihnen sehen konnte. Herr Peters schaute verängstigt hinunter zu seiner Nachbarin, die er vermutlich niemals zuvor gesehen hatte. Das Gesicht der jungen Frau war erfüllt von derselben Leere, wie damals, als sie den Anruf erhalten hatte. Sie nahm langsam ihr Bein von der Brüstung. Frau Hoffmann bildete sich ein zu sehen, wie ihr Körper zitterte, was unmöglich sein konnte. Die junge Frau stand mit beiden Beinen auf ihrem Balkon. Frau Hoffmann konnte nachvollziehen, wie sie sich fühlte. Schwach, euphorisch und unbändig traurig.
Frau Hoffmann wusste nicht, was als nächstes zu tun war, sie hatte schließlich noch nie jemanden davon abgehalten vom Balkon zu springen. Sie war sich nicht sicher, ob sie nun einfach in ihre Wohnung zurückgehen, oder lieber doch auf ihrem Balkon bleiben sollte.
„Würde es Ihnen etwas ausmachen rüber zu kommen?“ Die Stimme der jungen Frau zitterte, als sie das fragte.
„Nein... überhaupt nicht“, antwortete Frau Hoffmann lächelnd.
Frau Hoffmann stieg in den Aufzug. In der gesamten Zeit, die sie in diesem Haus wohnte, hatte sie noch nie um diese Uhrzeit ihre Wohnung verlassen. Sie fragte sich, ob wirklich sie diejenige gewesen war, die die junge Frau davon abgehalten hatte zu springen, oder ob es vielmehr in Wirklichkeit genau andersrum gewesen war und die junge Frau sie davon abgehalten hatte. Frau Hoffmann betrachtete sich für einen Moment im schmalen Spiegel, der an der Fahrstuhltür angebracht war. Sie trug noch immer ihr schwarzes Kostüm. Dasselbe Kostüm, in dem sie beschlossen hatte zu sterben. Eigentlich müsste Frau Hoffmann jetzt tot sein. Eigentlich dürfte sie in diesem Moment nicht im Aufzug stehen und nach unten fahren. Der Gedanke, dass sie nun eigentlich leblos und blutverschmiert auf dem kargen Betonboden liegen müsste, erschien ihr auf einmal höchst seltsam. Die Türen des Aufzugs öffneten sich und Frau Hoffmann ging in den dunklen Hof. Das kalte Licht der Energiesparlampen ließ die Siedlung noch trister erscheinen.
Sie ging zum gegenüberliegenden Hauseingang. Als sie vor der immensen Tafel mit hunderten von Namen und Klingeln stand, fiel ihr erst auf, dass sie nicht einmal wusste, wie die junge Frau hieß. Im Grunde wusste sie gar nichts von ihr. Bis auf die Tatsache, dass sie sich noch vor wenigen Minuten umbringen wollte, versteht sich.
- Kapitel 20
Ratlos stand Frau Hoffmann im klinischen Licht des Hauseingangs. Sie fragte sich, ob sie nach oben rufen sollte, doch das kam ihr albern vor. Kurzzeitig spielte sie auch mit dem Gedanken einfach wieder in ihre Wohnung zurück zu gehen, doch auch das tat sie nicht. Stattdessen wartete sie vor der Tür.
Wenige Sekunden später hörte sie die Stimme der jungen Frau. „Zehnter Stock links“ Brummend ertönte der Summer und Frau Hoffmann stemmte sich gegen die Tür. Es war ein komisches Gefühl durch diesen Flur zu gehen. Alles sah genauso aus, wie bei Frau Hoffmann im Flur, nur verkehrt herum. Der Aufzug war links und nicht rechts, die Wand mit den Briefkästen war auf der rechten Seite anstelle der linken. Doch abgesehen davon war alles gleich. Die ocker-senf-farbene Wandfarbe, der Steinboden, die Energiesparlampen. Frau Hoffmann fühlte sich unbehaglich. Und das nicht etwa deswegen, weil sie die junge Frau nicht besuchen wollte, sondern weil es ihr so erschien, als wäre sie wieder in einem der Träume, die sie in der letzten Zeit immer häufiger plagten.
Sie fuhr in den zehnten Stock. Die Türen des Aufzugs öffneten sich knatternd. Ihre Schritte hallten durch den langen Gang. Frau Hoffmann schaute sich um. Bis auf die Fußabtreter vor den Wohnungstüren, sah alles genauso aus, wie im elften Stock des gegenüberliegenden Hauses.
Plötzlich war es stockfinster. Frau Hoffmann zuckte kurz zusammen. Sie spürte ihren Puls bis in die Fingerspitzen. Durch einen Spalt fiel Licht in den Flur. Frau Hoffmann ging zu einer angelehnten Tür. Auf dem Klingelschild stand in großen Buchstaben der Name Blinker. Frau Hoffmann räusperte sich und klopfte vorsichtig an.
Wortlos deutete die junge Frau in ihre Wohnung. Frau Hoffmann trat unsicher ein. Bis auf die viel geschmackvollere Einrichtung hätte es auch ihre Wohnung sein können. Auf einem großen Tisch standen zwei Tassen auf schönen Untersetzern. Daneben eine Zuckerdose aus Porzellan und eine alte Teekanne mit filigranen Malereien.
In der ersten Stunde, die Frau Hoffmann mit der jungen Frau verbrachte, wurde nur wenig geredet. Es schein so, als müsste nichts gesagt werden. Die wenigen Sätze, die sie miteinander sprachen waren Belanglosigkeiten, so beispielsweise, ob Frau Hoffmann Milch benötigte, oder ob sie eine Kleinigkeit essen wolle. Anfangs vermieden beide den Balkon und den Selbstmordversuch. Nach und nach jedoch wurde aus dem angenehmen Schweigen eine bedrohliche Stille, so als läge die Wahrheit bleiern zwischen ihnen. Es war nicht Frau Hoffmanns Art sich aufzudrängen. Sie empfand es als indiskret nach dem Grund zu fragen. Vielleicht lag es auch daran, dass Frau Hoffmann gänzlich aus der Übung war, wenn es um persönliche Gespräche ging. Außerdem war sich Frau Hoffmann nicht sicher, ob die junge Frau bemerkt hatte, dass auch Frau Hoffmann sich an diesem lauen Frühlingsabend in den Tod hatte stürzen wollen. Wenn sie es gesehen hatte, wollte Frau Hoffmann nicht darüber reden. Und deswegen fragte sie nicht nach dem Grund. Vielleicht ging es der jungen Frau ähnlich. Vielleicht wollte auch sie die dunklen Geheimnisse ihres Lebens lieber an einem dunklen Ort in ihrem inneren vergraben und so tun, als wäre all das niemals geschehen. So als wäre es nur ein abgründiger Traum gewesen, aus dem zu erwachen sich beide wünschten.
„Sie fragen sich sicher, warum ich das tun wollte...“, fragte die junge Frau nach einer Weile. Frau Hoffmann zuckte mit den Schultern. Natürlich wollte sie es wissen. Im Grunde plagte sie diese Frage schon seitdem sie die Wohnung betreten hatte. Doch sie ließ sich nichts anmerken. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich es Ihnen gerne erzählen.“ Frau Hoffmann blickte auf. Die hellblauen Augen der jungen Frau waren wässrig.
„Es macht mir nichts aus“, sagte Frau Hoffmann sanft. Die junge Frau schloss die Augen und atmete tief ein. Es schien so, als würde es sie enorme Überwindung kosten über das zu sprechen, was ihr das Gefühl gegeben hatte, der einzige Ausweg wäre der Tod. Aus einer Art Reflex heraus, legte Frau Hoffmann ihre Hand auf die der jungen Frau. Diese zuckte zwar kurz zusammen, zog ihre Hand jedoch nicht weg.
„Ich hatte eine Tochter“, sagte die junge Frau mit noch immer geschlossenen Augen. „Sie war neun...“ Instinktiv erhöhte Frau Hoffmann den Druck ihrer Hand. „Sie ist mit dem Fahrrad gefahren...“ Die junge Frau stockte. Frau Hoffmann wusste, dass sie sich zu beherrschen und ihre Tränen zu verbergen versuchte. „Melanie ist immer so gerne Fahrrad gefahren...“ Frau Hoffmann war nicht leicht rührselig. Sie gehörte nicht zu der Sorte Frau die beim Anblick eines Neugeborenen dazu neigte in Verzückung zu geraten oder bei romantischen Filmen in Tränen auszubrechen. Frau Hoffmann war Pragmatikerin. Doch in diesem Moment spürte sie, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie kannte das Ende der Geschichte. Sie wusste, was Melanie zugestoßen war. „Sie ist ohne Licht gefahren...“, sagte die junge Frau schluchzend. „Ich habe ihr immer wieder gesagt, dass sie abends das Licht einschalten soll...“ In ihrer Stimme war ein Anflug von Wut zu hören. „Der LKW-Fahrer hat sie nicht gesehen...“ Heiße Tränen liefen über Frau Hoffmanns Wangen. Sie versuchte nicht sie zu verbergen. Jede ihrer Tränen zeigte ein Fünkchen ihres ehrlich empfundenen Mitgefühls. „Als der Rettungswagen eintraf war es schon zu spät...“ Die junge Frau legte ihren Kopf auf die Tischplatte. Unter ihrem heftigen Schluchzen hörte Frau Hoffmann sie noch sagen, „Melanie war auf der Stelle tot...“
Frau Hoffmann folgte der jungen Frau zur Tür. Die Augen beider Frauen waren rot und geschwollen, ihre Nasen waren verstopft. Noch nie in ihrem Leben hatte Frau Hoffmann jemanden so weinen gesehen. Es hatte ihr fast das Herz zerrissen.
Die junge Frau öffnete Frau Hoffmann die Tür und schaltete das Licht im Flur ein. „Ich danke Ihnen für alles...“, sagte die junge Frau. Der Ausdruck in ihrem Gesicht strömte warm und wohlig durch Frau Hoffmanns Körper. Es fühlte sich so an wie eine heiße Tasse Tee an einem eiskalten Wintertag. „Wie heißen Sie eigentlich?“, fragte die junge Frau lächelnd. Und auch Frau Hoffmann musste schmunzeln. „Ich heiße Renate...“, antwortete Frau Hoffmann. „Ich bin Silvia“, sagte die junge Frau. Sie hielten sich für einen Moment die Hand, dann verschwand Frau Hoffmann im Flur. „Ach, ja, und Renate?“ Frau Hoffmann drehte sich noch einmal um. „Vielleicht wollen Sie mir auch eines Tages erzählen, warum Sie springen wollten...“
- Kapitel 21
Als Frau Hoffmann ihre Wohnungstür aufsperrte, war es schon nach Mitternacht. Ihre Balkontür stand noch immer offen. Sie war froh, dass Silvia sie nicht dazu gedrängt hatte, ihre Geschichte zu offenbaren. Sie nahm es ihr nicht übel, dass sie sie indirekt darauf angesprochen hatte. Frau Hoffmann hätte sich Silvia gerne anvertraut, doch da war etwas tief in ihrem Inneren, das sie davon abgehalten hatte. Ein Teil in ihr, war nicht dazu bereit gewesen sich ihr zu öffnen. Vielleicht auch, weil Frau Hoffmann sich niemandem öffnete.
Frau Hoffmann ging ins Bad und griff nach ihrer antibakteriellen Mundspülung. Sie beschloss, dass sie an diesem Abend mit ihrem allabendlichen Zahnpflegeprogramm ausnahmsweise aussetzen würde. Sie fühlte sich unbeschreiblich kraftlos. Es schien, als säße ihr der nur knapp entgangene Tod noch immer in den Gliedern.
Während sie vierzig Sekunden lang fleißig gurgelte, überkam sie das Gefühl, dass sie nach so langer Zeit eigentlich kein Recht mehr dazu hatte, sich so elend zu fühlen. Silvia hatte ihre Tochter erst vor wenigen Tagen verloren. Sie hatte das Recht dazu. Frau Hoffmann dachte an jenen Tag im November und daran, dass sie nie geweint hatte. Nicht ein einziges Mal. Vielleicht deswegen, weil sie es nicht begreifen wollte, und zu weinen hätte bedeutet, es an sich heran zu lassen, es zu spüren. Doch Frau Hoffmann hatte es nicht spüren wollen. Im Grunde wollte sie es noch immer nicht.
Für einen kurzen Augenblick dachte Frau Hoffmann an Herrn Peters. Sie dachte daran, dass sie sich um einen Menschen Sorgen gemacht hatte, den sie nicht einmal kannte. Früher hatte sie sich häufig Sorgen gemacht. Meistens galten ihre Sorgen einem einzigen Menschen, um den sich zu sorgen nun keinen Sinn mehr machte. Seither hatte sie sich nie gesorgt. Doch an diesem Tag hatte sie Angst um jemanden gehabt. Und auch, wenn es sich fremd und weit entfernt anfühlte, sich um jemanden zu sorgen, ein kleiner, schüchterner Teil in Frau Hoffmann freute sich darüber, das wieder empfinden zu können.
Frau Hoffmann kuschelte sich in ihre Bettdecke. Niemals zuvor war sie ihr so wohlig weich erschienen wie an diesem Abend. Sie rieb genüsslich mit ihren Füßen über den sanften Stoff des Überzugs und lauschte dem leisen Rascheln der Daunenfedern, das ihre Bewegung erzeugte. Nach wenigen Sekunden fiel Frau Hoffmann in einen tiefen Schlaf. Ihr Körper lag leblos auf der Matratze, eingewickelt in ein Meer aus Federn. Die Nacht fiel über sie hinein und ihr Unterbewusstsein schlich sich in ihre Träume. Es zeigte ihr all die Dinge, die sie nicht sehen wollte, die sie nicht bereit war zu spüren. Und wieder sah sie verdorbenes Fleisch auf edlem Porzellan. Und wieder wagte sie nicht zu atmen, um dem Brechreiz zu entgehen. Und wieder verschwendete Frau Hoffmanns Unterbewusstsein seine kostbare Zeit, denn an die wirren Träume konnte sie sich am kommenden Morgen nicht erinnern. Der Schlaf hatte sie fest in seinen Armen gehalten, so als wollte er sie vor diesen Bildern beschützen. Wenigstens in dieser einen Nacht. Für Frau Hoffmann war es also, als hätte sie die wirren Träume nie gehabt.
- Kapitel 22
Frau Hoffmann nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Sie schaute auf die Uhr, schüttete den Rest in den Ausguss, spülte mit Wasser nach, um eingetrocknete Kaffeeränder zu vermeiden und verließ ihre Wohnung. Die Tatsache, dass sie noch am Leben war, hatte den negativen Nebeneffekt, dass sie Caitlin Connelli nun doch als ihre direkte Vorgesetzte zu akzeptieren hatte. Dieser Gedanke verärgerte Frau Hoffmann. Denn auch, wenn Frau Connelli ihr insgeheim imponierte, so hatte das unter anderem daran gelegen, dass sie sich sicher gewesen war, sie niemals als ihre Chefin anerkennen zu müssen.
Dreiunddreißig Minuten später öffneten sich die Türen des Aufzugs und Frau Hoffmann ging zielstrebig in ihr Büro. Auf ihrem Schreibtisch lag ein Memorandum. Das schien über Nacht die neue Art der internen Kommunikation geworden zu sein. Das war gewiss Caitlins Idee gewesen. Das hatte man ihr bestimmt vor drei Monaten auf der Universität so beigebracht. Frau Hoffmann schmunzelte über ihre eigene Boshaftigkeit.
Zwanzig Minuten später ging Frau Hoffmann den Flur im siebten Stock entlang. Sie fragte sich, was es dieses Mal für Hiobsbotschaften geben würde. Frau Hoffmann öffnete die Tür. Das Konferenzzimmer war zwar voll, jedoch nicht annähernd so voll wie am vorherigen Tag.
Frau Hoffmann setzte sich auf einen der freien Plätze und schaute sich um. Sie sah einige der anwesenden zum ersten Mal. Wenige Augenblicke später betrat Caitlin Connelli den Raum. Ihre Aura verschluckte alles, was sie umgab. Frau Hoffmann musterte Caitlin prüfend, in etwa so, wie ein Kenner ein Rennpferd oder einen guten Rotwein begutachten würde. An diesem Tag hatte sie ihr volles, viel zu glänzendes Haar zu einer kompliziert aussehenden Wurst an ihrem Hinterkopf hochgesteckt. Sogar ein Starcoiffeur wäre von dieser Leistung beeindruckt gewesen. Frau Hoffmann dachte kurz an ihre etwas weniger prunkvolle Version einer Hochsteckfrisur, die sie vor einigen Tagen in einem Anfall von Spontaneität kreiert hatte und musste über sich selbst schmunzeln, was ihr eigentlich nie passierte, denn Frau Hoffmann neigte nicht zu Selbstironie. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass man sich um selbstironisch sein zu können, selbst wahrnehmen musste, was Frau Hoffmann die meiste Zeit verbissen zu vermeiden versuchte.
Frau Connelli ging energisch auf und ab. Ihre möchtegernweisen Worthülsen machten Frau Hoffmann unheimlich müde. Es erschien ihr albern sich von einer Frau, die vermutlich zehn Jahre jünger war als sie, kluge Ratschläge erteilen zu lassen. Dennoch versteckte sie ihre kontinuierlichen Gähnanfälle hinter ihrer rechten Hand, denn es schien ihr unpassend es nicht zu tun.
„Ich hätte gerne eine Antwort auf meine Frage“, sagte Caitlin kalt. Die Frau in der vierten Reihe schaute dermaßen verschreckt, dass wieder Leben in Frau Hoffmann einkehrte. Sie setzte sich auf. „Denken Sie, ich rede, weil ich den Klang meiner eigenen Stimme so genieße?“ Frau Hoffmann hielt das durchaus für möglich, sagte aber nichts. Die verschreckte Frau aus der vierten Reihe schüttelte energisch den Kopf. „Warum hören Sie mir dann nicht zu?“, fragte Caitlin gereizt. Die verschreckte Frau schaute verunsichert in ihrem Schoß und schwieg. Für einen winzigen Moment sah es so aus, als würden jeden Augenblick Blitze aus Caitlins blauen Augen schießen, doch dann lächelte sie mechanisch und knüpfte genau da an, wo sie vor wenigen Minuten aufgehört hatte.
Über eine Stunde später, Caitlin steckte inmitten eines weiteren Wortschwalls, bemerkte Frau Hoffmann in der letzten Reihe einen Mann, der sichtlich Mühe hatte seine Augen offen zu halten. Amüsiert beobachtete sie, wie er angestrengt versuchte seinen Kopf in einer aufrechten Position zu halten. Frau Hoffmann konnte das Gewicht seiner Lider förmlich spüren. Und er war nicht der einzige. Die Müdigkeit schien sich über die anwesenden zu legen, wie ein schwerer Umhang. Schmunzelnd verfolgte Frau Hoffmann das schwerfällige Blinzeln einer Frau in der vorletzten Reihe und den schier endlosen Gähnanfall eines Mannes in der zweiten Reihe. Frau Hoffmann wartete auf einen Sturm der Empörung, denn es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch Caitlin die deutlichen Zeichen deren unbeschreiblicher Langeweile bemerken würde.
„Dass ich mit Leuten wie Ihnen zusammen arbeiten muss, ist eine Zumutung!“, schrie Caitlin durch den Raum. Frau Hoffmann sah einigen der Mitarbeiter an, dass sie überlegten etwas zu sagen. Nach wenigen Sekunden jedoch sah sie die Funken rebellischer Widerworte jedoch wieder verpuffen. „Inkompetenz, wohin das Auge reicht!“, polterte Caitlin weiter. In ihrer Wut hatte sich eine rote Haarlocke aus der perfekten Hochsteckwust gelöst und stand schräg zur Seite ab, was sie wie eine kleine Antenne aussehen ließ. „Kein Wunder, dass die finanzielle Situation in diesem Laden so miserabel aussieht!“ Frau Connelli ging auf und ab.
„So miserabel sieht es nun auch wieder nicht aus.“ Alle Gesichter richteten sich auf Frau Hoffmann. Dieser unbedachte Satz war ihr einfach aus dem Mund gefallen. Sie hatte ihn nicht sagen, sondern lediglich denken wollen.
Fassungslos starrte Caitlin sie an. Es war das erste Mal, dass sie Frau Hoffmann bemerkte. „Wie bitte?“ Frau Hoffmann war sich sehr wohl bewusst darüber, dass das eine rein rhetorische Frage gewesen war, und dass Caitlin nicht erwartete, dass sie ihre Aussage wiederholte. Doch dann dachte Frau Hoffmann an ihr Festgeldkonto und an die Tatsache, dass sie der Meinung war, dass sie den Chefposten viel mehr verdient hätte und sagte,
„Ich bin leitende Angestellte der Buchhaltung, und im Gegensatz zu Ihnen habe ich die Bilanzen nicht nur einmal kurz überflogen, sondern beschäftige mich seit vielen Jahren damit, daher weiß ich, dass es um die Finanzen des Unternehmens nicht schlecht bestellt ist...“ Caitlins Blick brannte auf Frau Hoffmanns Haut. Sie brauchte einige Sekunden um sich zu fassen.
„Wie ist ihr Name?“, fragte Caitlin eisig in die bedrohliche Stille des Konferenzraums.
„Warum möchten Sie den wissen?“, fragte Frau Hoffmann zurück.
„Damit ich eine Empfehlung aussprechen kann“, antwortete Caitlin vage.
„Was für eine Empfehlung?“
„Ihren Name bitte!“, fauchte Caitlin ungehalten.
„Mein Name ist Renate Hoffmann, doch das hätten Sie leicht selbst herausfinden können, da ich die einzige leitende Angestellte der Buchhaltung bin.“ Ein paar der anwesenden Mitarbeiter hörte man schmunzeln. Die anderen schauten Frau Hoffmann ehrfürchtig an.
„Denken Sie, das ist witzig?“ Caitlins Stimme vibrierte vor Wut. Frau Hoffmann stand langsam auf und ging ruhig in Richtung Tür. Die Blicke ihrer Bewunderer begleiteten sie wie ein schützender Schatten. „An Ihrer Stelle würde ich mir das gut überlegen“, sagte Caitlin drohend.
Frau Hoffmann drehte sich um und schaute ihr direkt in die Augen. „Wissen Sie, Caitlin, ich habe nichts zu verlieren.“
- Kapitel 23
Frau Hoffmann saß in ihrem Büro. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie es gesagt hatte, und ein Teil von ihr bereute es zutiefst. Ein anderer hingegen war stolz. Dieser Teil schien ihr anerkennend auf die Schulter zu klopfen, während der Teil in ihr, der bereute etwas gesagt zu haben, verängstigt über mögliche Konsequenzen nachdachte.
Wenige Augenblicke später klopfte es an Frau Hoffmanns Tür. Egal, wer da klopfte, Frau Hoffmann wollte ihn nicht sehen. Vielleicht lag das daran, dass sie mit nur zwei Personen rechnete. Entweder Herrn Hofer oder Caitlin. Und beide wollte sie nicht sehen. Es klopfte ein zweites und ein drittes Mal. Seufzend stand Frau Hoffmann auf und begab sich zur Tür. Während sie durch ihr Büro ging, wurde ihr klar, dass dieser eine Raum ihr Territorium war und diese Erkenntnis bestärkte sie.
Frau Hoffmann öffnete die Tür. Und zu ihrer eigenen Überraschung standen da weder Herr Hofer, noch Caitlin. Stattdessen stand da die Frau aus der vorletzten Reihe, deren schwerfälliges Blinzeln sie Minuten zuvor noch amüsiert verfolgt hatte. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Frau Hoffmann...“ Frau Hoffmann schüttelte den Kopf. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich sehr mutig fand, was Sie eben getan haben.“ Entgeistert und verwirrt schaute Frau Hoffmann die blinzelnde Frau an. „Sie kennen mich vermutlich nicht...“, sagte diese kleinlaut, „...ich bin Frau Kleinschmidt aus der Finanzabteilung...“
Frau Hoffmann nickte und streckte ihr ihre Hand entgegen. „Freut mich Sie kennen zu lernen, Frau Kleinschmidt.“
Frau Kleinschmidt lächelte verlegen. „Mich freut es auch.“
Einige Stunden später, weder Herr Hofer, noch Caitlin hatten Frau Hoffmann aufgesucht, klingelte der Telefonapparat, ein riesiges, grünes, scheußliches Ding, das den Kalten Krieg überlebt haben musste. Frau Hoffmann lehnte sich über den Tisch und nahm ab. „Hoffmann ... ja, das habe ich mir schon gedacht...“, sagte Frau Hoffmann seufzend. Der Teil in ihr der bereute etwas gesagt zu haben, senkte ängstlich seinen Kopf. „Und wann?“, fragte Frau Hoffmann ruhig. Sie klang gefasst. Dieser selbstsichere Tonfall überraschte sie vermutlich mindestens genauso sehr wie Herrn Hofer. „In Ordnung“, sagte Frau Hoffmann, noch immer ruhig und gefasst. „ich bin gleich da.“
Frau Hoffmann stand im Aufzug und fragte sich, was wohl auf sie zukommen würde. Insgeheim jedoch stand sie hinter dem, was sie gesagt hatte. Sie empfand Caitlins energische Ausbrüche als verkehrt und einer Chefin unwürdig. Eine Vorgesetzte sollte eine Vorbildposition einnehmen, die Menschen führen. Das, was Caitlin gerade getan hatte, war in Frau Hoffmanns Augen das genaue Gegenteil gewesen.
„Bitte setzen Sie sich doch, Frau Hoffmann...“ Herr Hofer zeigte auf einen freien Sitzplatz. Der Konferenzraum wirkte riesig, wenn er leer war, was Frau Hoffmann ein wenig einschüchterte. Caitlin saß bereits am Kopfende des Tisches, neben Herrn Hofer. Die beiden nebeneinander zu sehen, sagte Frau Hoffmann nicht zu. In diesem Moment schien es so, als säße sie auf der Anklagebank, obwohl ihrer Meinung nach Caitlin dort hätte sitzen müssen. Frau Hoffmann ging mit erhobenem Haupt auf den angedeuteten Sessel zu und setzte sich.
„Frau Connelli hat mir den Vorfall gemeldet...“, sagte Herr Hofer ruhig. Frau Hoffmann erwartete rügende Worte und einen erhobenen Zeigefinger und sie beschloss es über sich ergehen zu lassen. „Sie hat mir die Situation geschildert“, fuhr er fort. Frau Hoffmann schaute Caitlin fest in die Augen. „Und sie hat in diesem Zusammenhang eine Empfehlung ausgesprochen, die ich sehr unterstütze.“ Frau Hoffmann sah sich schon ihre Sachen packen. Zu ihrer eigenen Verwunderung hatte sie keine Angst mehr. Es schien ihr nicht wirklich wichtig, denn Frau Hoffmann wusste, dass sie wieder Arbeit finden würde. Sie dachte an ihr Festgeldkonto und das bewundernde Lächeln der blinzelnden Frau. „Frau Hoffmann, wie lange sind Sie schon bei uns?“, fragte Herr Hofer.
Obwohl es ihr widerstrebte, antwortete sie, „Über sieben Jahre.“
Herr Hofer nickte. „In dieser Zeit haben Sie nicht ein einziges Mal unentschuldigt gefehlt“, fuhr er fort.
„Und ich habe nur ein Mal entschuldigt gefehlt“, sagte Frau Hoffmann mit geschwellter Brust.
„Das ist richtig...“ Caitlin schien verärgert. Ihr elfenhaftes Gesicht war in Falten gelegt. „Würden Sie uns bitte nun Ihre Sicht der Situation schildern.“ Frau Hoffmann fragte sich, wozu das noch gut sein sollte. Sie fragte sich, was das änderte. Frau Hoffmann atmete tief ein, dann schaute sie zu Herrn Hofer ohne Caitlin eines Blickes zu würdigen.
„Und so hat es sich wirklich zugetragen?“, fragte Herr Hofer forschend.
„Wollen Sie damit sagen, dass ich lüge?“, fragte Frau Hoffmann forsch. Herr Hofer schüttelte den Kopf. „Was wollen Sie dann damit sagen?“
„Ihre Versionen unterscheiden sich einfach voneinander, das ist alles“, antwortete Herr Hofer ruhig.
Zum ersten Mal erhob Caitlin ihre sanfte Stimme. „Ich kann Ihnen versichern, dass es sich genauso zugetragen hat, wie ich es Ihnen berichtet habe...“, säuselte sie und legte sachte ihre Hand auf seinen Unterarm. Frau Hoffmann machte ein abschätziges Geräusch.
„Warum sind Sie so feindselig Frau Hoffmann? So kenne ich Sie gar nicht“, sagte Herr Hofer erstaunt. Frau Hoffmann traute ihren Ohren nicht. Vielleicht war an dem Gerücht über Herrn Hofer und Caitlin Connelli doch etwas dran. „Frau Hoffmann?“ Caitlin schaute wieder zufrieden. In ihrem Gesicht blitzte der Triumph.
„Herr Hofer, Sie können glauben wem Sie wollen, ich für meinen Teil stehe zu dem, was ich gesagt habe, und damit meine ich hier und vorhin im Konferenzzimmer...“ Frau Hoffmann lächelte mechanisch. „Ich habe meine fachmännische Meinung zum Besten gegeben, die keineswegs auf Vermutungen, sondern auf Fakten basiert.“
Herr Hofer nickte. Caitlin richtete sich in ihrem Sessel auf. „Hätten Sie gerne meinen Posten gehabt?“ Frau Hoffmann schüttelte den Kopf. „Sie finden also nicht, dass Sie mehr Anrecht darauf gehabt hätten?“
Frau Hoffmann räusperte sich. „Das hat nichts damit zu tun, ob ich ihren Posten gerne bekommen hätte.“
„Also finden Sie, dass Sie mehr Anrecht darauf gehabt hätten“, sagte Caitlin ruhig.
Frau Hoffmann wusste, worauf das hinauslief. Caitlin zielte darauf ab, es so aussehen zu lassen, als hätte Frau Hoffmann sie angegriffen, weil diese sie insgeheim um ihre übergeordnete Stellung beneidete. „Das kann man sehen, wie man will“, antwortete Frau Hoffmann vage.
„Ja, sicher, kann man das, aber wie sehen Sie es?“
„Wenn man nach Erfahrung und Firmenzugehörigkeit geht“ sagte Frau Hoffmann gelassen, „hätte sicher ich den Posten mehr verdient, als Sie. Doch ich traue der Führungsebene durchaus zu, die richtige Person für den richtigen Posten zu besetzen.“
Caitlin schaute zu Herrn Hofer hinüber. „Was meinen Sie?“, fragte sie ihn. Frau Hoffmann verstand nicht, was diese Frage sollte. Es verärgerte sie, dass die beiden so taten, als wäre sie nicht anwesend. Frau Hoffmann war derartiges Verhalten normalerweise gewohnt, doch diese Situation war anders. Er nickte.
„Was meinen Sie wozu?“, fragte Frau Hoffmann merklich gereizt.
„Ich stimme Frau Connellis Empfehlung voll und ganz zu.“
Diese Aussage irritierte Frau Hoffmann noch zusätzlich. Am liebsten wäre sie einfach aufgestanden und gegangen. Sie empfand dieses Gespräch als unendliche Zeitverschwendung. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne weiterarbeiten“, sagte Frau Hoffmann und stand auf. „Ich habe noch eine ganze Menge zu tun.“ Als sie das sagte schaute sie Caitlin vorwurfsvoll an.
„Ich finde es wichtiger, diese Situation zu klären“, sagte Frau Connelli. „Denn unter diesen Umständen kann eine Zusammenarbeit unmöglich funktionieren.“ Frau Hoffmann legte ihre Handflächen auf die blankpolierte Oberfläche des Tisches. „Doch wenn Sie gehen wollen, dann tun Sie das bitte. Ich kann Sie nicht dazu zwingen, zu bleiben“, sagte Caitlin samtig.
Frau Hoffmann stand auf. „Vielen Dank für dieses Gespräch.“ Als sie das sagte vibrierte ihre Stimme. „Ich denke, es ist allen Beteiligten mehr geholfen, wenn wir an dieser Stelle abbrechen.“
„Und das entscheiden Sie?“, fragte Caitlin provokant. „Ich finde es sehr schade, dass Sie dieses Gespräch derart sabotieren.“
„Wie bitte? Ich sabotiere?“, fragte Frau Hoffmann aufgebracht.
„Ja, ganz recht, Sie sabotieren“, sagte Caitlin hämisch lächelnd. „Dieser Konflikt wird sich nicht von alleine lösen, oder sehen Sie das anders?“ Herr Hofer betrachtete die Situation, als hätte er die Kontrolle über sie verloren. „Da Sie aber offensichtlich nichts weiter dazu zu sagen haben, ist es vermutlich wirklich das Beste, Sie widmen sich wieder Ihrer Arbeit.“
Und plötzlich sprudelten die Sätze aus Frau Hoffmanns Mund, genauso, wie sie es bereits im Konferenzzimmer getan hatten. Ihre Gedanken verschafften sich Gehör, ohne dass Frau Hoffmann ihnen die Erlaubnis dazu gegeben hätte. „Doch, ich habe etwas zu sagen.“ Frau Hoffmann klang kontrolliert und gefestigt, obwohl sie sich innerlich kein bisschen danach fühlte. „Wenn Sie es genau wissen wollen, finde ich, dass durch diese ganzen unnötigen Sitzungen viel zu viel zeit verloren geht. Ich finde es nicht sinnvoll, mir stundenlang Ihre Vorstellung von einer funktionierenden Zusammenarbeit anhören zu müssen, während sich auf meinem Schreibtisch die Arbeit türmt.“
„Ich bin Ihnen keinerlei Rechenschaft schuldig. Es ist meine Sache, wie ich...“
„Ich war noch nicht fertig“, sagte Frau Hoffmann bestimmt. Herr Hofer schaute zu Catlin, die wiederrum völlig fassungslos Frau Hoffmann ansah. „Ich finde es nicht sinnvoll, etwas zu ändern, dass gut funktioniert hat, bis Sie gekommen sind.“ Caitlins Augen formten sich zu kleinen Schlitzen. Die Verachtung, die Frau Hoffmann trag, änderte nichts an ihrem sachlichen Tonfall. „Ich kann Ihnen versichern, dass die ganze Theorie, die man Ihnen auf der Uni beigebracht hat, nicht die reale Arbeitswelt widerspiegelt.“ Caitlins Nüstern blähten sich mit jedem Satz, den Frau Hoffmann sagte, weiter auf. Frau Hoffmann schob den Sessel zurück. „Wissen Sie Caitlin, wir sind es hier gewöhnt einfach unsere Arbeit zu machen und nicht wertvolle Zeit in unproduktiven Meetings zu vergeuden.“
Frau Hoffmann stand schon an der Tür, als Herr Hofer sie bat noch einen Moment zu bleiben. Und obwohl Frau Hoffmann nichts so sehr ersehnte wie das Verlassen dieses Konferenzraums, ging sie zurück zu ihrem Sessel und setzte sich wieder hin. „Der eigentliche Grund, weswegen wir Sie zu einem Gespräch gebeten haben, ist in all der Diskussion leider untergegangen“, sagte er lächelnd. Frau Hoffmann fragte nicht, was der eigentliche Grund gewesen war. Stattdessen starrte sie Caitlin zornig an. „Wir finden, Sie haben zu viel Potential, als dass man es weiterhin in der Buchhaltung verschwenden sollte“, sagte Herr Hofer erfreut. Frau Hoffmann schaute misstrauisch. „Wir denken, dass ihre starke Persönlichkeit und ihr Engagement in der Personalabteilung viel mehr von Nutzen wären...“
Noch nie hatte jemand die Worte starke Persönlichkeit und Engagement im Zusammenhang mit Frau Hoffmann genannt. Und dann verstand sie, worauf das letzten Endes hinaus lief. Sie schaute zu Caitlin hinüber und konnte nicht umhin diesen raffinierten Schachzug anzuerkennen, den Caitlin ausgeheckt hatte, um Frau Hoffmann loszuwerden.
Caitlin und Herr Hofer lächelten. Und sie schienen zu erwarten, dass sich in Frau Hoffmanns Gesicht auch jeden Moment ein überglückliches Lächeln ausbreiten würde, was jedoch nicht geschah. Frau Hoffmann holte tief Luft. „Ich fühle mich von Ihrem Angebot sehr geschmeichelt...“, sagte sie lächelnd, „...doch ich kann es leider nicht annehmen...“
„Sie lehnen ab?“, fragte Herr Hofer fassungslos. Frau Hoffmann nickte.
„Aber Sie können nicht ablehnen“, sagte Caitlin drohend. Auch Herr Hofer schien diesen Unterton bemerkt zu haben, denn er schaute verwundert zu ihr hinüber. „Ich meine, allein der finanzielle Aspekt...“, versuchte Caitlin sich aus der Affäre zu ziehen.
„Mein Gehalt reicht mir vollkommen“, sagte Frau Hoffmann knapp. „Ich komme gut zurecht.“
„Warum lehnen Sie das Angebot dann ab?“, fragte Herr Hofer einfühlsam.
Frau Hoffmann schaute in seine dunklen, sanften Augen. „Es mag manchen Menschen seltsam erscheinen, doch ich arbeite gerne als Buchhalterin. Das ist, was ich gelernt habe und worin ich gut bin.“ Herr Hofer nickte. „Jeder, der mich besser kennt, weiß, dass ich nicht der Typ Mensch bin, der mit anderen Menschen gut zurecht kommt.“ Frau Hoffmann schaute zu Caitlin. „Ich wäre eine grauenhafte Wahl für die Personalabteilung, und Sie wissen das.“ Caitlin schaute unschuldig und gespielt irritiert zu Herrn Hofer, der das jedoch nicht bemerkte, weil er Frau Hoffmann ansah. „Ich weiß, warum Sie das getan haben, Caitlin“, sagte Frau Hoffmann ruhig. „und ich muss zugegeben, es war eine geschickte Idee, aber wenn Sie nicht mit mir arbeiten möchten oder können, müssen Sie sich etwas Anderes einfallen lassen.“
- Kapitel 24
Frau Hoffmann saß wieder an ihrem Schreibtisch in der Buchhaltung. Sie dachte an Herrn Hofer und an das klitzekleine, kaum sichtbare Lächeln, das er ihr geschenkt hatte, als sie den Konferenzraum eine halbe Stunde zuvor verlassen hatte. Der Teil in ihr, der es zutiefst bereut hatte, etwas gesagt zu haben war gerade dabei sich bei Frau Hoffmann zu entschuldigen. Er hatte Unrecht gehabt. Noch nie zuvor war sie so stolz auf sich selbst gewesen.
In den nächsten Stunden grub sich Frau Hoffmann durch einen Berg an Arbeit. Und sie war zufrieden. Zufrieden mit ihrer Arbeit, zufrieden mit ihrer Entscheidung, zufrieden mit sich selbst. Ihr Blick fiel auf die große Wanduhr. Es war schon kurz nach sieben. Sie fuhr ihren PC hinunter, schaltete den Monitor aus und griff nach ihrem Mantel, für den es eigentlich draußen viel zu warm war. Sie legte ihn sich um die Schultern, steckte den Schal in ihre Handtasche und löschte das Licht.
Die Türen des Aufzugs öffneten sich und Frau Hoffmann stieg ein. Der Fahrstuhl war voll gestopft mit Menschen. Frau Hoffmann mochte es nicht, wenn der Aufzug voll war. Diese Enge und die körperliche Nähe schreckten sie ab. Dennoch drängte sie sich an einen Herrn im schwarzen Anzug, der ihr noch am sympathischsten erschien, dann schlossen sich die Türen hinter ihr.
Es war schon oft vorgekommen, dass Frau Hoffmann sich beobachtet gefühlt hatte, vor allem in Aufzügen, doch an diesem Abend bildete sie es sich nicht ein. Sie schaute sich schüchtern um, und in der Tat trafen sie ausschließlich neugierig musternde Blicke. Sie hörte Getuschel, konnte aber nicht hören, was genau gesagt wurde, nur dass ihr Name während der flüsternden Unterhaltungen fiel. Irritiert drehte sich Frau Hoffmann seitwärts und starrte eisern auf die silbern glänzenden Aufzugtüren. Das Gemurmel wurde lauter. Und wieder verstand sie lediglich Bruchstücke, die es ihr nicht erlaubten den Zusammenhang zu erraten.
Erleichtert verließ Frau Hoffmann den Fahrstuhl. Die Eingangshalle wurde geflutet von Menschen. Unter ihnen eine verwirrte Frau Hoffmann. Neben ihr gingen zwei Frauen in Richtung Ausgang. Eine von ihnen schaute zu Frau Hoffmann, stieß ihre Begleitung unsanft in die Rippen und flüsterte ihr etwas zu. Eine andere Frau drehte sich zu Frau Hoffmann um, lächelte sie unvermittelt an und tippte einem ihrer Kollegen auf die Schulter. „Das ist die, von der ich dir vorhin erzählt habe...“, sagte sie leise. Auch er drehte sich zu Frau Hoffmann um, nickte freundlich und lächelte sie anerkennend an. Und in diesem Moment verstand Frau Hoffmann, dass all das Getuschel und Gemurmel keineswegs boshaft war. In Wahrheit war Frau Hoffmann zum Gesprächsthema geworden, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Frau Hoffmann war noch nie in ihrem ganzen Leben ein Gesprächsthema gewesen, wenn man einmal von dem Geratsche absah, das ihre Partnerwahl in ihrem Heimatdorf ausgelöst hatte, versteht sich. Frau Hoffmann entdeckte die blinzelnde Frau und lächelte ihr schüchtern zu. Frau Kleinschmidt aus der Finanzabteilung erwiderte ihr lächeln. Neben Frau Kleinschmidt standen Frau Bogner und Frau Seizinger, die beiden Sekretärinnen, deren boshaftes Gespräch Frau Hoffmann überhört hatte, und auch sie nickten anerkennend in ihre Richtung. Dieses Szenario erschien Frau Hoffmann wie eine Parallelwelt oder ein seltsam schöner Traum. Es war, als wäre sie in einer verkehrten Welt angekommen, in der sie ein anderer Mensch war, doch mit Sicherheit war es nicht ihre Welt.
Der gepflasterte Vorplatz wurde von Menschenmengen überschwemmt, dann ziemlich plötzlich verschwanden die Horden in den verschiedensten Richtungen. Frau Hoffmann ging zur U-Bahn, so wie jeden Abend. Und so wie jeden Abend ging sie allein. Doch an diesem Abend spürte sie die Blicke derer Kollegen auf ihrem Rücken, die in dieselbe Richtung gingen, und sie wusste, dass sie nicht wirklich allein war. Sie spürte, dass sich an diesem Tag etwas für sie geändert hatte. Sie war nicht länger unsichtbar oder einfach seltsam, sie war zu einer von ihnen geworden, wenn nicht sogar zu einer Person, die zu kennen eine wirklich gute Sache war.
- Kapitel 25
Frau Hoffmann stieg die Stufen hoch, weil die Rolltreppe nicht funktionierte. Eigentlich funktionierte diese Rolltreppe so gut wie nie, doch an diesem Abend störte es Frau Hoffmann nicht. Als sie die Straße entlang ging, stieg ihr ein angenehmer Duft in die Nase. Es roch nach knusprig frischen Brathähnchen. Frau Hoffmann schloss ihre Augen und inhalierte das knusprig salzige Aroma, das sie verströmten, dann ging sie weiter und suchte nach der Quelle des Dufts. Er erinnerte sie ans Oktoberfest und an eine Zeit, als sie das Oktoberfest noch besucht hatte. Dann, auf der anderen Straßenseite entdeckte sie den Hähnchenstand. Und dann tat Frau Hoffmann etwas äußerst Ungewöhnliches. Sie handelte spontan. Sie entschied aus einem Impuls heraus. Und erstaunlicherweise machte es ihr Spaß, einfach zu handeln, ohne groß darüber nachzudenken. Sie überquerte den Fahrradweg, drückte sich zwischen zwei geparkten Autos hindurch und huschte voller Vorfreude über die Straße.
„Lassen sie es sich schmecken“, sagte der rundliche Verkäufer freundlich. Frau Hoffmann lächelte ihn schüchtern an, bedankte sich und machte sich auf den Heimweg. Der Hühnchenduft schlängelte sich verführerisch in ihre Nase. Seit vielen Jahren hatte sie kein Hühnchen mehr gegessen. Sie dachte an die zwei Brezen, die sie in einem weiteren Anfall von spontanem Handeln erstanden hatte und freute sich wie ein kleines Kind darauf, ihren Einkauf auszupacken und bei einem schönen Film zu genießen.
Sie schlenderte durch den tristen Hof, dann plötzlich blieb sie unvermittelt stehen. Auch, wenn sie die Idee gut fand, war sie nervös. Sie ging weiter bis zur Eingangstür, atmete tief ein und klingelte. Einen Moment lang geschah nichts und Frau Hoffmann dachte darüber nach, kehrt zu machen und ihrem ursprünglichen Plan zu folgen, doch dann hörte sie Silvias Stimme. „Ja?“
Frau Hoffmann räusperte sich. „Ähm, hier ist Renate, ich...“
„Ach, du bist es!“, sagte Silvia überrascht. „Willst du rauf kommen?“ Für einen kurzen Moment war Frau Hoffmann sprachlos, weil sie es nicht gewohnt war, dass jemand sich über ihren Besuch freute. Und auch die Tatsache, dass Frau Blinker sie mit du ansprach, irritierte sie ein wenig, jedoch nicht, weil sie es unangebracht fand, oder gar unangenehm, sondern weil Frau Hoffmann keine Freunde hatte. „Renate? Bist du noch da?“
Frau Hoffmann ging näher an den Lautsprecher. „Ja, ich bin noch da...“
„Warte, ich mach dir auf...“ Im selben Moment brummte die Eingangstür und Frau Hoffmann trat ein.
„Das ist ja eine schöne Überraschung!“ Für einen kurzen Moment erschrak Frau Hoffmann über Silvias Anblick. Sie sah fürchterlich aus, doch sie strahlte, als sie Frau Hoffmann sah. „Komm rein, komm rein...“ Frau Hoffmann hielt ihre duftende Tüte hoch. „Ich habe Grillhähnchen und Brezen gekauft...“
Silvia lächelte. „Ich freue mich wirklich sehr, dass du da bist.“ Und auch Frau Hoffmann freute sich dort zu sein. Es war ein schönes Gefühl, dass es jemanden freute sie zu sehen.
Seit vielen, vielen Jahren hatte Frau Hoffmann nicht mehr mit den Fingern gegessen. Schon in ihrer Kindheit hatten ihre Eltern auf das Benutzen von Besteck bestanden. Doch an diesem Abend gab es kein Besteck. Es gab auch keine rügenden Blicke. Silvia holte eine Flasche Limonade aus dem Kühlschrank und zwei Gläser. Sie hielt die Flasche hoch. „Auch was?“, fragte sie schmatzend. Frau Hoffmann nickte. Auch dieses Szenario schien unwirklich, doch das machte nichts, denn Frau Hoffmann war mehr als nur zufrieden. In diesem Moment war sie von ganzen Herzen glücklich.
- Kapitel 26
Silvia war so ganz anders als Frau Hoffmann. Im Grunde war sie anders als jeder Mensch, den Frau Hoffmann in ihrem Leben getroffen hatte, was zugegebenermaßen nicht viele gewesen waren. Sie war so viel offener und unbefangener.
Die beiden Frauen saßen barfuß auf dem Boden im Wohnzimmer. Zumindest Silvia war barfuß. Frau Hoffmann trug ihre anthrazitfarbene Strumpfhose. Doch das war schon ein Grad an Entspanntheit, der für Frau Hoffmann ungewöhnlich war. Frau Hoffmann betrachtete ihre Hände. Sie waren glitschig und fettig. Dann schaute sie Silvia an und auch ihre Hände waren orange gefärbt. Um ihren Mund glänzten fettige Flecken. Frau Hoffmann fühlte sich wieder jung. Sie war wieder vierundzwanzig.
Zufrieden lächelnd rieb sich Silvia über den Bauch. „Das hat so gut getan...“, sagte sie und streckte ihre Beine aus. Dann schaute sie Frau Hoffmann in die Augen. „Du, Renate?“
Frau Hoffmann fürchtete sich vor dem, was jetzt kommen könnte. Allein beim Gedanken daran, Silvia von ihm zu erzählen, spürte sie wie sich der Widerstand in Stellung brachte, und sie wusste, dass er ein offenes Gespräch auch an diesem Abend nicht zulassen würde. Frau Hoffmann lehnte sich mit dem Rücken gegen die Couch. „Was?“, fragte sie lächelnd.
Silvia richtete sich auf. „Sag mal...“, sagte sie vorsichtig, „...warum hast du eigentlich immer so triste Sachen an?“
Erleichtert lachte Frau Hoffmann auf. Sie schaute an sich hinunter, dann zuckte sie mit den Schultern. „Ich weiß es nicht...“, antwortete sie kopfschüttelnd.
„Zu deinen großen braunen Augen wäre ein zarter Rosaton wirklich schön, meinst du nicht auch?“ Frau Hoffmann hätte nie behauptet, dass ihre Augen groß waren und sie war sich sicher, dass Silvia ihr lediglich schmeicheln wollte, was nicht stimmte, denn Frau Hoffmann hatte tatsächlich große braune Augen. „Vielleicht ein schönes Halstuch oder eine farbige Handtasche... rot vielleicht?“
„Ich finde Kleindung nicht wichtig“, sagte Frau Hoffmann abschätzig.
Silvia lachte. „Aber Renate, Kleidung sagt nun einmal etwas über den Menschen aus, der sie trägt, ob dir das nun gefällt, oder nicht...“ Frau Hoffmann betrachtete Silvia. Sie trug eine enge dunkelblaue Jeans und eine dünne weiße Tunika. Ihre dunkelbraunen langen Haare trug sie in einem legeren Knoten am Hinterkopf. Sie sah gut aus, wenn man einmal von den aufgequollenen, roten Augen und der Blässe absah. Und von den dunklen Augenringen. Und den leichten Abschürfungen um ihre Nase.
„Hast du schlafen können?“, fragte Frau Hoffmann vorsichtig. Silvia schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollte ich lieber gehen, damit du dich ausruhen kannst.“
„Vielleicht hast du recht. Du musst morgen ja auch wieder früh raus, oder?“, fragte Silvia verunsichert.
„Ja, aber das spielt keine große Rolle“, antwortete Frau Hoffmann sanft.
„Wenn das so ist, wäre es schön, wenn du noch bleibst...“ Frau Hoffmann lächelte und schenkte beiden Limonade nach, was einem ja gleichkam. „Ich fürchte mich vorm Schlafen...“, sagte Silvia nach einer Weile. „Ist das nicht albern?“ Frau Hoffmann schüttelte verständnisvoll den Kopf. „Ich träume so wirres, schreckliches Zeug...“
„Solche Träume kenne ich...“, antwortete Frau Hoffmann. Sie dachte an das Porzellan und das verdorbene Fleisch.
„Weißt du, tagsüber kann ich mich in die Arbeit stürzen, ich kann mich ablenken...“ Frau Hoffmann nickte. „Manchmal schaffe ich es sogar, alles, was mich belastet für einen kurzen Moment zu vergessen...“
„Weil du mit anderen Dingen beschäftigt bist“, sagte Frau Hoffmann nickend. Frau Hoffmann wusste genau, wie es Silvia ging.
„Aber abends und nachts ist alles so still, und alle Gedanken, die ich den Tag über verdrängt habe, kommen plötzlich hoch...“ Frau Hoffmann starrte in Silvias Küche und nickte. In Gedanken sah sie sich und die junge Frau auf dem Balkon sitzen. „Du, Renate?“ Frau Hoffmann schaute zu ihr hinüber. „Ich bin wirklich froh, dass du hier bist.“
„Dann warst du erst siebzehn?“, fragte Frau Hoffmann schockiert.
Silvia nickte. „Patrick hat noch in derselben Nacht Schluss gemacht, als ich es ihm gesagt habe...“ Frau Hoffmann schüttelte abschätzig den Kopf. „Ich habe die Schule noch beendet, aber an studieren war dann nicht mehr zu denken.“
„Was hättest du denn gerne studiert?“, fragte Frau Hoffmann leise.
Silvia dachte kurz nach, dann antwortete sie, „Ich glaube Biologie...“ Eine Weile sagten beide kein Wort. Silvia musterte Frau Hoffmann von der Seite, dann fragte sie, „Wie alt bist du eigentlich?“
Frau Hoffmann richtete sich auf. „Warum willst du das wissen?“, fragte sie verlegen.
„Du brauchst es mir nicht zu sagen, wenn du nicht willst.“
Frau Hoffmann lächelte. „Ich bin 34.“
„Aber das ist doch kein Alter für das man sich schämen muss...“, sagte Silvia irritiert.
„Wenn man sieben Jahre davon eigentlich nicht gelebt hat, dann schon...“
„Wieso bist du so streng zu dir?“, fragte Silvia irritiert. Frau Hoffmann zuckte mit den Schultern. „Bitte nimm mir das jetzt nicht übel, Renate, aber ich glaube, du hast ein total verzerrtes Selbstbild.“ Und mit dieser Aussage hatte Silvia den wundern Punkt getroffen. Frau Hoffmann hatte nämlich nicht nur ein verzerrtes Selbstbild, im Grunde hatte sie überhaupt keines. Sie hatte aufgehört sich und ihre Vorzüge zu sehen. Sie hatte aufgehört sich selbst wahrzunehmen.
Doch in der letzten Zeit hatte der Putz ihrer versteinerten Fassade vermehrt zu bröckeln begonnen. Und auch Frau Hoffmann spürte, dass etwas anders war, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was.
- Kapitel 27
„Das war ein schöner Abend“, sagte Frau Hoffmann lächelnd.
„Das finde ich auch“, sagte Silvia. „Und unter diesen Umständen ist das wirklich etwas Besonderes...“
Frau Hoffmann legte ihre Hand auf Silvias Schulter. „Wenn ich etwas für dich tun kann...“
„Du tust doch schon etwas...“, fiel ihr Silvia ins Wort. „Du hast mir den Abend gerettet... und nicht nur den Abend...“ Frau Hoffmann spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten. Frau Hoffmann drückte verlegen auf den Lichtschalter im Hausgang. Sie lächelte Silvia kurz an, dann ging sie in Richtung Aufzug. Frau Hoffmanns Schritte hallten durch den steinernen Flur. „Ach, ja, und Renate?“ Frau Hoffmann lächelte in sich hinein und drehte sich um. „Überleg dir das mit Übermorgen noch mal, ja?“ Frau Hoffmann nickte widerwillig. „Lass es dir wenigstens durch den Kopf gehen... Machst du das?“ Frau Hoffmann nickte wieder, dieses Mal weniger widerwillig. „Ja, das mache ich...“
Eine viertel Stunde später stand Frau Hoffmann in ihrem Bad. Sie begutachtete ihre Augen. Und zu ihrer eigenen Überraschung waren sie tatsächlich groß. Sie betrachtete ihr Gesicht aus den verschiedensten Winkeln, bis es ihr der Anblick ihres beige braun gemusterten Duschvorhangs unmöglich machte sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren. Insgeheim war Frau Hoffmann froh, dass Silvia ihre Wohnung nie zu Gesicht bekommen hatte. Sie wusste nicht genau, warum, doch sie war sich sicher, dass Silvia ihre Einrichtung nicht wirklich ansprechend finden würde. Und damit hatte Frau Hoffmann zweifelsohne recht, denn im Vergleich zu ihrer Einrichtung waren ihre dunkelgrauen Kostüme nämlich durchaus geschmackvoll.
Seit vielen Jahren hatte Frau Hoffmann keinen so schönen Abend mehr erlebt. Silvia hatte ihr von ihrem Exfreund erzählt und davon, wie sie unerwartet schwanger geworden war. Sie hatte ihr von ihren verpufften Träumen und Wünschen erzählt und davon, dass Melanie von einem Tag auf den anderen ihr Leben verändert hatte. Frau Hoffmann hatte ihr einige ihrer verpufften Träume verraten und das Zerwürfnis mit ihrer Familie angeschnitten. Sie hatte ihr erzählt, dass sie immer Medizin studieren wollte, es auch tatsächlich versucht hatte und dass sie das Studium dann hatte abbrechen müssen. Silvia hatte ihr Fotos ihrer Tochter gezeigt. Melanie hatte ihr unheimlich ähnlich gesehen. Dasselbe offene Lachen, dieselbe Ausstrahlung. Sie war wirklich ein sehr hübsches Mädchen gewesen.
Frau Hoffmann drehte sich auf die Seite und rollte sich in ihre Bettdecke. Es erschien Frau Hoffmann grausam, dass sie diesen Abend nur erlebt hatte, weil Melanie verunglückt war. Denn wäre sie noch am Leben, hätte Silvia bestimmt nicht vom Balkon springen wollen. Es erschien so absurd, dass ihr Todeswunsch sie einander näher gebracht hatte. Und obwohl Frau Hoffmann eigentlich der Meinung war, dass es nicht abgebracht war, sich über ihre Bekanntschaft mit Silvia zu freuen, weil die Umstände einfach rein gar nichts Erfreuliches an sich hatten, war da dennoch dieses wundervolle Gefühl, jemanden gefunden zu haben, dem sie wichtig war, und der ihr wichtig war. Frau Hoffmann hatte vergessen, wie es sich angefühlt hatte, jemandem wichtig zu sein. Doch in diesem Moment breitete sich ein wohliges Gefühl in ihr aus, das sie dunkel daran erinnerte, wie es gewesen war, geschätzt zu werden. Es schien langsam durch ihren Körper zu kriechen und es erfüllte sie mit Wärme und Zuversicht, zwei Dinge, die Frau Hoffmann innerlich zu streicheln schienen.
- Kapitel 28
Das fasrige Stück Fleisch auf ihrem Teller roch ekelerregend. Es roch so unglaublich abartig, dass Frau Hoffmann bei jedem Atemzug Magensäure schmeckte. Die filigranen Verzierungen am Rande ihres Tellers waren von schleimigem Sekret bedeckt. Und obwohl sie versuchte es nicht zu tun, starrte sie ohne Unterlass auf die gelblich weiße Schmierschicht, durch die die Umrisse zarter rosaner Blüten hindurch schimmerte. Das monotone Summen der Fleischfliegen erfüllte die laue Luft. Die junge Frau bewegte sich nicht. Ihre Augen waren geschlossen. Doch auf ihren Wangen glitzerten noch immer milchig gelbe Tränen. Frau Hoffmanns Mund war trocken. Außer der geflockten Milch, die wie mit Wasser versetzte Mayonnaise träge in den Kristallkelchen schwamm, fand sie jedoch nichts Trinkbares.
Ihre Hand lag noch immer auf der, der jungen Frau. Diese Berührung erzeugte die einzige Wärme an diesem trostlosen und toten Ort. Frau Hoffmann wollte aufstehen. Sie wollte diesen Ort hinter sich lassen. Doch sie wusste, dass sie die junge Frau nicht allein lassen konnte. Vielleicht auch deswegen, weil die junge Frau in Wahrheit ein Teil von ihr war.
Sie hatte sie lange nicht gesehen. Sie hatte sie nicht sehen wollen. Doch nun, da sie neben ihr auf dem Balkon saß, konnte sie sie nicht länger ignorieren, geschweige denn alleine zurück lassen. Frau Hoffmann legte sich ihre freie Hand über Lippen und Nase. Der entsetzliche Gestank von verwesendem Fleisch legte sich auf alles wie ein schwerer schwarzer Schleier.
Frau Hoffmann wachte zitternd auf, ihre linke Hand bedeckte ihren Mund und ihre Nase. Sie hasste diesen Traum. Sie hasste diese Intensität und die drückende Stimmung. Sie hasste den Gestank und den Anblick von Verwesung und Verfall. Alles in ihr sträubte sich gegen die Abscheulichkeit dieser Bilder, die sich in ihrem Gedächtnis einnisteten, wie Ungeziefer.
Auf wackeligen Gelenken wankte Frau Hoffmann in ihre Küche, öffnete den Küchenschrank über der Spüle und zog ein Glas hervor. Sie füllte es mit kaltem Leitungswasser und trank es hastig leer. Hätte sie sich mit dem auseinander gesetzt, was ihr Unterbewusstsein ihr zu zeigen versuchte, wäre sie sicherlich zu dem Punkt gekommen, es endlich zu begreifen. Vermutlich hätte dies auch zur Folge gehabt, dass Frau Hoffmann zukünftig von derartigen Träumen verschont worden wäre, doch Frau Hoffmann weigerte sich mit aller Macht dagegen, sich dem zu stellen, was ihr Unterbewusstsein ihr mitzuteilen hatte. Sie wollte es nicht begreifen, sie wollte lediglich, dass es aufhörte.
Ängstlich lag Frau Hoffmann in ihrem Bett. Sie fürchtete sich davor einzuschlafen. Sie fürchtete sich vor den Bildern und den Gerüchen und den Gefühlen. Als sie nach zwei weiteren Stunden noch immer wach im Bett lag, entschloss sie sich, entgegen ihrer Prinzipien, Schlaftabletten zu nehmen, mit deren Hilfe sie, davon war sie überzeugt, die Nacht überstehen würde.
Eine halbe Stunde, nachdem sie die Tabletten eingekommen hatte, spürte sie, wie ihre Lider schwerer und schwerer wurden. Die Angst ließ nach und der rettende Schlaf legte behutsam seine schützenden Arme um sie. In den nächsten vier Stunden lag sie regungslos in ihrem Bett. Ihr Unterbewusstsein hatte kapituliert. Zumindest für diese Nacht.
- Kapitel 29
Frau Hoffmann quälte sich aus dem Bett. Am liebsten wäre sie liegen geblieben, doch sie wusste, dass Caitlin ihr Fernbleiben als Schwäche oder Angst gedeutet hätte, und deswegen ging sie, der Müdigkeit zum Trotz, ins Bad und wusch sich ihr Gesicht mit eiskaltem Wasser. Sie schaute in den Spiegel, während das Wasser über ihr blasses Gesicht lief. Viele dicke Tropfen hatten sich in ihren Wimpern gesammelt und kullerten nach und nach ihre Wangen hinab. Frau Hoffmann spürte, wie Leben sie durchströmte. Sie war wach.
In der U-Bahn drängelte sich ein junger Mann mit zurückgegelten dunklen Haaren durch die Menschenmassen, bis er schließlich vor Frau Hoffmann stehen blieb. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie ihn. Sie hatte ihn bei der Konferenz am Tag zuvor gesehen. Frau Hoffmann hatte seinen schier endlosen Gähnanfall beobachtet. Er strahlte sie an. Frau Hoffmann wusste nicht, was er wollte, deswegen schenkte sie ihm ein verunsichertes Lächeln. „Ich bin Herr Schröder“, sagte er schneidig und streckte ihr seine große Hand entgegen. Sein Händedruck war unheimlich fest. Für einen kurzen Augenblick glaubte Frau Hoffmann ihre Knochen brechen zu hören. Dann löste er seinen Griff. „Ihre Ansprache gestern hat mir wirklich imponiert“, fuhr Herr Schröder fort. „Ich glaube Sie haben uns allen aus der Seele gesprochen...“ Frau Hoffmann, die noch immer ihre schmerzende Hand rieb, lächelte und nickte. „Stimmt es, dass Frau Connelli Sie in die Personalabteilung abschieben wollte?“ Frau Hoffmann empfand es als verkehrt Caitlin schlecht zu machen, nur weil sie sie nicht mochte. „Herrn Hofers Sekretärin, ich habe leider den Namen vergessen...“
„Frau Bogner...“, fiel ihm Frau Hoffmann ins Wort.
„Ach, ja genau...“, sagte Herr Schröder nickend. „Na, auf jeden Fall hat Frau Bogner erzählt, sie hätten den Posten abgelehnt...“ Frau Hoffmann schaute Herrn Schröder lange an. „Und stimmt das denn?“, fragte er neugierig.
„Ja, das ist richtig so...“, antwortete Frau Hoffmann.
„Ich frage mich wirklich, warum wir uns nicht vorher schon einmal unterhalten haben“, sagte Herr Schröder schmierig lächelnd.
Frau Hoffmann verabscheute seine schleimige Art. Sie verabscheute generell alle Menschen, die einen nur dann kennen wollten, oder zu kennen vorgaben, wenn sie es aus irgendeinem Grund als praktisch oder nützlich erachteten, einen zu kennen. „Ich denke, das liegt daran, Herr Schröder, dass Sie in den letzten Jahren keinen besonderen Wert auf meine Gesellschaft gelegt haben...“
„Frau Hoffmann, ich bitte Sie...“, sagte er gespielt beleidigt.
„Na, dann haben Sie mich eben einfach nicht bemerkt“, entgegnete Frau Hoffmann kühl.
Herr Schröder versuchte die Tatsache, dass Frau Hoffmanns Aussage ihn peinlich berührt hatte, mit einem strahlenden Lächeln zu überspielen. Dann sagte er, „Aber Frau Hoffmann, bei so vielen Mitarbeitern ist es doch schier unmöglich, die Spreu vom Weizen zu trennen.“
Frau Hoffmann lächelte mechanisch. Nie zuvor hatte sie einen solchen Menschen kennengelernt, was sicherlich zu Teilen auch daran lag, dass Frau Hoffmann in ihrem Leben nicht viele Menschen kennengelernt hatte. Die Tatsache, in welchem Maß Herr Schröder von sich selbst eingenommen war, empfand Frau Hoffmann als äußerst abstoßend. Sie war sich sicher, dass er einer dieser schleimigen Sprücheklopfer war, die meinten mit ihrer triefenden Art die Karriereleiter schneller empor klettern zu können. Er schien irgendwo gelesen zu haben, dass es eine gute Sache war, den Namen seines Gegenübers möglichst häufig in Dialogen einzubauen. Das schien eine dieser neuartigen Kommunikationstechniken zu sein, die man Absolventen heutzutage im Studium beibrachte. Herr Schröder war einer dieser karrierefixierten Speichellecker, die vermutlich sogar dazu bereit wären, Fäkalien zu essen, sollte es sie in irgendeiner Art und Weise weiterbringen. Und dennoch konnte Frau Hoffmann nicht verstehen, warum es sie in einem solchen Maß verärgerte. Denn eigentlich spielte es keine Rolle. Es war bedeutungslos. Frau Hoffmann konnte dennoch nicht umhin sich ein wenig geschmeichelt zu fühlen, dass Herr Schröder der Auffassung war, sie, Frau Hoffmann, wäre wichtig genug, um sich bei ihr auf eine derart plumpe Art einzuschleimen. Je länger Frau Hoffmann ihn schweigend musterte, desto offensichtlich nervöser wurde er. Um seinem Leiden ein Ende zu machen, sagte sie, „Da haben Sie bestimmt recht, Herr Schröder...“ Erleichterung breitete sich in seinem kantigen Gesicht aus. „Doch ist Ihnen klar, dass Sie damit implizieren, dass ich bis vor kurzem Ihrer Meinung nach zur Spreu gehört habe?“
Seine Erleichterung wich einem kalten Schweißausbruch. „Nein, so habe ich das nicht gemeint...“, stammelte er unbeholfen.
„Ist schon gut, Herr Schröder...“, sagte Frau Hoffmann ruhig, „Die nächste Station ist unsere...“ Er schien verstanden zu haben, dass Frau Hoffmann an keiner weiteren Erklärung interessiert war und tat das, was er am besten konnte. Er lächelte.
- Kapitel 30
Frau Hoffmann verstand die Welt nicht mehr. Im laufe des Vormittags klingelte ihr uralter, grüner Telefonapparat so häufig, dass sie anfangs der Überzeugung war, es müsse sich zweifelsohne um einen technischen Defekt der Telefonanlage handeln. Dem war jedoch nicht so. Erst hatte Caitlins Sekretärin, Frau Seizinger, angerufen und um die überarbeiteten Bilanzen gebeten, was Frau Hoffmann ihr sofort zusagte. Frau Hoffmann war der Ansicht gewesen, dass dieses Telefonat damit beendet war, was Frau Seizinger ganz offensichtlich nicht so sah, denn sie redete und redete ohne Punkt und Komma.
Sie sprach Frau Hoffmann ihre Bewunderung nicht nur einmal, sondern mindestens achtzehn Mal aus, sie fragte, ob Frau Hoffmann nicht eventuell daran interessiert sei, sich als Belegschaftssprecherin zur Wahl aufstellen zu lassen, sie lästerte im Flüsterton über ihre neue Vorgesetzte und erzählte aufgelöst von der Feindseligkeit, die sie seit neustem zu erdulden hatte, weil sie Caitlins Sekretärin war. Hätte Frau Hoffmann nicht nach 34 Minuten eine Ausrede erfunden, um sie loszuwerden, wäre sie vermutlich noch immer mit Frau Seizinger am Telefon.
Nachdem sie den Höher erleichtert wieder eingehängt hatte, klingelte der grüne Apparat ein zweites Mal. Seufzend nahm sie ab, um sodann zwanzig Minuten mit einer Frau Koch aus der Finanzabteilung zu telefonieren, die wissen wollte, ob Frau Hoffmann wegen ihres Auftritts im Konferenzraum schlimme Konsequenzen zu erwarten hätte. Als Frau Hoffmann das höflich verneinte, schien Frau Koch erleichtert und versicherte ihr, dass sie sich, wäre dem so gewesen für sie eingesetzt hätte, weil sie hundertprozentig hinter ihr stehe. Es war ein schönes, wenn auch befremdliches Gefühl, so etwas zu hören.
Dann, wenige Minuten nachdem sie erneut eingehängt hatte, meldete sich Frau Kleinschmidt, die Frau Hoffmann fragte, ob sie nicht Lust hätte in der Mittagspause einen Happen Essen zu gehen. Völlig entgeistert von dieser unerwarteten Einladung, sagte sie erst gar nichts. Als Frau Kleinschmidt sich für die Störung entschuldigte, was ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass sie ihre Frage bereute, sagte Frau Hoffmann spontan zu. Sie tat es hauptsächlich deswegen, weil sie Frau Kleinschmidt nicht vor den Kopf stoßen wollte, denn Frau Hoffmann hatte die vergangenen sieben Jahre und drei Monate auch alleine gegessen und sich an dieser Tatsache nicht im Geringsten gestört. Sie hatte es eigentlich immer genossen zum Italiener an der Ecke zu gehen, sich eine Portion Pasta und ein stilles Wasser zu bestellen und die Gäste an den Nachbartischen zu beobachten. Sie hatte sich nie nach einer Begleitung gesehnt. Zumindest hatte sich ihr Bewusstsein nie nach einer Begleitung gesehnt. Und da sich Frau Hoffmann eine chronische Taubheit angeeignet hatte, was all die Sehnsüchte ihres Unterbewusstseins anbelangte, zählte ohnehin nur, was ihr Bewusstsein dachte.
Frau Hoffmann versuchte zum vierten Mal ihre Arbeit fortzusetzen, als das Telefon wieder klingelte. Völlig entnervt riss sie den Hörer von der Gabel. „Hoffmann...“, schnaubte sie in den Lautsprecher. Herr Hofer am anderen Ende räusperte sich verlegen und fragte, ob er denn stören würde. Frau Hoffmann fragte sich, warum Herr Hofer sie immer dann aufsuchte oder anrief, wenn sie sich verkehrt benahm. Dann gestand sie sich ein, dass es eigentlich anders herum war. „Nein, sie stören nicht“, sagte sie freundlich. „Was kann ich denn für sie tun?“ Herr Hofer fragte, ob Caitlin sich Frau Hoffmann gegenüber angemessen verhalte, oder ob es Anlass dazu gäbe, einzuschreiten. Frau Hoffmann sagte, dass sie Frau Connelli den gesamten Vormittag weder gehört noch gesehen hätte und versicherte ihm, dass alles bestens wäre. Herr Hofer bat Frau Hoffmann ihn in der Mittagspause aufzusuchen, weil er etwas mit ihr zu besprechen hätte. Frau Hoffmann fragte, ob es möglich wäre dieses Gespräch auf nach Feierabend zu verlegen, weil sie Frau Kleinschmidt nicht mit einer Absage vor den Kopf stoßen wolle, womit Herr Hofer gleichermaßen einverstanden war.
Und wieder versuchte Frau Hoffmann ihr Arbeitspensum für diesen Tag abzuarbeiten, was ihr Telefon dem Anschein nach nicht weiter zu interessieren schien, denn es klingelte erneut. Und weil Frau Hoffmann sich nicht sicher sein konnte, dass da am anderen Ende nicht vielleicht wieder Herr Hofer war und sie nicht schon wieder unfreundlich erscheinen wollte, nahm sie ab und verschluckte den genervten Unterton, der ihr wie ein Kloß im Halse stecken blieb. „Hoffmann...“, säuselte sie überfreundlich.
„Ich stelle sie zu Frau Connelli durch...“, sagte Frau Seizinger freundlich, dann klickte es in der Leitung und Caitlin nahm das Telefonat entgegen.
„Frau Hoffmann“, sagte sie mit ihrer samtenen Stimme. „Wie geht es Ihnen?“
Frau Hoffmann drehte die Augen gen Decke. Als ob es Caitlin interessierte, wie es ihr ging. „Es geht mir hervorragend...“, sagte Frau Hoffmann so flötend sie vermochte, „...und Ihnen?“ Caitlin antwortete, dass sie sich nicht beklagen könne und bedankte sich für das bekundete Interesse. „Was kann ich für Sie tun, Caitlin?“
„Zuerst einmal möchte ich Sie bitten mich nicht beim Vornamen zu nennen“, sagte Caitlin leicht gereizt. „Sie verstehen sicher, dass ich das nicht dulden kann...“
„Aber deswegen haben sie mich wohl kaum angerufen“, überging Frau Hoffmann Caitlins Aussage. „Also, weswegen rufen Sie wirklich an?“ Frau Hoffmann spürte Schwingungen der Erbostheit, ignorierte sie jedoch.
„Sie haben recht...“, sagte Caitlin schließlich. „Das war nicht der Grund eines Anrufs.“ Frau Hoffmann klopfte ungeduldig mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. „Dennoch ist es mir ein Anliegen, dass Sie meine Autorität...“
„Ich habe Sie verstanden, Frau Connelli...“, sagte Frau Hoffmann ungehalten. „Was gibt es sonst noch?“
„Ich hatte um die überarbeiteten Zahlen gebeten...“, sagte Caitlin. „Ich habe vor ein paar Minuten bei meiner Sekretärin nachgefragt, ob Sie sie inzwischen gebracht hätten.“ Frau Hoffmanns Magen verkrampfte sich auf die Größe einer Spielmurmel. Sie hatte es vergessen. Sie hatte vor lauter Telefon nicht mehr daran gedacht. „Ich bin davon ausgegangen, dass man Sie nicht zwei Mal um etwas bitten muss, aber wie es aussieht, habe ich mich getäuscht...“, sagte Caitlin befriedigt. „Könnten Sie sich jetzt bitte darum kümmern?“ Frau Hoffmann versicherte ihr kleinlaut, dass sie sie in den nächsten Minuten bringen würde und entschuldigte sich für ihr Fehlverhalten. „Das kann ja jedem Mal passieren...“, sagte Caitlin gespielt freundlich. „Ich hoffe jedoch, dass das nicht zur Gewohnheit wird, Renate.“ Frau Hoffmann zog eine Caitlin-artige Grimasse, während sie beteuerte, dass das bestimmt nur ein einmaliger Fauxpas ihrerseits gewesen war.
Frau Hoffmann ärgerte sich über sich selbst. Wie hatte sie das nur vergessen können. Wie hatte sie nur so ungeschickt sein können, Caitlin eine solche Angriffsfläche zu geben. Die Tatsache, dass sie es gewagt hatte, sie beim Vornamen zu nennen, nachdem sie Frau Hoffmann wenige Sekunden zuvor aufgefordert hatte das nicht zu tun, war die größte Frechheit.
Frau Hoffmann war mit Sicherheit nicht der Typ Mensch, der Streit suchte. Eigentlich gehörte sie eher zu der Sorte Mensch, die um jeden Preis Auseinandersetzungen zu vermeiden suchte. Doch Caitlin hatte einen Teil in Frau Hoffmann zum Leben erweckt, den es nicht im Geringsten störte in den Krieg zu ziehen. Im Gegenteil. Dieser Teil polierte emsig seine eiserne Rüstung, während Frau Hoffmann in den Aufzug stieg und nach oben fuhr.
- Kapitel 31
Frau Seizinger bat Frau Hoffmann um ein wenig Geduld und bot ihr einen Kaffee an, den Frau Hoffmann dankend ablehnte. Einige Minuten später öffnete Caitlin Connelli die Tür zu ihrem Büro. „Renate, treten Sie doch bitte ein...“ Frau Hoffmann machte keine Anstalten Caitlins Aufforderung zu folgen. Sie blieb wie angewurzelt im Vorraum zu Caitlins Büro stehen. Frau Seizinger beobachtete die angespannte Situation mit einer kindlichen Neugierde, die Frau Hoffmann amüsierte. „Gibt es hier ein Problem?“, fragte Caitlin. Frau Hoffmann zuckte mit den Schultern. Ihre Rüstung glänzte. Der Kampf konnte beginnen. Sie streckte Caitlin die Ausdrucke entgegen. „Kommen Sie doch einfach für einen Moment zu mir ins Büro, Renate.“, sagte Caitlin, der es ganz offensichtlich unangenehm war den Kampf vor ihrer Sekretärin auszufechten.
„Für Sie Frau Hoffmann...“, sagte Frau Hoffmann bestimmt. In ihrer Stimme war nicht einmal ein winziger Hauch von Schwäche. Sie klang kühn und kühl.
„Was haben Sie gesagt?“, fragte Caitlin.
Frau Hoffmann merkte ihr an, dass sie am Rande eines Wutausbruchs stand, was sie jedoch kein bisschen verunsicherte. Im Gegenteil. Ihre stetig steigende Wut schien das kleine Biest in Frau Hoffmann vielmehr zu füttern. „Haben Sie schon einmal davon gehört, dass man sich den Respekt seiner Mitarbeiter verdienen muss, Frau Connelli?“
Caitlins eisblaue Augen starrten hasserfüllt in Frau Hoffmanns. „Und haben Sie schon einmal gehört, Frau Hoffmann, dass man seinen Vorgesetzten allein schon ihrer Stellung wegen den gebührenden Respekt zu zollen hat?“, fragte Caitlin.
„Ja, das habe ich einmal irgendwo gelesen...“, sagte Frau Hoffmann freundlich. „In der Theorie gebe ich Ihnen auch recht, meine Liebe, doch in der realen Welt greift die Theorie leider nicht immer...“
„Jetzt reicht es!“, schrie Caitlin, sichtlich verzweifelt. „Genug!“ Sie griff nach den Ausdrucken, die Frau Hoffmann noch immer in der Hand hielt.
Caitlin steuerte auf ihr Büro zu, dann jedoch blieb sie abrupt stehen und wandte sich erneut Frau Hoffmann zu. „Ich kann wirklich verstehen, dass Sie frustriert sind...“, sagte sie laut, „...doch Sie haben nicht das Recht das an mir auszulassen...“
Frau Hoffmann verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Wie kommen Sie darauf, dass ich frustriert bin?“, fragte Frau Hoffmann mit hochgezogenen Brauen.
„Ja, sehen Sie sich doch nur einmal an!“, plärrte Caitlin hysterisch. Frau Seizinger hielt die Luft an. Frau Hoffmann schwieg und Caitlin schien zu verarbeiten, dass sie das, was eigentlich nur hatte denken wollen, tatsächlich laut ausgesprochen hatte. „Was ich eigentlich sagen wollte, war, dass es für Sie sicher schwer sein muss eine so viel jüngere Frau als Vorgesetzte anerkennen zu müssen.“
„Wohl eher eine so viel weniger erfahrene“, sagte Frau Hoffmann gefasst. Ihr kleines Biest triumphierte.
Wenige Minuten später, stieg Frau Hoffmann wieder in den Aufzug. Es schien ihr so, als wäre da plötzlich eine neue Stimme in ihr, die nicht ihr gehörte. Diese mutige und schlagfertige Stimme schien ihr fremd und doch dunkel vertraut. Sie hatte sie schon öfter gehört, nur dass das schon viele Jahre zurück lag. Frau Hoffmann schmunzelte verlegen. Mit dieser Stimme hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte geglaubt, sie wäre vor langer Zeit an einem verhangegen Novembertag für immer verstummt.
- Kapitel 32
Drei Minuten vor Beginn der Mittagspause klopfte Frau Kleinschmidt aus der Finanzabteilung an der Tür. Frau Hoffmann schaute auf die Uhr, stand auf und griff nach ihrer Handtasche. Gemeinsam gingen die beiden Frauen den Flur hinunter und warteten auf den Fahrstuhl. Außer der Begrüßung hatten beide noch kein Wort gesprochen. Frau Hoffmann war es schlichtweg nicht gewohnt in der Mittagspause begleitet zu werden, was sie im Laufe der Zeit ein wenig mundfaul gemacht hatte. Für einen kurzen Moment fragte sich Frau Hoffmann, welche plausible Begründung Frau Kleinschmidt hatte so schweigsam zu sein, als diese schüchtern fragte, „Wo möchten Sie denn gerne hingehen?“
Die Aufzugtüren öffneten sich und sie stiegen ein. „Kennen Sie den kleinen Italiener an der Ecke?“, fragte Frau Hoffmann freundlich.
Frau Kleinschmidt schaute kurz nachdenklich, dann sagte sie, „Gesehen habe ich ihn schon, aber ich habe noch nie dort gegessen...“
„Stört es Sie, wenn wir dort hin gehen?“, fragte Frau Hoffmann mit einem leicht ängstlichen Unterton. Es störte sie nicht, mit Frau Kleinschmidt zu essen, was, nebenbei bemerkt schon eine große Veränderung war. Der Gedanke jedoch mit Frau Kleinschmidt in einem anderen Restaurant zu essen, noch dazu in einem, das Frau Hoffmann nicht kannte, verschreckte sie. Der Aufzug setzte sich in Bewegung.
„Wenn Sie gerne dort essen möchten, können wir gerne dort hingehen.“ Frau Hoffmann nickte erleichtert.
Frau Kleinschmidt zog die schwere Holztür auf, und ließ Frau Hoffmann eintreten. Frau Hoffmann bedankte sich und steuerte zielsicher zu ihrem Platz am Fenster. „Das ist ein sehr schönes Lokal“, sagte Frau Kleinschmidt nachdem sie sich umgeschaut hatte. Und in der Tat, das Restaurant war wirklich schön. Es verströmte eine gemütliche und freundliche Atmosphäre. Alle Tische und Stühle waren aus dunklem, schweren Holz, genauso wie die Tür, auf den Tischen lagen rot weiß karierte Tischdecken, und auf jedem Tisch stand eine kleine bauchige grüne Flasche, an der dicke Wachstropfen hingen. Die Kerzen waren alle schon ein Stück herunter gebrannt. An den rostroten Wänden hingen Bilder in dunkeln Holzrahmen. Und auf den Holzfensterbrettern standen leere, ettikettlose Weinflaschen in den verschiedensten Farben, in deren schmalen Hälsen nun einzelne Blumenstile steckten. „Kommen Sie immer hierher?“, fragte Frau Kleinschmidt neugierig.
Frau Hoffmann nickte. „Seit sieben Jahren...“
„Seit sieben Jahren kommen Sie in jeder Mittagspause hierher?“, fragte Frau Kleinschmidt erstaunt.
„Ich fühle mich hier wohl...“, sagte Frau Hoffmann knapp.
Wenige Sekunden später kam ein junger braungebrannter Mann an den Tisch. Um seine schmalen Hüften hatte er eine schwarze Schürze gebunden. „Ah, Signora Hoffmann, was kann ich Ihnen bringen?“ Frau Hoffmann bat um zwei Karten, obwohl sie genau wusste, was sie bestellen würde. Der gut aussehende Kellner nickte und verschwand hinter der Bar. Kurz später kam er mit zwei Speisekarten zurück. „Wissen die Damen schon, was sie trinken wollen?“ Frau Hoffmann bestellte eine große Flasche stilles Wasser – so wie immer – Frau Kleinschmidt bestellte ein Spezi.
„Wo gehen Sie denn immer zum Essen hin?“, fragte Frau Hoffmann, nur um der Frage willen. Frau Kleinschmidt gestand, dass sie meistens in der Firmenkantine aß, was Frau Hoffmann schlichtweg nicht fassen konnte. „Aber das Essen dort ist grauenhaft... Es ist ungenießbar...“, sagte Frau Hoffmann kopfschüttelnd.
„Da haben Sie recht...“, lachte Frau Kleinschmidt, „...aber es kam mir immer komisch vor, alleine in ein Restaurant zu gehen... Ihnen nicht?“ Frau Hoffmann schüttelte den Kopf, was Frau Kleinschmidt zu beeindrucken schien. „Für mich ist alleine Essen zu gehen, wie alleine ins Kino zu gehen“, sagte Frau Kleinschmidt, während sie die Karte studierte. „Es scheint immer so, als würden einen alle Menschen seltsam mitleidig ansehen, weil man ohne Begleitung unterwegs ist.“ Frau Hoffmann wusste, was sie meinte. Sie hatte auch schon des Öfteren derartige Blicke auf sich gespürt, doch sie hatte das nie als wirklich schlimm gefunden. „Dann gehen Sie also auch alleine ins Kino?“, fragte Frau Kleinschmidt ungläubig.
Frau Hoffmann schloss die Karte. „Ich gehe eigentlich nie ins Kino...“, sagte Frau Hoffmann. Und das Wörtchen eigentlich war in diesem Zusammenhang irreführend, weil es implizierte, dass Frau Hoffmann ab und an eben doch ins Kino ging, was jedoch nicht stimmte. Frau Hoffmann ging nie ins Kino. Erstens war es ihr zu teuer und zweitens kannte oder mochte sie die meisten Schauspieler ohnehin nicht.
„Seit meiner Scheidung vor vier Jahren lebe ich ziemlich zurückgezogen“, sagte Frau Kleinschmidt. Es wunderte Frau Hoffmann, dass Frau Kleinschmidt Privates von sich preisgab, weil sie davon ausgegangen war, dieses Essen würde eine Ansammlung höflicher, jedoch vollkommen oberflächlicher Themen unter Kolleginnen. „Wir waren zehn Jahre verheiratet...“, sagte Frau Kleinschmidt, „...ich habe sehr jung geheiratet...“
Der Kellner brachte eine Flasche stilles Wasser und ein großes Glas Spezi an den Tisch. Er stellte das Glas auf einen Filzuntersetzer und schenkte Frau Hoffmann einen Schluck ein, stellte die Flasche dann an den Rand. „Wollen Sie bestellen?“, fragte er lächelnd. Frau Hoffmann bestellte die Penne mit Vierkäsesauce, Frau Kleinschmidt bestellte ein Cotoletto Bologna. Der Kellner kritzelte die Bestellung auf einen kleinen Block, nickte anerkennend und verschwand in der Küche.
„Wie alt waren Sie denn, als sie geheiratet haben...“, fragte Frau Hoffmann neugierig.
„Ich war gerade zwanzig...“
Frau Hoffmann verschluckte sich an ihrem Wasser. „Und warum haben sie so früh geheiratet?“
Frau Kleinschmidt zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn geliebt, denke ich...“