„Nein, das tue ich nicht.“ Ich versinke in seinen unergründlichen Augen. „Ich habe Schuldgefühle.“

„Und weswegen genau?“

„Genau darüber denke ich nach.“ Ich betrachte sein Gesicht. Ein Teil in mir vertraut ihm blind. Da ist wieder dasselbe Gefühl der Vertrautheit. Er ist wieder der beste Freund, mit dem ich unbeschreiblich guten Sex habe. Er ist diese Person, mit der ich über alles reden kann. Und gleichzeitig ist er der Mensch, der mein Vertrauen missbraucht hat. Der Mensch, der unsere Liebe verraten und mich übersehen hat.

„Was geht dir durch den Kopf?“, fragt er und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich weiß nicht, ob ich dir traue.“

„Du kannst mir trauen.“

„Genau das ist das Problem. Ich bin mir da nicht so sicher.“ Seine Lippen sind warm und weich. Mit geschlossenen Augen konzentriere ich mich auf meine Haut, die unter jeder seiner Berührungen kribbelt. „Ich weiß nicht, ob ich Schuldgefühle habe, weil ich Tobias betrogen habe, oder ob ich Schuldgefühle habe, weil ich keine deswegen habe.“

„Ich hoffe, es ist die zweite Variante“, flüstert er.

„Ich hoffe, es ist die erste.“

Julian setzt sich auf. „Und warum?“

„Weil ich dann ein besserer Mensch wäre. Ein Mensch, der wenigstens zwischen falsch und richtig unterscheiden kann.“

„Denkst du denn, dass es falsch war?“ Und da ist es wieder. Sein Lächeln.

„Ich weiß es nicht.“

„Es war nicht falsch.“

„Das, was wir tun, verletzt andere und damit ist es in jedem Fall falsch.“

„Wenn du das so siehst, solltest du gehen.“

„Ja, das sollte ich.“

„Und? Wirst du gehen?“

„Ich weiß es nicht.“

Ich schlafe mit ihm. Und ich weiß, dass ich es nicht tun sollte. Ich weiß, dass es falsch ist. Aber wie kann etwas, das sich so anfühlt, falsch sein? Ach, und wenn schon. Dann ist es eben falsch. Ist mir egal. Alles um mich herum ist mir egal. Ihn zu spüren ist fantastisch. Die Art, wie er sich bewegt, durchdringt mich. Alles in mir spürt ihn. Seine Haut bedeckt meine, seine Lippen streifen meine Wange. Seine rechte Hand hält mich am Nacken, die linke berührt sanft meine Stirn. Sein Körper ergänzt meinen, füllt mich aus. So, als würde er mich vervollständigen. Sein Atem vibriert in meinem Brustkorb und dringt in jede meiner Zellen. Mit ihm zu schlafen, war immer intensiv. Es war wie ein Rausch. Und auch dieses Mal ist es ein Rausch. Julian wusste immer, wie er mich anfassen muss. Er wusste immer, was ich brauche und was ich will. Manchmal wusste er es, bevor ich es wusste.

Ich liege mit dem Gesicht auf Julians Brust. Sein Herz schlägt gegen meine Schläfe. Der feuchte Film auf seiner Haut vermischt sich mit dem auf meiner. „Hier ist es fast so heiß, wie in unserer ersten Wohnung. “

„Ich kann das nicht, Julian.“

„Was kannst du nicht?“, fragt er irritiert.

„Na, dieser Trip in die Vergangenheit ist irgendwie zu viel.“

„Aber mit mir schlafen ist nicht zu viel?“ Ich setze mich auf und greife wortlos nach meiner Hose. „Anja, warte.“

„Nein, du hast recht“ Ich ziehe mir den Pulli über den Kopf und stehe auf. „Das ist alles falsch.“

„Falsch? Warum hast du es dann getan?“

„Ich weiß es nicht.“ Ich knöpfe die Jeans zu und suche nach meinen Socken.

„Dann ist es also die erste Variante.“

Ich schaue ihn an. „Vielleicht, ja.“

„Na, dann freue ich mich für dich. Du bist ein besserer Mensch als du dachtest.“

„Julian, ich bin seit zehn Jahren mit demselben Mann zusammen. Und ich habe in diesen zehn Jahren auch nur mit ihm geschlafen. Wir haben ein Haus zusammen gebaut. Ich liebe Tobias.“ Ich hebe das Haargummi vom Boden auf und binde mir die Haare zusammen. „Ich habe ihn hintergangen und das in jeder nur denkbaren Weise. Und das nicht mit irgendwem. Sondern mit dir.“ Er setzt sich auf und schaut mich an. „Verstehst du, mit einem Fremden könnte ich mir einreden, dass es einfach der Moment war oder Alkohol oder der tiefe Wunsch nach Bestätigung. Und wir haben nicht einmal getrunken. Ich habe extra Wasser bestellt.“

„Und was willst du damit sagen?“

Ich setze mich auf die Bettkante und vergrabe mein in den Händen. „Keine Ahnung.“

„Ich habe dir vorhin schon gesagt, dass es mir nicht nur um eine Nacht geht.“

„Aber worum dann?“, frage ich und schau ihn an. „Wenn es dir nicht um Sex geht, worum geht es dir dann?“

„Um dich.“

 

  1. Kapitel 25  

In der Nacht, als ich Tobias zum ersten Mal betrogen habe, wusste ich genau, was ich tue, auch, wenn ich es gerne auf diese fremde Frau schiebe, die angeblich ganz ohne mein Zutun die Zügel übernimmt und die dreckige Realität mir überlasst. Die dreckige Realität war dabei erschreckenderweise meine Ehe. Die Wahrheit ist, ich bin diese Frau. Zumindest zum Teil. Ich wusste, was ich tue. Und ich wusste, was es bedeutet. Ich wollte der Versuchung widerstehen. Aber auch, wenn ich es versucht habe, bleibt die Frage offen, wo Betrug anfängt. Beginnt Betrug bei einem Kuss? Oder reicht das Verlangen danach?

Ich weiß, dass ich Tobias betrogen habe. Das ist völlig klar und steht außer Frage. Aber um was genau habe ich ihn betrogen? Um die Wahrheit? Um sein als mein Ehemann ausschließliches Recht auf meinen Körper?

Es ist schon faszinierend, wie unser Gehirn funktioniert. Der erste Betrug kostet die meiste Überwindung. Da denkt unsere Vernunft noch, dass sie uns davon abhalten kann. Wenn man es dann trotz aller Versuche es nicht zu tun, doch tut, lernt das Gehirn. Das zweite und dritte Mal sind noch schwierig, aber nach und nach wird es leichter. Irgendwann kommt der Punkt, an dem die Vernunft aufgibt, weil sie weiß, dass sie keine Chance hat. Und das Gehirn rechtfertigt dieses Verhalten mit Lügen. Ich habe nicht nur Tobias belogen. Ich habe vor allem mich selbst belogen. Und wenn einem das klar wird, wenn man realisiert, wie man sich die Realität schönlügt, wird es ganz plötzlich, völlig unvermittelt, unerträglich. So, als erwachte man aus einem seltsam realen Traum. Zumindest war es bei mir so.

Ein paar gestohlene Nächte hätte ich vermutlich noch vertreten können. Ausrutscher. Ich hätte mir gesagt, dass es pure Lust war. Nichts weiter. Reine körperliche Begierde. Auch, wenn ich in meinem Inneren gewusst hätte, dass es nicht stimmt. Ich hätte es trotzdem geschafft, mich davon zu überzeugen.

Der springende Punkt ist, es waren nicht nur ein paar Nächte. Irgendwann kamen zu den Nächten die Mittagspausen. Und dann noch die angeblichen Überstunden. Und irgendwann, und ich denke, dass da der wahre Betrug angefangen hat, kamen lange Gespräche. Diese Intimität zwischen Julian und mir. Diese Vertrautheit, das Lachen, die Diskussionen. Der eigentliche Betrug ist nämlich, dass Julian alles wusste. Zwischen uns gab es keine Geheimnisse. Er wusste von Tobias. Er wusste, dass ich verheiratet war. Tobias war als einziger unfreiwillig in dieser Dreierbeziehung. Er wusste nichts. Und das ist der wirkliche Betrug. Denn er hätte der Mensch sein sollen, mit dem ich alles teile. Meinen Körper, meine Geheimnisse, meine Ängste und Sorgen. Mein Leben. Und das habe ich lieber mit Julian geteilt. Und das schlimmste ist, dass ich das nicht kapiert habe. Ich habe mich viel zu sehr auf den Akt des Betrugs eingeschossen. So als wäre der Sex das Problem und nicht der Auslöser. Sicher, das war nicht in Ordnung, aber das war ganz nüchtern betrachtet eigentlich das kleinere Übel.

Ich fahre in die Tankstelle und parke. Ich habe vor acht Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Und wieder weiß ich, dass ich mich gerade falsch entscheide und tue es trotzdem. Ich bin so armselig. Und ich frage mich, ob es allen Menschen so geht. Wissen die auch, dass das, was sie tun oder vorhaben falsch ist, oder bemerken es die meisten erst hinterher?

Ich lege das Geld auf den Tresen und stecke die Schachtel und ein Feuerzeug ein, dann gehe ich zum Auto zurück und fahre los. Ich habe kein konkretes Ziel. Ich fahre nur. Und je weiter ich mich von unserem Haus entferne, desto besser geht mir.

Nach etwa zwanzig Minuten begreife ich, wo ich hinfahre. Und ich bin amüsiert über mich selbst. Ich biege links ab und parke wenig später vor dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich steige aus und betrachte den schmalen gepflasterten Weg, der zur Haustür führt. Genau hier haben wir uns zum ersten Mal geküsst. Ich erinnere mich noch an den Morgenhimmel.

Es ist schon komisch, aber ich habe ewig nicht mehr an dieses Haus gedacht. Weder an die Geschichte, die sich hier abgespielt hat, noch an meine Familie. Oder zumindest meine Familie, wie sie damals war.

Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich zwanzig war. Im Grunde waren sie schon viel länger getrennt, auch wenn sie unter einem Dach gelebt haben. Jeder wusste es. Damals habe ich mich immer gefragt, warum sie sich das angetan haben. Ich glaube, inzwischen kann ich es verstehen. Ich habe es das vergangene Jahr nicht anders gemacht. Meine Eltern waren Freunde. So wie Tobias und ich. Und auch meine Affäre hat nichts daran geändert, dass ich Tobias geliebt habe. Ich nehme an, dass das bei meinen Eltern auch so war. Zumindest bis mein Vater Lena kennengelernt hat. Dann kam die Scheidung. Und der Streit. Und der Verkauf des Hauses.

Ich bücke mich und lese den in verschnörkelten Buchstaben geschriebenen Namen auf dem Klingelschild. Bauer. Aha. Der Name Kraus hat mir auf diesem Schildchen um Einiges besser gefallen. Im Nachhinein betrachtet, war das einer der traurigsten Augenblicke meines Lebens. Und ja, ich weiß, dass viele Menschen viel Schlimmeres erleben. Das ändert nichts daran, dass zu dieser Zeit mein Glaube an die Liebe und die Ehe ziemlich ins Wanken geraten ist. Mit diesem Haus verbinde ich meine Familie. Und jetzt wohnen da Bauers. Als ich ein Kind war, war dieser Ort behütet und sicher. Ich hatte eine gute Kindheit. Wir haben gemeinsam zu Abend gegessen und gelacht. Meine drei Geschwister und ich haben uns hier oft gestritten. Und wir haben uns wieder vertragen. Ein beträchtlicher Bestandteil meines Lebens hat genau hier stattgefunden. Und nun wohnen Fremde in meinem Zuhause. Jetzt schreiben sie dort ihre Geschichte, ohne etwas von unserer zu wissen. Sie schlafen in meinem Zimmer und kochen in meiner Küche. Bei diesen Gedanken muss ich über mich lachen. Vielleicht, weil sie so kindlich sind.

 

  1. Kapitel 26  

Er zeigt einer Stewardess sein Ticket, dann dreht er sich noch einmal zu mir um. Und in diesem Augenblick, weiß ich, dass es das war. Die letzten fünf Jahre gehen hier zu Ende. Und dieses letzte Kapitel unserer Geschichte macht mich fertig.

Ich werde nach Hause fahren in unsere Wohnung. Und er wird währenddessen ein neues Leben anfangen. Ich werde in unserer Wohnung sitzen und an ihn denken. Und er wird das neue Leben auskosten. Ohne mich. Ich habe ihn gebeten zu bleiben. Und es hat mich Überwindung wirklich gekostet, das zu tun. Doch ich habe es gesagt. Ich habe gesagt Bitte bleib. Doch er ist gegangen.

Ich fahre die Rolltreppe hinunter. Eigentlich wusste ich immer, dass Julian nicht der Typ ist, der sich festlegt. Gut, wir sind seit fünf Jahren zusammen, oder sollte ich sagen, wir waren fünf Jahre lang zusammen, doch wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst wäre, dann würde ich mir eingestehen, dass es nur deswegen so lange gut gegangen ist, weil ich seinen Weg mitgegangen bin. Ich habe meinen vor etwa vier Jahren verlassen. Er hat alles vorgegeben. Die Route, die Geschwindigkeit, sogar die Schrittlänge. Und ich habe versucht, Schritt zu halten.

Ist das seine Schuld? Oder war es meine? Egal, wer Schuld hat, Fakt ist, dass ich ihn gebeten habe, nicht zu gehen. Ich habe ihn gebeten, sich hier ein Praktikum zu suchen. Aber nein, es musste ja New York sein. Ich wollte Journalismus studieren, aber meine Noten haben nicht gereicht. Das Witzige ist, dass Julian das nicht weiß. Ich habe ihm erzählt, dass ich versuche, einen Platz zu bekommen, er hat mich aber nie gefragt, ob es geklappt hat. Genau das meine ich. Er hat irgendwann damit aufgehört zuzuhören. Es ging nur um ihn. Sein Praktikum, sein Jura-Studium, seine Karriere, seine Zukunft. Irgendwie war da vor lauter Julian kein Platz für mich. Die Wahrheit ist, ich habe das nicht sehen wollen. Vielleicht, weil ich ihn dann hätte verlassen müssen, oder schlimmer noch, er mich verlassen hätte.

Ich glaube aber, das Schlimmste ist, dass er mich nie gefragt hat, ob ich mit ihm gehen will. Er wusste, dass ich nicht studiere, er wusste, dass mich nichts hier hält und trotzdem kam nie die Frage. Es kamen Ausflüchte, es kamen seltsame Vorwände, aber nicht die alles entscheidende Frage. Vermutlich, weil er wusste, dass ich ja gesagt hätte. So wie zu allem anderen. Ich wäre weiter seinen Weg mitgegangen, anstatt meinen eigenen zu suchen. Ich wollte das Gefühl haben, dass er mich ebenso liebt, wie ich ihn. Ich wollte, dass er allein bei der Vorstellung, ein Jahr ohne mich aushalten zu müssen, Atemnot bekommt. Doch so war es nicht. Stattdessen sagte er immer, das schaffen wir schon. Nein, Julian. Ich schaffe das nicht. Ich kann nicht mehr neben dir herhecheln, in der Hoffnung, dass es irgendwann einmal auch Platz für meine Wünsche und Träume gibt. Ich kann nicht länger ignorieren, dass du ausschließlich an dich selbst denkst. Ich habe immer versucht, mich zu schützen. Vor diesem einen Augenblick. Vor dem Moment, in dem du mich verlässt. In meiner Vorstellung war es immer wegen einer anderen Frau und nicht wegen eines Praktikums, aber es läuft auf dasselbe hinaus.

Und obwohl ich so sehr versucht habe, mich vor dieser Situation zu schützen, ist es genau so gekommen. Mit dem klitzekleinen Unterschied, dass er nicht weiß, dass seine Entscheidung in dieses Flugzeug zu steigen, das Ende unserer Beziehung war.

Er hätte vermutlich angerufen und er hätte auch geschrieben. Er hätte mir von der tollen Stadt, den offenen Menschen, der kosmopolitischen Umgebung, den Künstlern, der Architektur und all so was vorgeschwärmt. Und bei einem dieser Telefonate hätte er mir dann gesagt, dass die Distanz einfach doch zu viel wäre. Oder, dass er sich in eine andere verliebt hätte. Am besten nach elf Monaten, in denen ich ihm treu gewesen wäre. Oder er hätte sich am Ende des Praktikums entschieden, dort zu bleiben, weil man ihm ein fantastisches Angebot gemacht hätte, das er unmöglich hätte abschlagen können. Und genau deswegen habe ich heute Morgen am Flughafen meinen Brief eingeworfen. Er liegt gerade auch irgendwo auf diesem Gelände herum. Und auch er wird in einem Flugzeug nach New York gelangen und dann an Julians winziges Appartement zugestellt werden. Und dann wird er es wissen. Er wird wissen, dass seine Entscheidung in dieses Flugzeug zu steigen, das Ende unserer Beziehung war.

Ich greife instinktiv nach dem Muschel-Anhänger. Das tue ich ständig. Doch sie ist weg. Da ist nur noch die Kette. Drei Jahre lang habe ich sie getragen. Jeden Tag und jede Nacht. Ich habe sie nicht ein einziges Mal abgelegt. Es wird eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe. Und ein Teil in mir bereut es, dass ich sie mit in den Umschlag gesteckt habe. Vielleicht war das ein Fehler.

 

  1. Kapitel 27  

Ich sitze im Auto und rauche eine Zigarette. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass sie gut schmeckt, aber ich bilde mir ein, dass sie mir in diesem Moment gut tut. Und ich genieße sie. Vielleicht auch, weil ich das Rauchen Tobias zuliebe aufgegeben habe und es Tobias jetzt egal wäre. Es wäre ihm vermutlich auch egal, wenn ich mich von der Großhesseloher Brücke werfen würde. Überspitzt dargestellt.

Es ist halb vier morgens. Normalerweise würde ich in drei Stunden aufstehen und duschen. Ich würde mich anziehen und frühstücken und dann würde ich mich von Tobias verabschieden. Ich würde in die Arbeit fahren. Eine Arbeit, in der ich verdammt gut bin, die mir aber leider nichts gibt. Und dann würde ich spätestens in der Mittagspause Julian anrufen.

Ich will gerade losfahren, als mein Handy klingelt. „Tobias?“, frage ich erstaunt.

„Wo bist du?“

„Ich stehe vor dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin“, antworte ich und ziehe eine weitere Zigarette aus der Schachtel.

„Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Wie kann er sich Sorgen um mich machen? Nach allem, was ich getan habe. Nach all den Lügen? „Dir geht es also gut.“

„Es geht mir beschissen, aber ich bin in Ordnung.“

Eine Weile schweigen wir beide. Dann sagt er, „Da ist etwas, das mich seit Stunden beschäftigt.“

„Und was?“, frage ich und zünde die Zigarette an.

„Rauchst du?“

„Was hat dich stundenlang beschäftigt?“, ignoriere ich ihn.

„Bedeutet die Tatsache, dass du ihn heute versetzt hast, dass du dich für mich und unsere Ehe entschieden hättest?“ Das ist eine gute Frage. Und ich habe keine Ahnung. Vielleicht bedeutet es das. Vielleicht habe ich mich aber auch einfach für die Wahrheit entschieden. Und das bedeutet, dass ich mich letzten Endes für mich und gegen die Lügen entschieden habe. „Ich weiß, dass das im Grunde nichts ändert. Zumindest sollte es das nicht, weil ich dir nicht mehr vertrauen kann, aber es ist wichtig für mich.“

„Ich konnte nicht mehr lügen“, sage ich schließlich.

„Das heißt, du hast dich also nicht bewusst für unsere Ehe entschieden?“

„Das heißt, dass ich mich bewusst gegen weitere Lügen entschieden habe.“

„Verdammt noch mal, Anja, ich versuche dich zu verstehen. Ich versuche zu verstehen, was an dem dran ist, was du gesagt hast.“

„An was?“

„Na, an deinen Vorwürfen, dass ich so rational bin und nur mit dem Kopf liebe.“

„Ich hätte das nicht sagen sollen“, sage ich seufzend. „Es war nicht fair, dir ein schlechtes Gewissen einzureden. Ich bin schuld. Ich allein. Okay?“

„Nein, es ist nicht okay, wenn du das nicht wirklich so siehst.“

„Was willst du von mir hören?“

„Die Wahrheit.“

„Gut, die Wahrheit ist, dass ich es genauso sehe, wie ich es gesagt habe.“ Ich ziehe an der Zigarette. „Ich habe mich verändert und du bist gleich geblieben. Und daran ist eigentlich nichts Schlimmes. Es passt eben einfach nicht zusammen.“

„Warum hast du nicht mit mir geredet?“

„Ich habe das erst bemerkt, als ich ihn wieder getroffen habe. Ich habe erst durch ihn begriffen, dass ich einmal ganz anders war, viel offener, viel weniger ängstlich, weniger sicherheitsbedürftig.“ Ich atme tief ein. „Tobias, ich habe einen Job, in dem ich wahnsinnig gut bin, der mich zu Tode langweilt, ich habe einen Mann, der ganz fantastisch ist, aber dessen Fantasie leider ausschließlich in irgendwelche Hausmodelle fließt und dann taucht er plötzlich auf. Du und ich leben zwar zusammen, aber ziemlich oft doch eher aneinander vorbei.“ Ich schließe die Augen und massiere meine Stirn. „Ich habe es nicht gesehen. Ich dachte wirklich, wir wären glücklich.“

„Ich war glücklich“, sagt Tobias nach einer Weile.

„Okay, dann war eben nur ich nicht glücklich. Aber zeigt das nicht einmal mehr, dass uns offensichtlich völlig unterschiedliche Dinge glücklich machen?“

„Du hättest mit mir reden müssen.“ Seine Stimme klingt müde und ausgelaugt. „Gleich nach dem ersten Mal. Du hättest es mir sagen müssen. Du hättest ehrlich zu mir sein müssen.“

„Du hast recht“, gebe ich zu. „das hätte ich.“

„Und warum hast du es nicht getan? Und bitte, sag mir die Wahrheit.“

„Die Wahrheit?“

„Ja, Anja, die Wahrheit. Weißt du, das Gegenteil von lügen.“

„Ich wollte ihn viel zu sehr.“ Er schweigt. Was soll er auch sonst tun? „Mit ihm fühle ich mich lebendig.“

„Und das hättest du mit mir nicht gekonnt?“

„Tobias, nimm es mir nicht übel, aber du bist nicht spontan. Du bist nicht der Typ, der mich, wenn wir Spazierengehen in eine zufällig offene Tiefgarageneinfahrt zieht und zwischen zwei BMWs mit mir schläft.“

„Ich will das nicht hören.“

„Ja, aber so ist es.“

„Und das brauchst du?“, fragt er verständnislos. „Sex in Tiefgaragen?“

„Mein Gott, Tobias, das war nur ein Beispiel. Es geht nicht um die Tiefgarage. Es geht um Spontaneität, es geht um das Gefühl von Abenteuer zwischen der ganzen Routine. Es geht um Augenblicke, von denen niemand sonst weiß, Augenblicke, die einen verbinden. Ich will ab und zu Adrenalin und ich will kindisch sein können. Ich will nicht nur leben, ich will lebendig sein. Und das, was wir tun, ist einfach nicht meine Vorstellung von lebendig sein. Wir leben. Und das war lange gut, aber das reicht mir nicht mehr.“

„Warum hast du mich dann nicht einfach verlassen? Warum bist du nicht zu ihm gegangen? Oder war das Betrügen Teil des Adrenalins?“

„Nein, war es nicht“, antworte ich und hoffe, dass es stimmt. „Ich habe dich geliebt. Und ich liebe dich noch. Und es gibt viele Dinge, die ich an uns geliebt habe und von denen ich dachte, dass ich sie brauche, und dass ich ohne sie nicht leben kann.“

„Was, zum Beispiel?“

„Na, manche Rituale, die Geborgenheit, die Sicherheit, dein ruhiges, ausgeglichenes Wesen... Vieles eben.“

„Willst du mir damit sagen, dass du ihn für den Sex und die Aufregung und das Abenteuer hattest und mich für die Geborgenheit?“ Seine Stimme vibriert. „Bitte sag mir, dass es nicht so ist.“

„Doch“, sage ich seufzend. „wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass es genau das war. Das Beste aus beiden Welten.“

„Ich hätte auch andere haben können.“

„Daran habe ich keinen Zweifel.“

„Hatte ich aber nicht.“, sagt er aufgebracht.

„Hättest du es denn gerne getan?“ Er schweigt. „Tobias?“

„Ja, vielleicht. Der Unterscheid ist, ich habe mich zusammengerissen.“

„Und darauf bist du stolz?“, frage ich ruhig.

„Was heißt da stolz?“

„Tobias, denkst du, ich hatte diesen Gewissenszwiespalt nicht? Natürlich hatte ich den. Und im Unterschied zu dir, hat bei mir eben das Verlangen gewonnen.“ Ich zünde mir eine weitere Zigarette an. „Die Tatsache, dass du dieses Verlangen kontrollieren musstest, zeigt im Grunde doch, dass du so ganz und gar glücklich auch nicht gewesen sein kannst.“

„Verdreh‘ jetzt nicht die Tatsachen.“

„Ich verdrehe gar nichts“, sage ich bestimmt. „Und wenn man es einmal genau nimmt, dann hast du mir von diesem Verlagen und den Möglichkeiten und den anderen Frauen, die du hättest haben können und vielleicht auch haben wollen, ja auch nichts gesagt.“ Ich ziehe an der Zigarette. „Der Unterschied zwischen uns beiden ist, dass ich das getan habe, worüber du nur nachgedacht hast. Und das spiegelt ziemlich genau wider, wie unterschiedlich wir beide sind. Ich tue es und du denkst darüber nach. Sonst unterscheidet uns nichts.“

„Soll das etwa heißen, dass es besser gewesen wäre, wenn ich dich auch hintergangen hätte?“, fragt er irritiert. „Wie krank ist das denn? Das sagst du nur, weil du dann Gesellschaft hättest auf deinem... deinem Ehebrecher-Boot.“

Ich muss unfreiwillig lachen. „Auf meinem was?“

„Du weißt schon, was ich meine.“

„Deine Assistentin...“, sage ich noch immer lächelnd.

„Was ist mit ihr?“

„Sie war eine von denen, die nicht nein gesagt hätten, richtig?“ Im Grunde muss ich das nicht fragen. Sie hatte immer diesen gewissen Gesichtsausdruck. Den erkenne ich, wenn ich ihn sehe. „Du brauchst nicht zu antworten“, sage ich nach einer Weile. „Ich weiß sowieso, dass ich recht habe.“

Ein paar Sekunden schweigen wir, dann fragt er, „Und du bist wirklich nicht bei ihm?“

„Denkst du denn tatsächlich, er sitzt gerade neben mir und wartet, bis wir das Telefonat beendet haben?“

„Hast du es vor?“

„Was? Zu ihm zu fahren? Ich habe gerade etwas anderes zu tun“, sage ich ausweichend, weil ich nicht weiß, was ich vorhabe. „Ich werde morgen eine Wohnung suchen und meinen Job kündigen.“

„Du kündigst?“, fragt er perplex. „Hat er dich dazu gebracht?“

„Nein, Tobias, ich bin ja nicht seine Marionette“, sage ich gereizt.

„Das habe ich auch nicht gemeint.“

„Ich weiß“, sage ich und atme tief durch. „Tut mir leid.“

„Und? Hat er?“

„Ja, zumindest teilweise.“

„Das hätte ich sein sollen...“ Dann schweigen wir wieder. „Anja?“

„Hm?“

„Du kannst nach Hause kommen. Zumindest bis zu etwas Neues gefunden hast. Wenn man es genau nimmt, ist es sowieso dein Haus.“

„Es ist vermutlich besser, ich nehme mir einfach ein Hotelzimmer.“

„Das sehe ich anders. Ein Hotelzimmer bringt dich näher zu ihm.“

 

  1. Kapitel 28  

Ich liege heulend auf dem Bett. Was ist, wenn es ein Fehler war? Ich meine, er ruft immer und immer wieder an. Vielleicht lernt er ja doch keine andere kennen? Und vielleicht schaffen wir es ja wirklich. Ich meine, wir sind seit fünf Jahren zusammen. Wäre doch möglich, dass wir das hinkriegen. Dann denke ich an manche Dinge, die Julian gesagt hat und bin mir wieder sicher, dass ich mich richtig entschieden habe. Wenn man es genau nimmt, hat er mir die Entscheidung abgenommen.

Meine Nase ist so verstopft, dass ich nicht mehr richtig atmen kann und meine Augen fühlen sich an wie kleine Luftkissen. Ich stehe auf und gehe ins Bad. Dort inspiziere ich meine gefleckte Haut und meine aufgedunsenen, knallroten Augen. Oder das, was von ihnen übrig ist. Es wird besser. Bestimmt. Ich werde aus dieser Wohnung ausziehen und mir einen Ort suchen, der ganz alleine mir gehört. Und in acht Wochen werde ich anfangen, BWL zu studieren. Etwas Handfestes. Lieber etwas Solides, etwas mit Zukunft. Journalismus ist sowieso eine weiche Wissenschaft. Vielleicht hatte Julian recht damit.

Und wieder klingelt das Telefon. Ich frage mich, ob er meinen Brief bereits bekommen hat. Vermutlich nicht. Andererseits, vielleicht ruft er deswegen an. Warum sonst sollte er mich anrufen, wo er doch in der aufregendsten und tollsten Stadt der Welt ist? Wer hat denn da noch Zeit, bei seiner Freundin anzurufen, die man vorsorglich lieber zu Hause gelassen hat?

Ich kann nicht schlafen. Alle paar Minuten werfe ich mich von einer Seite auf die andere. Ich habe die Bettwäsche umgedreht, mir etwas zu trinken geholt. Ich habe sogar eine Benjamin Blümchen Kassette eingelegt. Nichts. Ich bin hellwach.

In meinen Gedanken war Julian nie glücklicher. Er ist frei und kann tun und lassen, was er will. Ich stelle mir vor, was er alles erlebt, wie er Frauen nachsieht und wie er sich in diese fremde Stadt verliebt. Erst in sie und dann in eine aufregende, kreative New Yorkerin.

Ich stehe auf und gehe ins Bad. Warum ich das tue, weiß ich auch nicht. Keine Ahnung. Vielleicht lenkt mich das Bad besser ab als das Schlaf-, Wohn-, Ess-, Arbeitszimmer. Oder wie Julian sagen würde, das Alleszimmer. Ich öffne den Wäschebeutel und ziehe eines seiner getragenen T-Shirts heraus. Ich stecke mein Gesicht hinein und inhaliere bis mir schwindlig wird.

Er wird denken, ich habe ihn verlassen, um ihm den Spaß zu verderben. Dass ich ihm diese Erfahrung nicht gönne. Und vielleicht ist es so. Andererseits, vielleicht wird seine Erfahrung noch um einiges besser, wenn ihn nichts mehr hält. Wie hat Kai es so schön ausgedrückt? Sowas macht doch nur Spaß, wenn man keine Freundin hat. Ich denke, das stimmt. Und ich habe keine Lust darauf, ein Jahr meines Lebens mit Warten zu verbringen. Warten auf Anrufe, warten darauf, dass die Zeit vergeht, warten auf ihn. Darauf, dass er zurückkommt.

Er hätte nach London gehen können, oder nach Wien. Er hätte sich für Stuttgart entscheiden können. Aber es musste New York sein. Und ich frage mich, wie ihm nicht klar sein konnte, dass das etwas aussagt. Über ihn. Und über uns.

Es ist inzwischen fast vier Uhr morgens und kein Schlaf in Sicht. Zum ersten Mal wirkt dieses Bett riesig. Und irgendwie ist diese Wohnung viel weniger gemütlich. Zum ersten Mal finde ich sie heruntergekommen. Vielleicht sehe ich sie auch einfach endlich so, wie sie wirklich ist. Es sind vier alte Wände. Sonst nichts.

Ich lege mich wieder ins Bett und starre an die Decke. Anja, schlaf. Mach endlich das Licht aus und schlaf. Je länger du wach bist, desto länger tut es weh. Ich strecke mich und schalte das Licht aus, dann rolle ich mich auf die Seite und kneife die Augen zusammen. Die letzte Uhrzeit, an die ich mich erinnere, ist halb sechs.

 

  1. Kapitel 29  

Im Wohnzimmer brennt noch immer Licht. Als ich die Tür aufsperre, bemerke ich einen kleinen Karton. Ich bücke mich und hebe ihn auf. Auf einem Postaufkleber steht Anja Plöger, der Absender ist nicht ausgefüllt.

Ich schleiche ins Wohnzimmer. Tobias liegt mit weit ausgestreckten Armen auf der Couch. Für einen Moment wirkt es so, als wäre nie etwas gewesen. So als hätte es weder mein Geständnis, noch unser Telefonat je gegeben. Als wäre das alles nur ein böser Traum, aus dem ich gerade aufwache. Doch es war kein Traum.

Ich nehme den Karton und gehe ins Schlafzimmer. Ich weiß, von wem er ist. Bleibt nur die Frage, warum Julian diesen Karton vorbeigebracht hat. Einen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, ihn so wie er ist, in dem Müll zu werfen. Doch noch während ich das denke, weiß ich, dass ich das nie tun würde. Und das nicht nur wegen der Neugierde. Wenn man es genau nimmt, hat Julian nichts falsch gemacht. Alles, was zwischen uns war, habe ich angefangen. Ich gebe zu, dass ich es ihm gerne in die Schuhe schieben würde. Und eine ganze Weile habe ich das auch getan. Aber da ich heute meinen ehrlichen Tag habe, wäre es nicht in Ordnung, gleich wieder mit dem Lügen anzufangen.

Sicher, er hat gesagt, dass er mich verführen will. Aber ich bin zu seinem Zimmer gegangen. Und ich denke, ich wusste, was dort passieren wird, auch, wenn ich meinem Bewusstsein etwas anderes erzählt habe. Ich habe ihn geküsst. Und zwar jedes Mal, als es um etwas ging. Das alles war ich.

Ich öffne den Deckel des Kartons und entdecke einen Stapel Briefe. Die Umschläge sind unbeschriftet. Ich nehme den obersten und drehe ihn um. ‚Nummer 1’. Nun gut, Julian. Ich atme tief durch, dann reiße ich die Lasche vorsichtig auf.

Liebe Anja,

ich wusste, dass dieser Abend kommen würde. Oder sagen wir so. Ich wusste, dass dieser Augenblick kommen würde. Der Moment, in dem du dich entscheiden musst, weil es dich sonst von innen zerfrisst. Du bist eben doch ein guter Mensch, auch, wenn du das sicher anders siehst. Du hast dich für ihn entschieden. Für ihn und das Leben, das ihr aufgebaut habt. Ich verstehe das. Das ändert aber nichts daran, dass es weh tut. Ein Teil in mir dachte, dass ich es mit der Zeit geschafft habe, dein Vertrauen zurückzugewinnen. Vielleicht habe ich das. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.

Ich habe immer wieder überlegt, ob ich dir diese Briefe geben soll. Meistens habe ich doch noch irgendwelche fadenscheinigen Gründe gefunden, es nicht zu tun. Vermutlich, weil ich nichts besitze, das so privat ist. Nichts Persönlicheres.

Als ich heute auf dich gewartet habe, wusste ich bereits nach zehn Minuten, dass du nicht kommen würdest. Ich saß trotzdem über eine Stunde auf dem Bett und habe gehofft, mich zu täuschen. Aber das habe ich nicht. Mein Bauch hat es gewusst, lange bevor mein Kopf es kapiert hat.

Und da heute der zweite Teil unserer Beziehung (ich denke, das man durchaus so nennen kann) zu Ende geht und ich, wie beim ersten Mal, nicht geahnt habe, dass es passieren würde, zumindest nicht, wann genau es passieren würde, ist heute der richtige Zeitpunkt gekommen, dir diese Briefe zu geben. (Zumindest hoffe ich, dass es der richtige ist.)

Meine liebe Anja, ich bin dankbar um Genf. Und ich bin dankbar, dass du auch das zweite Mal den entscheidenden Schritt gemacht hast. Ich hätte es vermutlich nicht getan und das sicher nicht, weil ich es nicht wollte. Ich bin eben besser im Provozieren. Unsere Beziehungen haben immer mit Küssen begonnen. Und beide Male hast du mich geküsst. Wenn es um dich geht, bin ich eben doch nicht so selbstsicher, wie ich gerne tue.

Es ist mir wichtig, dass du weißt, dass das vergangene Jahr für mich eines der schönsten und eines der schlimmsten meines Lebens war. Zu wissen, dass du jedes Mal zu ihm zurückgehst, war grauenhafter, als du es dir jemals vorstellen kannst. Aber die Tatsache, dass du immer wieder zu mir zurückgekommen bist, hat es erträglich gemacht.

Ich habe mehrfach mit dem Gedanken gespielt, es zu beenden. Aber ich konnte es nicht. Obwohl es das richtige gewesen wäre. Ich weiß, dass es dir genauso ging. Und ich muss zugeben, dass ich jedes Mal Angst hatte, dass du es dieses Mal tatsächlich tun würdest. Es ist an der Zeit, dass ich endlich weitergehe. Wenn man es nämlich genau nimmt, bin ich das nicht, auch, wenn ich es mir immer mal wieder erfolgreich eingeredet habe. Im Grunde, stehe ich seit Jahren an derselben Stelle. Und ich denke, die Zeit ist reif.

Ich habe in den letzten Jahren öfter an dich gedacht, als du es dir vorstellen kannst. Vielleicht gebe ich dir diese Briefe, weil ich hoffe, dass das dann das Ende unserer Geschichte ist. Ein Ende, bei dem du mich so in Erinnerung behältst, wie ich bin.

Und das ist nicht der Mensch, den du teilweise im Kopf hast. Dieses Bild von mir mag ich nicht. Und ich habe bis heute Abend gebraucht, um mir darüber klar zu werden, dass du gar kein anderes Bild von mir haben konntest. Das echte Bild, habe ich ziemlich tief in mir vergraben. Wenn du die Briefe gelesen hast, bist du die einzige Person außer mir, die dieses Bild je gesehen hat.

Leb wohl, Anja. Ich werde dich nie vergessen. Ich wünsche mir, dass du glücklich bist (sogar, wenn das bedeutet, dass du bei ihm bleibst).

Ich liebe dich.

Julian

Ich lege den Brief neben mich und starre ins Bad. In mir tut alles weh. Es fühlt sich so an, als wäre das Eichhörnchen gerade gestorben. Und während meine Augen weinen, rastet mein Dämon aus. Er bestraft mich. Und irgendwie habe ich das auch verdient.

Mein Blick fällt auf den Karton. Ich kann keine Umschläge mehr erkennen. Alles ist verschwommen. Blind greife ich nach dem nächsten Brief und betrachte die Rückseite. ‚Nummer 2’ und in Klammern dahinter ‚eigentlich war das der erste’.

Ich atme tief ein und stoße die Luft langsam aus meinen Lungen, dann öffne ich den zweiten Umschlag.

Meine kleine Maus,

ich mache mir langsam Sorgen um dich. Seit drei Tagen versuche ich dich zu erreichen. Ich habe es sogar bei deinem Bruder und deiner Mutter versucht. Und auch dein Vater weiß nicht, wo du bist.

Ich werde es später noch einmal probieren. Vielleicht bist du einfach unterwegs und genießt, dass ich nicht da bin. Ich vermisse dich. Ich vermisse dich schrecklich.

Jetzt bin ich also in New York. Hm. Ja, die Stadt ist beeindruckend, sie ist überlebensgroß und erschlägt mich. Und ich fühle mich kleiner und einsamer als jemals zuvor. Ich wusste nicht, wie einsam man sein kann. Ich hatte ja keine Ahnung. Und irgendwie frage ich mich, warum ich mir unbedingt beweisen musste, dass ich das hier schaffen kann. Allein. Ich weiß auch nicht, wem genau ich es eigentlich gerade beweise.

Ich habe gerade alleine gekocht und alleine gegessen. Und jetzt werde ich alleine fernsehen. (Der Fernseher ist eher ein Daumenkino, aber immerhin ist es mein Fenster zur Außenwelt).

Es heißt immer, wenn man es in New York schafft, kann man es überall schaffen. Ich glaube das stimmt. Das ist ein ziemlich raues Pflaster. New York schert sich einen Dreck um mich. Ich kenne niemanden. Und während ich hier sitze und an dich denke, wird mir klar, dass du der einzige Mensch bist, der mir wirklich fehlt. Du bist der Mensch, den ich gerne bei mir hätte. Immer. Überall.

Habe es gerade noch einmal bei uns versucht. Und wieder bist du nicht da. Ich könnte jetzt scherzen, dass du hoffentlich nicht bei einem anderen bist, aber mir ist nicht nach scherzen zumute. Und was, wenn dir etwas passiert ist? Ich rufe dich noch einmal an. Es klingelt. Noch vier Mal, dann lege ich auf. Okay, dann eben acht Mal. Mensch, Kleines, wo steckt du nur?

Ich war die vergangenen Monate ziemlich mit mir selbst beschäftigt. Und im Flugzeug ist mir aufgefallen, dass ich dich gar nicht gefragt habe, ob du den Studienplatz bekommen hast, oder nicht. Ich hoffe, es hat geklappt. Und ich hoffe, du bist nicht wütend, dass ich es vergessen habe. Ich weiß, dass dir das sehr wichtig ist und es tut mir leid, ich hätte das nicht vergessen dürfen. Und es tut mir auch Leid, dass ich gesagt habe, Journalismus wäre eine weiche Wissenschaft. Da hat mein Vater aus mir gesprochen. Wenn man es genau nimmt, halte ich das nämlich für absoluten Schwachsinn.

Es ist inzwischen nach zwei Uhr morgens. Um halb sieben muss ich aufstehen. Aber ich kann nicht schlafen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie laut es hier ist. Diese Stadt schläft wirklich nie. Und sie hält mich vom Schlafen ab. Nein, das stimmt nicht. Eigentlich hältst du mich vom Schlafen ab. Wenn ich dich erreicht hätte, würde es mir besser gehen. (Dann wäre es immer noch laut und ich würde mich allein und einsam fühlen, aber trotzdem besser.)

Ich werde es jetzt ein letztes Mal versuchen und dann noch mal morgen auf dem Weg in die Kanzlei (in die ich ungefähr so gut passe, wie ein Eskimo in den Dschungel). Ich sehe absolut albern aus, wenn ich Krawatten trage. Wie ein Hochstapler. Es ist meine Arbeitsverkleidung.

Ach Maus, was habe ich mir bloß dabei gedacht? Und wieder gehst du nicht dran. Ich hoffe, dass es dir gut geht. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl im Bauch. Mein Verstand sagt sich, dass schon nichts passiert ist, aber mein Bauch denkt, dass da etwas nicht stimmt.

Ich werde mich jetzt in mein ekliges Bett legen (seit ich hier bin, schlafe ich mit langärmligen T-Shirts und einer Hose, weil ich den Gedanken widerlich finde, dass diese stinkende Decke meine Haut berühren könnte). Und so undicht wie die Fenster hier sind, schadet es auch nicht, sich etwas wärmer einzupacken. Ich werde jetzt schlafen. Ich werde die Augen schließen und mir vorstellen, dass du neben mir liegst. Ich konzentriere mich einfach auf das Geräusch deiner Füße, die du wie jeden Abend gegen die Decke reibst.

Ich liebe dich und du fehlst mir unbeschreiblich.

Julian

 

  1. Kapitel 30  

Die Blätter färben sich. Es wird Herbst. Und noch immer erwische ich mich dabei, wie ich in Gedanken versunken nach meinen Muschel-Anhänger greife. Ich sitze bei der U-Bahn und warte. Meine Vorlesung ist gerade vorbei. Und sie war genauso langweilig wie alle anderen. BWL ist wahrscheinlich nicht das richtige für mich. Aber seltsamerweise liegt es mir. Das passt wieder perfekt.

Ich sehe Caro den Bahnsteig entlang gehen. Als sie mich entdeckt, winkt sie mir und kommt langsam auf mich zu. Seit Kai sie verlassen hat, ist sie nicht mehr dieselbe. Doch heute strahlt sie.

„Du bist glücklich“, sage ich und versuche den erstaunten Unterton zu verbergen.

„Ja, das bin ich.“ Sie lächelt mich an. „Tut mir leid, wie ich die letzten Monate war.“

Genau deswegen habe ich Julian verlassen. Aus diesem Grund. „Du musst dich nicht entschuldigen.“

„Doch, das muss ich.“ Sie legt ihre Hand auf meine. „Ich war völlig daneben und ich muss dich zu Tode genervt haben.“ Ich schüttle den Kopf, doch eigentlich hat sie recht. Ich finde aber, das muss sie nicht wissen. „Du wirst nicht glauben, was passiert ist.“

„Wieso, was denn?“

„Kai und ich sind wieder zusammen.“

„Wie bitte?“, frage ich entgeistert.

„Ja, wir wollen es noch einmal versuchen.“

„Und du denkst, das klappt? Ich meine, nimm es mir nicht übel, aber er hat dich verlassen und du gehst einfach so zu ihm zurück?“ Vielleicht ist das nicht fair. Vielleicht beneide ich sie. Ich habe nie wieder etwas von Julian gehört. Kein Brief, kein Anruf. Nichts. Ich weiß auch nicht, was ich mir erwartet habe. Oder erhofft. Vielleicht wollte ich, dass er um mich kämpft. Oder dass er zurückkommt. So wie im Film. Da tun Männer nämlich immer das richtige. Sie steigen ins Flugzeug und lassen für die Frau, die sie lieben, alles hinter sich. Pah. Für die Frau, die sie lieben. Tja. Julian hat das nicht getan. Ich denke ja, diese Hollywood-Scheiße suggeriert ein völlig falsches Bild. Und wir dämlichen Normalmenschen orientieren uns an Geschichten, die einem Drehbuch und einem noch stringenteren Plan folgen. Auf uns wirkt das alles real und spontan. Eigentlich eine Frechheit, wenn man es sich genauer überlegt.

„Du hast recht.“ Caro schaut mir tief in die Augen. „Alles, was du sagst, stimmt. Aber ich liebe Kai. Ich liebe ihn.“

„Ja, das weiß ich“, sage ich und seufze und füge dann hinzu, „Ich freue mich, wenn du glücklich bist.“ Das ist nicht wirklich die Wahrheit, aber was soll ich auch sagen? Du steuerst in dein Verderben? Hör auf meine Worte, er wird dich wieder verlassen? Nein. Das sage ich nicht. Ich bin eine gute Freundin und denke es einfach. Und wenn es dann wahr wird, werde ich mir den Drang verkneifen, ihr zu sagen, dass es klar war, dass das passieren würde.

„Ich weiß nicht, ob du das hören willst, aber Julian ist in der Stadt.“

„Er ist hier?“ Mein Dämon hebt ruckartig den Kopf. So als hätte ihn dieser Satz aus dem Wachkoma gerissen.

„Ja, er ist zu Besuch.“

„Zu Besuch.“ Wieso ich das wiederhole, wüsste ich auch gern. Vermutlich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. „Und wie lange?“

„Noch zwei Wochen.“

„Zwei Wochen also.“

„Ich wusste nicht, ob ich es dir sagen soll, aber ich dachte, ich würde es wissen wollen.“

„Es ist mir egal, wo er ist“, lüge ich. Und zu meinem eigenen Entsetzen klinge ich wirklich überzeugend. „Dann hat er also vor, in den Staaten zu bleiben.“

„Soweit ich weiß, ja.“

„Das dachte ich mir.“

„Ich habe ihn aber nur kurz gesehen und nicht wirklich viel mit ihm gesprochen.“

„Du hast ihn gesehen?“ Und da war es. Das unbändige Interesse, das ich so gerne im Verborgenen gehalten hätte.

„Ja, gestern.“

„Und, wie sieht er aus? Lass mich raten. Er sieht gut aus und es geht ihm fantastisch, richtig?“

„Mehr oder weniger, ja.“

„Wie auch immer...“, sage ich und schaue auf die Uhr. „Danke, dass du es mir gesagt hast.“

„Kein Problem“, antwortet Caro.

Ich schaue vorsichtig zu ihr hinüber. Was ist stärker, die Neugierde oder mein Wunsch, nicht zusammenzubrechen? Und während ich Luft hole, weiß ich bereits, dass ich die Antwort nicht mögen werde. „Hat er nach mir gefragt?“ Und ohne mich anzusehen, schüttelt sie den Kopf. Ich wusste es. Warum habe ich überhaupt gefragt? Ich bin so ein Idiot.

 

  1. Kapitel 31  

Ich stecke den zweiten Brief in seinen Umschlag zurück und packe ihn zu den anderen in den Karton. Auf Zehenspitzen schleiche ich die Stufen hinunter, den Karton unter dem Arm. Ich schlüpfe in die Schuhe, greife nach meiner Handtasche und verlasse das Haus.

Die laue Sommerluft empfängt mich wie einen alten Freund. Ich atme tief ein und gehe zum Auto. Julians Worte mit dem Duft meines Ehemannes in der Nase zu lesen, ist so, als hätte ich in meinem Ehebett Sex mit ihm, während Tobias neben uns ein Buch liest. Und in dem Augenblick, als mir das klar wurde, erschien mir dieses Schlafzimmer plötzlich ungemütlich und fremd.

Ich steige ein und stelle den Karton auf den Beifahrersitz, dann greife ich nach Brief ‚Nummer 3’. Er ist schwerer als die beiden anderen. Ich öffne den Umschlag und schaue hinein. Und da liegt sie. Sie funkelt mir silbern entgegen. Und bei diesem Anblick breche ich in Tränen aus.

Anja,

du bist feige und egoistisch. In diesem Augenblick hasse ich dich. Ich hasse es, dass du immer den leichten Weg gehst und dass du das Gefühl hattest, nicht mit mir reden zu können. Ich hasse die Tatsache, dass du mich vor vollendete Tatsachen stellst. Du schreibst, ich war mit mir selbst beschäftigt – mag sein. Aber ich habe dich nicht dazu gezwungen, mir nicht zu sagen, was du willst, was du denkst und fühlst. Das hast du entschieden. Ich habe keinen Weg vorgegeben. Ich bin einfach den gegangen, der mir richtig vorkam. Und zu diesem Weg hast du immer dazu gehört. Als du angefangen hast, unglücklich zu sein, hättest du mit mir reden müssen. Du hast geschrieben, dass ich dich hätte fragen sollen, ob du mit mir gehen willst. Ja, das hätte ich. Aber ich wollte nicht. Das heißt, natürlich wollte ich das, aber ich hatte das Gefühl, einmal im Leben etwas alleine schaffen zu müssen. Allein. Ich hatte sogar überlegt, dich zu fragen. Aber mein Vater hat mir einmal mehr klar gemacht, dass ich es alleine nicht schaffe. Und dass Jura nichts für mich ist. Ich wäre zu flatterhaft, ein Träumer. Ich hätte doch ohnehin keine Ahnung von Recht. Im Nachhinein betrachtet, stimmt das wahrscheinlich. Als du dann auch noch meintest, Jura wäre nichts für mich, hast du genau das gesagt, was ich nicht hören wollte. Und an jenem Abend habe ich beschlossen, es allen zu beweisen. Vor allem mir selbst (was ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht begriffen hatte). Ich wollte, dass mein Vater seine Hand auf meine Schulter legt und mir sagt, dass er stolz auf mich ist. Und irgendwie dachte ich, das würde er nur dann tun, wenn ich Jura studiere und unabhängig werde. Jetzt wird mir langsam klar, dass ich so werden müsste wie er, damit er mich endlich sieht (was ja irgendwie ein Widerspruch in sich ist).

Als ich hier angekommen bin, habe ich dann realisiert, dass ich gar nicht meinen Traum lebe, sondern seinen. Die Wahrheit ist, dass mein Vater mich gar nicht kennt. Als mir das klar geworden ist, habe ich versucht, dich zu erreichen. Ich wollte mit dir reden, ich wollte dir sagen, dass es ein Fehler war, zu gehen. Oder vielleicht war es auch ein Fehler, dich nicht zu bitten, mit mir zu kommen. Aber du bist nicht ans Telefon gegangen. Und da wusste ich es. Ich wollte es nicht sehen und ich wollte, dass ich mich irre, aber ich hatte ein ganz ungutes Gefühl. Vier Tage habe ich mir eingeredet, dass schon nichts sein wird. Und dann kam heute dein Brief. Abgestempelt am Tag meiner Abreise.

Du hast mich zum Flughafen gefahren, obwohl du wusstest, dass du mich verlassen wirst. Du hat gelächelt und mich geküsst. Du hast gesagt, dass du mich liebst. Was ist das für eine Liebe? Wie konntest du das sagen und am selben Tag diesen Brief abschicken? Einen Brief, der dein Bild von mir zeigt. Und das ist ein Bild, das mich wirklich erschüttert hat. Ich frage mich, wie du mit mir zusammen sein konntest, wenn du mich so siehst. Und ich frage mich, ob ich es hätte merken müssen, oder ob du etwas hättest sagen sollen. Vielleicht hätten wir einen Weg finden können, der für uns beide passt. Die Wahrheit ist, dass ich denke, dass du meinen eine Weile ganz gerne mitgegangen bist, weil du deinen eigenen nicht finden konntest. Aber es ist natürlich am einfachsten, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben. Wenn alles mein Fehler war, musst du nichts ändern. Und das passt zu dir. Die Welt ist gemein, nicht du. In deiner Welt bist du all der Ungerechtigkeit hilflos ausgeliefert. Diese Welt existiert aber nur in deinem Kopf. Und es würde dir gut tun, wenn du nicht immer die Verantwortung an andere abgeben würdest. Aber soweit bist du noch nicht. Und vielleicht wirst du es nie sein. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich sogar diese Naivität an dir geliebt. Sicher nicht immer, aber oft. Möglicherweise wirst du irgendwann zurück blicken und sehen, dass du uns kaputt gemacht hast. Du hättest mir sagen müssen, was es für dich bedeutet, wenn ich gehe. Du hättest mir eine Chance geben müssen. Ich konnte nicht wissen, dass mich selbst zu finden, bedeuten würde, dich zu verlieren. Und Fakt ist, dass ich dachte, dieses Jahr hier zu brauchen, um herauszufinden wer ich bin und um zu verstehen, dass ich es alleine schaffen kann – auch, wenn das nicht so richtig geklappt hat.

Ist es meine Schuld, dass du deine Träume lieber träumst? Kann ich etwas dafür, dass dir der Mut fehlt? Du hast einmal gesagt, dass du das Gefühl hast, das Leben zieht einfach an dir vorbei und ich denke, du hast recht. Daran ist aber nicht das Leben schuld. Du bist es. Du wartest immer darauf, dass das Leben dir einen Schubs in die richtige Richtung gibt. Aber das Leben hat nicht auf dich gewartet, Anja. Wenn man es genau nimmt, bist du dem Leben völlig egal. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass du endlich kapierst, dass es deine Verantwortung ist, endlich zu entscheiden, wer du sein willst. Und dass du begreifst, dass Freiheit bedeutet, sich entscheiden zu können. Ich habe bei dir manchmal das Gefühl, dass du dich nicht entscheiden kannst, weil du dich mit jeder Entscheidung gegen alles andere entscheiden müsstest. Und deswegen tust du lieber gar nichts. So als wäre dieses Leben die Generalprobe für das nächste, in dem du dann alles anders machen willst. Wir haben eine völlig unterschiedliche Lebensauffassung. Und wenn ich ehrlich bin, finde ich meine besser, auch, wenn ich damit schon oft auf die Schnauze gefallen bin. Ich gehe Risiken ein und lebe. Und das mit jeder Faser meines Körpers. Und du, du lebst in einem Wattebausch, der dich beschützen soll. Ich verstehe das Verlangen danach, alles kontrollieren zu wollen, weil man denkt, dass es dann weniger weh tut, aber ich kann dir versichern, dass es das nicht tut. Zumindest hoffe ich das. Ich hoffe, dass es dir so schlecht geht wie mir.

Das Irritierende ist, wie sehr ich es vermisse, mit dir zu reden, egal wie wütend ich auf dich bin (und das bin ich. Ich bin wütender, als du es dir vorstellen kannst.). Ich vermisse deine Stimme und deine Augen. Und deinen Duft. Ich vermisse dein Lachen und unsere kleine Wohnung. Ich habe gehört, dass du kommende Woche ausziehst. Ich frage mich, wie du so etwas tun kannst. Und die Tatsache, dass du es kannst, zeigt mir, dass ich dich gar nicht wirklich kenne. Die Anja, die ich kenne, hätte es nicht fertiggebracht, die Wohnung zu kündigen und meine Sachen zu meinen Eltern zu bringen. Die Anja, die ich kenne, hätte mir aber auch gesagt, dass sie unglücklich ist. Und das ist die Anja, die ich liebe. Oder vielleicht war es eher die Anja, die ich liebe. Die, die mir diesen Brief geschrieben hat, die liebe ich nämlich nicht. Die ist mir fremd und macht sich das Leben viel zu leicht.

Ich habe sicher Fehler gemacht und ich kann sogar verstehen, dass ein Teil in dir sich gegen mich entschieden hat. Aber dass dieser Teil überwogen hat, das begreife ich nicht. Und genau das ist das Problem. Ich habe deinen Brief bestimmt zwölf Mal gelesen. Und auch, wenn die Worte in meinem Kopf angekommen sind, ich begreife sie nicht. Ich kann nicht glauben, dass es das zwischen uns war. Ich kann mir ein Leben ohne dich gar nicht mehr vorstellen. Und ich will es auch nicht. Ich liebe dich, Anja. Ich liebe nur dich. Zumindest den Teil in dir, den ich zu kennen glaubte.

Ich lege den Brief zur Seite. Das Eichhörnchen jagt durch meinen Brustkorb. Und es ist ein beruhigendes Gefühl, dass es nicht tot ist. Wenn ich das lese, scheint es nicht um mich zu gehen. Seine Erinnerung hat nichts mit der Situation zu tun, wie ich sie empfunden habe. Und zum ersten Mal muss ich erkennen, dass das, was ich getan habe, mindestens so schlimm war, wie das, was Julian getan hat. Ich wische über meine Wangen, dann nehme ich den winzigen Anhänger aus dem Umschlag und betrachte ihn.

Kontrolle. Ja, das war immer mein Thema. Dinge, die ich nicht kontrollieren konnte, haben mir Angst gemacht. Deswegen hat sich ein Teil in mir immer vor dem Leben gefürchtet. Weil es einfach tut, was es will. Es fragt mich nicht, was ich davon halte. Ich wollte mich nicht verlieren. Und genau das habe ich damit erreicht. Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass Julian eine andere kennenlernt und mich ihretwegen verlässt. Und deswegen habe ich ihn verlassen. Weil ich den Zeitpunkt bestimmen wollte. Kontrolle. Das ist wirklich immer mein Thema gewesen.

 

  1. Kapitel 32  

Liebe Anja,

ich habe es getan. Ich habe gekündigt. Ich bin einfach rein gegangen und habe die Karten auf den Tisch gelegt. Du hättest mich sehen sollen. Ich glaube, du wärst stolz auf mich gewesen.

Was ich jetzt mache? Keine Ahnung. Aber ich habe hier ein paar Leute kennengelernt, die alle im kreativen Bereich arbeiten. Ich wünschte, du würdest sie kennen. Ich bin mir sicher, dass du sie mögen würdest. Vor allem Danny und Claire. Die sind auf eine fast erschreckende Art locker und entspannt (nein, sie nehmen keine Drogen – zumindest soweit ich weiß). Sowas gibt es bei uns gar nicht. Und wenn es das doch gibt, dann habe ich eindeutig mit den falschen Menschen zu tun gehabt (dich ausgenommen).

Claire hat neulich ein paar meiner Kritzeleien gesehen und sie meint, dass sie richtig gut sind. Ich weiß, dass du mir das seit Jahren sagst, aber es ist irgendwie etwas anderes, wenn man das von jemandem hört, der als objektiver Betrachter auch erbarmungslos ehrlich sein oder eben gar nichts sagen könnte. Ich hoffe, du verstehst, wie ich das meine. Du hast mich eben geliebt und vielleicht dachte ich deswegen, dass du meine Bilder und Zeichnungen irgendwie mögen musst. Also nicht musst, aber du weißt schon, wie ich das meine. (Außerdem schicke ich diesen bescheuerten Brief eh nicht ab, also ist es im Grunde egal.)

Wie dem auch sei, seit heute bin ich kein Hochstapler mehr. Meine alberne Krawatte habe ich gleich nach dem Termin in den nächsten Mülleimer geworfen. Ich könnte mir vorstellen, dass es sich ungefähr so anfühlt, wenn einem nach Jahren endlich die Handschellen abgenommen werden.

Meinem Vater habe ich es heute gesagt. Du kannst dir sicher denken, wie er reagiert hat. Blabla, wie konntest du, blabla, das war ja nicht anders zu erwarten, blabla, du ziehst eben nichts durch, gibst immer auf, blabla, ich dachte, du hättest dich wirklich geändert, blabla, ich bin sehr enttäuscht von dir. Blödes Arschloch.

Und ja, es hat mich getroffen, aber nicht so sehr, wie ich dachte, dass es mich treffen würde. Na, jedenfalls war es das jetzt mit dem Jura-Studium. Kommende Woche bin ich für zwei Wochen in München und werde mich exmatrikulieren. Dann ist es wirklich vorbei.

München. Das ist das Stichwort, bei dem ich mich augenblicklich übergeben könnte. Was, wenn ich dich treffe? Irgendwie hoffe ich das. In meiner Vorstellung laufe ich dir rein zufällig und ganz ungezwungen über den Weg. Dann könnte ich dich fragen, wie es dir geht, ob du an mich denkst. Ob es da vielleicht schon einen anderen gibt. Ich könnte dir ins Gesicht schlagen oder dich anspucken. Dich anschreien. Oder küssen. Genau das ist der Punkt. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich dich sehe. Vielleicht wäre ich zurückhaltend höflich. Oder aber ich raste aus und schlage dich nieder. Es ist vielleicht besser, ich sehe dich nicht. Besser für dich und besser für mich. Die Version meiner selbst, die dich schlagen will, kann ich zwar verstehen, aber ich mag sie nicht so wirklich. Auch, wenn du es eigentlich verdient hättest. Du wirst das nie wissen, aber es hat mich noch nie jemand so verletzt wie du. Ich habe es zwar überlebt, aber ich bin wie ein halbtoter Zombie durch die Straßen getrottet und manchmal hatte ich den innigen Wunsch, einfach vor ein Auto zu laufen, nur um irgendetwas zu spüren. Schmerzen von außen und nicht die immer gleiche Leere im Inneren.

Das Beste wird sein, ich bringe einfach den Jura-Albtraum hinter mich und haue wieder ab. Zurück nach New York. Zurück zu einem neuen Leben. Zu meinem neuen Leben. Neuen Freunden und neuen Richtungen. In drei Wochen schaue ich mir ein College für Kunst und Design an. Claire meint, dass mir das gefallen könnte. Ein Freund von ihr studiert dort.

Erst dachte ich, ich würde einfach nach München zurückgehen. Aber da ist niemand mehr. Und wenn ich an München denke, tut es nur weh. Die Wahrheit ist, ich will mich gar nicht erinnern. Ich will vergessen. So, als hätte es dich nie gegeben. Denn was man nie hatte, kann man nicht vermissen.

Vielleicht haben diese ganzen Esoteriker ja recht. Vielleicht sollte man einfach loslassen (was immer das genau bedeuten mag). Man sollte sehen, wo einen das Leben hinbringt, wenn man sich mal nicht quer stellt. Nichts planen, einfach leben. Einfach einmal keine Angst haben. Sich nicht fragen, ob man das Richtige tut. Denn wenn man es genau nimmt, habe ich jetzt zwei Jahre lang versucht, das Richtige zu tun. Und was hatte ich davon? Das Falsche. Und das habe ich wirklich lange hin und her überlegt. Hätte ich mir auch sparen können.

In drei Tagen steige ich also ins Flugzeug. Gott, ich würde dich so gerne sehen. Aber ich glaube, wenn ich dich nicht umbringen würde, dann würde es mich umbringen. Alle Gedanken, die ich so schön weit weg geschoben habe, würden alle auf einmal über mich hereinbrechen. Und sie würden mich langsam ersticken.

So. Eine Ära geht zu Ende. Ich bin weder Hochstapler noch Jurist. Und ich bin nicht mehr mit dir zusammen. Ich lebe seit fast drei Monaten in New York, einer Stadt, die mich erdrückt und inspiriert, die mir Angst macht und die mich bis ins Mark beeindruckt. Ich wünschte, ich könnte dir davon erzählen. Ich wünschte, es würde dich interessieren. Und ich wünschte, ich könnte einen weiteren Lebensabschnitt mit dir teilen. Aber das wolltest du nicht. Und ob mir das nun passt oder nicht, ich muss es akzeptieren. Wir beide sind Geschichte. Und ich hoffe, dass ich unsere Geschichte irgendwann einmal aus der Distanz betrachten kann, ohne dass es mir dreckig dabei geht.

Es ist fast vier. Ich bin mit Danny und Claire verabredet und schon spät dran. Ich liebe dich.

Ich lege den Brief zur Seite und greife nach der kleinen Muschel, die nach so vielen Jahren endlich wieder da ist, wo sie hingehört. Zwischen meinen Fingerkuppen spüre ich viele winzige Rillen. Dieses Gefühl habe ich vermisst.

Und in diesem Augenblick frage ich mich, was gewesen wäre, wenn Julian diese Briefe tatsächlich abgeschickt hätte. Zugegeben, verdient hätte ich sie nicht. Aber vielleicht wäre alles anders gekommen. Bestimmt wäre es das. Vielleicht wäre ich nach New York geflogen. Vielleicht hätte ich das BWL-Studium geschmissen und ich hätte mich dann vermutlich auch nicht auf Immobilien spezialisiert. Aber dann hätte ich vermutlich auch Tobias nie kennengelernt. Ich habe Tobias geliebt. Ich liebe ihn noch. Aber vielleicht hätte ich ihn nicht gebraucht. Die Sonne geht langsam auf. Vereinzelte rosafarbene Schleierwolken driften träge über den Himmel. Sie wirken müde. Vielleicht bin aber auch ich einfach müde.

 

  1. Kapitel 33  

„Und? Hast du ihn noch einmal gesehen?“, frage ich nervös. Und dieses Mal versuche ich erst gar nicht Desinteresse zu heucheln. Caro würde mir ohnehin nicht glauben.

„Ja, gestern.“ Sie zupft an der Schnalle ihrer Handtasche herum.

„Und?“ Ich klinge ungehalten.

„Was willst du von mir hören, Anja?“

„Keine Ahnung, wie es war, was ihr gemacht habt, wie es ihm geht... Alles eben.“

„Ich habe nicht viel mit ihm gesprochen“, sagt sie nach einer Weile. „Ich hatte das Gefühl, dass er mich gemieden hat. Ich glaube, er wollte nicht über dich reden.“

„Caro, ich kenne dich. Du verschweigst mir doch etwas.“ Ich weiß, dass ich recht habe. „Was sagst du mir nicht?“

„Bitte, lass uns einfach das Thema wechseln.“

„Er hat eine Freundin.“

„Nein, also, ich weiß es nicht.“

„Mein Gott...“ Mein Dämon grollt und brüllt. Er schlägt um sich. „Aber es gibt eine Frau.“

„Ich habe nur etwas am Rande mitbekommen.“

„Und du bist nicht auf die Idee gekommen, Kai danach zu fragen?“ Ich stehe auf. Mein Magen ist verkrampft, meine Augen füllen sich mit Tränen. „Es sind nicht mal drei Monate. Nicht einmal... wie...“

„Vielleicht habe ich das ja auch falsch verstanden“, sagt Caro vorsichtig. „Ich meine, ich habe es echt nur nebenbei gehört.“

„Was genau hast du denn gehört?“

„Dass er eine Frau kennengelernt hat. Eine Künstlerin oder Designerin oder so was. Und...“

„Und was?“, frage ich und schaue ihr fest in die Augen.

„Dass sie ganz anders ist, als andere Frauen... Mehr habe ich nicht mitbekommen. Ehrlich.“

Eine Weile schweige ich. Ich sauge den Schmerz ganz tief in mich auf, um nicht zusammenzubrechen. Fünf Jahre. Und nach nur drei Monaten findet er eine Frau, die ganz anders ist als andere Frauen. Vermutlich vor allem anders als ich. Besser als ich. Eine, die ihn versteht. Eine kreative. Ich wusste es. Erst verliebt er sich in die Stadt, dann in eine Frau. „Ich habe gewusst, dass das passieren würde“, sage ich und wische hastig mit dem Handrücken über meine Wangen. „Ich dachte nur nicht, dass es so schnell gehen würde.“

Ich liege auf dem Bett, das Gesicht tief in die Kissen gedrückt. Die Federn ersticken mein Schluchzen. Sie saugen meine Tränen auf und schmiegen sich sanft an meine Haut, so als würden sie mich streicheln. Sie flüstern mir zu, dass alles wieder gut wird. Sie sagen mir, dass es irgendwann nicht mehr wehtun wird. Und ich hoffe, dass sie recht haben.

Als ich aufstehe, zittern meine Knie. Ich fühle mich leer und betäubt. So als wäre ein Teil in mir gestorben. Dieser Teil war schon lange schwer krank. Und nun gibt es ihn nicht mehr. Es war ein schmerzhafter, langsamer Tod. Und auch, wenn das nicht der richtige Zeitpunkt ist, denn dafür gibt es keinen richtigen Zeitpunkt, so läuft es doch darauf hinaus, dass ich recht hatte. Ich habe es gewusst. Und ich habe mich richtig entschieden. Julian zu verlassen war immer noch besser, als von ihm verlassen zu werden.

 

  1. Kapitel 34  

Liebe Anja,

ich bin wieder Student. Und dieses Mal ist es der absolute Wahnsinn. Wenn der Wecker morgens klingelt, springe ich aus dem Bett und bin wach. Ich freue mich auf meine Kurse. Ich zeichne. Und zwar den ganzen Tag. Und wenn ich nicht gerade händisch zeichne, dann arbeite ich mit total irren Zeichen- und Bildbearbeitungsprogrammen. Ich habe das gefunden, was mich glücklich macht. Etwas, das ich kann und das ausdrückt, wer ich bin.

Und obwohl ich glücklich bin, macht es mich fertig, dass ich das nicht mit dir teilen kann. Ich habe das Gefühl, als wäre ich wieder der geworden, der ich immer war oder immer sein wollte, nur dass ich nicht wusste, wer das ist. Und auf einmal weiß ich es. Ich bin wieder ich. Der Mensch, der ich in deiner Gegenwart immer sein konnte. Und zum ersten Mal brauche ich dich nicht dazu. Ich kann auch alleine ich sein.

Ich habe gehört, dass Caro dir erzählt hat, dass ich eine andere habe. Oder, dass ich eine kennengelernt habe. Ich habe Kai gefragt, ob er weiß, wie du es aufgefasst hast, aber er wusste es nicht. Wir sind uns in manchen Punkten wirklich ähnlich, du und ich. Wir zeigen niemandem, wie es uns geht. Nicht einmal denen, die uns wirklich nahe stehen. Ich habe Kai nichts erzählt. Kein Wort. Er denkt, ich habe das mit dir gut weggesteckt. So, als könnte man das einfach so. Als wäre es ganz leicht, fünf Jahre mal eben aus dem Gedächtnis zu löschen. Die ganzen Erinnerungen und die Gefühle. Ich muss zugeben, dass ich gerne eine Lösch-Funktion für dich hätte. Ich würde dich auf der Stelle löschen. Dich und alles, was ich mit dir verbinde. Jede Erinnerung, jedes Gefühl, alles. Ich wäre eher bereit, alles zu vergessen, als dieses taube Gefühl noch länger zu ertragen. Alles ist so gut und so neu und aufregend. Aber ich kann es nicht genießen. Nicht wirklich. Weil es sich anfühlt, als hättest du dich in meinem Hirn eingenistet. Du bist wie eine Krankheit, die mich nicht mehr loslässt. Wie der Virus, der seinen Wirt gefunden hat.

Und andererseits fürchte ich mich vor dem Tag, an dem ich nicht mehr an dich denke, weil es dann wirklich vorbei sein wird. Endgültig. Und ich weiß nicht, was dann ist, weil ich alles auf die eine oder andere Art mit dir verbinde. Ich habe Angst davor, dich nicht mehr zu lieben. Dann kommt irgendwann eine andere. Aber ich will gar keine andere. Keine Ahnung. Diese blöden Briefe zum Beispiel. Warum schreibe ich sie überhaupt? Warum schütte ich jemandem mein Herz aus, der es nie wissen wird. Jemandem, den ich meinen persönlichen Virus nenne?

Du hast mich vor fast sechs Monaten verlassen. Du hast mir einen Brief geschrieben. Einen Brief. Du hattest noch nicht einmal den Anstand, unsere Beziehung von Angesicht zu Angesicht zu beenden. Du hast den Weg gewählt, bei dem ich nicht widersprechen konnte. Mich nicht verteidigen, nicht kämpfen.

War es das, was du eigentlich wolltest? Das würde zu dir passen. Du mit deinem verklärten, naiven Weltbild. So wie ich dich kenne, wolltest du eine Filmversion von mir. Den Mann, der alles stehen und liegen lässt und plötzlich mit Tränen in den Augen vor deiner Tür steht und dir sagt, dass er ohne dich nicht leben kann.

Blödsinn. Natürlich kann ich ohne dich leben. Ich konnte es vorher und ich kann es jetzt. Der Punkt ist, dass ich nicht ohne dich leben will. Und ob du es glaubst oder nicht, ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, ob ich nach Hause fliegen soll. Ich stand sogar schon vor einem Scheiß-Reisebüro. Und dann wurde es mir klar. Ich will solche Spielchen nicht. Ich will keine Frau, die diese überlebensgroßen Ansprüche an mich hat. Eine Frau, die mir nicht ins Gesicht sagen kann, dass es vorbei ist.

Du warst in meinen Augen immer so frei und furchtlos. Ich habe dich lange dafür bewundert. Und mit diesem Brief hat du mein Bild von dir zerstört. Du hast die Anja verraten, die ich geliebt habe. Du hast uns verraten. Und deswegen warst du es nicht wert, dass ich zurückfliege. Hättest du mir das gleiche am Telefon gesagt, wärst du es wert gewesen. Aber das hast du nicht.

Und deswegen bin ich geblieben. Ein Teil in mir ist froh, dass ich mich so entschieden habe. Denn hier bin ich frei und furchtlos. Ich bin offen. Ich bin der, der ich immer sein wollte. Nur manchmal, ganz selten, da merke ich, dass ich eigentlich nur eins vermisse. Und das bist du.

Weißt du, was ich mich manchmal frage? Wenn du mich nicht verlassen hättest, hätte ich das Jura-Studium dann trotzdem abgebrochen? Oder hätte ich das Praktikum durchgezogen? Vielleicht ist es nämlich so, dass ich nur deinetwegen darauf gekommen bin, was ich wirklich will (neben dir, aber das stand ja dann nicht mehr zur Debatte). Ich hatte Zeit über all das nachzudenken, was du geschrieben hast. Und durch deinen Brief habe ich begriffen, dass ich nicht mehr der bin, der ich sein will (auch, wenn du sicher nicht mit allem recht hattest, was du mir vorgeworfen hast). Ich hatte Zeit über alles nachzudenken. Also bleibt die Frage offen, ob ich den Kurs geändert hätte, wenn du mich nicht dazu gezwungen hättest. Keine Ahnung. Vielleicht wäre ich auch von ganz alleine darauf gekommen. Aber vielleicht habe ich es tatsächlich gebraucht, dass die Realität so über mir zusammenbricht. Wenn man es genau nimmt, hast du mir vielleicht sogar dabei geholfen, endlich wirklich meinen Weg zu gehen. Unabhängig von dem, was mein Vater von mir denkt. Du hast mich aufgeweckt aus einem Leben, von dem ich überzeugt war, dass es zu mir passt. Und nach deinem Brief wusste ich es plötzlich. Vielleicht habe ich es schon vorher gewusst, aber ich habe nicht gehandelt. Und dann, als alles sowieso schon scheißegal war, da habe ich mich getraut, den Schritt zu machen, den ich wirklich wollte. Vielleicht ist es also, neben all den Gemeinheiten, die ich dir schreibe, tatsächlich angebracht, auch danke zu sagen. Sicher nicht dafür, dass du mich verlassen hast (und schon gar nicht für die Art, wie du es getan hast), sondern dafür, dass du mich wieder daran erinnert hast, wer ich eigentlich bin. Für diese Ehrlichkeit danke ich dir, Anja. Ich wünschte nur, du hättest nicht in demselben Brief mit mir Schluss gemacht. Aber vielleicht musste es so sein. Vielleicht hast du etwas gespürt, das ich nicht gespürt habe, oder einfach nicht spüren wollte. Vielleicht war unsere Zeit einfach vorbei.

Ich hätte die Zeit in New York sicher auch genossen, wenn wir zusammen geblieben wären. Und doch wäre ein Teil von mir nie wirklich hier gewesen. Er wäre um dich gekreist (ja, das ist auch jetzt so, aber es ist anders). Ich wäre am laufenden Band eifersüchtig gewesen (was ich jetzt zugegebenermaßen auch bin, aber davon weißt du nichts), ich hätte jeden Tag alles um unsere Telefonate arrangiert. Und jetzt bin ich wirklich zu 100% hier. Ich treffe neue Menschen, ich erlebe unbeschreibliche Dinge, ich finde mich in dieser grandiosen Stadt zurecht und werde zu einem Teil von ihr. Hier ist alles lauter, bunter und aufregender. Wenn man es genau nimmt, erinnert mich diese Stadt sehr an dich. Vielleicht macht es das erträglicher. Du bist jeden Tag um mich herum. Und gleichzeitig bin ich frei. Ich kann tun, was immer ich will. (Zumindest fast. Dich anrufen kann ich nicht.) Aber du verstehst schon, was ich meine. Ich denke viel an dich, Anja. Aber ich merke langsam, dass es an der Zeit ist, dich auch aus meinen Gedanken gehen zu lassen.

Aber noch liebe ich dich.

Julian

Ich lege den Brief zur Seite und starre aus dem Fenster. Wie ist es möglich, dass ich mir die Realität so hingebogen habe, wie ich sie haben wollte, ohne es wirklich zu bemerken? Seit ich denken kann, verdrehe ich die Realität so lange, bis ich sie mag. Solange, bis ich sie schön finde und besser ertragen kann.

Ich habe neulich einen Artikel gelesen, in dem es darum ging, dass alle Menschen lügen. Oft. Und meistens belügen sie sich selbst. Es hieß, das wäre ein wichtiger Mechanismus, um mit der Vergangenheit umgehen zu können. Es hieß, wir würden Situationen so abändern, dass wir mit unseren Entscheidungen besser leben könnten. Ich habe innerlich nur den Kopf geschüttelt, weil ich felsenfest davon überzeugt war, nicht zu dieser bemitleidenswerten Gruppe zu gehören. Die Wahrheit ist, ich bin die heimliche Anführerin. Ich bin die Königin. Und ich habe es bis heute nicht gesehen.

Und der Grund, warum ich mich letzten Endes für Tobias entscheiden wollte, war einzig und allein der, dass ich dann besser mit mir leben könnte. Wenn ich mich gegen das, was ich eigentlich will, entscheide, wäre es so, als würde ich meine Fehltritte damit irgendwie wieder gut machen.

Denn eigentlich will ich Julian. Und jetzt wo ich feststelle, dass wir die vergangenen Jahre beide damit beschäftigt waren, den jeweils anderen abzuschreiben und zu vergessen, begreife ich, dass es eigentlich nie um den Sex ging. Klar, der Sex war fantastisch. Aber der Sex war nur eine passende Einleitung. Er war eine Fassade, hinter der ich meine Liebe verstecken konnte.

Ich seufze und krame nach meinem Handy. Fast acht Uhr. Und damit ist es an der Zeit, zu kündigen. Ich betrachte mich kurz im Spiegel, dann steige ich aus dem Auto und betrete wenig später die karge Eingangshalle. Ich steige in den Aufzug und drücke die acht.

 

  1. Kapitel 35  

Ich reiche der Maklerin zwei Wohnungsschlüssel und zwei für den Briefkasten.

„Wo ist der dritte Schlüssel?“

„Steht das nicht bei Ihnen in den Akten?“, frage ich gespielt unwissend. Ich kann ja schlecht sagen, oh, der hängt vermutlich an Julians Schlüsselbund und der ist mit ihm in New York. „Ich hatte einen verloren und das der ehemaligen Hausverwaltung auch gleich gemeldet“, improvisiere ich und schaue so unschuldig ich kann. „Ich wusste nicht, dass ich Ihnen das noch einmal mitteilen muss.“

„Was soll’s, solche Dinge gehen oft schief, wenn Hausverwaltungen wechseln. Dann gibt es eben nur zwei Schlüssel.“

„Wann wird die Kaution eigentlich freigegeben.“

„Gleich heute“, antwortet sie und lächelt mich an. „Die Wohnung ist in gutem Zustand. Na ja, also sie ist in keinem schlechteren Zustand, als zu dem Zeitpunkt, als Sie eingezogen sind.“

Ein letztes Mal schaue ich in Julians und mein Alleszimmer. Ich denke an unsere erste Nacht hier und daran, wie heiß es war. Ich denke daran, wie wir auf diesem Boden miteinander geschlafen haben. Tausende von Erinnerungen scheinen wirr durch mein Hirn zu jagen. So als wollten mir alle noch ein letztes Mal wehtun. Ich erinnere mich daran, wie Julian mir den winzigen Muschel-Anhänger geschenkt hat und daran, wie wir auf dem Boden saßen, weil wir keine Stühle hatten. Ich erinnere mich an sein Lächeln und seine tiefschwarzen Augen.

Ich ignoriere den stechenden Schmerz in meiner Brust und auch meinen Dämon. Ich konzentriere mich auf diesen Augenblick. Diese leere Wohnung. Sie war einmal ein gemütliches Zuhause. Ein Ort, an dem Julian und ich uns geborgen gefühlt haben. Und jetzt ist sie nicht mehr als ein heruntergekommenes Wrack. Sie ist ein Sinnbild davon, wie es in mir aussieht.

Die Maklerin räuspert sich. Und wie auf Kommando ziehe ich die Tür hinter mir ins Schloss. Schweigend gehen wir in Richtung Aufzug. Meine Beine sind schwer, so als wollten sie mich daran hindern zu gehen. Die Maklerin ruft den Aufzug und in dem Moment, als sich die Türen hinter uns schließen, begreife ich, dass ich ihn vermutlich nie wieder betreten werde. Und bei diesem Gedanken laufen mir bleierne Tränen über die Wangen. Es ist vorbei. Julian und ich sind Geschichte. Ab hier bin ich allein.

 

  1. Kapitel 36  

Ich sitze in meinem leeren Büro und warte. Andreas ist noch in einer Besprechung, dann hat er Zeit. Ich bin gespannt auf seinen Gesichtsausdruck, wenn ich es ihm sage. Er wird denken, ich kündige, weil er mir keine Partnerschaft angeboten hat. Das soll er ruhig denken. Ich sehe ihn schon vor mir, wie er mir die Vorzüge meiner Arbeit herunterbetet. Die fantastische Bezahlung, die vielen Freiheiten, die mögliche Partnerschaft, die Erfolge, die ich dort hatte. Er wird mir sagen, dass ich nur da bin, wo ich heute bin, weil er mir diese Chance gegeben hat. Und ich werde antworten, dass ich da, wo ich heute bin, gar nicht sein will. Sicher, ich habe viel verdient. Ich habe ein großes Polster. Und sogar, wenn ich Tobias das Haus als eine Art immobiliarisches Schweigegeld gebe, habe ich noch Einiges auf der hohen Kante. Aber wie heißt es so schön? Geld allein macht nicht glücklich. Auch, wenn ich sicher mit Geld glücklicher bin als ohne. Jeder, der das Gegenteil behauptet, ist entweder ein Heiliger oder er lügt.

Ich ziehe Brief ‚# 5’ aus seinem Umschlag und falte ihn auf.

Liebe Anja,

ich habe dir eine Weile nicht geschrieben. Wenn ich ehrlich bin, dachte ich nicht, dass ich dir überhaupt jemals wieder schreiben würde. Aber nach gestern Nacht brauche ich jemanden zum Reden. Am besten jemanden, der mich nicht unterbrechen kann. Und deswegen schreibe ich dir.

Wir sind seit über drei Jahren nicht mehr zusammen. Und es geht mir (fast immer) wirklich gut damit. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich keine andere an mich herangelassen habe. (Soviel zu deinen Prophezeiungen, dass ich mich in eine andere verlieben werde.) Ich habe mich nicht verliebt. Vor Kurzem dachte ich es, aber es stimmt nicht.

Ja, es geht um Claire. Wir haben Spaß zusammen, sie ist unkompliziert und hat einen fantastischen Humor. Die letzten Monate sind wir oft in Ausstellungen gegangen, abends durch Kneipen gezogen, waren im Kino. Anfangs war Danny immer dabei, aber der ist für ein Projekt in Chicago und dann waren es eben nur noch Claire und ich.

Ich muss zugeben, dass ich das anfangs ganz seltsam fand. Es hat sich so angefühlt, als würde ich dich hintergehen, was ja lächerlich ist, wenn man bedenkt, dass wir seit mehr als drei Jahren nicht mehr zusammen sind und auch genauso lang nicht mehr miteinander gesprochen haben. Nichts desto trotz, ich habe mich schuldig gefühlt. So, als hättest du eben doch recht mit dem gehabt, was du geschrieben hast.

Wie auch immer. Letzte Nacht waren wir etwas essen. Und es war wie immer. Ungezwungen und lustig. Ein Abend mit Claire eben. Bis wir dann zu mir gegangen sind, um einen Film anzusehen.

Der Abspann fängt an und ich schaue zu ihr hinüber, weil ich auf die Reaktion in ihrem Gesicht gespannt bin. Dann dreht sie sich zu mir und lächelt. Und dann küsst sie mich. Einfach so. Im ersten Moment war ich wie versteinert, doch dann habe ich den Kuss erwidert. Ich habe sie gern geküsst. Und ich dachte, das wäre der Moment, auf den ich so lange gewartet habe. So, als wäre dieser Kuss eine Art Befreiung von dir. Wir haben miteinander geschlafen. Und es war gut. Es war wirklich gut. Das Problem ist nur das, was es so gut gemacht hat. Ich dachte ehrlich, Claire wäre, was ich brauche. Und das nicht nur in diesem Augenblick, sondern generell.

Ich schlafe also mit ihr, bewege mich in ihr, spüre ihren Körper und rieche ihre Haut. Ich höre ihr Stöhnen unter mir. Und dann sehe ich dein Gesicht. Gestochen scharf. So als wärst du die, die unter mir liegt. Als würde ich mit dir schlafen. Das war schrecklich. Vor allem, weil ich genau wusste, dass es für sie wirklich um mich ging. Doch anstatt aufzuhören, mache ich weiter. Ich betrachte dich, während ich mit ihr schlafe. Und das, was mich daran am meisten anwidert, ist, dass es dann noch besser war. Es war absolut fantastisch.

Sie hat danach gesagt, dass es sich so angefühlt hat, als hätte sie mit zwei Männern geschlafen. Und ich dachte, ich sterbe. Sie hat es gespürt. Sie hat nur nicht verstanden, was wirklich passiert ist. Und nicht nur, dass sie es nicht weiß, sie fand die zweite Version von mir besser. Sie hat gesagt, es war nicht nur Sex, es war Liebe und eine Art von Leidenschaft, die sie fast erschlagen hat. Und dann hat sie mich geküsst.

Du siehst, worauf ich hinaus will. Sie denkt, ich liebe sie. Und ich dachte, ich liebe sie. Und irgendwie tue ich das auch, aber eben nicht so, wie sie mich liebt. Ich liebe sie wie eine Freundin. Eine sehr gute Freundin, die mich zugegebenermaßen auch körperlich anzieht. Aber mehr ist es nicht. Und dafür hasse ich dich. Du bist noch immer in meinem Kopf. Ich dachte, es wäre vorbei. Und damit meine ich nicht diese geheuchelte Wahrheit, die man sich selbst vorbetet, weil man sie einfach so gerne glauben will. Ich habe es wirklich geglaubt. Und dann, aus heiterem Himmel erwacht ein Teil in meinem Hirn plötzlich aus einer Art Wachkoma und alles ist wieder so, wie es war. Du bist wieder da. Und du bist noch genauso schön wie damals.

Als ich heute Morgen wach wurde, lag Claire schlafend neben mir. Und sie sah so friedlich und glücklich aus. Ich habe sie betrachtet. Beobachtet, wie sich ihre Brüste gleichmäßig heben und senken. Und da wusste ich es. Meine Zeit in New York ist vorbei. In dem Moment, als ich mit ihr geschlafen habe und dich gesehen habe, war es vorbei. Ich habe nur leider keine Ahnung, wie ich ihr das erklären soll.

Während ich hier sitze und dir schreibe, liegt sie in meinem Bett und schläft. Sie hat einmal gesagt, wir wären das perfekte Paar. Wir hätten eine ehrliche Ehe, eine Ehe ohne Geheimnisse. Eine Ehe voller Kunst und Kreativität. Sie wird denken, dass dieser Morgen der erste unserer Beziehung ist. Vielleicht denkt sie sogar, es ist der erste vom Rest ihres Lebens. Und ich werde ihr sagen, dass ich zurück muss. Vielleicht werde ich lügen. Vielleicht sage ich ihr, dass ich ein tolles Angebot bekommen habe. Vielleicht schiebe ich es einfach auf die Arbeit. Nicht nur, dass das gelogen wäre, sie wüsste auch noch, dass es gelogen wäre. Ich arbeite bei der Times. Ich mache einen Teil der Illustrationen. Das war mein Traum. Und sie war dabei, als er sich erfüllt hat. Sie hat gleich morgens um sechs eine Ausgabe gekauft. Das Cover hängt in ihrer Wohnung. Also. Lügen bringt nichts. Das wäre eigentlich nur eine Beleidigung ihrer Intelligenz. Außerdem wäre ich dann nicht besser als du. Ich würde es zwar von Angesicht zu Angesicht klären, aber ich würde ihr einen Haufen erfundener Lügengeschichten auftischen. Und auch, wenn dein Brief feige war, muss ich dir zugestehen, dass du ehrlich warst, auch, wenn deine verschrobene Sicht der Realität nicht unbedingt immer der Wahrheit entsprach. Du dachtest zumindest, dass es so war.

Anja, was soll ich ihr nur sagen? Wie sagt man jemandem, dass etwas, das nie wirklich angefangen hat, vorbei ist?

Du denkst natürlich, ich sollte die Wahrheit sagen. Aber was weißt du schon? Du hörst auf einen Dämon und ein Eichhörnchen – du bist vielleicht nicht der beste Ratgeber. (Tut mir leid, das war nicht fair. Du weißt, ich habe den Dämon und auch das Eichhörnchen immer geliebt. Vergiss diesen Teil einfach.)

Wie auch immer. Wie es aussieht, liebe ich dich noch immer. Wunderbar. Warum sollte sich daran auch etwas ändern? Sind ja nur drei Jahre. Und während ich begreife, dass du eben leider nicht nur ein gemeiner Geist meiner Vergangenheit bist, hast du wahrscheinlich schon längst geheiratet. Ich wette, du hast weitergemacht. Zumindest so, wie du denkst, dass man weitermacht. Aber wer weiß, vielleicht tue ich dir auch unrecht? Vielleicht hast du dieselben internen Kämpfe. Und vielleicht weißt du, wie es sich anfühlt, jemandem vor den Kopf zu stoßen, der es nicht verdient hat. Jemandem, der einen liebt, den man aber selbst leider nur wirklich mag. Vielleicht stellt sich dir diese Frage auch gar nicht. Vielleicht hast du nämlich tatsächlich jemanden gefunden, den du liebst und vielleicht bin ich wirklich ein Teil deiner Vergangenheit, mit dem du längst abgeschlossen hast. Und das nicht nur auf diese geheuchelte Art der Wahrheit, die man sich selbst vorbetet, weil man sich wünscht, es endlich selbst zu glauben. Vielleicht ist es von deiner Seite wirklich vorbei.

Da mir dieser Gedanke aber überhaupt nicht gefällt, beschließe ich, dass du einfach aus den falschen Gründen den richtigen geheiratet hast. Jemanden, der dir aus der Hand frisst und von dem du weißt, dass er dich nie verlassen wird. Jemanden, der dich bis zur Selbstaufgabe liebt. Im Grunde kann einem dieser Kerl nur Leid tun. Wenn du mich nämlich irgendwann wiedersiehst, wird die ganze Illusion, die du dir zurecht gelogen hat, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Oder aber meine Welt wird in sich zusammenbrechen, weil meine eigenen Lügen über die Jahre zu einer Art Parallelrealität mutiert sind und ich einsehen muss, dass nichts davon stimmt.

Der Moment der Wahrheit ist gekommen. Oder aber ein Moment der Lüge. Gleich werde ich es wissen. Denn Claire ist aufgewacht.

Eifersucht brennt in meinem Bauch. Ich weiß, dass ich mich auf die Stelle konzentrieren sollte, in der ihm klar wird, dass er mich noch liebt. Und ich weiß, dass ich kein Recht dazu habe, eifersüchtig zu sein. Das ändert nichts daran, dass mein Dämon gerade ausrastet. In meiner von Verdrängung geprägten Welt hatte Julian keinen Sex. Nie. Nie und mit niemanden. Mir ist durchaus bewusst, dass das absolut weltfremd ist, aber dann ist das eben so. Das war meine Taktik und sie hat eine ganze Weile sehr gut funktioniert.

Bei der Vorstellung, allerdings, wie er auf ihr liegt und sie die Liebe spürt, könnte ich ausrasten. Er hätte es auch weniger bildhaft beschreiben können. Einfach ein, ja und dann haben wir miteinander geschlafen, hätte mir wirklich gereicht.

Ich atme tief durch und beginne die letzten Absätze noch einmal zu lesen, weil meine Augen sie zwar überflogen, aber nicht verstanden haben. Ich war zu sehr abgelenkt von Julian auf Claire.

Doch bevor ich auch nur die ersten beiden Zeilen gelesen habe, unterbricht mich das Klingeln meines Handys. Und es ist meine Mutter.

 

  1. Kapitel 37  

„Anja?“ Meine Sekretärin streckt ihren Kopf zur Tür herein. „Herr Plöger ist da.“

„Danke, Kathrin. Ich komme sofort.“

Ich lege den Kalender zur Seite und stehe auf. Und während ich in meinen Blazer schlüpfe, verfluche ich die Tatsache, dass ich noch immer an dieses Datum denke. Ich bin wirklich ein hoffnungsloser Fall.

Meine Schritte hallen durch den Korridor. Ich frage mich, was Julian gerade tut? Vermutlich ist er glücklich verheiratet und erwartet sein erstes Kind. Vielleicht ist er inzwischen Partner in einer amerikanischen Kanzlei. Wentwood Price Cooper & Bartig. Er hat bestimmt so ein edles goldenes Namensschild auf seinem blankpolierten Vollholzschreibtisch. Und eine Sekretärin, die sich um seine Pflanzen kümmert und ihm den Kaffee bringt. Seine Frau heißt sicher Madlyn oder April und sieht umwerfend aus. Sie hat blondes, glänzendes Haar und ein perfektes amerikanisches Gebiss. Mein Gott, ich bin so lächerlich. Ich erkenne einen Mann Mitte dreißig, der verlassen im Flur steht. Und dieser verlassene Ausdruck in seinem Gesicht erinnert mich spontan an mich selbst. „Herr Plöger.“ Ich strecke ihm die Hand entgegen.

„Frau Kraus, richtig?“

„Ja, richtig.“ Ich deute in Richtung Konferenzzimmer. „Wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Er lächelt. Und dieses Lächeln ist angenehm und zurückhaltend. Es ist leise und aufrichtig. „Wo sind Ihre Modelle?“

„Die hat mir eine junge Frau gerade abgenommen und ist damit in diesem Flur verschwunden“, sagt er noch immer lächelnd.

„Sie bekommen sie wieder, versprochen.“ Was rede ich denn da? Mein Dämon scheint sich dasselbe zu fragen, denn er schüttelnd seufzend den Kopf. Er hat es schon immer gehasst, wenn ich mit diesem Büro-Humor anfangen habe. Und ich muss ihm recht geben, es ist wirklich unterste Schublade. „Wollen Sie einen Kaffee? Oder ein Wasser?“

„Einen Kaffee nehme ich gern.“

„Normaler Kaffee, Cappuccino, Latte Macchiato? Oder vielleicht einen Espresso?“, frage ich und lächle mein Geschäfts-Lächeln.

„Am liebsten einen Espresso.“

„Und wer war der gutaussehende Mann, mit dem du dich so lange im Konferenzzimmer versteckt hast?“

„Wer?“, frage ich irritiert. „Ach so, Herr Plöger.“ Laura grinst mich an. „Ich habe mich nicht mit ihm versteckt. Wir hatten eine Besprechung.“

„Aha. Und was macht Herr Plöger so?“

„Er ist Architekt.“

„Dann hat er bestimmt geschickte Finger.“ Laura schmunzelt. „Er hat schöne Hände. Findest du nicht, dass er schöne Hände hat?“

Es stimmt, die hat er. „Ist mir nicht aufgefallen.“

„Was ist nur los mit dir?“

„Was meinst du?“

„Anja, ich hab dich wirklich gern. Das weißt du, oder?“ Ich nicke. „Und ich weiß, dass du das nicht hören willst...“

„Dann sag es nicht“, unterbreche ich sie.

„Freunde sind aber dazu da, auch die Dinge zu sagen, die man nicht hören will.“

Ich seufze. „Gut, dann sag es.“

„Ich weiß, wie du wirklich bist. Ich kenne dich. Aber, wenn man dich nicht kennt, dann bist du diese wunderschöne Frau mit dem leeren Gesicht. Du wirkst kalt und distanziert und irgendwie... ich weiß nicht...“

„Irgendwie was?“

„Verbittert.“ Einen Augenblick sage ich nichts. Ich überspiele die Tatsache, dass ich gerade zu Boden gegangen bin. Das Kind in mir weint lautlos. Es schirmt sein Gesicht ab, weil es weiß, dass es stimmt. „Ich sage das nicht, um dir wehzutun.“

„Das weiß ich.“ Ich spüre das Brennen in den Augen. Dieses Brennen, das die unterdrückten Tränen ankündigt.

„Du gefällst ihm.“

„Wem?“, frage ich irritiert und schlucke.

„Herrn Plöger.“

Ich schaue sie ungläubig an. „Ach was.“

„Doch, das tust du. Und ich glaube, er gefällt dir auch.“

 

  1. Kapitel 38  

Ich lege den Brief auf meinen Schreibtisch. Alles, was Julian schreibt, ist wahr. Jedes Wort. Ich bin fassungslos. Fassungslos darüber, dass er mich besser kannte als ich mich selbst. Ich habe den ersten Mann geheiratet, bei dem ich mir sicher war, dass ich ihm irgendwie überlegen bin. Vielleicht ist überlegen das falsche Wort. Vielleicht ging es mehr um die Gefühle. Ich wusste, dass Tobias mich liebt. Ich hatte keinen Zweifel daran. Und deswegen hat mein Bewusstsein sein Okay gegeben. Einfach, weil es wusste, dass Tobias der Typ Mann ist, der mich nicht verlassen würde. Er hat mich mehr geliebt. Das ist der springende Punkt. Das hat mir die Sicherheit gegeben, die Julian mir damals genommen hat. Und ich denke, tief in unserem Inneren, haben wir das beide gewusst. Tobias wollte es nicht sehen und ich habe einfach nicht so weit in mein Inneres geschaut. Alles, was da drin ist, ist potentiell gefährlich und könnte unangenehm sein. Deswegen lässt man das Innere lieber da, wo es hingehört. Zumindest so lange man kann. Und dann kam Julian. Und bis zu diesem Augenblick hat Tobias und mir die Gewissheit gereicht, dass wir gut zusammen sind. Das, was wir hatten, war ja auch gut. Es war alltagstauglich und bodenständig. Es war sicher. Ein sicherer Hafen eben. Ein Fels in der Brandung. Und Julian hat das gewusst. Er hat gewusst, dass ich mir einreden würde, dass das genau die Art von Mann ist, die ich brauche. Eben das Gegenteil von ihm. Wobei das auch nicht ganz stimmt. Denn, wenn man es genau nimmt, habe ich mich bei niemandem wohler gefühlt als bei Julian. Dieses Gefühl habe ich nur vorsichtshalber ganz tief in meinem Inneren vergraben. Und es dort langsam verrotten lassen. So, als wäre es dann weniger wahr.

Als ich gerade Brief ‚#6’ aus dem Umschlag ziehe, klingelt mein Handy.

„Hallo?“

„Hallo, ich bin’s.“ Tobias klingt nicht gut. Seine Stimme wirkt ermattet. „Wieso hast du mich nicht geweckt, als du nach Hause gekommen bist?“

Kurz frage ich mich, woher er überhaupt weiß, dass ich zu Hause war, doch dann fällt mir der Blazer ein, den ich auf dem Bett habe liegen lassen. „Ich habe es nicht übers Herz gebracht“, improvisiere ich.

„Ich hätte dich gern noch gesehen.“ Er räuspert sich. „Kommst du später?“

„Ich denke schon, ja...“, sage ich vage. „Wenn nicht heute, dann morgen.“

„Was spricht gegen heute?“ Und da ist es, das Misstrauen. Aber was habe ich mir auch erwartet? Natürlich ist er misstrauisch. Im Grunde kann ich mich freuen, dass er überhaupt noch mit mir spricht.

„Ich treffe heute vielleicht meine Mutter“, sage ich schließlich.

„Sie ist in der Stadt?“

„Sie ist gerade bei einer Freundin in Augsburg.“

„Und wann trefft ihr euch?“

„Du, das kann ich dir nicht genau sagen, sie meinte nur, sie ruft mich am späten Nachmittag an.“ Er denkt ich lüge. Wenn ich er wäre, würde ich das auch denken. Nur ist es dieses Mal tatsächlich die Wahrheit. „Ich kann dich später anrufen, wenn du willst.“

„Ja, mach’ das“, er klingt enttäuscht. „Es wäre wirklich schön, wenn wir uns noch sehen könnten, ich fliege doch heute Abend nach London.“

London. Richtig. Da war etwas. „Ach ja, natürlich“, sage ich und seufze. „Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.“

„Ist gut. Dann bis später.“ Ich werfe das Handy in meine Tasche, dann greife ich nach dem Brief.

Liebe Anja,

ich habe es ihr gesagt. Und sie hat geweint. Und bei jeder Träne, die über ihre Wangen gelaufen ist, habe ich mich ein bisschen mehr gehasst. Das ändert nichts daran, dass es richtig war, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie ist ohne ein Wort gegangen und ich wusste, dass ich sie nie wieder sehen werde. Eben war sie noch ein Kernbestandteil meines Lebens und plötzlich ist sie weg. Und ich habe das so entschieden. Ich wollte sie behalten, aber eben nur als jemanden, der mich liebt und von dem es mich ehrt, geliebt zu werden. So sehr sogar, dass ich wirklich dachte, diese Liebe zu erwidern.

Claire ist wunderbar. Sie ist intelligent und hat Humor, sie ist lebendig und aufregend. Und sie ist schön. Ich liebe es, wie ihr kinnlanges schwarzes Haar in der Sonne glänzt. Und ihre schwarzen Augen. Aber sie ist nicht du. Sie ist nicht so lustig, nicht so intelligent und nicht so schön wie du. Sie ist eben Claire. Und für jemand anderen wird das reichen. Für jemand anderen wird sie das sein, was du für mich bist. Für mich wäre sie nur eine angenehme Notlösung.

Die vergangenen zwei Wochen habe ich nur gegrübelt. Ich habe mich gefragt, wie viel Sinn es macht, mein Leben hier aufzugeben, nur um dann ins Ungewisse zu steuern. Hier bin ich jemand. Ich habe mir einen Ruf aufgebaut, Kontakte geknüpft. Sicher, ich könnte das auch in München, aber ich weiß nicht, ob München mir gut tut. Es ist, als hätten München und ich eine lange Beziehung gehabt, die wirklich schlecht auseinander gegangen ist. Wir haben uns geliebt, aber es hat nicht funktioniert. Vielleicht hat das aber auch nichts mit München zu tun.

Ich weiß einfach nicht, ob es der richtige Weg für mich ist, dort anzuknüpfen, wo ich vor drei Jahren war. Brauche ich das, weil ich nicht wirklich mit dir abgeschlossen habe? Vielleicht habe ich nämlich einfach nur verdrängt und mich in ein neues Leben gestürzt. Ein Leben, das nichts mit dir zu tun hat.

Andererseits scheint es so, als gäbe es kein Leben, das nichts mit dir zu tun hat. Nach außen hin schon, klar, aber was hat es mit diesen albernen Briefen auf sich? Alles, was wichtig ist, bringt mich auf die eine oder andere Art wieder zu dir. Oder zumindest zu dem Bild von dir, das ich noch immer im Kopf habe.

Irgendwie scheine ich zum ersten Mal zu verstehen, was du mit deinem Dämon gemeint hast. Mein Dämon bist du. Und jedes Mal, wenn ich denke, dass ich dich endgültig hinter mir gelassen habe, dann passiert etwas, und du wachst wieder auf. Und das ist jedes Mal so heftig, dass es mich absolut überrumpelt. In diesen Augenblicken überrascht es mich dann, wie erfolgreich ich dich verdränge. Und das jeden Tag.

Im Grunde weiß ich, was ich zu tun habe, ich habe nur keine Lust auf diesen Weg, denn es ist ein Weg zurück. Ein Weg in die Vergangenheit. Und ich liebe New York. Diese Stadt ist wie ein riesiger Organismus, wie ein immenses Lebewesen mit einem rauen aber liebenswerten Charakter. Kantiger Charme und quirliges Leben. Sie ist laut und aufbrausend und umwerfend schön. Sie ist wie du.

Es sind weitere zwei Wochen vergangen und ich stehe in einer leeren Wohnung. Sie hat einmal mir gehört. Sie war ein Zuhause. Jetzt sind es nur noch vier Wände ohne Geschichte. Schon seltsam. In fünf Minuten kommt mein Nachmieter. Ich werde ihm die Schlüssel geben und dann abhauen.

In fünf Stunden geht mein Flug nach München. Danny fährt mich zum Flughafen. Und auch wenn er kein Wort wegen Claire gesagt hat, ich spüre, dass sie ihm alles erzählt hat. Und ich weiß, dass er mich dafür verachtet. Sagen wird er trotzdem nichts. Und dafür bin ich wirklich dankbar. Dieses Schweigen unter Männern. Wobei ich zugeben muss, dass all das, was nicht gesagt wird, manchmal fast noch schwerer ist, als alle Vorwürfe, die er mir machen könnte. Jetzt hat es geklopft.

Ich liebe und hasse dich, Anja.

Julian

 

  1. Kapitel 39  

Ich mag sein Lächeln. Es hinterlässt ein warmes, kuscheliges Gefühl. Wie ein warmes Schaumbad oder eine Fußmassage. Es ist aufrichtig und authentisch. Und nicht nur sein Lächeln ist aufrichtig und authentisch. Alles an ihm. Vielleicht ist es auch das Alter. Er ist ein Mann. So als wäre er bei sich angekommen und nicht mehr auf der Suche nach etwas. Er ist Mitte dreißig. Authentisch eben. Die Jeans, die Turnschuhe, das lässige T-Shirt, die schwarze Hornbrille, die seine warmen Augen umrahmt, die Lachfältchen. Er sieht gut aus und ist dabei kein bisschen eitel. Er ist ein Ruhepol, in sich gekehrt, ohne ein Einzelgänger zu sein. Ich mag ihn. Und ich habe ihn gleich gemocht. Seit dem Augenblick, als er vor vier Monaten verloren im diesem Korridor stand. Wenn er da ist, geht es mir gut. Vielleicht mag ich gerade das. Ich mag mich mit ihm. Und vielleicht mag ich am liebsten, dass er weiß, wer er ist. „Vielleicht haben Sie ja Lust auf einen Kaffee?“

„Gerne, ich kann uns einen machen.“

„Nein, ich meine nicht hier.“ Er wirkt verlegen. „Wenn wir hier einen Kaffee trinken, wäre das wie eine unserer Arbeitsbesprechungen.“

„Wenn es keine Arbeitsbesprechung sein soll, was dann?“

„Verstehe.“ Er geht einen Schritt rückwärts.

„Nein, das habe ich nicht so gemeint“, sage ich und halte ihn am Arm fest. „Wir können gerne einen Kaffee trinken. Unten an der Ecke ist ein schönes Café.“ Ich schlucke. Und das klingt angestrengt. „Ich gehe dort öfter hin. Die haben auch sehr gute Croissants.“ Was rede ich denn da? Die haben sehr gute Croissants? Vielleicht mag er gar keine Croissants.

„Croissants. Das klingt gut.“ Und da sind sie wieder, die Lachfältchen. Es fühlt sich an, als könnte ich seinen Herzschlag durch den Boden spüren. Vielleicht ist es aber auch meiner. „Wollen wir?“

Es ist seltsam, aber die Vorstellung ihn nicht mehr zu sehen, mag ich nicht. Die vergangenen vier Monate haben wir uns fast täglich gesehen. Und ja, zugegeben, es ging hauptsächlich um die Arbeit, aber wir hatten gleich einen Draht zu einander. So, als wären wir verwandte Seelen. Vielleicht hätte ich das aber auch nur gerne. Egal ob nun verwandte Seelen, oder nicht, ich bin gerne mit ihm zusammen. Er hat so eine ruhige Aura. Ich halte ja nicht viel von der inneren Mitte, aber wenn ich jemanden kenne, auf den das zutrifft, dann ist es Herr Plöger. Er ist mir angenehm. Und das auf jede erdenkliche Weise. Er gehört zur Sorte Mann fürs Leben. Verlässlich, pünktlich, aufmerksam. Er hört zu. Und das mit dem ganzen Körper. In seinem Gesicht kann man verfolgen, was er gerade denkt. Gut, das macht ihn nicht gerade aufregend, weil er dadurch irgendwie transparent wirkt, aber andererseits ist dieses ganze Drama doch auch nicht wirklich von Dauer. Das ist spannend und alles, aber so was hält nicht.

Wir steigen aus dem Aufzug und gehen durch die karge Eingangshalle. Meine Schritte klingen energisch und zielstrebig. Als wir wenig später das kleine Café betreten, hebt mein Dämon unvermittelt seinen Kopf. Es ist, als hätte Herrn Plögers Stimme ihn geweckt. Und ich denke, für einen Augenblick dachte er, die Stimme wäre die eines anderen. Und dieses neue Gesicht überrascht ihn. Und ich glaube nicht im positiven Sinne.

„Ich überlege schon seit Wochen, ob ich Ihnen das Du anbieten soll, war mir aber nicht sicher, ob das unter Ihren Kollegen zu Tratscherei führen würde.“

Sein Bein streift mich unter dem Tisch. „Das hätte es vermutlich“, sage ich und ziehe mein Knie ein zurück zur Seite.

„Oh, entschuldigen Sie.“

„Was?“

„Na, mein Bein hat Sie eben gestreift.“ Er zeigt unter den Tisch. „Das war keine Absicht.“

„Das macht nichts.“ Die Kellnerin bringt uns den Kaffee und schaut mich irritiert an. Sie hat mich vermutlich für lesbisch gehalten. Wahrscheinlich dachte sie, ich komme ihretwegen hierher. „Ich heiße Anja.“

„Tobias, freut mich.“ Er nimmt einen Schluck Kaffee. „Es freut mich auch, dass du dir die Zeit nehmen konntest.“

„Das Projekt ist gelaufen“, sage ich und schütte den Espresso in einem Sitz hinter, damit ich nicht schmecke, wie bitter er ist. „Ich habe jetzt erst einmal nicht so viel zu tun.“

„Wenn das so ist, hast du vielleicht Lust auf Kino und etwas zu Essen?“

„Kino und Essen?“ Die alte Schule. Kino und Essen. Also in meine Welt übersetzt, bedeutet das Sex. Erst wird der Gaumen bezirzt und die Geschmacksknospen stimuliert, dann geht man über in die Dunkelheit. Bei Sexszenen sind beide peinlich berührt und doch erregt und nach dem Film geht der eine dann auf den berühmten Kaffee zum jeweils anderen. Nur, dass man diesen Kaffee nie bekommt.

„Vielleicht doch lieber nur essen?“ Er schiebt die Brille ein Stück weiter nach oben. Das tut er dauernd.

„Und wo?“, frage ich um Zeit zu gewinnen, obwohl es mir eigentlich völlig egal ist. Will ich mit ihm essen? Oder anders gefragt, will ich mit ihm schlafen? Denn das mit dem Essen ist kein Problem. Dann essen wir eben.

„Ich würde etwas kochen.“

„Du meinst bei dir?“, frage ich etwas zu perplex. „Du lädst mich zu dir nach Hause ein?“

„Ist vielleicht eine blöde Idee, ich kenne auch einen guten Italiener.“

Verdammt noch mal Anja, jetzt werd doch mal locker. Du musst ihn ja nicht heiraten. Wenn der Abend scheiße sein sollte, kannst du immer noch Sehstörungen bekommen und abhauen. Und da das Projekt in trockenen Tüchern ist, musst du ihn auch nie wieder sehen, wenn du nicht willst. „Okay, dann bei dir.“ Er wirkt erstaunt. „Und wann?“

„Ähm, wann immer du willst.“

„Morgen Abend?“

„Ja, sicher, gern.“ Er nimmt wieder einen Schluck Kaffee. „Was isst du gerne?“

„Das ist mir egal“, sage ich lächelnd. „Aber bitte nichts zu Exotisches.“

Als wir uns drei Stunden später verabschieden, geht es mir gut. Und nicht nur so ein bisschen gut, sondern richtig gut. Er tut mir gut. Seine entspannte Art und sein ruhiges Wesen sind wie ein kurzer Urlaub. Es sind viele kleine Dinge, die Tobias besonders machen. Es sind überhaupt immer die Kleinigkeiten.

Ich sitze in meinem Büro und denke an Julian. Und dann denke ich an Tobias und die vielen kleinen Dinge, die ich an ihm mag. Kleinigkeiten eben. Die meisten bemerken sie gar nicht. Alle wollen sie immer die großen Gesten. Tiffany-Ringe mit faustgroßen Diamanten, Heiratsanträge zum Angeben, riesige Blumensträuße mit roten langstieligen Rosen mit üppigen Köpfen, die ein Blumenlieferant in die Arbeit schleppt, damit alle sehen, wie echtes Glück aussieht. Blumenbouquets, die sie daran erinnern, was sie nicht haben – nämlich das Leben mit den großen Gesten. Die wenigsten werden sie erleben. Deswegen sind es ja auch die großen Gesten. Wären große Gesten die Regel, dann wären sie weder groß noch Gesten. Dann wären sie einfach normal und damit automatisch nichts Besonderes.

Und weil jeder etwas Besonderes sein will, warten wir alle auf den Menschen mit den großen Gesten. Auf den Menschen, der endlich erkennt, dass wir diese großen Gesten wert sind. Und wozu führt das? Zu einem Haufen unglücklicher Menschen, die irgendwann einmal tatsächlich angefangen haben, daran zu glauben, dass Filme von der Realität inspiriert wurden. Im Grunde ist das ja auch richtig, aber eben nicht so, wie viele sich das wünschen. In Wahrheit ist die Realität meistens dermaßen schmucklos und eintönig, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis bei manch einem die Fantasie durchgehen musste. Sie fingen an Geschichten aufzuschreiben, in denen Männer das Richtige sagten und das Richtige taten und die richtigen Ringe kauften und üppige Rosenbouquets verschenkten. Geschichten, in denen die Herkunft und der Intellekt keine Barriere waren und in denen diejenigen einander fanden, die sich liebten und nicht die, die einander bei der Geburt versprochen wurden. Erst waren es nur Gedichte, dann Romane, und etwas später kam die Musik dazu. Schmachtende Texte, triefend vor Liebe und Zuneigung und Leidenschaft. Und noch später kam der Film. Da sah man dann schwarz auf weiß, wie das Leben sein sollte. Lauter wunderschöne Menschen, die sich lieben und sich das mit allerhand großer Gesten immer wieder aufs Neue beweisen. Daran hat sich nicht viel geändert, auch, wenn die Filme inzwischen in HD ausgestrahlt werden. Die Botschaft ist noch immer dieselbe.

Und deswegen warten wir auf die eine große Geste, die uns zeigt, dass wir eben doch zu jeder Liebes-Elite gehören, zu der wir schon immer gehören wollten. Und zugegeben, es gibt sie schon, diese Ausnahme-Geschichten. Diese Geschichten, in denen zwei Menschen sich über den Weg laufen und der eine für den anderen sein Leben umkrempelt. Meine Freundin Connie hatte so eine Geschichte. Sie hat Jaques in Canada kennengelernt. Und auf einmal war alles anders. Aus geplanten vier Wochen Toronto wurden acht Jahre, ein Trauschein und drei Kinder. Und dann letztes Jahr die Scheidung. Da, wo im Film der Abspann anfängt, geht das Leben nämlich einfach erbarmungslos weiter. Und das, was es ausmacht, sind meistens nicht die großen Gesten, sondern die Kleinigkeiten.

Und ich glaube Tobias ist so ein Mann der vielen Kleinigkeiten. Vielleicht ist er genau das, was ich brauche. Einen kleinen Augenblick denke ich an Julian. In meiner jugendlichen, naiven Sichtweise war er immer beides. Der Typ für die großen Gesten und für die Kleinigkeiten. Eben die Liebe meines Lebens. Pah. Wer findet schon die Liebe seines Lebens mit siebzehn? Kein Mensch. Da ist Mitte zwanzig weitaus realistischer. Und Tobias ist der erste Mann, der es schafft, überhaupt in die Nähe meines Schutzpanzers zu kommen. Das muss doch etwas bedeuten. Ich meine, da waren viele Männer, aber keiner hat mich interessiert. Und mit Tobias ist das anders. Bei ihm geht es mir gut. Ich kann ich selbst sein. Und das konnte ich die vergangenen Jahre eigentlich nur vor mir selbst. Und vielleicht vor ein, zwei guten Freunden. Und vor Julian natürlich. Aber der zählt nicht. Zumindest nicht mehr.

 

  1. Kapitel 40  

Ich kann nicht fassen, dass ich Julian nie gefragt habe, was er beruflich macht. Ich habe ihm oft von meiner Arbeit und meiner Abscheu davor erzählt, aber ich habe ihn nie nach seiner gefragt. Gut, ich habe gewusst, dass er umgeschult hat. Er hat es mir erzählt. Aber ich habe nie gefragt, was er eigentlich tut.

Wenn man es genau nimmt, weiß ich fast nichts von ihm. Oder ich wusste nichts von ihm. Bis gestern. Bis zu diesen Briefen. In denen ich mehr über ihn erfahren habe als im vergangenen Jahr. Und die hat er mir nur gegeben, weil ich ihn verlassen habe. Oder nicht aufgetaucht bin, wie man es nimmt. Warum hat er nie etwas gesagt? Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn er mit mir geredet hätte. Andererseits, hätte ich das zugelassen? Vermutlich nicht. Ich hätte schreiend das Hotelzimmer verlassen, weil mich die panische Angst überfallen hätte. Dann hätte ich ja eine Entscheidung treffen müssen und jeder, der mich kennt, weiß, dass Entscheidungen nicht meine Spezialität sind.

Mein Blick fällt auf die Uhr. Wenn ich gewusst hätte, wie lange es dauert, persönlich zu kündigen, hätte ich eine Mail geschickt. Ich ziehe den nächsten Brief aus dem Umschlag.

Liebe Anja,

ich denke, ich habe recht gehabt. Ich bin wieder zurück in München. Ich hätte nicht gedacht, dass alles so einfach werden würde. Meine Referenzen haben mir alle Türen bis zum Anschlag geöffnet und ich konnte mir quasi aussuchen, wo ich arbeiten will. Ich hätte keine Mappe gebraucht. Mein Ruf eilt mir voraus. Na, so was.

Ich habe eine Arbeit. Ich verdiene wirklich gut und ich habe alle Freiheiten. Eine Wohnung habe ich auch. Die Abstellkammer ist ungefähr so groß wie unsere erste Wohnung. Trotzdem würde ich nicht sagen, dass ich meine neue Wohnung lieber mag.

Ich bin durch die Straßen von München geschlendert und habe mich all den bittersüßen Erinnerungen hingegeben. Ich habe mich gefühlt wie in einem anderen Leben. So wie in einem Film. Das hier ist wie eine Rückblende, die es dem Zuschauer ermöglicht, sich in den Hauptdarsteller und seine Situation hineinzuversetzen. Ich habe ganz vergessen, wie viel Himmel man in München sieht. Das Blau war überall. Keine störenden Hochhäuser, kein Tunnelblick durch Häuserschluchten, keine verspiegelten Fassaden, keine vollgestopften Straßen. München ist wie ein sehr sauberes Puppenhaus. Alles ist so geregelt und leise. Sogar der Berufsverkehr ist andächtig still im Vergleich zu New York.

Na, wie dem auch sei, ich habe also eine Wohnung und einen Job gefunden. Und jetzt, wo alles geklärt ist, habe ich angefangen nach dir zu suchen. Doch keine Spur von Anja Kraus. Und da dämmerte es mir. Vermutlich heißt du gar nicht mehr Kraus. Du heißt ganz anders. Und der einzige Weg, das herauszufinden, wäre, deine Mutter anzurufen, was nicht in Frage kommt, weil die dann augenblicklich zum Hörer greifen und dich anrufen würde und das ist nicht Sinn der Sache. Ich wollte schließlich erst einmal im Stillen nach dir suchen.

Ich habe Kai angerufen und gefragt, ob er noch Kontakt zu Caro hat und ob du es glaubst oder nicht, die beiden sind noch zusammen. (Ich konnte es nicht fassen.) Da sieht man einmal mehr, dass ich mich die vergangenen drei Jahre wirklich um niemanden geschert habe. Und du dachtest, ich wäre vor meiner Zeit in New York ich-bezogen gewesen. Du hast ja keine Ahnung. Na jedenfalls habe ich dann mit Caro gesprochen und herausgefunden, dass du nicht viel besser warst als ich. Sie hat keine Ahnung, wo du bist und was du machst. Und falls du geheiratet hättest, wüsste sie es nicht, weil sie nicht eingeladen gewesen wäre. Deswegen kann sie sich das eigentlich nicht vorstellen. Hm. Ich kann mir das sehr gut vorstellen.

In einem Anfall von Melancholie bin ich dann zu unserer alten Wohnung gefahren. Du weißt schon, zu der, aus der du mich hast ausziehen lassen, ohne vorher mit mir zu reden. Da wohnt jetzt ein älterer Kerl namens Lakcovic. Hat mir zu denken gegeben. Ich hätte gedacht, dass in diesem Haus nur junge Menschen leben. Wieder etwas, womit ich mich getäuscht habe. Ich frage mich auch, wie du das damals mit dem fehlenden Schlüssel hinbekommen hast, aber wie ich dich kenne, hast du einfach schamlos gelogen. Und während du gelogen hast, hast du dein Unschuldsgesicht aufgesetzt. Ich kann es mir bildlich vorstellen. (Leider muss ich zugeben, dass ich dieses Unschuldsgesicht immer atemberaubend fand und ich dir ganz bestimmt jede Lüge abgekauft hätte.)

Ich stehe also vor unserer Wohnung und bin kurz davor, sie einfach aufzusperren, da geht plötzlich die Tür auf und besagter Herr Lakcovic (keine Ahnung ob man den so schreibt), steht in Birkenstocks und Bademantel vor mir.

Ich war dann zwei Stunden bei ihm. Wir haben uns auf unserem alten Balkon unterhalten und einen Espresso getrunken. Von Espresso hat der Typ echt Ahnung. So einen starken Kaffee habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht getrunken.

„Anja?“

Ich schrecke hoch. „Ja?“

„Er hat jetzt kurz Zeit.“

Ich nicke, falte den Brief zusammen und stehe auf. Während ich Andreas’ Sekretärin folge, schnurrt mein Dämon zufrieden. Er findet gut, was ich tue. Und es beruhigt mich, wie friedlich er ist. Ein glücklicher Dämon ist wirklich viel wert.

„Herr Heinburg, Frau Plöger ist da.“

„Kann reinkommen...“ Seine Sekretärin tritt einen Schritt zu Seite. „Ach ja und Frau Scheurer, bringen Sie uns doch bitte zwei Cappuccino.“ Sie nickt, dann verschwindet sie lautlos im Flur und schließt die Tür. „Anja, bitte setz dich.“ Ich nehme Platz und stelle meine Tasche auf den Boden. „Tut mir leid, dass du so lange warten musstest, aber du kennst das ja, wir haben alles, außer Zeit.“ Er lacht sein schales Lachen. „Ich denke, ich weiß schon, worüber du mit mir reden möchtest und ich gebe dir recht, ich denke auch, dass es an der Zeit ist.“

„Andreas, ich...“, sage ich vorsichtig, doch bevor ich weitersprechen kann, klopft seine Sekretärin an die Tür und tritt ein. Sie stellt zwei Tassen Cappuccino, eine Zuckerdose und ein winziges Tellerchen mit noch winzigeren Plätzchen zwischen uns auf den Tisch. Ich frage mich, wie sie das so schnell gemacht hat und lächle sie an. „Vielen Dank.“

„Gerne.“ Ihre Stimme klingt wie die eines Roboters. „Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?“

„Danke, Frau Scheurer, das wäre alles.“ Sie lächelt unterkühlt, dann schließt sie dir Tür. „Also, Anja, dann lass’ uns reden.“ Er zieht eine der Tassen näher an sich heran und wirft drei Zuckerstückchen in den Schaum. „Ich weiß, das kommt spät, aber du hast es dir verdient, endlich die Anerkennung zu bekommen, die dir zusteht. Vor allem nach Genf. Gratulation noch einmal, das hast du fantastisch gemacht.“ Ich nicke und lächle. Ist ja auch nur ein Jahr her. „Anja, wir möchten dir die Partnerschaft anbieten.“

Einen Augenblick sage ich nichts. Mein grauenhaft langweiliges Sicherheitsbedürfnis überlegt krampfhaft, ob es weise wäre, so ein Angebot abzuschlagen. Bei diesen Gedanken hebt mein Dämon sein Haupt. Und ich weiß, was dieser Blick zu bedeuten hat. Er sagt, dass ich mich lange genug habe vertrösten lassen. Er sagt, dass ich im Grunde etwas völlig anderes will. Er sagt mir, dass ich keine Angst haben muss. „Das ist ein liebes Angebot“, sage ich mit fester Stimme. „Aber es kommt leider ein paar Jahre zu spät.“

„Anja, meine Liebe, so etwas dauert eben seine Zeit.“

„Es dauert aber bei manchen länger als bei anderen...“

„Gut, ich gebe dir recht, es wäre eigentlich vor einem Jahr bereits überfällig gewesen, aber da waren die Zeiten turbulent und...“

„Andreas, ich wollte dich nicht wegen einer Partnerschaft sprechen“, unterbreche ich ihn, weil ich weiß, dass er mir sonst einen schier endlosen Monolog über die wirtschaftlich unsicheren Zeiten halten wird.

„Sag’ nicht, dass du schwanger bist.“ Er klatscht in die Hände. „Herzlichen Glückwunsch.“

„Ich bin nicht schwanger.“

„Aber du bist doch hoffentlich nicht krank?“

„Nein, Andreas, ich kündige.“

Stille. Sie ist allumfassend und allgegenwärtig. Sein Gesicht wirkt unecht, so, als wäre es aus Knete oder Wachs. „Aber... aber warum?“

„Es ist einfach der richtige Zeitpunkt.“

„Aber Anja, das ist Wahnsinn, du hast hier einen sicheren Arbeitsplatz, wir bieten dir eine Partnerschaft, wir können auch über dein Gehalt noch einmal reden.“

„Vor einem Jahr hätte ich dir recht gegeben, aber jetzt nicht mehr.“

„Hast du etwas anderes?“ Sein Gesicht ist knallrot.

„Was spielt das für eine Rolle?“, frage ich lächelnd. Mein Dämon strahlt. Und wenn er glücklich ist, bin ich es auch. Als Andreas gerade etwas sagen will, greife ich nach meiner Tasche und stehe auf. „Ich hoffe, du legst mir keine Steine in den Weg.“ Ich klinge gelassen und ruhig. „Ich möchte wirklich, dass wir im Guten auseinander gehen.“

Ich setze mich ins Auto und fühle mich fantastisch. Und das verdanke ich Julian. Ich verdanke es seinen Briefen, die mich wieder an die Anja erinnert haben, die ich einmal war. Ich verdanke es den vielen gestohlenen Nächten, die ich mit ihm verbracht habe.

Mein Handy klingelt. Tobias. Auch das noch. Nein, den kann ich jetzt wirklich nicht brauchen. Ich schalte auf stumm, dann ziehe ich den Brief hervor. Ich überfliege die Zeilen, dann entdecke ich den Absatz, bis zu dem ich ihn gelesen habe.

Ich habe Herrn Lakcovic von dir erzählt, und davon, dass wir einmal dort gewohnt haben. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde ich jetzt vermutlich noch immer bei ihm sitzen und wir würden uns unterhalten und Kaffee trinken. Ich glaube, er hätte mich augenblicklich mietfrei bei sich einziehen lassen. Aber auch, wenn mir Herr Lakcovic wirklich sympathisch war, in einem Bett hätte ich nicht mit ihm schlafen wollen.

Ich denke ja, er ist einsam. Wahrscheinlich bekommt er nicht oft Besuch. Vermutlich ist er nach Deutschland gekommen, weil er dachte, hier bessere Chancen zu haben. Hm. Na, irgendwann habe ich mich dann doch losreißen können, musste aber versprechen, ihn wieder zu besuchen, was ich auch vorhabe. Als ich dann im Flur stand, habe ich ihm den Schlüssel gezeigt. Wir haben ausprobiert, ob er noch sperrt, aber es war ein neues Schloss. Eigentlich wundert es mich, dass mich das gewundert hat. Damit war zu rechnen. Die Tatsache allerdings, dass dort nun ein Herr Lakcovic wohnt, ist schon irritierend. Das letzte Mal, als ich diese Wohnung verlassen habe, war es noch meine Wohnung. Und ich wusste ja nicht einmal, dass es das letzte Mal sein würde.

Wie auch immer. Ich habe den Schlüssel behalten. Vorerst. Am Abend habe ich ihn dann im Affekt in die Isar geworfen und es wenig später bereut. Vermutlich ging es dir so, als du mir den Kettenanhänger zurück geschickt hast. Würde zu dir passen.

Was soll ich sagen. Ich bin wieder zurück. Und ich habe mir etwas anderes erwartet. Oder erhofft. Ich stelle meine Suche nach dir jetzt jedenfalls ein. Entweder wir laufen uns irgendwann zufällig über den Weg, oder eben nicht. München ist ja überschaubar, es wäre also tatsächlich möglich. Und wenn nicht, dann sehe ich das als Zeichen. Ich bin deinetwegen zurückgekommen und mehr kann ich im Augenblick nicht tun. Stimmt nicht ganz, aber das, was ich tun könnte, will und werde ich nicht tun.

Ich werde einfach darauf hoffen, dich zu sehen, oder aber die eigentliche Frau meiner Träume zu treffen und festzustellen, dass es eben doch nicht du warst. Das wäre wirklich erfrischend.

Ich weiß, irgendwie ist das ziemlich erbärmlich, aber ich denke an dich.

Julian

 

  1. Kapitel 41  

Tobias Wohnung ist freundlich und aufgeräumt. Genau wie er. Sie ist ohne viel Schnickschnack. Simpel und durchdacht. Tobias hat sie vor drei Jahren gekauft und umgebaut. Es hängen nur wenige Bilder an den Wänden. Sie sind abstrakt und wild. Manche sind fast ein bisschen unheimlich. Sie haben keine Ordnung, sie sind einfach ungestüm und irgendwie bedrohlich. Ein Bild sticht besonders heraus. Die Farben und die Kompositionen sind aggressiv und abgründig. Mein Dämon dreht sich weg, so als würde er den Anblick nicht ertragen. Es läuft mir eiskalt über den Rücken und auch ich wende mich ab. Irgendwie ist es furchteinflößend. Und das passt nicht zu Tobias. Kein bisschen.

Nachdem er mir die Wohnung gezeigt hat, setze ich mich zu ihm in die Küche. „Das Essen ist jeden Augenblick fertig“, sagt er und hetzt zu den Töpfen zurück. „Dauert nur noch ein paar Minuten.“

„Kein Problem“ Als er sich bückt, um einen Blick in den Ofen zu werfen, ertappe ich mich dabei, wie ich seinen Hintern begutachte, was meinem Dämon nicht zu passen scheint, denn er stößt mich unsanft in die Seite. „Kann ich dir helfen?“

„Das fehlte noch“, sagt er und kostet die Sauce ab. „Dass ich dich zum Essen einlade und dann kochen lasse.“

„Es stört mich nicht“, sage ich und lächle.

„Mich würde es aber stören.“

„Ich komme mir aber blöd vor, wenn ich hier nur rumsitze und dir beim Arbeiten zuschaue.“

„Trink einfach einen Schluck Wein und entspann’ dich.“ Sagt er und zieht ein Blech aus dem Ofen. „Wir können in einer Minute essen.“

Ich lege das Besteck zur Seite und seufze. „Das war fantastisch.“

„Findest du?“, fragt er nervös. „Das Fleisch war nicht zu hart?“

„Es war fantastisch.“

„Puh. Da bin ich erleichtert.“

„Du hättest dir meinetwegen wirklich nicht so viel Mühe machen müssen.“

„Ich will seit vier Monaten mit dir essen, ich hatte also genug Zeit, mir etwas zu überlegen.“

„Du willst seit vier Monaten mit mir essen?“

„Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.“ Seine Ehrlichkeit irritiert und beeindruckt mich. Und sie wirkt kein bisschen aufgesetzt. Man kennt das ja, dass ein Mann einem lauter schöne und wohlklingende Sachen ins Ohr säuselt, wenn er dadurch erwarten kann, einen ins Bett zu kriegen. Bei Tobias scheint es nicht darum zu gehen.

Will ich das? Ich meine, ein Teil in mir will das schon, aber was ist mit dem anderen? Wenn ich das erst einmal getan habe, gibt es kein Zurück mehr. Blödsinn. Es gibt immer ein Zurück. Ich könnte gehen, ohne ein Wort zu sagen. Aber das wäre schäbig und ihm gegenüber nicht fair.

Wenn ich es mir recht überlege, gab es seit Julian nur unbedeutende Bettgeschichten. Es waren austauschbare Männer ohne Gesicht. Da war kein Gefühl. Alles war kalkuliert und berechenbar. Und egal, wie gut oder schlecht es war, danach habe ich mich jedes Mal leer und allein gefühlt. Die Lust wurde befriedigt, aber meine Seele war trotzdem einsam. Ich habe mit ihnen geschlafen, bin aber ohne sie aufgewacht. Und das war es, was ich wollte. Aber ganz tief in mir drin habe ich mir jemanden gewünscht, neben dem ich gerne wieder wach werden will. Jemanden, an dessen Schulter ich mich kuscheln kann. Jemanden zum Reden. Und jedes Mal, wenn ich mit einem dieser gesichtslosen Männer geschlafen habe, war ich am nächsten Morgen die Hure, die ich nie sein wollte. Ich habe mich verkauft, ohne Geld dafür zu verlangen. Dieses Mal wäre das anders. Doch genau vor diesem anders fürchte ich mich. Vielleicht sogar noch mehr, als vor der Leere, die ich schon kenne. Denn in dem Augenblick, in dem ich Tobias an mich heranlasse, verlasse ich die Sicherheit. Und auch, wenn ich diese Sicherheit nicht besonders mag, sie ist mir immerhin vertraut. Ich kenne sie und das reicht schon, um mich geborgen zu fühlen. Geborgen in der Einsamkeit.

Was, wenn Tobias genau der Mann ist, den ich brauche und ich nicht den Mut finde, es darauf ankommen zu lassen? Dann verabschieden wir uns höflich und gehen beide unseres Weges. Und bestimmt wäre das auch ein guter Weg. Ich würde eben andere Menschen treffen und irgendwann vielleicht auch einmal einen davon an mich heranlassen. Aber vielleicht ist Tobias der Mensch, den ich brauche. Der Mensch, der mir gut tut. Der Mensch, der mir geben kann, was ich will. Der Anti-Julian. Gutmütig, verlässlich und liebevoll.

„Worüber denkst du so angestrengt nach?“, fragt Tobias und lächelt mich an.

Ich seufze. „Über Vieles.“

„Dann sag’ mir das Wichtigste davon.“

„Es gab seit Jahren niemanden.“ Und erst nachdem ich es ausgesprochen habe, fällt mir auf, wie armselig das klang. Und als wäre armselig noch nicht genug, es war wie eine ziemlich schlecht kaschierte Einladung zum Sex. So nach dem Motto, lass uns den Nachtisch doch ins Bett verlegen. Ich trinke den letzten Schluck Wein und schüttle den Kopf. „Also es gab natürlich nicht niemanden, aber eben niemanden, der wichtig gewesen wäre.“

„Bei mir auch nicht.“ Tobias schenkt uns Wein nach. „Wenn ich ehrlich bin, gab es eigentlich nie wirklich jemanden.“

„Nie?“, frage ich erstaunt.

„Na ja, da war Claudia, aber wirklich geliebt habe ich sie nicht. Sie war mir wirklich wichtig und alles, und ich dachte auch, dass ich sie liebe, aber irgendwas hat gefehlt.“ Hm. Das hätte ich nicht gedacht. Tobias scheint das Paradebeispiel für den perfekten Partner. Wie kann er dann noch nie geliebt haben? „Bei dir scheint es jemanden gegeben zu haben.“

„Ja, aber das ist lange her.“

„Wie lange?“ Er versucht, nicht zu neugierig zu klingen.

„Wir haben uns vor etwas über zwei Jahren getrennt.“

„Und wie lange wart ihr zusammen?“

„Fünf Jahre.“

„Oh, wow.“ Er greift nach seinem Glas. „Das klingt nach der großen Liebe.“

„Ja, das war es auch“, sage ich nachdenklich. „Zumindest dachte ich das.“

„Was ist passiert?“

„Eigentlich nichts...“, antworte ich seufzend. „Wir wollten in verschiedene Richtungen.“

„Habt ihr noch Kontakt?“

„Nein.“

„In zwei Jahren nicht ein einziges Mal? Ich meine, ihr habt euch nicht einmal zufällig getroffen?“

„Er ist nach New York gegangen.“

„Verstehe.“ Wir schauen uns lange in die Augen. Er hat schöne Augen. Sie sind gütig und wach. „Hättest du denn gerne noch Kontakt zu ihm?“

Ich schüttle den Kopf und während ich das tue, schlägt mein Dämon um sich. „Es ist nicht gut auseinander gegangen. Ich glaube, wir hätten uns nichts mehr zu sagen. Nicht einmal Gemeinheiten.“

Er lächelt sein warmes Lächeln. „Und hier waren ihm wohl die Möglichkeiten zu begrenzt? Beruflich meine ich.“

„Ich weiß nicht, warum es unbedingt New York sein musste. Keine Ahnung.“

„Und was macht er dort genau?“

„Wie gesagt, wir haben seit Jahren keinen Kontakt zueinander. Er ist damals für ein Praktikum in die Staaten gegangen. Ich nehme an, er ist Anwalt geworden.“

„Anwalt?“ Tobias klingt überrascht. „Versteh’ mich bitte nicht falsch, aber das passt gar nicht zu dir.“

„Zu ihm hat es auch nicht gepasst.“

„Und wie heißt er?“

„Julian.“ Und als ich seinen Namen zum ersten Mal seit zwei Jahren laut ausspreche, schreckt mein Dämon hoch. Und sein Schmerz ist mein Schmerz.

 

  1. Kapitel 42  

Ich spüre seinen Körper. Sein Gewicht drückt mich in die weiche Matratze. Ich frage mich, ob es zu früh ist. Aber es sind bereits vier Wochen. Was würden noch zwei für einen Unterscheid machen? Wir haben uns fast jeden Tag gesehen. Ich mag ihn. Ja, zugegeben, es sind keine Explosionen und da sind keine Eichhörnchen, aber es ist schön. Ich fühle mich geborgen und sicher. Aber gleichzeitig fühlt es sich so an, als würde ein Teil in mir gerade sterben. Vielleicht ist es die Hoffnung. Der naive Wunsch in mir, dass Julian und ich doch zusammengehören. Tränen laufen über mein Gesicht.

Tobias schaut mich an. Die Falten auf seiner Stirn sagen mir, dass er sich Vorwürfe macht. Mit den Daumen streicht er sanft über meine Wangen. „Vielleicht ist das ein Fehler“, flüstert er. „Ich hätte...“

„Ist es nicht“, unterbreche ich ihn, während immer neue Tränen über mein Gesicht laufen und in meinem Haar versickern.

„Bist du sicher?“

„Ja, bin ich.“ Als er Luft holt, um etwas zu entgegnen, nehme ich sein Gesicht zwischen meine Hände und küsse ihn. Einen Moment zögert er, doch dann spüre ich ihn wieder. Ich konzentriere mich auf die Bewegungen und auf unsere Körper, die eine Einheit bilden. Es ist wie eine Befreiung. Eine Befreiung von der Vergangenheit. Und in diesem Augenblick kapituliert mein Dämon. Julian ist Geschichte. Es ist endlich vorbei.

„Du siehst wunderschön aus.“

Ich lächle verkrampft. „Wirklich?“

„Ja, wirklich.“ Meine Mutter nimmt mich bei der Hand. „Es ist normal, nervös zu sein.“

„Was, wenn es ein Fehler ist?“, frage ich angespannt.

„Denkst du denn, dass es einer ist?“

Wenn es einer ist, dann ist es etwas spät, darauf zu kommen. Ich stehe hier in einem weißen Kleid mit Rüschen und Schleier und Brautstrauß. „Nein, vermutlich bin ich wirklich nur aufgeregt.“

„Na, siehst du.“ Sie nimmt mich in die Arme. „Zweifel sind ein fester Bestandteil des Heiratens.“ Ich hatte mir das irgendwie immer anders vorgestellt. Ich dachte zwar nie, dass es der glücklichste Tag meines Lebens würde, aber ich dachte auch nie, dass ich von Zweifeln zerfressen wäre. Ganz tief in meinem Hinterkopf hämmert die Angst, dass ich gerade einen riesigen Fehler mache. „Anja, Tobias ist ein toller Mann. Ein Mann fürs Leben.“

Und mit diesen Worten, trifft sie den Nagel auf den Kopf. Er ist die Ruhe, die mir fehlt, die Ausgeglichenheit, die ich brauche, die rationale Herangehensweise, die ich nie hatte. Er ist in jeder denkbaren Hinsicht mein Gegenstück. Ich atme tief ein. „Ich bin soweit.“

Ich schreite zum Altar. Sanfte Geigenmusik begleitet mich. Ohne den Arm meines Vaters könnte ich keinen Schritt gehen. Ich stütze mich auf ihn, wie auf einen Gehstock. In der Ferne stehen Laura, Tobias und Thomas. Sie erwarten mich wie das jüngste Gericht.

Anja, es sind nur ein paar Minuten, dann ist der ganze Zirkus vorbei. Dann heißt du eben nicht mehr Kraus, sondern Plöger. Sonst ändert sich nichts. Und den Namen Plöger magst du schließlich. Dann heißt du so, wie Sven. Und den fandest du schließlich schon immer klasse. Mein Herz rast. Und das sind nicht die Eichhörnchen, es ist die pure Panik. Ganz ruhig, Anja, dieser Tag wird kaum etwas ändern. Dann bist du eben nicht mehr seine Freundin, sondern seine Frau. Du wohnst schließlich schon fast ein Jahr mit Tobias zusammen. Es ist eigentlich eine reine Formalität. Eine Formalität, die man im Kreise von Freunden und Familie in einem weißen Rüschenkleid besiegelt.

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal kirchlich heiraten würde. Ich dachte immer, ich wäre eher der Nur-Standesamt-Typ. Wenig Prunk, ein schlichtes weißes Kostüm, nur Familie, sonst nichts. Aber Tobias Mutter ist glühende Katholikin. Was tut man nicht alles, um der Schwiegermutter zu gefallen. Dann zwängt man sich eben in ein furchtbar unbequemes Kleid und strahlt solange, bis die Kiefermuskulatur nicht mehr mitmacht. Ist ja nur ein Tag.

Der Pfarrer schaut mich freudig an, Laura hat feuchte Augen und Tobias steht neben mir mit geschwellter Brust. Nun gut, Anja. Wenn dich irgendjemand etwas fragt, antwortest du ganz einfach mit ja. Das ist im Grunde wirklich simpel. Ja sagen und schön aussehen.

 

  1. Kapitel 43  

„Ich habe vorhin bei dir angerufen.“ Der Vorwurf lodert in seiner Stimme.

„Da habe ich gerade gekündigt.“

„Ach so, und wie ist es gelaufen?“

„So wie ich wollte.“

„Das ist gut.“ Seine Freude klingt tatsächlich echt. „Du hast ja auch hart genug für die gearbeitet.“

Da ich nicht sagen kann, ob das ein Seitenhieb oder sein Ernst war, beschließe ich, nichts dazu zu sagen. „Wegen später.“

„Ja?“

„Ich werde es zeitlich kaum schaffen“, sage ich sachlich. „Meine Mutter und ich treffen uns in einer Stunde zum Kaffeetrinken und im Anschluss gehen wir essen.“

„Verstehe.“

Einen Augenblick schweigen wir beide. „Tobias, ich habe nachgedacht.“

„Und worüber?“

„Über uns.“, sage ich vorsichtig. Wie soll ich ihm das sagen? Die sanfte Version oder die Pflaster-in-einem-Ruck-runterzieh-Methode?

„Das habe ich auch.“

Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich es ihn sagen lasse. Wenn er mich um die Scheidung bittet, dann nehme ich ihm wenigstens nicht auch noch seinen Stolz. „Und zu welchem Schluss bist du gekommen?“

„Anja, ich habe dir ein Versprechen gegeben. In guten wie in schlechten Zeiten und ich habe das so gemeint. Wir haben uns versprochen, bis an unser Lebensende zusammen zu bleiben.“ Jeder einzelne Muskel in meinem Körper ist angespannt. Nein, verspannt. Sogar meine Augenlider. Ich spüre wie sich kalter Schweiß wie ein Flächenbrand auf meiner Haut ausbreitet. „Wir gehören zusammen. Ich weiß, ich habe gesagt, dass es uns nicht mehr gibt, aber da war ich wütend und wahnsinnig verletzt.“ Mit den Fingerkuppen massiere ich meine Schläfen. „Ich darf dich nicht verlieren. Ich liebe dich doch.“ Ich versuche zu begreifen, was er gerade gesagt hat. Wie kann er zu diesem Schluss gekommen sein? Meine Knie fühlen sich fremd an, und ich bin froh, dass ich sitze und sie mein Gewicht nicht halten müssen. Wie kann er das ernsthaft wollen? Nach allem, was passiert ist? Nach allem, was ich getan habe? Ich habe das Gefühl, als sollte ich dankbar sein. So als wäre ich ihm diesen Versuch schuldig. Aber ich will nicht. Ich will etwas anderes. Hätte ich ihn doch bloß nicht zu Wort kommen lassen. Warum konnte er mich nicht einfach um die Scheidung bitten? Ich meine, jetzt stehe ich noch beschissener da, wenn ich es tue. Ich betrüge ihn, er verzeiht mir und ich, die Betrügerin, will die Scheidung. „Anja? Bist du noch dran?“

„Ich, ja, ich bin noch dran...“, stottere ich.

„Und was denkst du?“

Das willst du nicht wissen. „Was ich denke?“, frage ich und massiere weiter meine Schläfen. „Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Ich kann deine stündlichen Anrufe nicht gebrauchen und dein Misstrauen und die unterschwelligen Andeutungen.“

„Was erwartest du? Du hast mich ein Jahr lang betrogen.“

„Ich sage nicht, dass du nicht das Recht dazu hast, so zu reagieren. Das hast du. Aber das will ich nicht.“

„Ich werde daran arbeiten. Ich werde dir wieder vertrauen. Wenn du mir versprichst, ihn nie wieder zu sehen.“

Und auf dann ist alles völlig klar. So, wie Nebel, der sich verzieht. Ich könnte ihm Einiges versprechen. Eigentlich fast alles. Außer das. „Tobias, ich denke, wir sollten uns scheiden lassen.“

Er hat aufgelegt. Endlich. Ich halte das Handy noch immer in der Hand. Erst hat er geschrien. Dann geweint. Und zu guter Letzt gedroht. Er wird nicht in die Scheidung einwilligen, er wird alles machen, damit es möglichst schwer für mich wird, das Haus kann ich vergessen, er lässt die Schlösser auswechseln, meinen ganzen Kram zündet er an.

Gott sei Dank haben wir keine Kinder. Und Gott sei Dank haben wir getrennte Konten. Dann bleibt mir wenigstens mein Geld. Auf den Rest kann ich verzichten. Mein Netbook und mein Handy samt Ladekabel habe ich dabei, meine Bankkarten, meinen Pass und meine Schlüssel auch. Im schlimmsten Fall habe ich alles, was ich brauche. Telefonnummern, Adressen, Kontakte. Alles in meinem Kopf oder meinem Computer. Es wäre schade um den Familienschmuck, um die Ringe meiner Großmutter und um meine Tagebücher. Aber im Notfall kann ich auch die hinter mir lassen. Soll Tobias sie doch anzünden.

Alle behaupten immer, sie wollen Ehrlichkeit. Aber das stimmt nicht. Das ist so eine Sache mit der Ehrlichkeit. Jeder denkt, sie zu wollen. Jeder denkt, sie ertragen zu können. Wenn das, was gesagt wird, dem entspricht, was der andere hören will, ist Ehrlichkeit eine wunderbare Sache. Aber wehe, sie tut das nicht. Und leider ist das nicht selten der Fall.

Ich krame in meiner Tasche nach Julians Briefen. Drei habe ich noch. Ich steige aus dem Auto und gehe in ein Café um die Ecke. Ich setze mich an einen der freien Tische und bestelle einen Pfirsichsaft, dann ziehe ich den nächsten Brief aus seinem Umschlag.

Liebe Anja,

Larissa will heiraten. Du fragst dich sicher, wer sie ist und wie sie dazu kommt, mich heiraten zu wollen. Larissa und ich haben uns vor etwas über vier Jahren kennengelernt. Ich gebe Grafik-Seminare und sie war eine meiner Studentinnen. Wir haben uns sofort gut verstanden, sind ab und zu ins Kino gegangen, haben Ausstellungen angesehen.

Du wirst sagen, eine zweite Claire eben. Und damit hättest du völlig recht. Nur, dass ich dieses Mal den ersten Schritt gemacht habe. Ich habe sie geküsst. Und ich wollte mit ihr zusammen sein. Nach vier Monaten ist sie dann zu mir gezogen.

Alles lief wunderbar, bis sie gestern Abend mit diesem blöden Hochzeits-Thema angefangen hat. Wir wären schließlich schon über vier Jahre zusammen und da wäre so was doch völlig normal und sie geht auf die dreißig zu und sie will Kinder und sie will Kinder mit mir. PAM. Ich bin mit einem Schlag KO gegangen. Und sie redet und redet, fragt mich, ob ich sie nicht liebe und ob ich nicht darüber nachgedacht habe. Sie hört nicht auf zu reden, doch ich höre sie nicht mehr. Und dann wird mir klar, dass ich auf keinen Fall den Rest meines Lebens mit ihr verbringen kann. Ich kann und ich will nicht. Ihre Stimme wird schrill und schreit nach Aufmerksamkeit, und ich will nur raus, will rennen. Weg von ihr und weg von diesem Gespräch aus der Hölle.

Das Problem ist, dass sie recht hat. Es wird langsam ein Thema. Alle Frauen in diesem Alter wollen geheiratet werden und Kinder machen. Na, vielleicht nicht alle, aber die meisten. Frauen Ende zwanzig sind bösartige biologische Bomben, die beim Abendessen aus heiterem Himmel detonieren.

Larissa ist toll. Sie ist aufregend und schön und kreativ. Ich könnte noch ein paar Jahre mit ihr verbringen. Ich würde Ausstellungen mit ihr besuchen und mit ihr schlafen. Ich würde mit ihr essen gehen und ich würde mich sogar darauf einlassen, ein weiteres Weihnachtsfest bei ihren Eltern zu verbringen. Aber ich würde sie nie heiraten. Und ich wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, Kinder mit ihr zu zeugen. Und da ist sie wieder, die gemeine Fratze der Ehrlichkeit, vor der ich versucht habe, mich zu verstecken. Larissa war eine tolle Lebensabschnittspartnerin. Sie war gut im Bett und sie hatte einen (relativ) guten Humor. Aber tagein tagaus mit ihr – und das auch noch mit dem ganzen Affentanz einer pompösen Hochzeit mit gravierten Ringen und Eheversprechen? Nein. Ganz sicher nicht.

Sie sitzt mir also gegenüber und redet und redet. Und plötzlich höre ich mich sagen: „Larissa, ich werde dich nicht heiraten.“ (Sie schweigt. Diese unverschnörkelte Ehrlichkeit scheint ihr die Sprache verschlagen zu haben) „Ich werde dich weder jetzt noch wann anders heiraten.“ (Sie weint. Und bei ihr wirkt das wie ein Druckmittel, so als wollte sie mich mit ihren Krokodilstränen weich kochen. Als würden sie mich bestimmt dazu bewegen, es mir anders zu überlegen. So als würde der Anblick ihrer traurigen Augen mich dazu bringen, ihr die Kleider vom Körper zu reißen und auf der Stelle ein Kind mit ihr zu machen.) „Wir haben nie darüber geredet und hätte ich gewusst, dass du dir das wünscht, hätte ich dir schon vorher gesagt, dass das von meiner Seite nicht passieren wird. Ich will nicht heiraten und Kinder will ich auch keine. Wenn es das ist, was du willst, bin ich nicht der Richtige.“ Dann noch mehr Tränen und die Frage, ob ich generell nicht heiraten will, oder ob ich nur sie nicht heiraten will. Und dann, ob ich mir vorstellen könnte, mit einer anderen Kinder zu haben. Was soll ich darauf sagen? Die Wahrheit etwa? Bloß nicht. Sie hatte schließlich ein frisch gewetztes Steak-Messer in Reichweite. Also versuche ich es auf die versöhnlich-diplomatische Tour. Ich sage ihr, dass ich nicht weiß, was die Zukunft bringt, aber dass ich momentan weder das eine noch das andere will und dass ich ihr nicht sagen kann, ob sich das jemals ändert. Diplomatischer Ansatz hin oder her. Sie rastet aus. Und wie.

Ich erspare dir die Einzelheiten. Nur so viel: Es war nicht schön. Es war laut und hysterisch und anstrengend. Sie hat theatralisch ihre Sachen gepackt und ist in der lauen Dunkelheit dieser Julinacht verschwunden. Und auch wenn es hart klingt, ich war erleichtert. So richtig erleichtert. Anja, ich dachte, ich schwebe buchstäblich über dem Fußboden.

Und weil ich Larissa nicht wirklich traue (sie hat mir so manche Schauergeschichte erzählt, was sie ihrem Exfreund nach der Trennung angetan hat – und natürlich beteuert, dass sie das mit mir NIE machen würde (haha) – habe ich gleich nach ihrem dramatischen Abgang den Schlüsseldienst gerufen. Eine Stunde und 190 Euro (!!) später habe ich ein neues Schloss. Ich sitze hier wie in Fort Knox. Und ich denke, das war gut so, denn vor einer Stunde (also um halb vier morgens) höre ich, wie sich jemand an der Tür zu schaffen macht. Ich saß währenddessen auf dem Sofa und war glücklich darüber, dass du mir beigebracht hast, Frauen aufmerksam zuzuhören. Hätte ich das nicht getan, wären die Horror-Geschichten vielleicht an mir vorbei gegangen und sie hätte mich im Schlaf erstochen.

Anja, ich hatte gehofft, dass Larissa die Frau ist, die dich von deinem Thron stößt. Aber sie war es nicht. Nicht einmal einen Tag lang.

Ich denke an dich und ich hoffe, dass es dir gut geht.

Alles Liebe,

Julian

Ich lege den Brief zur Seite und lächle. Einmal abgesehen von der Eifersucht und der grimmigen Miene meines Dämons, war dieser Brief richtig lustig. Für ihn war es sicher nicht lustig, aber er schafft es mit seiner Art, mich zu fesseln. Wenn Julian Geschichten erzählt hat, konnte ich nicht nicht zuhören. Keiner kann das so wie er.

Ich nehme einen Schluck Pfirsichsaft. Und als ich gerade nach dem nächsten Brief greifen will, entdecke ich in der Ferne meine Mutter.

„Dann war es wohl doch ein Fehler.“

„Was meinst du?“

„Na, bei eurer Hochzeit hast du mich gefragt, ob es ein Fehler ist.“

„Stimmt, das habe ich“, sage ich nach einer Weile. Ich sehe mich noch dort stehen. Ich sehe eine Frau, die aussieht wie ich, die sich in einem weißen Rüschenkleid im Spiegel betrachtet. Seltsam. Im Nachhinein betrachtet, habe ich es damals schon gewusst. Zumindest ein Teil in mir hat es gewusst. Der andere wollte es nicht sehen. „Tobias ist ein toller Mann, aber er ist nicht der Mann für mich.“

„Nein.“, sagt sie und grinst. „Das war schon immer ein anderer.“ Ich ziehe an der Zigarette. „Wie geht es Julian eigentlich?“

„Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, ging es ihm gut. Aber ich weiß nicht, wie es ihm jetzt geht. Ich weiß nicht einmal, wo er ist.“

„Und du willst sicher noch hier bleiben?“ Ich nicke. „Es war schön, dich zu sehen, mein Schatz.“

„Das finde ich auch“, sage ich und nehme sie in die Arme.

„Ruf an, wenn du Hilfe brauchst. Du weißt, dein Vater und ich sind immer für dich da. Und auch deine Geschwister. Wir sind alle für dich da.“

„Ich weiß“, sage ich und lächle. „Danke.“

Kurz bevor die Dunkelheit sie verschluckt, dreht sie sich noch ein letztes Mal zu mir um und winkt mir zu. Sie lächelt. Dann ist sie weg.

 

  1. Kapitel 44  

Baustelle. Chaos. Wohin man blickt, Unordnung und Schmutz. Und plötzlich wirkt es so, als wäre diese Baustelle mein Leben.

Sicher, das Haus wird wunderschön. Es wird großzügig sein und offen, es wird einmalig sein und es wird uns gehören. Viel Beton, viel Glas, viel Stahl. Tobias’ Pläne waren fantastisch. Mir hat jeder Winkel gefallen. Warum habe ich dann so ein ungutes Gefühl?

Passt dieses Haus überhaupt zu mir? Bin das ich? Beton und Glas und Stahl? Kann man sich in einer so kühlen Umgebung wohl fühlen? Tobias wollte Holz. Ich nicht. Ich wollte modern und puristisch. Aber warum habe ich mich ausschließlich für tote Materialien entschieden? Für unnatürliche, kalte, distanzierte Materialien.

Tobias legt von hinten seine Arme um mich und küsst mich auf die Wange. „Ist alles in Ordnung?“

„Ich weiß es nicht“, sage ich und seufze. „Brauchen wir wirklich ein 100 m2 Wohnzimmer?“

„Was heißt schon brauchen?“, sagt Tobias. „Brauchen tut das niemand, aber es ist doch schön, wenn man es haben kann.“

„Ja schon, aber sind das wirklich wir? Beton, Glas und Stahl?“, frage ich vorsichtig. „Ich meine, ist das nicht kalt und distanziert?“

„Durch Möbel und Bilder wird das ganz anders wirken.“ Er dreht mich zu sich. „Du wirst sehen, Schnecke, das wird fantastisch.“

Noch immer Baustelle, aber kein Chaos mehr. Eigentlich ist alles fertig. Die Böden, die Bäder, die Küche. Tobias hatte recht. Es ist fantastisch. Ich mag diese harte distanzierte Fassade. Sie ist gradlinig und schnörkellos. Sie ist pur und modern. Von ihr umgeben zu sein, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.

Nur der Garten liegt noch wie ein verlassenes Kriegsgebiet um das Haus verteilt. Verwüstetes Erdreich, riesige Betonbrocken, Stahlträger. Die Fenster sind staubig und voller Schlieren, aber sonst ist unser Haus fertig. Es gibt mir das Gefühl von Unerschütterbarkeit und Sicherheit. Ich fühle mich geborgen und beschützt. So, als könnte nichts diese Mauern überwinden. Sie sind wie ein undurchdringlicher Schutzwall, der mich umgibt.

Tobias greift nach einem Bild und hält es an die Wand. „Und? Was meinst du?“ Es ist seltsam, aber von allen Bildern, aus denen Tobias hätte wählen können, hat er sich für das aggressive, abgründige entschieden. Das einzige, das mein Dämon nicht ertragen konnte. Andererseits, was geht es meinen Dämon an, welche Bilder wir aufhängen. Ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört. Und ehrlichgesagt habe ich ihn auch nicht vermisst. „Du magst es nicht...“, sagt er und schaut mich an. Sein Blick ist seltsam.

„Doch, es ist perfekt.“

Ein zufriedenes Lächeln wischt den fremden Ausdruck aus seinem Gesicht. Und ich lächle zurück. Dann gehe ich in die Küche. Es ist, als hätte heute mein neues Leben begonnen. Ein Leben, in dem ich mich augfehoben fühle. Ein Leben, umgeben von massiven Mauern und von warmem Sonnenlicht geflutet. Ich fühle mich irgendwie anders, aber gleichzeitig wohl. So, als wäre ich endlich erwachsen geworden.

 

  1. Kapitel 45  

„Ist Zimmer 605 noch frei?“

Die Augen des Rezeptionisten wandern suchend über den Bildschirm. „Ja, ist noch frei.“ War zu erwarten. Wieso sollte Julian auch hier sein? Er ist vermutlich zu Hause. In einer Wohnung, die ich nie gesehen habe. In meinem Kopf lebt Julian in Hotelzimmern. Ich kenne ihn nur mit der geborgten Geborgenheit. Mit frischen Schnittblumen in den unterschiedlichsten Vasen und den verschiedensten Miniatur-Shampoo-Fläschchen. „Möchten Sie dieses Zimmer?“

Ich schaue den Rezeptionisten an, als wäre er gerade aus dem Nichts erschienen. So wie ein Flaschengeist oder eine Halluzination. „Ähm, ja, bitte.“

„Dann bräuchte ich nur noch Ihre Kreditkarte.“ Ich strecke ihm die Karte entgegen. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“

„Vielen Dank.“

Während ich in den sechsten Stock fahre, stößt mich mein Dämon in die Seite. Du hättest aussteigen sollen. Ja, jetzt weiß ich das auch, vielen Dank für den Hinweis. Ich sage es ja nur. Wenn ich ausgestiegen wäre, hätte Julian mir diese Briefe nicht gegeben. Vielleicht nicht gleich, aber irgendwann hätte er sie dir gegeben. Ja, mag sein. Aber vielleicht wäre auch einfach alles genauso weitergegangen. Du versuchst dich nur rauszureden. Ist ja gut, ich habe doch gesagt, dass ich weiß, dass es ein Fehler war. Das ändert aber nichts an der Realität. Ich bin hier und er ist weg. Also, lass mich in Frieden.

Mit einem Handtuch um die Hüfte und einem grandiosen Handtuch-Turban lege ich mich aufs Bett. Und während ich mit geschlossenen Augen daliege, höre ich aus dem Nachbarzimmer laute Schreie. Ich setze mich auf und lausche. Das Schreien wird von einem regelmäßigen Klatschen und einem dumpfen Raunen begleitet. Na wunderbar. Das habe ich gerade wirklich gebraucht.

Ich greife nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher ein. Bei einer Sendung über Kuba bleibe ich hängen. Als ich nach einer Stunde ausschalte, ist da noch immer das Klatschen und das Schreien und das Raunen. Das kann doch nicht wahr sein. Ich werfe beide Handtücher auf den Boden und wickle mich in die weichen Decken, dann schalte ich das Licht aus.

So muss es für unsere Nachbarn auch geklungen haben. Stundenlang. Im Nachhinein tut mir das fast leid. Vielleicht lag da auch eine Frau, die in den Scherben ihres Lebens saß. Vielleicht lag da eine Frau, die von ihrem Mann betrogen wurde und Zuflucht in einem Hotel gesucht hat. Vielleicht hat sie einen Ort gebraucht, wo sie ihre Gedanken ordnen konnte. Einen Ort, wo sie mit sich alleine ist. Doch bei so einem Lärm fällt jeder fruchtbare Gedanke in sich zusammen. Man möchte nachdenken, doch es geht nicht. Und so sehr man auch vorgibt zu versuchen, den Nachbarzimmer-Sex zu ignorieren, in Wahrheit liegt man mit gespitzten Ohren da und wartet auf das nächste Geräusch. Es ist eine Tortur.

Ich schaue auf den Wecker. Es ist fast vier Uhr. Na gut, dann schlafe ich eben nicht. Seufzend lehne ich mich zur Nachttischlampe hinüber und schalte sie ein. Die unvermittelte Helligkeit sticht in meinen müden Augen.

Auf dem Bauch liegend wühle ich in meiner Handtasche nach den letzten beiden Briefen, die ich mir eigentlich für morgen aufheben wollte. Aber sei es drum. Dann eben doch jetzt.

Als ich sie gefunden habe, kuschle ich mich wieder in die Decken. Und in diesem Augenblick wird mir klar, dass ich meine wertvollsten Besitztümer alle in meiner Tasche habe. Meine Identität und Julians Briefe. Im Falle einer Flucht würde das reichen. Das würde reichen, um ein neues Leben anzufangen.

Liebe Anja,

du liegst neben mir und schläfst. Und du riechst genau wie damals. Und du fühlst dich genauso an. So, als hätten wir die vergangenen zehn Jahre nicht verschwendet. Mit geschlossenen Augen könnten wir gerade auch in unserer schäbigen Wohnung sein. Wir könnten gerade auch in unserem alten Bett liegen. Und der laue Wind könnte auch durch unsere geöffnete Balkontür ins Zimmer schwappen.

Aber wir sind nicht in unserer heruntergekommenen Wohnung. Wir sind in einem Hotel. Und wir sind zehn Jahre älter. Und auf meinem Handydisplay habe ich zwölf Anrufe von Katja. Wenn man es genau nimmt, ist alles anders. Nur die Gefühle nicht.

Wenn du mich fragst, hat Anja Plöger ein affektiertes, blutleeres Lächeln, steife Gesichtszüge und glanzlose Augen. Aber das bist nicht du. Du bist Anja Kraus. Tief in dir bist du keine verhärmte Geschäftsfrau, die sich über ihren Erfolg definiert. Anja Kraus hat auf großen Erfolg nie viel Wert gelegt. Sie hatte lieber fantastische Träume. Diese Anja hat gezeichnet. Diese Anja hat von innen gestrahlt. Anja Plöger hat eine vernünftige Frisur, ein vernünftiges Leben und eine vernünftige Ehe. Die Anja, die ich kenne, ist spontan und lebenshungrig. Meine Anja genießt die Stille, wenn alle anderen schlafen. Meine Anja wollte morgens nie aufstehen. Und neben mir liegt genau diese Anja. Meine Anja. Die Anja, die ich nie vergessen konnte. Und wenn ich dich so ansehe, weiß ich genau, warum. Du bist du. Und keine Frau wird je deinen Platz haben. Deine langen Haare umrahmen dein Gesicht. Deine blasse Haut duftet nach einer Zeit, die ich erbittert versucht habe, hinter mir zu lassen. Vielleicht wird irgendwann einmal eine andere Frau Nahe genug an dich herankommen, damit ich dich verdrängen kann. Doch vergessen werde ich dich nie. Auch, wenn du die Augen öffnest und mir noch einmal sagst, dass das ein Fehler war. Das wird wehtun. Und vielleicht stimmt es sogar. Doch diese Nacht hat mir gezeigt, dass du noch da bist. Dass in dieser vernünftigen Hülle noch immer die Anja steckt, die ich liebe.

Deine Augen bewegen sich unter deinen Lidern hin und her. Du träumst. Und ich wünschte, ich könnte sehen, was du siehst. Und dann sehe ich seinen Ring an deinem Finger. Ich hasse diesen Ring. Du bist rechtmäßig seine Frau. So als wärst du sein Eigentum. Warum musstest du den Typen denn gleich heiraten?

Und warum heißt er ausgerechnet Plöger? Sven Plöger war immer mein absoluter Lieblings-Meteorologe. Und jetzt denke ich plötzlich an einen Mann, den ich aus Prinzip hassen muss. Bis gestern hatte ich beim Namen Plöger Svens freundlich, zurückhaltendes Lächeln im Kopf und die Art, wie er Tschüß sagt. Und jetzt sehe ich da eine abscheuliche Architekten-Fratze.

Vielleicht wirst du bald die Augen öffnen und wissen, dass es nur eine Nacht war. Eine Nacht, die nichts zu bedeuten hat, weil du deinen Mann liebst. Ein Fehler eben. Ein Ausrutscher. Wenn es so ist, werde ich es in deinen Augen erkennen. Dann ist es wenigstens endlich vorbei. Dann muss ich mich nicht mehr fragen, was gewesen wäre wenn, denn dann weiß ich, dass es kein wenn gibt. Und das bist du mir schuldig, auch, wenn du es gar nicht weißt.

Du hast mich verlassen, ganz gleich, wie du dir das in deinem Kopf zurecht gelogen hast. Du hast mich verlassen, um nicht von mir verlassen zu werden. Du denkst, dass ich mich gegen dich entschieden habe, obwohl du dich gegen mich entschieden hast. Aus Angst. Du hast Entscheidungen oft aus Angst getroffen. Und Entscheidungen aus Angst sind nie die richtigen. Sie verkleiden sich als tolle Alternative, sind aber meistens doch nur traurige Notlösungen.

Ich streiche dir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und betrachte deine Lippen. Ich hätte mit diesem Kuss wirklich nicht gerechnet. Obwohl ich es eigentlich hätte wissen müssen. Denn wenn es darauf ankam, hattest du nie Angst. In diesen Momenten hast du nicht gedacht. Zumindest nicht mit dem Kopf. Du hast deinem Dämon die Entscheidung überlassen. Und mit diesem Kuss weiß ich, dass es ihn noch gibt. Und das ist ein wirklich beruhigender Gedanke.

Was auch passiert, Anja Kraus, du bist die Frau meines Lebens.

Ich liebe dich (wieder und noch immer).

Julian

Schwere Tränen laufen über meine Wangen. Wir waren beide zu stolz. Ich hatte mein festes Bild von ihm und genauso wollte ich ihn sehen. Genauso musste er sein, damit ich mir einreden konnte, dass es ein Fehler wäre, Tobias zu verlassen. Ich habe es verlernt, in seinen Augen zu lesen und mich von dem blenden lassen, was er mir gezeigt hat. Natürlich haben wir geredet. Aber eben nicht darüber. Nicht über uns. Und ja, ich habe gelernt, ihm wieder zu vertrauen, aber eben nur bis zu dieser unsichtbaren Grenze. Nicht bedingungslos. Ich lege den Brief zur Seite und greife nach meinem Handy. Meine Finger sind steif und unbeweglich. Julian hat meine Fassade durchschaut. Er hat sich nicht von ihr täuschen lassen. Ich frage mich, ob ich wirklich um diese Zeit anrufen soll. Es ist fast halb fünf. Vielleicht sollte ich nicht. Vielleicht ist es unvernünftig.

Frustriert lege ich das Handy beiseite. Mein Dämon tröstet mich. Er ist zufrieden, weil ich es zumindest versucht habe. Ich greife seufzend nach dem letzten Brief. Und ein Teil in mir ist traurig, dass es danach keinen weiteren geben wird. Auf dem Umschlag steht. Letzter Brief und in Klammern, eigentlich der vorletzte, weil der erste der letzte war.

Ich atme tief ein, dann fange ich an zu lesen.

Liebe Anja,

jetzt weißt du es. Alles. Du weißt, dass ich dich liebe. Und du weißt, dass ich nie wirklich damit aufgehört habe. Du weißt, dass es andere gab und dass es ein Leben ohne dich gibt. Du weißt, dass ich kein Anwalt bin und dass ich meine Zeit in New York geliebt und trotzdem deinetwegen beendet habe. Du weißt, dass ich ohne dich leben kann. Und ich weiß, dass du ohne mich leben kannst. Denn das ist es, was das Leben tut. Weitergehen. Deswegen sind wir hier. Weil wir einem Trieb folgen, der stärker ist als die Einsamkeit. Zumindest bei den meisten von uns.

Letzte Woche haben wir in diesem Bett gemeinsam gefrühstückt. Du hast Waffeln mit Erdbeeren gegessen. Und dein Gesicht war so strahlend schön, dass es mir fast wehgetan hat, es anzusehen.

Manchmal frage ich mich, warum ich nie etwas gesagt habe. Vermutlich wollte ich nicht besitzergreifend sein. Ich dachte, es wäre am besten zu warten. Letzten Endes war das vielleicht falsch. Vielleicht hätte ich manche Dinge wenigstens ein Mal sagen sollen. Dinge wie, entscheid dich für mich, oder Anja, ich liebe dich, oder lass dich scheiden. Ich habe oft darüber nachgedacht. Und manchmal dachte ich sogar, dass ich es tun würde. Aber dann schien jedes Mal der rechte Augenblick verstrichen zu sein, bevor ich es sagen konnte. Vielleicht fällt es mir jetzt deswegen so leicht, weil ich nichts mehr zu verlieren habe.

Am sechsten Mai vor einem Jahr haben wir uns in Genf wiedergesehen. Vor einem Jahr, zwei Monaten und acht Tagen. Das sind 434 Tage. 434 Tage voller Leidenschaft, Eifersucht und Zweifel. Auch wenn ich zwischenzeitlich anders gedacht habe, ich bin froh um jeden einzelnen Tag. Um jedes Gespräch. Um jeden Anruf. Um jedes Mal, das wir miteinander geschlafen haben. Um jeden Kuss. Ja, sogar um die inszenierte Intimität der Hotelzimmer.

Egal, was genau diese 434 Tage auch waren, für mich waren sie ein Weg zurück zu mir. Ein Eingeständnis, dass mein Stolz mir immer im Weg stand. Du wolltest die Kontrolle nicht verlieren und ich nicht mein Gesicht. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich meine Briefe abgeschickt hätte. Oder wenigstens den ersten. Vielleicht wäre es besser gewesen, dich wissen zu lassen, dass sich mein Leben ohne dich immer ein bisschen falsch angefühlt hat. So wie eine Hülle, die zum Teil nicht ausgefüllt ist. Funktional einwandfrei in Ordnung, aber eben nur funktional. Ohne dich ist mein Herz ein beeindruckend effizientes Organ, das meinen Körper mit Blut versorgt. Mit dir ist es aufgeregt und lebendig. Worauf ich hinaus will, ist dass du mein Leben besser machst, auch, wenn ich lange versucht habe, mir einzureden, dass es nicht so ist.

Das ist mein letzter Brief an dich. (Zumindest hoffe ich das. Wer weiß, vielleicht führe ich dieses seltsame Ritual auch weiter.) Ich werde jedes Jahr am sechsten Mai an dich denken. Und dazwischen auch.

Leb’ wohl,

Julian

 

  1. Kapitel 46  

Ich bin in einem seltsamen Dämmerzustand. Ich weiß, dass ich träume, wache aber nicht auf. Die Mutter meines ehemaligen besten Freundes ist gerade gestorben und trotzdem feiert er. Das Seltsame ist, dass sein Gesicht meine Augen hat. So, als steckte ich in seiner feiernden Fassade.

Julian ist bei mir. Wir sind beide wieder siebzehn. Zumindest sehen wir genauso aus wie damals. Und plötzlich ist da mein Vater und Julian ist nicht mehr zu sehen. Mein Vater und ich knien auf dem Boden und inspizieren einen Fleck. Er ist schlammbraun und hat die Form einer Schuhsohle und ich bin mir sicher, dass Julian schuld ist. Ich sehe ihn im Augenwinkel und er schüttelt den Kopf. Er sagt, dass er es nicht war. Doch ich glaube ihm nicht. Und trotzdem sage ich meinem Vater nichts, so als wollte ich nicht, dass er schlecht von Julian denkt.

Nachdem wir den Fleck aus dem Teppich gebürstet haben, verabschiedet sich mein Vater und lächelt. Er nimmt mich in den Arm und verschwindet. Und dann bemerke ich meine weißen Turnschuhe. Sie stehen hinter der Tür. Und als ich sie aufhebe, tropft Schlamm von der linken Sohle.

Ich sitze grübelnd im Hotelrestaurant und bestelle mir einen Cappuccino.

Ich war schuld. Es war mein Schuh. Und ich habe Julian für etwas verantwortlich gemacht, das er gar nicht getan hat. Julian hat nichts getan. Oder zumindest hat er nichts getan, das so schlimm gewesen wäre, wie das, was ich getan habe. Ich habe der Angst die Zügel übergeben und es nicht einmal bemerkt. Und während ein Teil in mir gestorben ist, habe ich mein lächelndes Gesicht aufgesetzt und die Außenwelt Glauben gemacht, dass Anja Plöger das große Los gezogen hat. Ich habe mich in meinem Schutzwall aus Beton, Glas und Stahl verschanzt. Die kalte und distanzierte Fassade des Hauses wurde immer mehr zu meiner eigenen. Ich trinke den Cappuccino in einem Sitz leer, bezahle und gehe in den Hotelgarten.

„Julian?“ Meine Stimme zittert.

„Anja.“ Seine nicht. Sie klingt sehr geschäftlich und streng, so als wäre der Zeitpunkt gerade ungünstig. „Ich bin gerade in einer Besprechung“, flüstert er. Da hatte ich über ein Jahr lang Zeit, ihm zu sagen, was ich fühle. Über ein Jahr. Es gab unzählige Momente, wo ich es einfach hätte sagen können. Aber ich habe es nicht gesagt. Ich habe es so gut vor mir selbst versteckt, dass ich es selbst nicht wusste. „Bist du noch dran?“

„Ich... ja, ich bin noch dran.“

„Kann ich dich später anrufen?“

„Und wann?“

„Das könnte sich noch hinziehen“, er hält das Telefon weg. „Einen Augenblick noch, ich bin gleich da. Anja, tut mir Leid, aber ich muss jetzt wirklich Schluss machen.“

„Rufst du mich später an? Es ist wirklich wichtig.“

„Ja, mach ich.“

Jeden Augenblick wird er auflegen. Doch ich muss es sagen. Unbedingt. Mein Dämon hebt drohend den Kopf. „Julian?“

„Ja?“, flüstert er.

„Ich liebe dich“

„Du... was?“

„Ich liebe dich“, sage ich noch einmal.

„Was soll das heißen, du liebst mich?“ Einen Moment schweigen wir beide. „Ich meine, was bedeutet das?“

„Wir können später darüber reden...“, sage ich und schlucke. „Die warten doch auf dich.“

„Dann warten sie eben.“, flüstert er ungehalten. „Sag mir, was das heißen soll, Anja. Was bedeutet das?“ Als ich gerade antworten will, flüstert er schroff, „Ich bin echt durch mit Affären. Ich kann das nicht mehr, Anja, und wenn es das ist, was du willst, dann...“

„Ich liebe dich.“ Mein Dämon seufzt erleichtert und die Eichhörnchen toben durch meinen Brustkorb. Sie kichern und kugeln sich. „Ich liebe dich, Julian.“

„Du meinst das ernst.“, stellt Julian irritiert fest.

„Ja, das tue ich.“

„Nur, damit ich das richtig verstehe, du verlässt deinen Mann?“

„Ich lasse mich scheiden, ja.“

„Du lässt dich scheiden...“ Er klingt abwesend. Als wäre er in Trance. „Wo bist du jetzt?“

„Auf dem Weg nach Hause. Ich hole ein paar Sachen.“

„Was für Sachen?“

„Tagebücher, Schmuck, Klamotten...“

„Ist er zu Hause?“

„Tobias? Nein, der ist in London.“

„Und das weißt du sicher?“

„Er ist gestern Abend geflogen.“

„Brauchst du das Zeug unbedingt? Ich meine, lass es doch einfach dort.“

„Ich will die Tagebücher.“

„Wann kann ich dich sehen?“ Ich schließe die Augen und lausche seiner tiefen Stimme. „Wie lange brauchst du?“

„Eine, vielleicht zwei Stunden.“

„Dann treffen wir uns in zwei Stunden bei mir.“ Er klingt nicht mehr streng und geschäftig. Seine Stimme ist so nervös, wie ich mich fühle. „Und du wirst es dir nicht anders überlegen? Ich meine, du wirst da sein?“

„Ich werde da sein. In zwei Stunden bei dir.“

Ich schließe die Augen und betrachte sein Gesicht an der Innenseite meiner Augenlider. Seine unergründlichen Augen glänzen, sein Mund lächelt unwillkürlich. Ich sehe die unsichtbaren Fäden und höre ihn tief einatmen. „Ich schicke dir gleich die Adresse.“

„Okay, dann bis später.“ Ein betäubtes Gefühl legt sich auf meine Hände. Sie kribbeln, als würden sie gerade einschlafen. Meine Knie sind weich und meine Zunge liegt in meinem Mund wie ein gestrandeter Wal. „Ich freue mich.“

„Ich mich auch. Und Anja...“

„Hm?“

Er hält das Telefon weg. „Ja, ich komme schon.“ Ich höre es leise knacken. „Ich liebe dich auch.“

 

  1. Kapitel 47  

Obwohl es schon nach sieben ist, liegt die Sommerhitze noch regungslos auf der Stadt. Die Luft fließt zäh durch die Straßen. So, als wäre sie zu müde, um sich zu beeilen. Es dämmert bereits, als ich den Schlüssel im Schloss umdrehe. Die Tür geht auf. Nun gut, dann hat er seine Drohung noch nicht wahr gemacht.

Grünlich-gelbes Licht flutet das Wohnzimmer. Es ist bedrohlich und irgendwie unecht. Und zum ersten Mal wirkt dieses Haus nicht wie ein Schutzwall. Es ist eine moderne Festung und ich der Eindringling.

Mein Blick fällt auf das Bild an der Wand. Und wieder wendet sich mein Dämon instinktiv ab. Ohne mir erklären können, warum, will ich hier raus. Ich spüre ein verzweifeltes Pumpen in meinem Brustkorb. Es donnert gegen meine Rippen. Vielleicht sollte ich einfach gehen. Ich brauche weder die Tagebücher noch den Schmuck. Einen Augenblick stehe ich regungslos im Flur. Mein Dämon will gehen. Aber, wenn man es genau nimmt, wollte mein Dämon nie hier sein. Deswegen hat er sich jahrelang tot gestellt.

Anja, jetzt reiß dich zusammen. Du kennst dieses Haus und du hast dich hier noch nie gefürchtet. Ich versuche, ruhig zu atmen und meine Schweißausbrüche zu ignorieren, während ich in meinem Arbeitszimmer nach dem kleinen Reisekoffer suche.

Als ich die Stufen nach oben gehe, hebt mein Dämon noch einmal seinen Kopf. Ich weiß genau, wo alles liegt. Das dauert nicht lang. Das scheint ihn nicht zu überzeugen. In zehn Minuten sind wir wieder im Auto.

Ich öffne die Schlafzimmertür und gehe direkt ins Bad. Ich schmeiße den Schmuck zusammen mit ein paar anderen Kleinigkeiten in den Koffer, dann noch das Schminkzeug und mein Parfum. Und während ich ein paar Kleidungsstücke aus dem Schrank reiße, höre ich ein Geräusch. Ich rühre mich nicht. Alles um mich ist still. Lautlos. Da ist nichts außer meinem flachen Atem, meinen weichen Knien und der Panik, die durch meinen Körper kriecht. Instinktiv greife ich nach dem Telefon und rufe meine Mutter an, aber sie geht nicht dran.

Ich atme tief durch und lege das Telefon aufs Bett. Da war nichts. Ich habe mir das bestimmt nur eingebildet. Niemand ist hier. Ich bin allein. Das Geräusch kam vermutlich von draußen. Ich muss fast ein bisschen über mich selbst lachen, weil ich ehrlich gesagt nicht gedacht hätte, dass ich so ein Angsthase bin. Da höre ich ein kleines Geräusch und der Schreck geht mir bis in die Knochen. Kopfschüttelnd gehe ich zurück zum Schrank. Doch das Fach, in dem ich meine Tagebücher aufbewahrt habe, ist leer. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und taste mit den Händen bis in die letzte Ecke. Leer. Anja, häng dich nicht an den blöden Tagebüchern auf. Geh einfach. Aber was, wenn er sie gelesen hat? Na, ganz offensichtlich hat er das.

Als ich die Schranktür schließe, sehe ich etwas im Augenwinkel und schrecke zusammen. Einen Moment lang kann ich mich nicht bewegen. Ich spüre meinen Körper nicht. Nur mein Herz und meine Knie. Er schaut mich mit einem fremden Gesichtsausdruck an. Mit fremden, leeren Augen.

„Suchst du die hier?“ Er hält zwei meiner Tagebücher hoch.

„Gib sie mir...“ Wir rühren uns nicht. Keinen Millimeter.

„Ich hätte diese Tagebücher schon vor Jahren lesen sollen.“

„Ich will sie haben“, sage ich ruhig und strecke ihm die Hand entgegen. „Gib sie mir zurück.“ Ich rieche Alkohol. Tonnen von Bourbon.

„Weißt du, wie viele Einträge mit mir zu tun haben?“ Zorn flackert in seiner Stimme. „Oder wenigstens mit uns?“ Es ist bedrohlich still. Da ist kein Laut, bis auf mein angestrengtes Schlucken. „Ich habe gesucht. Ich habe wirklich jeden gelesen.“ Er geht einen Schritt auf mich zu. „Und weißt du wie viele ich gefunden habe? Ach ja richtig, das muss ich dir nicht sagen. Du hast sie schließlich geschrieben.“

„Tobias, diese Tagebücher sind uralt. Da kannten wir uns gar nicht.“

„Das dachte ich auch erst, aber dann habe ich das hier gefunden.“ Er hält ein kleines grünes Notizbuch hoch und ich spüre, wie der Ausdruck unvermittelt aus meinem Gesicht fällt. Zurück bleibt nichts, als Leere. In meinem Gesicht und in meinem Kopf. Ich dachte, er würde es nie finden. Ich dachte, ich hätte es gut genug versteckt. Ich wollte mich jemandem anvertrauen. Irgendjemandem. Ich wollte die Schuldgefühle loswerden. Einfach irgendwo abladen. Aber ich wusste nicht wo. Und dann habe ich angefangen zu schreiben. Ich habe meine wirren Gedanken versucht zu ordnen. „Ja, ich habe es gefunden.“ Mein Magen verkrampft sich und ein eisiges Gefühl, klettert über meinen Körper. Es liegt auf meiner Haut wie ein durchsichtiger Umhang. Als mein Dämon aus seiner Schockstarre erwacht, stößt er mich mit aller Kraft in die Seite. Ich hätte nicht hierher kommen sollen. Ich hätte mein altes Leben hinter mir lassen sollen. Neu anfangen ohne die Altlasten. Ich konzentriere mich auf meine Beine. Sie scheinen weiter weg zu sein als sonst. Als ich den ersten Schritt in Richtung Tür mache, bemerke ich erst, dass meine Knie mich kaum halten können.

„Was tust du da?“

Beim Versuch zu sprechen, zittern meine Stimmbänder. „Ich gehe.“

„Zu ihm?

„Tobias, was spielt das für eine Rolle?“, frage ich und schlucke.

Völlig unvermittelt schleudert er mir die Tagebücher entgegen. „Was das für eine Rolle spielt?“, brüllt er und kommt auf mich zu. Ich weiche zurück, doch er packt mich am Arm. „Ich will es wissen.“ Er schüttelt mich. Die Kraft, die in ihm steckt, irritiert mich. Tobias ist sanft. Er ist ruhig und gefasst. „Gehst du zu ihm?“ Seine Stimme dröhnt in meinen Ohren. Sie durchdringt jede Zelle. Auf seinem fahlen Gesicht liegt der Blick eines Fremden. Und ich habe diesen Blick schon einmal gesehen, kann mich aber nicht mehr daran erinnern, wann. Meine Finger kribbeln. An der Stelle, an der Tobias meinem Arm das Blut abschnürt, spüre ich meinen rasenden Puls. Mein Arm wird kalt und das Kribbeln wandert von meiner Hand über den Ellenbogen zu meinem Oberarm bis zu Tobias Hand. Er ist mir fremd. Ich habe ihn nie als bedrohlich empfunden. Nicht ein einziges Mal. Ich hatte nie Angst vor ihm. Er war immer sanft und ruhig. Rational und kontrolliert.

„Ich denke nicht, dass...“

„Willst du zu ihm?“ Seine Stimme fließt durch meinen gesamten Körper. Sie vibriert in meinen Knochen.

„Lass mich los...“ Ich versuche, ruhig zu klingen, doch meine Stimme zittert und überschlägt sich.

„Und was wenn nicht? Hm?“, fragt er. Mein Arm ist einschlafen mit dem anderen drücke ich ihn weg. Zumindest versuche ich es. „Du wolltest doch eine Reaktion.“ Ich spüre seinen Atem in meinem Gesicht. Und diese ruhige Stimmlage ist fast noch bedrohlicher und angsteinflößender als das Brüllen. „Du wolltest Wut und Eifersucht...“ Er stellt sich vor mich und schiebt mich rückwärts. Seine Haare sind schweißnass. Der Alkohol vermischt sich mit der schwülen Luft. „Hier, ist dir das eifersüchtig genug?“

„Hör’ auf... Bitte, Tobias, hör’ auf...“

„Du bist meine Frau, Anja, meine Frau.“ Tobias Gesicht ist nicht einmal zehn Zentimeter von meinem entfernt. Ich spüre, wie sich Schweiß durch meine Poren drückt. Ich bemerke nicht, dass ich weine. Ich weiß nur, dass ich es tue, weil ich nicht scharf sehen kann. „Ich weiß, was du gerade denkst. Warum ist er hier? Er sollte doch in London sein...“ Er imitiert meine Stimme. „Das denkst du doch, oder?“ Seine betrunkenen Augen versuchen, mich anzusehen, doch sie driften immer wieder weg. „Ich wusste, dass du feige bist. Ich kenne dich, Anja, ich wusste, dass du es ausnutzen wirst, dass ich nicht da bin. Ich wusste, dass du kommen und deine Sachen holen wirst.“ Er macht ein abschätziges Geräusch und schüttelt den Kopf. „Dachtest du ehrlich, dass ich mich so einfach abspeisen lasse?“

„Ich wollte dich nicht ab-...“

„Dachtest du, ich würde einfach dabei zusehen, wie du zu ihm gehst?“

„Ich gehe nicht zu ihm“, sage ich zitternd.

„Lügnerin.“

Mein Arm ist taub und hängt leblos an meiner Seite. „Es geht nicht um Julian, es geht um uns“, sage ich vorsichtig.

„Eigenartig...“ Der beißende Geruch von Bourbon steigt mir in die Nase. „Und warum hat er dir dann seine Adresse geschickt?“ Tobias hält mein Handy hoch.

„Was?“ Ich sehe mich noch, wie ich in Richtung Arbeitszimmer gehe, um den Koffer zu holen und wie ich es unterwegs auf der Anrichte ablege. Ich wollte nur kurz meine Tagebücher holen. In diesen Tagebüchern steht alles, was wichtig ist, alles, was ich gedacht habe. Sie sind ein Dokument meines Lebens. Ich wollte sie nur schnell holen und dann verschwinden. Ich sollte jetzt schon längst wieder im Auto sitzen.

„Ich verstehe wirklich nicht, was du an ihm findest“, sagt Tobias kalt. „Er sieht ziemlich durchschnittlich aus.“

„Tobias, gib mir das Handy.“

„Das geht nicht. Ich brauche doch seine Adresse.“

Ich versuche zu atmen, doch es geht nur in die eine Richtung. Einatmen funktioniert, ausatmen nicht. In mir tut alles weh. Es brennt und krampft. Meine Muskeln ziehen sich zusammen. Mir wird übel. Es fühlt sich an, als würden all meine Zellen auf einmal streben.

„Was ist es?“ Er hält mich mit seiner freien Hand am Kinn fest. „Was findest du an ihm?“

„Lass mich los...“, sage ich angespannt. „Tobias, bitte...“

„Was du an ihm findest, habe ich gefragt.“ Ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Tobias stemmt sich gegen mich.

„Ich liebe ihn.“ Tränen laufen über mein Gesicht.

„Du liebst ihn... Du liebst ihn also... Und was war dann ich für dich?“, brüllt er. Einzelne Tropfen Spucke legen sich wie winzige Regentropfen auf mein Gesicht. „Was war ich?“

„Du warst...“

„Sag’ es! Was war ich für dich?“ Er schüttelt mich. „Verdammt noch mal, sag’ es endlich!“

„Du warst eben da...“

Seine Hände umschließen meinen Hals. Ich spüre seine ganze Kraft, seine Wut, die Enttäuschung. Das Schlafzimmer pulsiert. Alles ist unscharf. Ich erkenne seine Augen nur noch als schwarze Flecken in einem verschwommenen Gesicht. Julian wird denken, ich habe es mir anders überlegt. Er wird denken, ich versetze ihn. Er wird denken, ich bleibe doch bei Tobias. Das Blut rauscht in meinen Ohren und ich sehe seltsam funkelnde Muster. Wie tausend Kristalle, die durchs Zimmer schweben. Und inmitten der Kristalle, sehe ich meine Mutter, die sich langsam von mir entfernt. Ich sehe sie winken und lächeln. Ich sehe meinen Vater, der neben mir auf dem Boden kniet und meinen Bruder und seine Freundin, die in unserem alten Haus auf der Terrasse sitzen und lesen. Sie schauen hoch und lächeln. Ich sehe verschnörkelte Buchstaben auf einem alten messingfarbenen Klingelschild. Ich denke, ich hätte mit Julian tatsächlich alles sein können. Die Erwachsene und die Träumerin.

Ich versuche zu atmen. Aber da ist keine Luft. Nur ein rasselndes Röcheln. Tobias Stimme klingt dumpf und unwirklich. Ich weiß nicht, ob er schreit oder weint. Ich spüre nur seine Hände an meinem Hals. Die Kraft, die in ihnen steckt. Ich spüre das Zittern seiner Anspannung. Mein Körper wehrt sich. Er kämpft, verkrampft sich. Er folgt dem Trieb, der stärker ist, als die Einsamkeit. Ich tue das nicht mehr. Dann wird er taub und schwer. Erst die Arme, dann die Beine.

Und plötzlich wird alles friedlich. Ich schließe die Augen und betrachte Julians Lächeln an der Innenseite meiner Lider. Ich ertrinke in diesen Augen. Verliere mich in seinem Gesicht. Ich habe ihn immer geliebt. Ich habe nie damit aufgehört.

 

 

ENDE

  1.