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Für Sandra (trotz allem).
Danke für die Mittagspause.

 


Imprint

Titel: 434 Tage

Autorin: Anne Freytag

Coverbild: © Michael Tasca

Copyright: © 2013 Anne Freytag

 

 

  1. Kapitel 1  

Seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig. Regungslos liegt er neben mir. Die Erinnerung an lautes Atmen und schweißnasse Haut liegt noch in den Kissen und Laken, die kühl meinen Körper bedecken. Gestohlene Stunden in Zimmern ohne Geschichte. Puristische weiße Einrichtung, schwere Vorhänge, Schnittblumen, Beistelltischchen. Ein heimeliges Gefühl in steriler Sauberkeit.

In einer halben Stunde wird der Wecker klingeln. Er läutet die Realität ein, vor der ich zu fliehen versuche. Doch sie holt mich immer ein. Ich werde aufstehen, duschen und mich anziehen. In sechzig Minuten wird nichts mehr an die vergangene Nacht erinnern. Das Reinigungspersonal wird die Türen aufsperren und die Betten frisch beziehen. Kurz frage ich mich, wie viele Menschen wohl schon in diesem Bett geschlafen haben. Ich frage mich, wie viele Ehemänner und Ehefrauen in diesem Bett hintergangen wurden. Und ich frage mich aus welchen Gründen. Und dann frage ich mich, warum ich es tue.

Tobias denkt, ich bin geschäftlich unterwegs. Und das bin ich. Aber ich bin in München und nicht in Hamburg. Ich hätte zu Hause schlafen können. Ich hätte bei ihm bleiben können. Aber ich wollte nicht. Und ich kann noch nicht einmal sagen, warum. Tobias hat nichts falsch gemacht. Er ist wie immer. Und er war auch vor einem Jahr nicht anders. Vielleicht ist genau das das Problem. Vielleicht sollte er anders sein.

Mein Blick fällt wieder auf Julians nackten Oberkörper, der sich noch immer gleichmäßig senkt und hebt. Liebe ich Julian? Und wenn ich es tue, warum verlasse ich Tobias nicht einfach? Wegen der Geschichte, die wir haben? Wegen den zehn Jahren, die wir zusammen sind? Oder bliebe ich bei Tobias, weil ich Julian nicht wirklich traue? Ich betrachte sein Gesicht. Es ist friedlich und entspannt. Bis auf seine Augen. Sie bewegen sich unter seinen Lidern rasch hin und her. So als würde er etwas nachschauen. Ich wüsste gerne, was er gerade sieht.

Die ersten Sonnenstrahlen zwängen sich durch den kleinen Spalt zwischen den schweren Vorhängen. Tobias liebt es, wenn das Zimmer langsam in Licht gehüllt wird. Früher saßen wir oft im Bett und haben beobachtet, wie die Schatten Muster an die Wände malen. Jetzt tun wir das nicht mehr. Und auch das ist meine Schuld.

Manchmal wünschte ich, mein Leben hätte ein Drehbuch, in dem ich nachschlagen kann, was als nächstes passiert. Ich hätte gerne eine Orientierung. So eine Art Leitfaden oder wenigstens eine Richtung. Ich drehe mich auf den Rücken und starre an die weiße Decke. Mein Handy vibriert auf dem Nachttisch. Und noch während ich danach greife, weiß ich, dass ich mich gleich elend fühlen werde.

Ich lese die Nachricht von Tobias und schließe die Augen. Und dann tue ich, was ich nach jeder Nacht mit Julian tue. Ich dusche. Ich wasche die Schuldgefühle ab, mit einem Hotelduschgel aus einer winzigkleinen Plastikflasche. Dieses Mal ist es grün und duftet nach Lemongrass. Ich schrubbe über meine Haut, als wollte ich sie dafür bestrafen, dass sie die letzten Stunden genossen hat. Und vielleicht tue ich das wirklich. Zu Hause wasche ich mich nie so gründlich.

Normalerweise frühstücken Julian und ich noch zusammen, doch nicht heute. Nachdem ich mich angezogen habe, schaue ich ihn noch ein letztes Mal an, dann schleiche ich zur Tür. Einen winzigen Moment zögere ich. Ich frage mich, ob ich einen Zettel dalassen soll. Doch dann entscheide ich mich dagegen und verlasse die geborgte Geborgenheit und stehe wenig später in einem leeren Flur.

Ich gehe durch die Maxburgstraße und versuche, mich schuldig zu fühlen. Und ein Teil in mir tut das auch. Der andere tut nur so, weil er weiß, dass es falsch ist, was ich tue. Er weiß, dass Tobias das nicht verdient hat. Kann ich etwas dafür, dass Julian weiß, was ich will und Tobias nicht? Mit Julian fühle ich mich erfüllt. Ist das meine Schuld? Tobias müsste ich sagen, was ich will. Julian weiß es instinktiv. Und trotzdem ist da jedes Mal diese bodenlose Leere, in die ich stürze, wenn ich das Hotelzimmer verlasse. Ich weiß jetzt schon, wie ich mich den ganzen Tag fühlen werde. Und ich weiß, dass Tobias mich heute Abend aufbauen wird, weil er denkt, es liegt an der Arbeit. Er wird mich in die Arme nehmen und mit den Fingerkuppen über meinen Nacken streifen. Das tut er immer, weil er weiß, wie sehr ich das mag. Und ironischerweise wird er es schaffen, dass ich mich besser fühle. So, als läge es tatsächlich an der Arbeit und nicht an den heimlichen Treffen mit meinem Liebhaber.

Wenn man es objektiv betrachtet, ist Tobias der bessere Mann. Er ist treu, zumindest soweit ich weiß, er ist ehrlich, er ist verlässlich, liebevoll, verständnisvoll und fürsorglich. Er scheut sich nicht vor Konflikten und steht schwierige Situationen mit mir durch. Mein Erfolg schüchtert ihn nicht ein, er unterstützt mich und ist immer für mich da. Aber er ist nicht abenteuerlich. Er ist nicht spannend und aufregend. Er ist nicht leidenschaftlich und spontan. Er liebt mehr mit dem Kopf als dem Körper.

Vielleicht würde ich mich nicht ganz so schuldig fühlen, wenn Julian ein Fremder wäre. Ein Mann, mit dem ich eben gerne schlafe. Wäre es nur Sex, könnte ich mir einreden, dass es nicht meine Schuld ist, dass Tobias so rational ist. Ich könnte mir sagen, dass ich eben Bedürfnisse habe, die Julian befriedigen kann und Tobias nicht. Bedürfnisse, die nichts zu bedeuten haben. Und vielleicht haben sie das auch nicht. Aber was, wenn doch? Und was könnten diese Nächte bedeuten? Warum schlafe ich mit jemandem, der mir nicht gut tut, jemandem, dem ich nicht wirklich traue?

Ich setze mich in ein Café und bestelle einen Espresso und ein Croissant. Und während ich dort sitze und versuche nicht daran zu denken, dass ich mich vor vielen Jahren in genau diesem Café zum ersten Mal mit Tobias getroffen habe, beobachte ich eine Ente, die in dem kleinen Brunnen gegen den Strom schwimmt. Bei ihr sieht das so einfach aus. So als wäre das kein bisschen anstrengend. Ich sollte es beenden. Diese Geschichte wird noch meine Ehe ruinieren. Tobias und ich funktionieren wie ein Uhrwerk. Wir kennen uns. Zumindest denkt Tobias das. Es muss enden. Mein Verstand weiß das. Ich kann ihn doch nicht immer wieder hintergehen. Irgendwann mache ich einen Fehler. Das ist nur eine Frage der Zeit. Ich verspreche mich oder verstricke mich in meinen haarsträubenden Lügen und dann werde ich es ihm beichten. Und das wird einen Teil in ihm zerstören. Und das hat er einfach nicht verdient. Aber wie kontrolliert man Verlangen? Wie schaltet man Begierde ab?

Ich habe Julian immer begehrt. Manchmal frage ich mich, wie mein Leben aussehen würde, wenn er damals nicht in dieses Flugzeug gestiegen wäre. Wenn er sich für uns und nicht für die Karriere entschieden hätte. Vielleicht wären wir noch zusammen. Vielleicht hätten wir ein Haus und Kinder und eine Hypothek. Und vielleicht würde ich dann ihn mit einem anderen betrügen. Einem Mann, der mich versteht und mich in den Armen hält und mir die Geborgenheit schenkt, die Julian mir nicht geben könnte. Oder ich würde mich bei einer Freundin ausweinen, weil ich wüsste, dass er mich betrügt und ich nicht die Kraft hätte, ihn zu verlassen. Vielleicht hätten wir uns ohnehin getrennt. Vielleicht hätte einer von uns jemand anders getroffen. Oder wir beide. Ich hasse diese Fragen, auf die ich ja doch niemals eine Antwort haben werde.

Hätte ich mich vergangenen Mai doch einfach für ein anderes Hotel entschieden. Mein Leben wäre anders verlaufen. Es wäre so, wie es davor war. Zumindest vermute ich das. Ich wäre auch in Genf gewesen. Aber allein. Ich hätte einfach vier Tage gearbeitet und wäre dann zu meinem Mann geflogen.

 

  1. Kapitel 2  

Meine Füße sind bleierne Anker, die im viel zu weichen, gemusterten Hotelteppich versinken. Und während die Gänsehaut wie in Zeitlupe über meinen Körper kriecht, drückt sich der Schweiß aus jeder Pore. Ich spüre, wie er auf meiner Stirn glänzt. Und über der Oberlippe. Sonst ist da nichts. Der Klang von Stimmen und Absätzen, verschluckt. Ganz entfernt sind sie noch da, dumpf und unwirklich. So als wäre mein Kopf unter Wasser. Vor zehn Sekunden war ich noch ich. Jetzt ist es, als wäre ich in einem Stummfilm, der nicht ganz stumm ist, in einem Körper, den ich zwar wahrnehme, aber nicht wirklich spüre. Ich bin eine andere. Und diese andere spürt nur die winzigen Härchen an ihrem Nacken. Sie spürt den Schweiß auf ihrer Haut, wie ein fremdes Wesen, das sie fest umarmt. Doch diese andere bin ich.

Der schwere Duft von zu starken Vanillekerzen dröhnt in meinem Kopf. Ich bemerke Menschen, die an mir vorbeigehen, Hotel Poitiers, Pagen mit golden-glänzenden Gepäckwägen. Ihre Bewegungen werden begleitet von einem hektischen Pumpen in meinem Brustkorb. Ich sehe die Reflektionen der Abendsonne in blankpolierten Fliesen im Foyer und Beistelltischchen mit Schnittblumen. Das Leben um mich spielt sich weiter. Und alle spielen mit. Jeder kennt seine Rolle. Nur ich nicht. Ich stehe nur da und starre auf einen Fleck, während das emsige und geschäftige Treiben um mich einfach weitergeht. Und während ich dort stehe und das Leben beobachte, versucht mein Gehirn angestrengt, diesen Anblick zu begreifen.

Die Art, wie er ihr seinen Arm anbietet, erinnert mich an alte Schwarzweißfilme. Als sie sich unterhakt, legt er die linke Hand einen Augenblick auf ihre. Es ist eine flüchtige Berührung. Sie scheint unbedacht, und doch ist da etwas in seinem Blick. Etwas Berechnendes. Etwas Einstudiertes. So als hätte er das bereits unzählige Male getan und genauso oft auch Erfolg damit gehabt. Sie lächelt ihn von unten an. Mädchenhaft, zurückhaltend. Sein Mund erwidert ihr Lächeln, seine Augen tun es nicht. Er trägt seinen Anzug mit einer seltsamen Mischung aus Überheblichkeit und Verachtung. Seine Schuhe sehen aus, als hätten sie noch nie einen Gehweg betreten. Sie kennen nur die ledrigen, italienischen Hände, die sie gefertigt haben. Und Ralph Lauren Socken. Und vielleicht noch Lederpflege.

In dem Moment, als sie an mir vorbeigehen, treffen sich unsere Blicke. Da ist kein Geräusch. Nichts. Nur das Pumpen in meinem Brustkorb. Seine Augen sind undurchdringlich schwarz. Pechschwarz. Sie sind wie zwei Löcher, in die ich stürze, ohne mich zu bewegen.

„Anja?“ Er bleibt stehen. Und mit dem Klang meines Namens, kommt mein Kopf aus dem Wasser. Der Vanilleduft pocht an die Innenseiten meines Schädels. Unmengen an Stimmen und das Läuten von Telefonen hämmern in meinem Kopf. Und trotzdem sehe ich nur diese pechschwarzen Augen, bei denen ich mir einbilde, dass sie für einen winzigen Moment den Ausdruck in meinen widerspiegeln. Er wendet sich ab. „Katja, das ist Anja, eine alte Bekannte.“ Eine alte Bekannte? Der Dämon in meinem Brustkorb hebt sein Haupt. Eine alte Bekannte?

„Freut mich.“ Sie streckt mir eine perfekt manikürte Hand entgegen.

Ich versuche, meinen Arm zu heben, der noch immer schlapp und taub an meinem Oberkörper baumelt. Sag etwas, Anja. Sprich. Meine Finger kribbeln. Und wie auf Knopfdruck strecke ich ihr meine Hand entgegen und lächle mechanisch. „Ja, freut mich auch.“

„Du bist mit deinem Mann hier?“

„Meinem Mann?“, frage ich irritiert.

Julian deutet auf meine Hand. „Der Ring.“

„Ach so, nein, ich bin beruflich hier.“ Meine Stimme ist die, einer Geschäftsfrau, meine Knie die eines Betrunkenen. „Ein wichtiger Kunde.“

„Ja, wir auch“

Wir auch. Wie abartig. Sie sind nicht nur ein Paar, sie arbeiten auch noch zusammen. Und vielleicht bilde ich es mir ein, aber ihr Griff um seinen Arm scheint bei dieser Aussage noch fester zu werden. Die perfekt manikürte Hand markiert ihr Revier.

„Wir waren gerade auf dem Weg ins Restaurant.“

Die Absätze meiner Schuhe bohren sich in meine Fersen. „Dann will ich euch nicht länger aufhalten.“

„Vielleicht willst du dich uns ja anschließen?“, fragt Julian lächelnd. Und obwohl Katja bei dieser Frage ebenfalls lächelt, ihre stahlblauen Augen sagen etwas anders.

„Danke, das ist sehr nett, aber ich bin zum Essen verabredet“, lüge ich.

„Auch hier im Hotel?“

„Nein, in einem Restaurant in der Stadt.“

„Und in welchem?“

„Ich habe den Namen gerade nicht im Kopf.“, improvisiere ich. „Ein kleiner Italiener.“

„Wie wäre es dann mit Morgen? Abendessen? So um acht?“ Er legt seine Hand auf ihre und schaut ihr tief in die Augen. „Aber nur, wenn dir das nichts ausmacht.“

„Kein bisschen.“ Das ist eine Lüge. Eine riesige Lüge.

„Ich weiß nicht, ich will wirklich nicht stören.“

„Ach komm, wir haben uns ewig nicht gesehen – wie lange ist das jetzt her? Acht, neun Jahre?“

„So in etwa, ja.“, antworte ich, obwohl es zwölf sind. Mehr als zwölf. Ich weiß das noch. Aber das muss er nicht wissen.

„Schatz, wir müssen...“

„Ach ja, unser Tisch.“ Er schaut auf die Uhr. Ich hätte nie gedacht, dass er einmal so eine Uhr tragen würde.

„Lasst euch nicht aufhalten, ich muss mich sowieso noch ein bisschen frisch machen.“

Er mustert mich von oben bis unten. „Ja, das ist eine gute Idee, du siehst ziemlich müde aus.“

Ich atme tief ein und lächle. Es ist ein steifes, zahnloses Lächeln, aber mehr ist nach so einer Aussage einfach nicht drin. „Gut, dann bis morgen.“

„Ja, bis dann.“

Ich lege das Handy beiseite, dann lege ich mich wieder ins Bett. Seit fast zwei Stunden versuche ich einzuschlafen, doch jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich sein Gesicht. Es ist, als wäre es an die Innenseiten meiner Augenlider getackert. Also lasse ich sie offen. Mit offenen Augen und einem dünnen Schweißfilm liege ich hellwach da und wälze mich hin und her. Und in diesem Augenblick frage ich mich, warum mich dieses Wiedersehen beschäftigt. Gut, wir waren eine Weile zusammen und ja, wir haben uns lange nicht gesehen, aber wenn man es genau nimmt, war Julians Fokus den Großteil unserer Beziehung auf sich selbst gerichtet. Es waren seine Träume, seine Ziele, seine Vorstellungen von der Zukunft. Und irgendwann hatte ich in dieser Blase kleinen Platz mehr. Sein Ego hat mich aus seinem Leben katapultiert und der Gedanke an das Aufschlagen in der Realität tut auch nach so vielen Jahren noch immer weh. Damals hat es mich fast umgebracht.

Die Wahrheit ist, dass ich die letzten Jahre kaum an ihn gedacht habe. Er war wie ein verschwommener Schatten einer vergangenen Liebe, so wie Schlieren an einem Fenster, die man nur sehen kann, wenn die Sonne direkt darauf scheint. Und das in einem Land, in dem es fast ausschließlich regnet. Gut, zugegeben, bei manchen Liedern habe ich an ihn gedacht. Oder wenn jemand mit seinem Parfum an mir vorbeigegangen ist oder wenn ich hinter einem Auto mit derselben Buchstabenkombination auf dem Nummernschild hergefahren bin. Aber die meisten Tage war er weg. Ausgelöscht. Und plötzlich ist er wieder da. Und mit ihm sein Lächeln. Und mit seinem Lächeln und diesem Funkeln in den Augen auch die Erinnerungen an die Dinge, die gut waren. Er war eben doch nicht nur das Arschloch, zu dem ich ihn in meinen Gedanken gemacht habe. Oder vielleicht war er es doch und sein Lächeln hat diese Wahrheit immer vor mir verborgen.

Es ist viertel nach fünf, als mein Handy klingelt.

„Hab ich dich geweckt?“

„Nein, ich war wach“, flüstere ich lächelnd. „Kannst du auch nicht schlafen?“

„Eine Stunde, vielleicht eineinhalb.“ Ich lege mich aufs Bett. „Ich hasse es, wenn du nicht da bist.“ Ich konzentriere mich auf seine weiche Stimme. Sie ist klingt nach zu Hause. Mit geschlossenen Augen ist es fast so, als läge er neben mir. „Wie war dein Tag?“

„Das Übliche“, antworte ich seufzend. „Viele Termine mit vielen Tassen Kaffee und vielen unterschiedlichen Vorstellungen. Und bei dir? Wie lief die Präsentation?“

„Ganz gut, aber das Essen danach ging wieder ewig.“

„Das dachte ich mir schon. Ich hab dich angerufen.“

„Hab ich gesehen, aber leider erst um drei, sonst hätte ich mich gleich gemeldet.“ Einen Augenblick schweigen wir beide. Ich genieße es, ihn einfach nur atmen zu hören. „Du fehlst mir.“

Ich drehe mich auf die Seite. „Du fehlst mir auch.“

„Was bringst du uns dieses Mal mit?“

„Ich habe noch keine Zeit gehabt, zu schauen. Vielleicht schaffe ich es heute oder morgen Nachmittag. Hast du irgendeinen Wunsch?“

„Vielleicht zwei neue Espressotassen? Ich finde es schön, dass wir so viele unterschiedliche haben.“

„Ich weiß“, sage ich lächelnd. „Ich auch.“

„Wann ist dein erster Termin?“

Ich öffne die Augen und es irritiert mich, dass er nicht da ist. Mein Blick fällt auf den Wecker. „In zweieinhalb Stunden.“

„Dann versuch’ noch ein bisschen zu schlafen.“

„Ich bin zu wach.“

„Nein, Schnecke, eigentlich bist du totmüde.“ Ich grinse. „Mach einfach die Augen zu und stell dir vor, wie ich hinter dir liege.“

„Okay.“

„Dein Kopf liegt auf meinem Arm, mit dem anderen halte ich dich fest. Du spürst meinen Herzschlag am Rücken. Alles ist warm und gemütlich. Du bist zu Hause.“

Der Wasserdampf gleitet gemächlich durchs Badezimmer und klammert sich an den Glasfronten und dem Spiegel fest. Mit geschlossenen Augen genieße ich das Wasser in meinem Gesicht. Es fühlt sich an, als würde es meine Gedanken reinigen und alles, was übrig bleibt, ist sauber. Die Reinheit schmiegt sich an meinen Körper. Ich denke an Tobias und muss lächeln. Und obwohl ich nicht einmal zwei Stunden geschlafen habe, bin ich hellwach.

Als ich mir das Shampoo aus den Haaren wasche, ist es plötzlich wieder da. Sein Gesicht. Seine Augen lächeln mir verheißungsvoll entgegen. Sie scheinen mich zu beobachten. Und auf einmal stört es mich, nackt zu sein. Ausgeliefert. Beim Anblick seines Gesichts, raunt mein Dämon und mein Magen zieht sich zusammen. Ich stelle das Wasser ab. Und während ich dort im heißen Wasserdampf stehe und die einzelnen Tropfen kritzelnd über meine Haut kriechen, denke ich daran, wie Julian und ich uns kennengelernt haben. Ich denke an unseren ersten Kuss und daran, wie das Adrenalin meinen Körper überflutet hat. Das scheint ein ganzes Leben entfernt. Gott, habe ich das gut verdrängt.

 

  1. Kapitel 3  

„Was machst du denn schon zu Hause?“ Tobias kommt auf mich zu und nimmt mir die Tasche ab. „Ich dachte du hast gesagt, es wird heute später.“

„Ich kann auch wieder gehen“, sage ich kratzbürstig und ziehe die Schuhe aus.

„Harter Tag?“

„Ich fühle mich beschissen.“, sage ich und weiche seinem Blick aus, weil ich Angst habe, dass er darin meine Schuldgefühle sehen kann.

Tobias stellt die Tasche auf den Boden und nimmt mich in die Arme. Mit den Fingerkuppen streichelt er über meinen Nacken. „Konntest du im Hotel nicht gut schlafen?“ Ich spüre seinen Atem an meiner Wange. Dann seine Lippen, die mich sanft küssen. Ich hasse mich. Und das nicht nur wegen letzter Nacht und auch nicht wegen all der Nächte der vergangenen Monate, sondern vor allem wegen all der Nächte, die noch kommen werden. Denn egal wie sehr mein Verstand auch damit aufhören will, mein Körper will es nicht. Ich bin wie ein Junkie, der sich gerade ein weiteres Mal vornimmt, am kommenden Tag ein neues Leben anzufangen und im selben Augenblick genau weiß, dass er es wieder nicht schaffen wird. Gott, wie ich mich hasse. „Was geht dir durch den Kopf?“

„Gar nichts. Ich bin einfach fertig.“

„Dann leg’ dich doch ein bisschen hin.“

„Das ist vielleicht das Beste.“ Ich versuche zu lächeln, doch es fühlt sich nicht an, wie ein echtes Lächeln.

„Ich wecke dich zum Abendessen.“

„Ist gut.“, sage ich und gehe in Richtung Stufen.

„Schnecke?“

Ich drehe mich noch einmal um. „Hm?“

„Ich habe dich letzte Nacht vermisst.“

„Und du willst sicher nichts essen?“, flüstert er und streichelt über meine Wange.

„Ich will nur schlafen.“

„Okay, ich komme auch bald.“ Er küsst mich auf die Stirn. „Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“

„Träum’ schön.“

Als er die Tür behutsam hinter sich zuzieht, drücke ich mein Gesicht in die Kissen. Und auch dieses Mal saugen sie meine Tränen auf und verschlucken mein Schluchzen. Ich tränke sie mit meinem schlechten Gewissen. Immer und immer wieder. Das erschreckende ist, dass ich mich morgen wieder besser fühlen werde. So als wäre das mit dem Fremdgehen wie ein Kater, den man einfach gründlich ausschlafen muss. Das Schlimmste ist aber, dass die Entzugserscheinungen noch viel schrecklicher sind, als die Schuldgefühle.

Etwa eine Stunde später höre ich Tobias Schritte langsam näher kommen. Ich liege auf der Seite und warte auf den Lichtkegel, der kurz auf der Wand erscheinen wird, wenn sich die Tür öffnet. Und da ist er. Und in dem Lichtkegel Tobias Schatten. Dann wird es dunkel. Er legt sich leise neben mich.

Manchmal frage ich mich, ob er etwas ahnt. Ich frage mich, ob er Verdacht schöpft. Und in dieser Sekunde schießt mir die Frage durch den Kopf, ob er vielleicht auch eine andere hat und ich einfach nichts davon weiß. Ich frage mich, ob er manchmal mit denselben Gewissensbissen neben mir liegt. Und wenn es so wäre, dass wir uns beide unsere Gewissensbisse einfach sparen könnten, wenn wir es dem anderen einfach sagen würden. Doch ich kann es mir nicht vorstellen. Nicht Tobias. Das passt nicht zu ihm. Wobei man das von mir sicher auch sagen würde.

 

  1. Kapitel 4  

Mein Herzschlag ist wie ein schreckliches Techno-Lied, das nicht enden will. Ich schaue auf die Uhr. Noch vierundzwanzig Minuten. Bei diesem Gedanken wird das Techno-Lied schneller. Ich spüre, wie sich die Haut um meine Halsschlagader ausdehnt und wieder zusammenzieht. Der schwarze Kajal zittert unkontrolliert, als ich versuche, den Lidstrich zu ziehen. Ich atme tief durch. Anja, es ist nur ein Abendessen. Das kriegst du hin. Blödsinn. Ich scheitere ja schon am Schminken und das kann ich sonst im Halbschlaf. Wäre die Reflektion im Spiegel nicht ich, würde ich in diesem Augenblick lauthals lachen. Es wäre die Art von Lachen, bei der die Bauchmuskulatur sich zu einem steinernen Klumpen verkrampft. Die Art von Lachen, bei der man sich abstützen muss, um nicht zusammenzubrechen. Die Art, bei der der gesamte Körper vibriert. Aber diese leuchtend roten Wangen gehören mir. Und das ist nicht komisch. Es ist zum Verzweifeln. Ich betrachte die verklebten Wimpernbündel um meine Augen und spüre wütende Tränen über meine Wangen laufen. Mein verwackelter Lidstrich erinnert mich spontan an die ersten zaghaften Schreibversuche eines Erstklässlers. Eine alte Bekannte. Arschloch. Ich greife nach den Abschminktüchern. Und während ich die verklumpte Wimperntusche von meinen Augen kratze, frage ich mich, warum ich überhaupt zugesagt habe. Dieses Abendessen ist mein wahrgewordener Albtraum. Ein Abendessen mit Maßanzug-Julian und seiner ekelhaft perfekten Freundin. Und während ich noch immer leise fluchend anfange, Make-up aufzutragen, denke ich an Tobias und dieser Gedanke beruhigt mich. Das Techno-Lied wird weniger anstrengend und meine Halsschlagader bekommt eine kleine Verschnaufpause.

 

Mit einem sanften Ruck setzt sich der Aufzug in Bewegung. Ich reibe meine Fingerkuppen aneinander und konzentriere mich auf das taube Gefühl, das diese Berührung erzeugt. Mein Blick fällt auf die golden glänzenden Aufzugtüren. Diese Reflektion ist vorzeigbar.

Ich erkenne sie schon von weitem. Das ist auch nicht weiter schwierig. An den meisten Tischen sitzen normale Menschen mit normaler Kleidung und normalen Gesichtsausdrücken. Sie sind alle so normal, dass man sie nicht wirklich wahrnimmt. Sie sind eben da, so wie die Beistelltischchen und die Kellner. Und zwischen all diesen normalen Menschen, sitzen zwei Erscheinungen. Beim Anblick ihrer Frisur ergreift mich Ehrfurcht gefolgt von der Erkenntnis, dass sie sich die bestimmt hat machen lassen. Als Julian mich bemerkt, steht er auf und lächelt. Es ist, als wäre sein Lächeln ein Kommando für meine Schweißdrüsen, denn in derselben Sekunde spüre ich, wie sich ein feuchter Film auf meiner Haut ausbreitet. In Gedanken sehe ich mich, wie ich das Reisedeo in meine Handtasche stecke und bin erleichtert über diese Weitsicht. Was mich an diesem Lächeln immer am meisten fertig gemacht hat, war der Ausdruck in seinen Augen. Es war nie das Lächeln an sich. Es war diese versteckte Aufforderung, dieser verwegene Ausdruck. Das Gefühl, in der pechschwarzen Tiefe zu versinken.

„Anja, hallo.“ Er zieht den freien Stuhl nach hinten und gibt mir ein Zeichen mich zu setzen. Diese vollendeten Manieren irritieren mich.

„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, aber ich hatte heute einen Terminmarathon.“

„Du hattest noch nicht mal Zeit, dich frisch zu machen?“, fragt Katja und lächelt. Und dieses Lächeln ist getränkt von geheucheltem Mitgefühl.

„Die Wahrheit ist, dass ich mich schon frisch gemacht habe, auch, wenn man mir das vielleicht nicht ansieht.“ Julian schaut nach unten und presst seine Lippen aufeinander. „Ich bin nicht so der Typ für übertriebene Hochsteckfrisuren.“

„Wollen wir dann bestellen?“ Julian greift schnell nach einer Karte und reicht sie mir. Katjas Gesicht ist eingefroren. So stelle ich mir eine wütende Hochzeits-Barbie vor. Der Mund angespannt und verkniffen, die Augen kalt. Das Schweigen sitzt wie eine vierte Person an unserem Tisch und ich bin dankbar um meine Speisekarte, die mich wie eine kleine Karton-Mauer, von Katjas eisigen Blicken abschirmt.

Nachdem wir bestellt haben und mir der Kellner meine schützende Speisekarte aus der Hand genommen hat, setze ich mein freundliches Gesicht auf und spiele mein lockeres Selbst. „Und? Wie habt ihr beiden euch kennengelernt?“, frage ich. Und noch während ich das frage, frage ich mich, ob ich das überhaupt wissen will.

Auf diese Frage scheint Katja sehnlichst gewartet zu haben, denn die Wut verlässt ihre Gesichtszüge im Bruchteil einer Sekunde. Sie schaut zu Julian und legt ihre Hand auf seine. „Ich arbeite seit vier Monaten in Julians Firma. Und ungefähr genauso lange sind wir zusammen.“ Sie nimmt einen Schluck Wein. „Und ihr beide? Woher kennt ihr euch?“

In dem Augenblick, als ich Luft hole, um zu antworten, vibriert mein Handy. Julians Blick fällt auf das grelle Display, das das schummrige Kerzenlicht durchbricht. „Das dauert nur einen Augenblick“, sage ich lächelnd und drehe mich weg. „Schatz? ... Ja, ich bin noch beim Essen. ... Ich habe gestern zufällig einen Freund von früher getroffen ... Ja, mit ihm und seiner Freundin. ... Ja, das mache ich. ... Ich dich auch. ... Ja, bis später.“ Ich lege das Handy beiseite. „Entschuldigung.“

„Erzähl’ uns von Tobias.“ Das flackernde Kerzenlicht schimmert in seinen Augen. Er zeigt auf das Display. „Ich nehme an, das gerade war dein Mann?“

„Ja, war es.“

„Und wie lange seid ihr verheiratet?“, fragt Katja, ihre Hand noch immer fest auf seiner.

„Bald zehn Jahre.“

Es scheint so, als hätte ich es in den vergangenen zwölf Jahren verlernt, seine Blicke zu verstehen. Seine Augen sagen etwas, aber ich kann nicht sagen, was. Und dann holt er Luft und sagt, „Bis vor kurzem hätte ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen können, so lange mit einem Menschen zusammen sein zu können, geschweige denn, es zu wollen.“

Diesen Satz aus seinem Mund zu hören trifft mich wie ein Fausthieb in der Magengrube. Als ich einatme, schmerzen meine Lungen. Mein Brustkorb scheint plötzlich unbeschreiblich eng. Die reale Welt zieht sich langsam zurück. Wie eine Welle, die erst auf den Strand donnert und dann ganz langsam im Sand versickert. Die reale Welt ist noch da, sie umgibt mich, doch vor zwei Sekunden hat sie sich anders angefühlt. Irgendwie näher. „Ich verstehe genau, was du meinst“, sage ich nach einer Weile. Und ich bin erstaunt über den festen Ausdruck in meiner Stimme. „Wenn man jemanden findet, den man wirklich liebt, wird einem erst klar, dass alles, was davor war, nichts bedeutet hat.“

Ich versuche in Julians Blick zu lesen. Ich versuche zu verstehen, was seine Augen sagen. Früher habe ich das. Früher haben sie zu mir gesprochen. Doch jetzt ist da nichts. Jetzt sind sie einfach nur tiefschwarz und wunderschön.

„Einmal Tintenfisch-Carpaccio für die Dame...“ Der Kellner stellt einen Teller vor mir ab. „... und einmal für den Herren.“ Dann greift er auf den Servierwagen hinter sich. „Und den Sommersalat ohne Öl für Sie, Madame.“ Katja lächelt ihr mädchenhaftes Lächeln. Ich betrachte den Salat. Kein Wunder, dass sie so aussieht. Vermutlich isst sie nur Obst und Gemüse. Und Blattsalate ohne Öl. Dann verschwindet der Kellner und wir fangen schweigend an zu essen.

 

  1. Kapitel 5  

Es fühlt sich so an, als hätte sich der Tintenfisch in meinem Magen wieder zusammengesetzt und würde gerade wild mit seinen Tentakeln um sich werfen. Ich liege auf dem Bett und versuche zu schlafen. Und immer wieder, wenn ich spüre, dass meine Lider endlich schwerer werden, rastet entweder der Tintenfisch in meinem Magen aus oder ich sehe Julians Gesicht vor mir. Und ich weiß nicht, was schlimmer ist.

Ich renne in mein blitzblank geputztes Marmor-Badezimmer, reiße den Klodeckel hoch und übergebe mich. Jeder meiner Muskeln ist angespannt und es fühlt sich so an, als würden meine Augen jeden Moment aus ihren Höhlen poppen. Meine aufgestützten Arme zittern unter meinem Gewicht, während mir am gesamten Körper der Schweiß ausbricht. Und obwohl ich nur verschwommen sehe, erkenne ich den Tintenfisch klar und deutlich. Dieses verschwommene, pulsierende Bild scheint meinem Magen den erneuten Befehl zum Zusammenziehen zu geben und wie ein guter Soldat befolgt er ihn.

Eine halbe Stunde später schleppe ich mich zurück ins Bett. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mich jemals so elend gefühlt habe. Ich weiß, dass man das immer sagt, wenn es einem schlecht geht, aber dieses Mal stimmt es. Und auch, wenn dieses Hotel einem das Gefühl der Geborgenheit vorgaukelt, fühle ich mich im Augenblick völlig fremd und unwohl. Ich drehe mich schwerfällig zur Seite und schaue auf die Digitaluhr, die auf dem Nachttisch steht. Halb vier. Einen kurzen Moment spiele ich mit dem Gedanken, Tobias anzurufen, aber ich bringe es nicht fertig. Tränen laufen über meine Wangen. Und sie scheinen aus einem Teil in mir zu kommen, der bis vor ein paar Stunden so tief in mir verborgen war, dass ich dachte, er existiere gar nicht. So wie ein verschrumpelter Essensrest, den man erst beim Auszug unter einem Küchenschrank hervorkramt.

Ich will diese Gedanken nicht. Es hatte schließlich einen guten Grund, weswegen ich diesen verkümmerten Rest so gut verdrängt habe. Um mich abzulenken, versuche ich mich daran zu erinnern, ob ich Tabletten gegen Übelkeit eingepackt habe, weiß es aber nicht mehr. Also setze ich mich ganz langsam auf. In meinem Hals ist noch immer diese Säure. Meine nackten Fußsohlen spüren den sanften Teppichboden. Ich seufze und hieve mich vorsichtig hoch. Meine Knie fühlen sich an, als gehörten sie einer 97-jährigen Frau. Mein Zahnfleisch brennt und die widerwärtige Komposition aus der Hotel-Zahnpasta und meinem halbverdauten Tintenfisch scheint sich ganz tief in meinen Geschmacksknospen verschanzt zu haben. Abartig.

Abartig. Ich bleibe stehen. Das ist mir nie aufgefallen. Aber wie kann es sein, dass mir das nie aufgefallen ist? Wenn Julian und ich geheiratet hätten, wäre mein Name Anja Bartig. A. Bartig. Um Gottes Willen. Was für ein Glück, dass er damals in den Flieger gestiegen ist.

Ich wühle in meinem Koffer auf der Suche nach irgendeinem Mittel, irgendeiner Droge, nach etwas, das es schafft, dass dieses Gefühl aufhört. Ich will etwas Betäubendes. Etwas Einschläferndes. Etwas, das mein Gehirn einfach lahmlegt. Doch da ist nichts. Zumindest nichts, was ich brauchen könnte. Also schlüpfe ich in einen Bademantel und verlasse mein Zimmer. Und während ich den kargen Korridor entlang schleiche, wünschte ich, ich hätte mich einfach auch für einen Sommersalat ohne Öl entschieden.

Als sich die Aufzugtüren langsam schließen, denke ich plötzlich an Kathi. Dieser Trip nach Genf ist wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Ich habe seit Jahren nicht an sie gedacht. Aber ich weiß, warum ich gerade jetzt an sie denke. An dem Abend, als sie mit Christoph rumgemacht hat, habe ich Julian kennengelernt und mein Leben hat sich geändert. Und alles, was ich davor kannte, war unwichtig. Alles, was ich davor zu wissen glaubte, war Blödsinn. Und weil ich versuche, nicht an ihn zu denken, hat sich mein Gehirn eben etwas anderes einfallen lassen, das mich letzten Endes wieder dorthin bringt, wo ich nicht hin will. Und das Schockierende ist, dass die Erinnerung an diesen Abend so gestochen scharf ist, als wäre es gestern gewesen. Ich weiß alles. Bis ins kleinste Detail.

 

  1. Kapitel 6  

„Man sieht sich.“ Er dreht sich um und geht in Richtung Tür. In einem Film würde genau jetzt melancholische Musik einsetzen und er würde in Zeitlupe im Flur verschwinden. Dann würde die Kamera in meine Richtung schwenken. Die Fassungslosigkeit in meinen Augen würde alles aussagen und die Zuschauer würden ihn hassen.

In Wirklichkeit bemerkt mich niemand. Alle um mich herum trinken und lachen und feiern. Niemand interessiert sich für irgendjemanden außer sich selbst. Und alle scheinen auf der Suche nach etwas zu sein, das die bodenlose Leere füllt, von der die meisten nicht einmal wissen, dass sie da ist. Sie sind zu voll mit Alkohol und Scheiße.

In einer guten Serie oder einem Film würde genau jetzt meine blendend aussehende beste Freundin mit perfekt sitzender Frisur und strahlend weißen Zähnen auf mich zukommen und etwas Weises und Aufbauendes sagen. Sie würde mir sagen, dass sie mich liebt. Und sie würde meinen vollen Namen benutzen, während sie das tut. Sie würde ihre schlanken Arme um mich schlingen und sagen Ich liebe dich Anja Kraus. Aber das hier ist keine Serie. Es ist die grausame Realität. Es ist mein Leben.

Außerdem würde es höchst albern klingen, wenn jemand das tatsächlich sagen würde. Diesen Ich liebe dich Anja Kraus-Scheiß, meine ich. Im Ernst. Vielleicht ist es tatsächlich die Sprache. Oder mein Name. Na jedenfalls kotzt mich mein Leben an. Manchmal wäre es schön, wenn wenigstens ein paar Szenen meines traurigen Daseins etwas filmreifer wären. Zumindest ab und zu. Aber nichts da. Schnöder Durchschnitt. Im echten Leben verwischt die Wimperntusche und brennt in den Augen. Und meine beste Freundin liegt im Nebenzimmer auf dem Fußboden und knutscht mit irgend so einem Kerl aus der Parallelklasse, dessen Namen ich vergessen habe.

Wenn ich ehrlich zu mir selbst wäre – was man mit 17 grundsätzlich nicht ist – dann würde ich mir eingestehen, dass Christoph mich seit Wochen wie Dreck behandelt. Ach, was red’ ich? Seit Wochen. Blödsinn. Seit jeher. Ich war so sehr damit beschäftigt, glücklich zu spielen, dass ich das vorsichtshalber nicht bemerkt habe.

Ich will ehrlich sein. Zumindest so weit mir das möglich ist, ohne das letzte Bisschen meiner Selbstachtung zu verlieren. Manchmal, ganz selten hat mein böser Dämon tatsächlich sein hässliches Haupt gehoben und mir ins Ohr geflüstert, dass Christoph einen feuchten Scheißdreck auf mich gibt. Und ich gebe es ungern zu, aber er hatte Recht. Mein Dämon meine ich.

Ich beiße die Zähne zusammen, weil ich es nicht einsehe, wegen jemandem zu weinen, dem ich so offensichtlich egal bin und gehe in Richtung Garten. Ich steige über Caro und den Kerl aus der Parallelklasse, dessen Namen ich vergessen habe und quetsche mich zwischen Leuten hindurch, von denen ich mir sicher bin, dass ich sie noch nie gesehen habe, von denen die meisten vermutlich an meiner Schule sind.

Und da sitzt er. Dieselbe Zunge, die eben noch mit mir Schluss gemacht hat, steckt in diesem Augenblick in Kathis Hals. Und obwohl ich weiß, dass Christoph ein miserabler Küsser ist, trifft es mich, das zu sehen.

Kathi hat gesund aussehendes Haar, das glänzt. In ihrer Welt gibt es keine Schuppen und keinen fettigen Ansatz. Es gibt auch keine Hautunreinheiten oder Deos, die einen im Stich lassen. Das ist alles reserviert für meine Welt. Sie ist klein und zierlich und hat diesen püppchenhaften Gesichtsausdruck. Und diesen Blick. So als wäre hinter ihren Augen ein Vakuum. Oder ein kleines Walnuss-großes hirnähnliches Gebilde, das bei jeder Bewegung klappernd gegen die Innenseiten ihres Schädels knallt. Ihr Kopf ist eine von außen gut aussehende Rassel. Ihr Haar ist feinsäuberlich über die rechte Schulter drapiert. Es schmiegt sich wie ein langer Vorhang an ihren Körper. Am liebsten würde ich es ihr abschneiden.

Ich betrachte diesen Kuss, der mich irgendwie spontan an einen Mordversuch erinnert. Ihr Gesicht ist verkrampft, die Augen fest zusammengekniffen, ihr Mund zu einem stummen Schrei geformt. Und er wühlt mit seiner Zunge in ihrer Mundhöhle herum wie ein schleimiges Kriechtier. Ich spüre, dass er jeden Augenblick die Augen öffnen wird, und deswegen zwinge ich mich wegzusehen und starre stattdessen auf seine Schuhe.

Ziemlich plötzlich hören sie auf, sich zu küssen und Christoph steht auf. Ich lehne in der Tür und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr er mich gedemütigt hat. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, schiebt er sich an mir vorbei und verschwindet im Wohnzimmer.

Als Kathi mich sieht, schaut sie einen kurzen Moment schuldbewusst zu Boden. Es ist schon seltsam. Ich weiß, ich sollte auf Christoph sauer sein. Und das bin ich auch, aber Kathi könnte ich erwürgen. Vielleicht weil ich mir von einer Freundin etwas anderes erwarten würde. Ich kenne sie seit dem Kindergarten. Und vielleicht habe ich selektive Erinnerungen an diese Zeit, aber es kommt mir so vor, als hätte sie es schon damals einfacher gehabt. Das ist der Vakuum-Vorteil. Da helfen einem alle, weil sie denken, dass man alleine nicht überleben könnte.

Eine Weile schauen wir uns direkt in die Augen, dann wendet sie sich ab. Wenigstens diesen Kampf habe ich gewonnen, auch, wenn das zugegebenermaßen der unwichtigere war. Ich drehe mich um und schaue ins Wohnzimmer auf der Suche nach Caro, doch ich kann sie nirgends sehen. Mein Blick schweift weiter durchs Halbdunkel, bis er plötzlich an jemandem haften bleibt.

 

  1. Kapitel 7  

„Ich werde gleich nachsehen, Madame. Lassen Sie sich doch einstweilen in der Hotelbar einen Tee bringen und ich kümmere mich um die Tabletten.“

Ich versuche zu lächeln, doch es fühlt sich nicht an, wie ein Lächeln, sondern eher wie eine Grimasse. „Vielen Dank.“

„Das ist doch selbstverständlich, Madame.“

Debussys Clair de Lune empfängt mich wie ein alter Freund, als ich die Bar betrete. Ich schleiche zu einem der ausladenden, gestreiften Ohrensessel und setze mich. Dieses Stück ist wie warme Milch mit Honig, oder eine Nackenmassage. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Es blendet jeden Gedanken aus. Und vielleicht brauche ich gar nicht mehr. Vielleicht reichen diese sanften Klavierklänge.

„Madame?“ Ich öffne die Augen. „Kann ich Ihnen etwas bringen?“, flüstert ein Kellner mit wachen, freundlichen Augen.

„Ja, ich hätte gerne einen Kamillentee.“

„Fühlen Sie sich nicht gut? Soll ich einen Arzt bestellen?“

„Ich brauche keinen Arzt.“, sage ich lächelnd. Und dieses Lächeln gelingt mir. „Aber vielen Dank.“

„Der Kamillentee kommt sofort, Madame.“

Gerade, als ich die Augen wieder schließen will, entdecke ich ihn im Eingangsbereich. Die letzten Tintenfischreste rebellieren. Und auch Debussy kann daran nichts ändern.

„Anja?“

Ich fasse es nicht. Ist dieses Hotel nicht groß genug für uns beide? „Julian“, sage ich und versuche das eklige Kratzen in meinem Hals zu ignorieren. Er setzt sich neben mich auf einen der Sessel. Sein Gesicht ist fahl und grau, die Augenhöhlen dunkel hinterlegt. Seine Augen sind durchzogen von unzähligen winzigen Linien. Dieser Anblick erinnert mich an antikes, brüchiges Porzellan. Seine Lippen liegen spröde und farblos in seinem Gesicht. „Du hattest auch den Tintenfisch“, stelle ich fest.

„Bitte sag nicht dieses Wort.“ Während er das sagt, schließt er die Augen. Falten der Anstrengung legen sich auf seine Stirn. Und ich kann mir bildlich vorstellen, was ihm gerade durch den Kopf geht.

„Ihr Tee, Madame.“

Ich schaue in die wachen Augen des Kellners. Sie sind gütig und erinnern mich irgendwie an zu Hause. „Dankeschön.“

„Monsieur, möchten Sie vielleicht auch einen Kamillentee?“

Julian schluckt, dann nickt er. „Ein Kamillentee... Ja, bitte.“

„Ich habe mit dem Arzt gesprochen, Madame, er meint, diese Tabletten sollten helfen. Nehmen Sie gleich zwei und wenn es innerhalb einer Stunde nicht besser wird, weitere zwei.“ Er hält mir eine kleine Schachtel entgegen. „Es tut mir Leid, dass Sie so lange warten mussten, aber der Arzt war gerade bei einer Patientin.“

„Vielen Dank für Ihre Mühe“, sage ich. „Ich hoffe, ich muss Sie nicht noch einmal stören.“

„Ich bitte Sie, Madame. Wenn Sie noch etwas brauchen, egal was, kommen Sie zu mir.“

Ich schaue dem Poitier nach, dann öffne ich die Schachtel und drücke vier Tabletten aus der Verpackung. Zwei reiche ich Julian. „Hier.“ Seine Augen danken mir, bevor er es tut. Ich spüle die Tabletten mit einem großen Schluck Tee hinunter, dann reiche ich ihm meine Tasse. Einen Augenblick zögert er, dann nimmt er sie.

„Du hast mein Leben gerettet.“ Julian liegt mit geschlossenen Augen auf einer Chaiselongue und bewegt sich nicht. Ich sitze auf dem Sessel und frage mich, ob es richtig war, ihm das Leben zu retten. „Weißt du, woran mich das erinnert?“

„Nein, an was?“

„An Malta.“, sagt Julian und schaut mich an.

„Es wundert mich, dass du dich daran erinnerst“, antworte ich gleichgültig.

„Und wieso?“

„Vielleicht, weil du mich deiner Freundin, als eine alte Bekannte vorgestellt hast“, antworte ich und betrachte die glitzernde Oberfläche des Sees.

„Was hätte ich denn sagen sollen?“

„Keine Ahnung, die Wahrheit vielleicht?“

„So, wie du die Wahrheit gesagt hast?“

Ich schaue ihn an. Seine linke Augenbraue wandert in Richtung Haaransatz. „Wie meinst du das?“

„Lass mich nachdenken“, sagt er und setzt sich langsam auf. „Wenn ich mich recht erinnere, hast du gesagt, du wärst beim Essen mit einem alten Freund.“

„Ich habe gesagt mit einem Freund und nicht mit einem alten Freund.“

„Wir auch immer.“

„Außerdem dachte ich, ich tue dir damit einen Gefallen.“

„Einen Gefallen?“

„Ja, Julian, einen Gefallen.“

„Okay und warum?“

„Ich könnte mich irren, aber ich denke, Katja hätte sich vielleicht ein bisschen übergangen gefühlt, auf diese Weise zu erfahren, dass die alte Bekannte eigentlich deine Exfreundin ist.“

Er öffnet den Mund, dann schließt er ihn wieder. „Da du es so mit der Wahrheit hast, hast du ihm bestimmt später davon erzählt.“

„Während ich kotzend über der Kloschüssel hing, hatte ich leider keine Zeit, ihn anzurufen.“ Seine pechschwarzen Augen mustern mich mit diesem undurchdringlichen Blick. Sie lächeln, so als würden sie mich zum Tanzen auffordern. „Außerdem sind es zwölf Jahre.“, sage ich zusammenhangslos. Und eigentlich sage das nicht ich. Mein Dämon sagt es, weil er sich nicht zurückhalten kann, wenn er wütend ist.

„Was sind zwölf Jahre?“

„Wir haben uns seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen.“

„Acht oder zwölf. Das spielt doch keine Rolle.“ Sein Blick sticht mich in die Seite. „Oder spielt das eine Rolle?“

„Nein, im Grunde ist es egal.“ Ich starre aus dem Fenster. Die Sonne geht langsam auf und legt ihr warmes Licht wie eine riesige transparente Decke auf die Baumkronen. Die glatte Wasseroberfläche des Sees glitzert und schimmert in orange und rot.

„Wie hast du deinen Mann eigentlich kennengelernt?“

„Wollen wir wirklich darüber reden?“

„Warum nicht?“, fragt er verständnislos, „Was spricht dagegen?“

Was dagegen spricht? Na, vielleicht, dass du mir das Herz mit brachialer Gewalt aus der Brust gerissen hast. Vielleicht, weil ich über zwei Jahre gebraucht habe, um mich auch nur ansatzweise von dir zu erholen. Vielleicht, weil ich mir vorgenommen habe, dich für immer aus meinem Leben zu streichen. Vielleicht weil ein Teil in mir, dich immer noch hasst. All das denke ich nur. Und sagen höre ich mich, „Keine Ahnung, ich finde es irgendwie unangebracht.“

„Unangebracht?“ Julian beugt sich zu mir, während ich weiter stur auf den See starre. „Was daran ist bitte unangebracht? Außer du schämst dich für ihn...“

Ich drehe mich zu ihm und schaue ihn ungläubig an. „Wieso sollte ich mich für Tobias schämen?“ Eigentlich will ich etwas anders sagen. Ich will ihn fragen, was er sich einbildet. Ich will ihn fragen, für wen er sich hält. Doch ich tue es nicht. Ich denke meine Meinung und halte den Mund. Und genau das ist es, was ich an der früheren Anja nicht ausstehen kann. Die hat sich am Ende der Beziehung nicht mehr getraut, ihre Meinung zu sagen. Die hat sich vor Julians Reaktionen gefürchtet und sein Augenrollen gehasst. Und deswegen hat sie alles in sich reingefressen, nur um dann am Schluss zu hören, dass er die Anja von früher irgendwie lieber gemocht hat. Und das schlimmste war, ich habe diese Anja auch lieber gemocht.

„Na, wieso kannst du mir dann nicht einfach erzählen, wie ihr euch kennengelernt habt?“

„Weil wir uns nicht wirklich kennen. Du siehst zwar aus, wie jemand, den ich mal kannte, aber wenn man es genau nimmt, bist du ein Fremder. Und offen gestanden, weiß ich nicht, ob ich diesen neuen Julian mag.“

„Für mich sind das Ausreden... Ich glaube, ein Teil in dir schämt sich für ihn.“

„Denk doch, was du willst.“ Ich stehe langsam auf.

„Wo willst du hin?“

„Ich gehe ins Bett.“

„Und was genau meinst du eigentlich mit diesen neuen Julian?

Der Dämon ballt die Fäuste. „Keine Ahnung. Dieser gesamte Aufzug. Die geschleckten Haare, die sündhaft teure Uhr, der Maßanzug, die italienischen Lederschuhe.“ Ich mustere ihn abschätzig und schüttle den Kopf. „Vielleicht kommst du ja so bei vielen Frauen wunderbar an und wenn das so ist, dann freut mich das für dich, aber was mich betrifft, ich finde sowas lächerlich.“

„Es ist erschreckend, wie verbittert du bist“, Sein Lächeln ist getränkt von Arroganz. Es trieft abschätzig. „Die Ehe scheint dir nicht gutzutun.“

„Wenn ich es mir recht überlege, war es ein Fehler, die Einladung zum Essen anzunehmen. Ich habe mich selten schlechter unterhalten, ich werde für den Rest meines Lebens keinen Tintenfisch mehr essen können und ich weiß nicht, wie du es schaffst, dir einzureden, dass Katja eine Frau ist, mit der du es zehn Jahre aushalten würdest.“ Ich greife nach den Tabletten. „Gute Nacht, Julian.“

„Gute Nacht, Anja.“

 

  1. Kapitel 8  

Ich spüre sein Lächeln in den Knien. Es scheint meine Mundwinkel an unsichtbaren Fäden langsam nach oben zu ziehen. Das Licht im Flur legt sich sanft auf sein Gesicht. Es hat etwas dermaßen Verletzliches an sich, dass es mich berührt, es einfach nur anzusehen. Sanfte Linien, grazile Züge. Unergründliche Augen, tief und weit wie die Nacht. Sie sprechen mit mir und ich könnte ihnen ewig zuhören, ihn ewig ansehen. Sein Gesicht ist zeitlos schön und voller Gegensätze. Auf den ersten Blick schüchtern und unsicher, aber gleichzeitig ist da etwas in diesen Augen. Etwas Selbstsicheres, vielleicht sogar Abgründiges. Wie eine unausgesprochene Aufforderung. Sein kurzes dunkelbraunes Haar ist zerzaust. Scheinbar chaotisch und unwillkürlich. Ich frage mich, wie es sich anfühlt und bei diesem Gedanken kribbeln meine Fingerkuppen.

Es ist schon komisch. Manchmal ändert sich monatelang nichts. Jeder Tag ist wie der andere. Und dann ganz plötzlich ändert sich alles in einem Augenblick. Vor ein paar Stunden stand ich noch in der Küche und habe mich selbst bemitleidet. Wegen Christoph. Und jetzt? Jetzt ist es mir egal. Absolut gleichgültig. Und wenn Christoph Kathi in diesem Augenblick die Kleider vom Leib reißen und sie hier direkt vor meinen Augen auf diesem Tisch nehmen würde, wäre es mir auch egal. Denn es gibt ihn. Den namenslosen mit dem schönsten Lächeln, das ich je gesehen habe.

Die Musik geht aus, die Lichter an. Bis zu diesem Moment schien der Abend voller Möglichkeiten. Petras Eltern stehen fassungslos im Wohnzimmer und schauen sich um. Nach dieser Nacht werden ihre Eltern sie anders sehen. Sie haben unfreiwillig die dunkle, geheime Seite ihrer Tochter kennengelernt. Nach außen hin ist Petra ein Musterkind. Gute Noten, gute Freunde, außerschulische Aktivitäten. Von manchen dieser Aktivitäten wussten ihre Eltern eben nichts. Es muss ein Schock sein, die Mustertochter auf dem Fußboden mit einem Fremden vorzufinden. Sie hätten wirklich nicht zu einem unglücklicheren Zeitpunkt zu Hause ankommen können. Im Halbdunkel sah das alles eigentlich noch ganz harmlos aus, doch im grellen Licht erinnert diese Szene spontan an den Schulmädchen-Report. Petra auf dem Rücken, fremder Typ zwischen ihren Schenkeln. Hm. Das wird Ärger geben. Und dann fängt er an.

Als ihre Mutter lauthals zu schreien anfängt, packen alle hastig ihre Sachen zusammen und verlassen fluchtartig das Haus. Im Augenwinkel sehe ich Christoph und Kathi. Sie rückt ihren Rock zurecht. Ich werfe mir die Tasche über die Schulter und fliehe mit der Herde nach draußen.

Einen Moment später lehne ich am Gartenzaun und warte auf Caro. Menschentrauben lösen sich auf und verschwinden in alle Richtungen. Und da ist sie. Hand in Hand mit Kai. Und neben ihm steht er.

Wir gehen in Richtung Auto. Kai und Caro gehen voraus, Julian und ich hinterher. Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so nervös. Und in diesem Moment weiß ich, dass ich diesen Abend niemals vergessen werde.

Niemand spricht ein Wort. Da ist nur die Musik aus dem Radio und die sommerliche Morgenstimmung. Ich genieße den erfrischenden Wind. Mit geschlossenen Augen sauge ich den warmen Geruch des Sommers in mich auf. Ich schaue unauffällig zu Julian hinüber und dann ganz schnell wieder weg. Ich spüre die Wärme seines Arms an meinem. Unsere Haut trennen nur wenige Millimeter. Als wir abbiegen, strömt lauer Wind ins Auto und trägt seinen Duft zu mir. Das, was gerade in mir passiert, habe ich noch nie gespürt. Es ist, als hätte ich mich noch nie wirklich gespürt. So, als würde jede meiner Zellen tanzen. Meine Hände und Füße sind eiskalt und die unsichtbaren Fäden kontrollieren noch immer mein Gesicht. Mein Körper ist mir auf eine wunderbare Art fremd. Ich fühle mich, wie auf Droge. Und meine Droge sitzt direkt neben mir.

 

  1. Kapitel 9  

In meinem Zimmer ist es mucksmäuschenstill. Alles ist sauber und geordnet, ganz im Gegensatz zu meinem Kopf, in dem alles wirr und chaotisch aussieht. Wie konnte er das nur sagen? Ich bin nicht verbittert. Oder vielleicht bin ich es. Und wenn ich es bin, dann ist er daran nicht ganz unbeteiligt. Außerdem bin ich es nicht. Verbittert, meine ich. Vorsichtig vielleicht. Und das ist auch vernünftig. Ich kenne die alte Anja. Ich erinnere mich an die unsichtbaren Fäden. Und ich erinnere mich, wer sie in der Hand hatte. Dann konnte er es sich eben nicht vorstellen, so lange mit mir zusammen zu sein. Wen interessiert’s? Er wird eben irgendwann allein in einem modernen Stadthaus sterben. Umgeben von all den Dingen, die man nicht braucht. Von all den Uhren und Maßanzügen und Lederschuhen. In der Einfahrt wird ein teures Auto stehen. Er wird alles haben, aber sein Herz wird auf die Größe einer verschrumpelten Rosine verkümmert sein. Irgendwann wird ihm auffallen, dass Katja ihm nicht das Wasser reichen kann. Und dann wird er bemerken, dass er bis in sein Inneres voll ist mit Oberflächlichkeit.

Ich hätte ihn trotzdem nie als alten Bekannten vorgestellt. Okay. Er ist über mich hinweg. Das sollte er auch. Es wäre auch armselig, wenn er es nicht wäre. Wir haben beide weitergemacht und zwei völlig unterschiedliche Leben. Und auch das ist okay. Aber mich verbittert zu nennen ist nicht okay. Und zu behaupten, dass ich mich für Tobias schäme, ist eine bodenlose Frechheit. Eine alte Bekannte. Pff. Warum denke ich überhaupt darüber nach? Ich bin glücklich verheiratet. Ich bin Anja Plöger und ich bin glücklich verheiratet mit Tobias. Julian ist ein verblasster Schatten, mehr nicht. Soll er doch zehn Jahre mit seiner Katja zusammen sein. Mir doch egal. Ich bin nicht mehr die Anja von früher. Die unsichere, schüchterne Anja, die sich nicht traut zu sagen, was sie denkt. Die Anja, die Angst hat, von Julian verlassen oder ausgelacht oder ignoriert zu werden. Die Anja, die Sex mit Liebe verwechselt. Alles ist anders. Ich bin erfolgreich und selbstständig. Und auch ein Julian kann daran nichts ändern. Denn zum ersten Mal habe ich mit Julian zu tun und weiß wer ich bin, ohne, dass er die Fäden in der Hand hält.

Als ich die Augen öffne, ist es bereits hell. Die Sonne strahlt durch die perfekt geputzten Fenster und legt ein sanftes Lächeln auf mein Gesicht. Es fühlt sich wirklich gut an, wenn es einem gut geht. Der Tintenfisch ist Vergangenheit und mit ihm der gestrige Abend. In den hintersten Winkeln meines Gehirns liegt noch die Erinnerung an einen schönen Traum.

Eine halbe Stunde später verlasse ich beschwingt mein Zimmer. Ich fühle mich federleicht. Dieser Tag ist wie eine frische Frühlingsbrise nach einem langen, harten Winter. Die Frau die noch wenige Stunden zuvor diesen Korridor entlang geschlichen ist, scheint unendlich weit entfernt, fast so, als hätte es sie nie gegeben. Bei diesem Gedanken, steige ich lächelnd in den Aufzug und fahre ins Erdgeschoss.

Und sogar der Anblick von Julian und Katja perlt an meinem glücklichen Selbst ab. Vielleicht ist es nämlich in Wahrheit so, dass Katja ihm genau das geben kann, das ich ihm nie geben konnte. Vielleicht musste ich erst ihn lieben, um Tobias finden zu können. Den Mann, mit dem ich bis an mein Lebensende zusammen sein werde.

Ich setze mich an einen der freien Tische auf der Sonnenterrasse und genieße den fantastischen Blick auf den See. Die gewaltigen Berge im Hintergrund wirken fast unwirklich zwischen dem Blau des Wassers und dem des Himmels. Der große strahlendweiße Sonnenschirm taucht meinen Tisch in kühlen Schatten und in Kombination mit den grünen Palmwedeln, fühle ich mich wie in einer Rafaello Werbung. Gut, ich bin nicht umgeben von einer Schar blendend aussehender Freunde und ich habe auch keine blonde Katja-Mähne, aber abgesehen davon, stimmt das Bild.

Ich bestelle ein großes französisches Frühstück mit frischgepresstem Orangensaft und Café au Lait, dann greife ich in meine Tasche und ziehe ein Buch heraus. Bei dem Gedanken, ganze drei Stunden Zeit zu haben, breitet sich ein wohliges Gefühl in meinem Bauch aus und mein Dämon rollt sich zufrieden zusammen. Er ist friedlich.

 

  1. Kapitel 10  

„Dann bringen wir’s mal zu Ende, Frau Plöger.“ Er steht auf und legt seine Hand auf meine Schulter.

„Sehr gerne.“, antworte ich zurückhaltend, obwohl ich am liebsten vor Begeisterung laut schreien würde. Ich würde am liebsten meine Arme in die Höhe werfen und mir im Anschluss selbst auf die Schulter klopfen. Niemand hat diesen Kunden bisher geknackt. Ich höre noch meinen Chef, wie er sagt, mach dich aber nicht fertig, wenn’s nichts wird. An dem Typ hab ich mir vor zwei Jahren auch die Zähne ausgebissen. So fühlt sich also Genugtuung an. Ein fantastisches Gefühl. Ich muss zugeben, dass es auch andere Momente gibt. Manchmal bin ich bei der Arbeit geistig dermaßen unterfordert, dass ich Angst habe, mein Gehirn könnte aus mangelnder Aktivität auf Rosinengröße zusammenschrumpfen und bei einer falschen Bewegung aus meinem Ohr fallen. Aber manchmal, ganz selten, da gibt es diese Augenblicke. Die Augenblicke, die all das erträglich machen. Und das hier ist so einer. Die Genugtuung kittet gerade all die brüchigen Stellen meines Selbstbewusstseins.

„Wo muss ich unterschreiben?“

Ich reiche ihm meinen Mont Blanc Füller und deute auf eine der beiden Markierungen. „Einmal hier, und einmal auf der nächsten Seite.“

Er setzt den Füller an, dann schaut er mir noch einmal in die Augen. „Sie werden das Projekt doch leiten, oder?“

„Wenn Sie das möchten.“

„Wenn ich das hier unterschreibe, habe ich dann Ihre verbindliche Zusage, dass Sie sich um alles kümmern werden?“

„Selbstverständlich.“ Und dann tut er es. Er unterschreibt. Ich bin einfach die Größte.

Ich drehe die Tasse um und suche nach dem Preis, dann beäuge ich sie wieder kritisch von allen Seiten. Na, schön ist sie schon. Und sie würde gut zu den anderen passen. Ach, was soll’s. Wenn ich wirklich noch andere finde, die mir besser gefallen, dann kaufe ich die eben auch. Ich nehme zwei Tassen aus dem Regal und gehe zur Kasse.

Auf meinem Streifzug den See entlang, fällt mir ein kleines Café ins Auge. Es liegt direkt am Ufer. Ich krame mein Handy aus der Tasche, mache ein Foto und schicke es Tobias. Er liebt das Gebirge, vor allem schroffe Felsen und Klippen. Klettern war schon immer seine große Leidenschaft. Das hat mich ehrlich gesagt am Anfang ein bisschen gewundert, denn er ist nicht der abenteuerlichste Typ. Wenn man es genau nimmt, ist Tobias das Gegenteil eines Adrenalin-Junkies. Die Kontrolle zu verlieren, wäre für ihn das schlimmste.

Als ich mich setze vibriert mein Handy. Ich wünschte, ich wäre mit dir dort. Ich sitze in einem Meeting, das nicht enden will. Du fehlst mir. Ich liebe dich. Ich lege das Handy beiseite. Die vergangenen Wochen habe ich mich wie eine Besessene auf diese Präsentation vorbereitet und jetzt, wo ich sie hinter mich gebracht habe, bemerke ich erst, wie unbeschreiblich müde ich eigentlich bin. Meine Arme fühlen sich unnatürlich schwer an. Meine Augen brennen. Die vergangenen Nächte habe ich kaum geschlafen und die Nächte davor habe ich teilweise durchgearbeitet, um auf jede noch so unwahrscheinliche Frage eine plausible Antwort zu haben. Das Adrenalin hat mich davon abgehalten, mich zu bemerken. Die Müdigkeit steckt mir in den Gliedern, in jedem Gelenk. Ich denke gerade an mein gigantisch großes Bett, als mir jemand auf die Schulter tippt.

„Anja, hallo.“ Das kann doch nicht wahr sein. Da gehe ich extra nicht im Hotel Kaffee trinken und dann das. Eine Weile schauen wir uns nur an und es scheint so, als würde er darauf warten, dass ich ihn bitte, sich zu setzen. „Hast du schon bestellt?“ Gerade, als ich antworten will, geht er um den Tisch und setzt sich unaufgefordert zu mir. Und er bringt es auch noch fertig, zu lächeln, als er das tut. Er schaut mich an, als wäre nie etwas gewesen. Doch es war nicht nichts. Da war etwas. „Wo ist denn, wie hieß sie noch?“

„Katja.“ Er befeuchtet die Lippen und lächelt.

„Ach ja, richtig.“

„Sie ist heute Mittag zurück geflogen.“

„Das tut mir Leid“, sage ich und winke dem Kellner. „Die Tatsache, dass Katja nicht mehr da ist, bedeutet aber nicht, dass wir plötzlich Freunde sind.“ Der Kellner kommt auf mich zu und nickt mir freundlich entgegen. „Einen Espresso Macchiato und ein Glas Leitungswasser bitte.“

„Machen Sie zwei draus.“

„Bringe ich Ihnen sofort.“

„Du hast ihn über die Arbeit kennengelernt, richtig?“

Eine Weile mustere ich ihn, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine überschlagen. „Wie kommst du darauf?“

„Du Projekt-Managerin in der Immobilienentwicklung und er Architekt. Ich bitte dich, das war nicht weiter schwer zu kombinieren.“ Der Kellner stellt zwei winzige Tassen und zwei Gläser vor uns ab. Die Rechnung klemmt er unter eine der Untertassen, dann verschwindet er. „Ich wette, dann habt ihr so ein supermodernes Architektenhaus.“

„Und weiter?“, frage ich kopfschüttelnd.

„Also stimmt es.“

„Ja, tut es.“ Ich rühre den Espresso um. „Sonst noch irgendwelche Fragen?“

„Nur eine.“

Ich seufze. „Und die wäre?“

„Ihr seid zehn Jahre verheiratet.“

„Erstens sind es noch nicht zehn“, stelle ich nüchtern fest. „Und zweitens war das keine Frage.“

„Nein, das stimmt. Die Frage, die mich eigentlich beschäftigt, ist, warum ihr keine Kinder habt? Ich meine, ihr seid verheiratet, habt ein Haus, seid beide finanziell abgesichert... wieso dann keine Kinder?“

„Was soll die Frage?“ Und noch während ich die Frage stelle, ärgert es mich, dass man die Anspannung in meiner Stimme deutlich hört.

„Es hat mich einfach gewundert, das ist alles.“

Von wegen, das ist alles. Das glaubt doch kein Mensch. Warum haben wir keine Kinder? Ich meine, er hat recht, wir sind seit zehn zusammen. Neun davon verheiratet. Man hat nach zehn Jahren Kinder. Außer, es geht nicht, oder einer oder beide wollen eben keine. Ist es das bei uns? Ich glaube nicht. Wir haben über Kinder gesprochen. Mehrfach. Und ich denke, ich würde mich daran erinnern, wenn er gesagt hätte, Du, Kinder kommen für mich nicht in Frage. Oder Ich hasse Kinder. Also, warum haben wir dann keine? Vielleicht, weil wir so wenig Zeit miteinander haben. Vielleicht weil entweder er oder ich oder wir beide müde sind. Vielleicht auch, weil ich mich vor vier Jahren für meine Karriere entschieden habe. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Fakt ist, wir haben keine. „Wir haben eben keine.“, antworte ich knapp, weil alles andere wie eine Rechtfertigung klingen würde. „Und was ist mit dir?“, frage ich und nehme einen Schluck Espresso. „Wirst du sie heiraten?“

„Wen? Katja?“

„Hast du denn mehr als eine Freundin?“

„Wir sind noch nicht mal vier Monate zusammen.“

„Das zwischen euch beiden schien so ernst.“

„Ich weiß nicht, ob ich der Typ für die Ehe bin.“

„Wenn du so bist, wie du einmal warst, dann wohl eher nicht.“

„Inwiefern?“

„Na ja, du hattest die Wahl zwischen mir und einem Praktikum und du hast dich für das Praktikum entschieden.“ Ich trinke den Rest in einem Sitz aus. „Das ist vielleicht nicht die beste Einstellung für eine Ehe. Aber, was weiß ich schon? Ich bin nur eine alte Bekannte. Und ich bin nicht Katja.“

„Nein, das bist du nicht.“

Arschloch. „Ich denke, ihr beide könntet es echt schaffen.“

„Ehrlich? Und was macht dich da so sicher?“

„Manche Männer brauchen einfach eine Frau, die ihnen intellektuell abgrundtief unterlegen ist und ich glaube, da hast du mit Katja wirklich einen absoluten Glücksgriff gelandet.“ Ich lächle. „Außerdem passt ihr optisch gut zusammen. Ich meine, ihre Frisur passt perfekt zu deinem Anzug.“

Sein Mund bleibt ernst, ohne Regung, doch irgendetwas, ganz tief in seinen unergründlichen Augen lächelt. „Es ist schon komisch“, sagt er nach einer Weile.

„Was ist komisch?“

„Wie unterschiedlich man Dinge sieht.“

„Du findest nicht, dass ihre Frisur zu deinem Anzug passt?“

„Doch, doch, das tut sie, aber das meine ich nicht.“ Er nimmt einen Schluck Espresso, dann winkt er dem Kellner. „Willst du auch noch einen?“ Und ich weiß nicht warum, aber ich nicke. „Nochmal zwei bitte.“

„Was meinst du dann?“, frage ich, als der Keller wieder weg ist.

„Ich habe damals gar nicht gewusst, dass ich mich zwischen dir und dem Praktikum entscheide.“

„Ja, weil du das nicht sehen wolltest.“

„Siehst du, genau das meine ich. Ich habe es nämlich irgendwie so in Erinnerung, dass du mich zum Flughafen gebracht hast und ein paar Tage später lag dann ein Brief in meinem Briefkasten, in dem du mich verlässt.“ Ich schaue auf den See. „Ich könnte mich täuschen, aber wenn man es genau nimmt, habe ich mich damals nicht gegen dich entschieden, sondern du dich gegen mich.“

„Was spielt das alles noch für eine Rolle?“, frage ich nüchtern. „Du gegen mich, ich gegen dich... Wer sich gegen wen entschieden hat, ist doch im Endeffekt vollkommen egal. Fakt ist, wir sind nicht zusammen geblieben. Wir haben unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Und wir sind nur da, wo wir jetzt sind, weil wir uns damals so entscheiden haben.“

„Ja, das stimmt.“, antwortet er und lächelt sein Lächeln. „Wir sind beide hier.“

 

  1. Kapitel 11  

Wir sitzen in Caros Küche. Es dämmert bereits. Caro und Kai unterhalten sich angeregt. Und ich habe keine Ahnung worüber. Julian und ich starren uns an, nur um dann wenige Augenblicke später verlegen auf die Tischplatte zu schauen. Ich versuche natürlich zu wirken, gelassen und ruhig, doch ich schaffe es nicht. Die Wahrheit ist, ich bin gerade das Gegenteil von gelassen. Die verhasste Stiefschwester von gelassen. Ich betrachte seine Lippen und ich kann nicht wegsehen. Sie sind wie eine neue Welt, die greifbar nah ist, aber trotzdem unerreichbar scheint. Jedes Mal, wenn ich schlucke, klingt das angestrengt und schrecklich laut. Ich versuche normal zu atmen, aber es fühlt sich an, als stünde jemand auf meinem Brustkorb. Und dann lächelt er sein Lächeln und es ist, als würden seine schwarzen Augen gerade zaghaft die Hände ausstrecken und mich anfassen.

„Wir sollten dann mal gehen.“, sagt Kai und schaut zu Julian, der zurückhaltend nickt. Und wie auf Befehl stehen beide auf. „Das war ein schöner Abend.“ Kai lächelt, Caro strahlt. „Ich rufe dich später an.“

Wir folgen ihnen in Richtung Tür. Sein Duft scheint drei Meter hinter ihm herzugehen und es auf meine Nase abgesehen zu haben.

Plötzlich bleibt er stehen und dreht sich um. „Gibst du mir deine Nummer?“ Seine Stimme ist dunkel und weich und unendlich schüchtern.

Ich nicke und gehe in die Küche zurück. Dort schreibe ich mit zitternden Fingern meinen Namen und meine Festnetznummer auf, weil mir meine Handynummer nicht einfällt. Ich gehe in den Flur zurück und reiche ihm den Zettel. Einen kleinen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, mir auch seine Nummer geben zu lassen. Nur für den Fall, dass er nicht anruft, meine ich. Doch ich sage nichts. Er kommt langsam auf mich zu, legt seine Hände auf meine Schultern und gibt mir zwei Küsschen, auf jede Wange eines. Als sich unsere Gesichter berühren, läuft es mir eiskalt über den Rücken.

Caro und ich liegen nebeneinander im Bett. Die Sonne ist längst aufgegangen und die Vögel wetteifern um das lauteste Zwitschern. Normalerweise würde mich das nerven. Aber heute ist nicht normalerweise. In meinem Brustkorb tobt immer noch das Eichhörnchen. Und es scheint nicht müde zu werden. Und obwohl Julian schon lange weg ist, die unsichtbaren Fäden hat er bei mir gelassen. Also liege ich einfach da und starre ich grinsend an die Decke.

 

  1. Kapitel 12  

„Aber du weißt doch bereits, dass Tobias Architekt ist.“

„Und weiter?“

„Was denn noch?“, frage ich verständnislos.

„Na, wie habt ihr euch kennengelernt?“ Er nimmt einen Schluck Espresso. „Ich frage das jetzt als alter Julian.“ Seine Augen grinsen schamlos.

Ich seufze. „Ich habe mit den Architekten nur dann etwas zu tun, wenn es an die tatsächliche Realisierung geht, das heißt, wenn sie den Pitch gewinnen. Also kam Tobias vorbei, um uns seine Modelle vorzustellen.“

„Er hat dir seine Modelle gezeigt?“, fragt Julian grinsend.

„Willst du nun wissen, wie wir uns kennengelernt haben, oder nicht?“

„Doch will ich“, antwortet er ernst. „Ich bin still. Erzähl’ schon.“

Ich schließe die Augen und denke an den Moment, in dem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Ich sehe, wie er den langen Korridor entlang geht. Ich erinnere mich an sein Lächeln und seine sanfte Art und diesen verlorenen Gesichtsausdruck. „Wir haben seine Arbeiten besprochen und ich habe mich in seiner Gegenwart auf Anhieb Wohl gefühlt. Mit ihm war es einfach angenehm, irgendwie geborgen. Ach, keine Ahnung. Wir haben uns jedenfalls gleich gemocht.“

„War es wie bei uns?“

„Was meinst du?“, frage ich, obwohl ich genau weiß, was er meint.

„Na, wie bei uns eben.“ Seine Augen lächeln. „So, als hätte man sein Leben bis zu diesem Augenblick in einer Art Dämmerzustand verbracht. Alles davor war eine Art Wachkoma und dann ganz plötzlich ist man wirklich wach. Richtig wach.“ Er schaut mich an. „Keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll. Wie bei uns eben.“

„Nein, so war es nicht.“

„Hm.“

„Spar dir dein blödes hm.“, sage ich nüchtern. „Nicht jede Liebe fängt gleich an. Oder hat deine nächste Beziehung so angefangen?“ Und während ich das frage, hoffe ich, dass sie nicht so angefangen hat.

„Nein, hat sie nicht.“

„Na, siehst du.“

„Ja, aber Larissa und ich sind auch schon eine ganze Weile nicht mehr zusammen.“

„Wir auch nicht.“ Ich trinke einen großen Schluck Wasser.

„Das ist ein guter Punkt.“ Einen Augenblick schaut er mich nur an mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht. Es ist, als würden seine Augen eine andere Sprache sprechen. Russisch vielleicht. „Raucht Tobias?“

„Nein, tut er nicht.“

„Dann hast du vermutlich seinetwegen damit aufgehört.“

„Das hatte nichts mit ihm zu tun“, lüge ich. „Ich bin ja nicht Tobias Sklavin.“

„Da bin ich erleichtert. Und wann wusstest du, dass er der Richtige für dich ist?“

Ich ignoriere den sarkastischen Unterton in seiner Stimme, was mich viel Kraft kostet. „Ich glaube, es war, als ich nicht mehr an dich gedacht habe. Ich wollte ihn, weil er so ganz anders war als du.“

Julian schaut mich eine Weile an. Ich versuche in seinem Blick zu lesen, doch ich habe keine Ahnung, was er gerade denkt. Er spricht wieder russisch. „Ich habe vergessen, wie entwaffnend ehrlich du sein kannst.“

„Ich dachte, wenn er es schafft, die Leere zu füllen, die du hinterlassen hast, dann muss das mit ihm und mir etwas Besonderes sein. Und in der Nacht, als mir das klar wurde, sind wir zusammengekommen. Ein Jahr später haben wir geheiratet.“

„Ihr hattet es aber eilig.“

„Warum warten, wenn etwas funktioniert?“, frage ich und nehme noch einen Schluck.

„Tut es das?“, fragt er und schaut mich eindringlich an.

„Was?“

„Na, funktioniert es?“

„Das habe ich doch eben gesagt.“

„Und es gab nie einen anderen?“

„Nein.“

„In zehn Jahren nicht einen einzigen?“, fragt er ungläubig.

„Welchen Teil von nein hast du nicht verstanden?“

„Bewundernswert.“

„Hast du mich damals betrogen?“, frage ich und hoffe, dass es beiläufig klingt.

„Denkst du das?“

„Na, es scheint dir sehr abwegig vorzukommen, jemandem zehn Jahre lang treu zu sein, vielleicht fandest du es ja auch in den fünf Jahren mit mir abwegig.“

„Ich habe nie gesagt, dass ich es abwegig finde, sich zehn Jahre treu zu sein.“, sagt er und schaut mir direkt in die Augen.

„Sondern?“

„Ich finde es abwegig, dass du einer reinen Vernunftsentscheidung zehn Jahre lang treu bist.“

„Tobias ist keine reine Vernunftsentscheidung.“, sage ich abwehrend.

„Okay, das war möglicherweise zu hart, vielleicht ist er keine reine Vernunftsentscheidung.“

Ich weiß, dass es keinen Sinn macht, weiter darüber zu reden, deswegen schaue ich auf die Uhr. „Ich gehe dann mal ins Hotel zurück“, sage ich und ziehe meinen Geldbeutel aus der Tasche. „Ich bekomme langsam Hunger und außerdem ist Morgen ein langer Tag.“

„Hör zu“ Er rutscht auf den Nachbarstuhl und legt seine Hand auf meine Schulter. Und in diesem Augenblick überschreitet er einfach die durchsichtige Grenze zwischen seinem und meinem Tischabschnitt. „Ich hätte das nicht sagen sollen, das ging zu weit.“

„Ja, das stimmt“, antworte ich betont nüchtern. „Das ändert nichts daran, dass ich jetzt gehen will.“

„Dann lass uns gehen.“, antwortet er und steht auf. Er klemmt 15 Euro zur Rechnung unter der Untertasse. „Ich übernehme das.“

„Das kann ich nicht annehmen.“

„Doch das kannst du.“ Er lächelt und schiebt mich in Richtung Promenade. „Siehst du, das war ganz einfach.“

„Danke.“

„Keine Ursache.“

Der Aufzug bleibt stehen und Julian steigt aus. Bevor die Türen Zeit haben, zuzugehen, dreht er sich noch einmal um und hält die Hand vor die Lichtschranke. „In einer Stunde im Hotel-Restaurant?“

„Ich weiß nicht. Lieber nicht.“

„Also, ich werde in einer Stunde unten sein und ich würde gerne mit dir essen.“ Dann nimmt er seine Hand weg und die Türen schließen sich.

 

  1. Kapitel 13  

Ich betrachte Tobias Gesicht. Er liegt neben mir. Sein hellbraunes Haar ist verwuschelt und sein Mund leicht geöffnet. Er sieht so aus, als hätte er in seinem Leben noch nie Sorgen gehabt. So als wäre ihm noch nie etwas Schlechtes passiert. Und in diesem Augenblick erinnert er mich an den Tobias von vor zehn Jahren.

Ich weiß, warum wir keine Kinder haben. Weil wir seit einem Jahr nur zwei Mal Sex hatten. Ich habe die letzten Monate nur mit Julian geschlafen. Andauernd. Aber warum nicht davor? Ich meine, wir hätten neun Jahre Zeit gehabt. War es die Karriere? War es Egoismus? Ich stehe auf und gehe ins Bad. Aber was, wenn wir Kinder hätten? Die Situation wäre noch viel schwieriger, als sie es ohnehin schon ist. Wenn ich ehrlich bin, ist es eine Erleichterung, dass wir keine haben. Andererseits wäre ich vielleicht gar nicht in dieser Situation, wenn wir welche hätten. Ich meine, vielleicht wäre ich beruflich kürzer getreten und hätte dementsprechend auch nicht nach Genf fliegen müssen. Ich wäre hier gewesen. Bei meiner Familie. Wir hätten zu Abend gegessen und über unseren Tag geredet und ich hätte Julian nicht getroffen. Ich hätte keinen verdorbenen Tintenfisch gegessen und hätte Julian folglich auch nicht in der Bar getroffen. Wir hätten nicht gemeinsam zu Abend gegessen. Andererseits hätten wir uns dann nie ausgesprochen. Ich hätte nie seine Sicht der Dinge erfahren. Aber das war nicht das Thema. Hätten Tobias und ich Kinder, hätte ich Julian vermutlich nie wieder gesehen. Das ist der springende Punkt.

Wobei. Dann hätte ich ihn vielleicht irgendwann irgendwo anders getroffen. In der Stadt. Im Supermarkt. Im Kino. Was weiß ich.

Die Wahrheit ist, dass ich keine Kinder wollte. Zumindest wollte ich nicht unbedingt welche, sonst hätten wir welche. Es liegt an mir. Es war meine Entscheidung, auch wenn die nicht bewusst gefallen ist. Es lag bestimmt nicht an Tobias. Er wollte Kinder. Vermutlich würde er auch jetzt noch welche wollen. Er hat einfach irgendwann aufgehört darüber zu reden.

Ich schließe die Augen und denke an Julian. Ich glaube, das wirklich erschreckende ist, dass die Affäre mit Julian funktioniert. Es geht schon lange nicht mehr nur um Sex. Wir reden und wir lachen. Wir können ernst sein und albern. Wir haben eine Beziehung. Eine Beziehung neben meiner Ehe.

Und ab und zu beschleicht mich die Angst, dass Julian neben mir noch andere Frauen hat. Sollte ich diese Angst haben? Wenn es nur eine Affäre ist, warum ist mir das dann wichtig? Was ist, wenn es nicht nur eine Affäre ist? Was ist, wenn es mehr ist?

Ich kann Tobias nicht verlassen. Ich kann es einfach nicht. Und ein Teil in mir will es auch nicht, auch, wenn ich zugeben muss, dass dieser Teil immer kleiner und weniger vehement wird. Doch er ist noch da. Andererseits wird mir bei dem Gedanken schlecht, dass Julian noch andere Bettgeschichten hat. Aber ich habe kein recht, etwas zu sagen. Er hat mich nie gebeten, nicht mehr mit Tobias zu schlafen. Und er weiß nicht, dass Tobias und ich seit Genf nur zwei Mal Sex hatten. Zwei Mal. In einem Jahr. Das ist so abscheulich.

Ich wünschte einfach, eines dieser beiden Gefühle würde eindeutig überwiegen. Ich wünschte, ich wüsste, was richtig ist. Wenn man es genau nimmt, habe ich Tobias ein lebenslanges Versprechen gegeben. Aber wie kann man jemandem so ein Versprechen überhaupt geben? Ich weiß nicht einmal, was ich kommende Woche mache. Ich habe keine Ahnung, was ich heute zu Mittag essen werde. Und dann renne ich los und verspreche jemandem, ihn bis an mein Lebensende zu lieben? Ich kann nicht ganz bei Trost gewesen sein. Wieso heiraten Menschen überhaupt?

Ich stehe unter der Dusche und genieße das kühle Wasser auf meiner Haut. Und während ich spüre, dass ich langsam wach werde, scheint die Lösung plötzlich da zu sein. Tobias hat keine Chance gegen Julian. Und zwar, weil ich ihm keine gebe. Wir schlafen nicht miteinander, weil ich nur noch mit Julian schlafe. Wir kochen nicht miteinander, weil ich vorgebe auswärts zu essen und stattdessen Julian treffe. Wir lachen nicht mehr, weil ich so zerfressen bin von Schuldgefühlen. Vielleicht sollte ich einfach mit Tobias schlafen. Vielleicht sollte ich ihm einfach zeigen, was ich will. Vielleicht würde ich ihn dann wieder anders sehen. Begehrenswerter.

Ich steige aus der Dusche und trockne mich oberflächlich ab, dann gehe ich zurück ins Schlafzimmer. Die Sonne scheint durch den Spalt zwischen den Vorhängen und malt Muster an die Wände. Ich schiebe die Decke zur Seite und lege mich ganz dicht neben Tobias. Ich genieße die Wärme seines Körpers auf meiner Haut. Als er die Augen öffnet, scheint er irritiert. So als hätte er einen wundervollen Traum gehabt, der sich auf einmal als die Realität entpuppt.

Völlig außer Atem liegen wir nebeneinander. Tobias Augen sind geschlossen, sein Mund ist zu einem breiten Grinsen geformt.

„Mein Gott, das war… das war...“ Er dreht sich zu mir und strahlt. „Das war fantastisch.“ Ich zittere am ganzen Körper. Und auf eine unerklärliche Weise fühle ich mich in seiner Gegenwart so lebendig wie lange nicht mehr. So als wäre ich zum ersten Mal seit Langem wirklich in meinem Leben. In dem Leben, das ich neun Jahre lang geführt habe. Und ich kann nicht anders, als ebenfalls blöd zu grinsen. „So habe ich dich noch nie erlebt.“

„Ich dich auch nicht.“, flüstere ich und küsse ihn auf die Stirn.

„Wieso hast du das vorher nie gemacht?“

Das ist eine wirklich gute Frage. Warum habe ich das nie? Vermutlich, weil es so einfacher war. Und weil ich das vergangene Jahr jemanden hatte, der keine Anweisungen gebraucht hat. „Ich weiß es nicht“, sage ich nach einer Weile. „Vielleicht, weil ich wollte, dass du weißt, was ich will, ohne dass ich etwas sagen muss.“

„Ich war vermutlich nicht kreativ genug und vielleicht auch nicht einfühlsam genug.“

„Nein, das hat nichts mit dir zu tun, es lag an mir, ich hätte ja...“

„Lass uns jetzt nicht darüber reden“, unterbricht er mich, „lass es uns lieber gleich noch mal tun.“

 

  1. Kapitel 14  

Es ist nur ein Abendessen. Ein völlig harmloses, unschuldiges Abendessen. Nichts weiter. Und warum sollte ich alleine essen. Ist doch albern. Wir sind zwei erwachsene Menschen, die sich von früher kennen und gemeinsam zu Abend essen. Da ist doch nichts dabei. Ich meine, das passiert doch andauernd. Gut, wir haben eine gemeinsame Vergangenheit, aber die ist inzwischen wirklich lange her. Fast schon verjährt. Das zählt eigentlich nicht. Ich meine, wir waren ja fast noch Kinder. Er hebt die Hand und winkt mir zu. Und wieder lächelt er dieses Lächeln. Das Lächeln, das meinen Dämon aus dem Schlaf reißt.

„Anja, hallo.“ Ich weiche seinem Blick aus und setze mich. „Schön, dass du gekommen bist.“

„Es wäre ja auch irgendwie albern, wenn ich mich alleine an einen Tisch setze und du drei Tische weiter an einem anderen zu Abend isst.“

„Es ist ja auch nur ein Essen.“ Er greift nach seinem Glas. „Ich glaube, heute nehme ich ein Nudelgericht. Dem Fisch traue ich noch nicht ganz über den Weg. Was meinst du?“

„Ein Nudelgericht klingt gut.“

Wenig später bestellen wir beide die hausgemachten Bandnudeln in getrüffelter Sahnesauce und eine große Flasche Mineralwasser.

„Und du willst sicher keinen Wein?“

Bloß nicht. Das fehlte noch. „Besser nicht. Nach dem gestrigen Abend, bin ich da lieber vorsichtig“, lüge ich. „Ich bleibe bei Wasser.“

„Ist sicher besser.“

Und während Julian mir von seinem Plan für den kommenden Tag erzählt, steigt eine seltsame Mischung aus Nervosität und Fluchtinstinkt in mir hoch. Seine Körpersprache, sein Parfum und dieses Lächeln in seinen Augen springen emsig in meiner Magengrube auf und ab wie auf einer Hüpfburg. Ich kann nicht fassen, dass er diesen Duft trägt. Und ich könnte schwören, dass es gestern noch ein anderer war. Genau wie damals schlängelt er sich genüsslich in meine Nase, direkt in mein Stammhirn. Ich sollte nicht hier sein. Wie kann ich mit ihm zu Abend essen? Was würde Tobias davon halten? Ja, was würde ich denn davon halten, wenn Tobias mit Claudia essen würde? Ich stelle sie mir gemeinsam vor. Ich sehe Kerzenlicht, romantische Musik, eine langstielige rote Rose in einer schmalen Vase. Und ich hasse diese Vorstellung.

Gerade, als ich mit dem Gedanken spiele, aufzustehen und mich höflich zu entschuldigen, kommt der Kellner und bringt das Essen.

„Auf dass es frisch ist...“, sagt Julian und hebt grinsend sein Wasserglas. Wie kann er nur so grinsen? Ich lächle verhalten und hebe auch meines. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Wieso habe ich mir nicht einfach etwas in mein Zimmer bringen lassen?

Nachdem ich einen Schluck getrunken habe, puste ich die Kerze aus und greife nach meiner Gabel. „Guten Appetit.“, sage ich ohne aufzuschauen und fange an zu essen. Je schneller ich fertig bin, desto schneller kann ich gehen.

„Guten.“ Und auch, wenn ich sein Gesicht nicht sehe, höre ich in seiner Stimme, dass er innerlich darüber lacht, dass ich die Kerze ausgeblasen habe. Das Problem ist, dass Julian genau weiß, weswegen. Wir sind eine ältere, und ich würde behaupten, vielleicht etwas weisere Version von uns mit siebzehn oder achtzehn. Damals gingen wir zur Schule, jetzt gehen wir arbeiten. Sonst hat sich nichts geändert. Außer, dass ich verheiratet bin. Das hatte ich vergessen.

„Ich dachte, du wolltest Journalismus studieren.“

„Ja, das wollte ich, aber mein Durchschnitt, war nicht gut genug.“

„Das ist doch echt ein beschissenes System.“ Er sticht in die letzte Bandnudel. „Ich meine, da haben junge Leute Interessen und dann hält man sie wegen irgendeinem Notendurchschnitt, der sich überwiegend aus Fächern zusammensetzt, die man sich nicht aussuchen konnte und die nichts mit dem zu tun haben, was man studieren will, davon ab, das zu tun, was sie wollen. Ist doch idiotisch.“

Das mochte ich immer an Julian. Diese Art zu diskutieren. Er konnte sich schon immer in Themen hineinsteigern. „Wie auch immer, damals hatte ich auch das Gefühl, dass es nicht verkehrt ist, etwas Handfestes zu studieren.“

„Im Gegensatz zu einer weichen Wissenschaft?“ Er tupft sich mit einer weißen Stoffserviette über die Lippen.

„So ungefähr, ja.“

„Ich hätte das damals nicht sagen sollen.“

„Na ja, wenn man es genau nimmt, hattest du ja recht.“

„Wenn du sagst, du hattest damals das Gefühl, klingt das irgendwie so, als würdest du es jetzt bereuen.“

„Bereuen ist nicht das richtige Wort“, antworte ich und schenke mir etwas Wasser nach. Ich schaue zu Julians Glas hinüber, doch es ist noch voll. „Ich würde mich vielleicht heute anders entscheiden.“

„Dann tu es doch. Entscheide dich anders.“

„Wie bitte?“, frage ich perplex.

„Menschen tun es andauernd. Sie ändern ihr Leben, sie schulen um.“

„Ach, und wie viele kennst du, die das tatsächlich gemacht haben?“ Ich schiebe den Teller an den Tischrand. „Und ich meine nicht Leute, von denen du gehört hast, dass sie jemanden kennen, der das gemacht hat. Ich meine Leute, die du tatsächlich kennst.“

„Ich zum Beispiel?“

„Was? Wann?“

„Ich habe das Praktikum nach knapp drei Monaten geschmissen und das Jura-Studium kurz darauf abgebrochen.“ Er lächelt mich an. Und ich weiß, dass er meinen erstarrten Gesichtsausdruck genießt.

Ich kann es nicht fassen. Und dann ist da plötzlich zum ersten Mal seit Jahren wieder die Frage, was gewesen wäre, wenn er damals nicht in diesen Flieger gestiegen wäre. Was, wenn er sich gleich für mich entscheiden hätte? Oder wenn ich es nicht beendet hätte? Er wäre zurückgekommen. Und vielleicht wären wir wirklich zusammen geblieben. „Ich habe immer gesagt, dass Jura nicht zu dir passt.“, überspiele ich meine Gedanken.

„Ja, ich weiß.“ Julian winkt den Kellner zu uns und bestellt noch eine Flasche Wasser. „Na, jedenfalls weiß ich aus erster Hand, dass man sich immer umentscheiden kann.“

„Ja, aber ich kann doch jetzt nicht noch mal studieren.“

„Und wieso nicht?“

„Du warst viel jünger.“

„Das sind alles Ausreden. Wenn man etwas wirklich will, dann macht man es einfach.“

„Das war ein schöner Abend.“, sage ich und schaue auf die Uhr. Es ist halb zehn.

„Du gehst schon ins Bett?“

„Nein, ich muss telefonieren.“

„Mit Tobias.“

„So ist es“, sage ich und greife nach meiner Handtasche.

„Gut, ich warte“, sagt Julian und lächelt sein Lächeln.

„Wie, du wartest?“, frage ich irritiert.

„Na, ich warte solange hier.“

Im Augenwinkel bemerke ich eine junge Frau, die an unserem Tisch vorbeigeht. Ihre Augen tasten ihn wie zwei Hände ab. Dann treffen sich unsere Blicke und sie scheint sich zu fragen, was ein Mann wie Julian von einer Frau wie mir will. „Du brauchst nicht zu waren“, antworte ich schließlich. „Ich rufe ihn von meinem Zimmer aus an.“

„Du möchtest dich verabschieden. Verstehe.“ Er steht auf.

„Nein, also, doch, im Grunde ja.“

„Wenn es das ist, was du willst.“

„Was willst du damit sagen?“, frage ich scharf. „Was denkst du denn, dass ich will?“

„Keine Ahnung.“, antwortet er ruhig. „Ich weiß nur, dass ich gerne hätte, dass du nach deinem Telefonat wiederkommst.“

„Ja, aber wofür?“

„Zum Reden.“ Er setzt sich wieder und nimmt einen Schluck Wasser. „Ich hatte den Eindruck, wir haben uns ganz gut unterhalten.“

„Ja, das haben wir auch, aber...“

„Was denkst du denn, was ich vorhabe, Anja?“ Seine Stimme klingt warm und weich, seine schwarzen Augen funkeln. „Denkst du, ich versuche, dich zu verführen?“ Verlegen zupfe ich an der Schnalle meiner Handtasche herum. Vielleicht dachte ich das. Vielleicht war da tatsächlich irgendwo ganz tief in mir vergraben der winzige Funke eines Wunsches, noch immer von ihm begehrt zu werden. Aber vielleicht ist alles ganz anders. Vielleicht wollte er sich einfach lieber mit mir unterhalten, als alleine in seinem Hotelzimmer zu sitzen und idiotische Fernsehsendungen anzusehen. Einfach als Zeitvertreib in einer Stadt, in der man niemanden kennt. Und plötzlich komme ich mir unendlich blöd vor. „Das denkst du doch, oder?“

„Nein, tue ich nicht.“, sage ich verunsichert.

„Aber genau das habe ich vor.“

 

  1. Kapitel 15  

„Schnecke?“, ruft Tobias zu mir ins Bad hinüber. Ich sitze lächelnd auf dem Klo und genieße, wie erschöpft sich mein Körper anfühlt.

„Hm?“

„Dein Handy klingelt…“

„Ich komme gleich…“

„Soll ich drangehen?“

Das fehlte noch. Am Ende ist es Julian. „Nein, das brauchst du nicht.“, rufe ich und versuche, möglichst gelassen zu klingen.

Als ich ins Schlafzimmer komme, erstarre ich. Tobias hat mein Handy zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt und notiert etwas. „Ist gut, ich richte es aus. Ja. Ihnen auch. Tschüß.“

„Wer war das?“ Meine Stimme klingt ruhig und nur minder interessiert. Mein Magen fühlt sich an, als hätte mir gerade jemand einen Schlag versetzt.

„Ein Herr Bartig.“

Oh mein Gott. Das ist mein Albtraum. Mein Herz galoppiert durch meinen Brustkorb. Und ich lächle. Und dieses Lächeln kostet mich all die Kraft, die ich in mir habe. Ich lächle, obwohl ich mich so fühle, als würde ich jeden Augenblick auf den Teppichboden kotzen oder ohnmächtig zusammenbrechen. „Und was wollte er?“, frage ich und setze mich auf die Bettkante, falls meine Knie gleich nachgeben.

„Er hat etwas von einem wichtigen Abendessen mit irgendwelchen Investoren gesagt, das nun doch nicht erst morgen, sondern schon heute Abend stattfindet.“ Tobias setzt sich auf. „Er hat gesagt, du weißt Bescheid, deswegen habe ich nicht weiter nachgefragt.“

„Das Abendessen. Ja, richtig.“ Ich versuche entspannt zu atmen, doch da ist so ein entsetzliches Stechen. „Hat er gesagt, wo?“

„Ich habe es aufgeschrieben.“ Tobias reicht mir einen Zettel und küsst mich zwischen die Schulterblätter. „Der Tisch ist für halb acht reserviert.“ Er schaut auf die Uhr. „Da hast du sowieso wenig Vorwarnung. Du solltest dich lieber fertig machen.“

„Ich will nicht gehen.“

„Komm schon, Schnecke, das wird schon nicht so lange gehen.“

„Solche Essen gehen immer lang“, sage ich und hasse mich dafür, dass ich schon wieder lügen muss. Und dieses Mal muss ich es tatsächlich. Julian zwingt mich dazu. Wie kann er mich einfach anrufen? Er weiß, dass ich zu Hause bin.

„Ach ja, da sind noch drei Mails gekommen.“ Tobias drückt mir das Telefon in die Hand. „Ich mache mir mal ein Sandwich. Ich würde dir auch eines machen, aber das macht wenig Sinn, wenn du gleich essen gehst.“ Er steht auf und geht in Richtung Flur, dann dreht er sich noch einmal um. „Dieser Tag hat mich komplett überrascht.“ Er strahlt mich an. „Du hast mich überrascht.“ Und dieses Lächeln macht mich fertig.

„Du mich auch...“ Er ist schon fast an den Stufen angekommen, als ich ihm nachrufe. „Tobias?“

„Hm?“

„Machst du mir bitte auch ein Sandwich?“

Er mustert mich irritiert. „Was ist mit dem Essen?“

„Ich werde absagen.“

Er kommt langsam zurück ins Schlafzimmer. „Kannst du da so einfach absagen?“ Und jetzt heißt es aufpassen. Denn, wenn ich jetzt sage, dass es kein Problem ist, wird er sich fragen, weswegen ich das vergangene Jahr so oft mit Investoren beim Essen war, wenn ich auch einfach hätte absagen können. Wenn ich aber gehe, dann werde ich vermutlich wieder mit Julian schlafen, so wie immer. Weil ich nicht nein sagen kann. Zumindest nicht zu ihm. Er hat etwas an sich, das jeden klaren Gedanken in meinem Kopf implodieren lässt. Bei ihm werde ich zu einer Version von mir, die ausschließlich von ihren Trieben geleitet ist. Diese Version kennt keine Vernunft und keine Reue. Ich werde in seiner Gegenwart wieder zu dieser anderen Frau. Der Frau, die sich nicht zusammenreißen kann, die nicht genug bekommt. Und dann wird das wunderbare Gefühl einfach wieder verschwinden. „Schnecke?“

„Na ja, ich meine, die können doch nicht erwarten, dass ich an einem Samstagabend auf Abruf bereit stehe. Ich kann doch auch Pläne haben.“

„Er meinte aber, es wäre wirklich wichtig.“ Tobias setzt sich neben mich. „Nicht, dass das dann zu einem Problem wird.“

„Die werden das schon ohne mich schaffen“, sage ich und lege meinen Kopf auf seine Schulter.

„Versteh’ mich nicht falsch“, sagt er und küsst mich auf die Stirn. „Ich will nicht, dass du gehst, aber er meinte, es wäre einer deiner wichtigsten Kunden. Da solltest du lieber gehen.“

Das gute Gefühl beginnt bereits zu bröckeln. Er überredet mich gerade dazu, meinen Liebhaber zu treffen. Das ist alles so absurd. „Ich rufe ihn jetzt mal zurück.“

„Tu das.“ Er lächelt mich an, dann steht er auf. „Ich bin unten.“

„Bist du völlig geisteskrank?“, flüstere ich aufgebracht.

„Ich muss dich sehen.“

„Das kannst du nicht machen.“ Ich gehe ins Bad und schließe die Tür. „Du kannst dich nicht als Kollege ausgeben. Tobias kennt die meisten meiner Kollegen. Was ist, wenn er das nächste Mal nach dir fragt und keiner weiß, wer du bist?“

„Was hätte ich denn bitte machen sollen?“

„Nicht anrufen?“, flüstere ich gereizt. „Wie wäre es denn damit?“

„Ich konnte doch nicht wissen, dass er drangehen wird. Und als er dann dran war, konnte ich doch nicht einfach auflegen, das hätte ihn sicher stutzig gemacht, und dann ist mir nichts Besseres eingefallen.“

„Okay, verstehe, aber wir hatten den Deal, dass du mir schreibst und ich rufe dich dann zurück.“

„Das hab ich ja auch. Im Laufe des Tages drei Mal. Aber du hast nicht reagiert.“

„Ich hatte keine Zeit.“

„Den ganzen Tag?“ Und plötzlich flackert etwas in seiner Stimme. Und ich kann nicht sagen, was es ist. „Es ist Samstag. Du hast gesagt, an den Wochenenden stirbst du regelmäßig vor Langeweile.“

„Ja, gut, das habe ich gesagt, aber ich konnte heute eben nicht nach Mails schauen.“

„Ich muss dich aber sehen.“

„Nicht heute.“

„Bitte.“

„Julian, hör’ auf.“ Und da ist er wieder. Der Dämon in meinem Bauch hebt sein Haupt. Er will, dass ich gehe. Er will ihn sehen. Unbedingt. Und das sofort. Er will alles, was meine Vernunft nicht will.

„Er denkt doch ohnehin, dass du zu einem wichtigen Abendessen musst.“

„Julian, ich...“

„Bitte.“ Und gegen dieses Bitte komme ich nicht mehr an. Ich wünschte, ich wäre stark genug, aber ich bin es nicht.

„Ist gut“, sage ich und hasse mich dafür. „Ich bin um halb acht da.“ Mein Dämon triumphiert.

 

  1. Kapitel 16  

Ich starre ihn an. Ungläubig über diese Direktheit, mit der er mich völlig überrumpelt hat. Wir sind keine siebzehn mehr. Wir sind erwachsen. Was ist mit Tobias? Ich bin doch eigentlich glücklich verheiratet. Was denke ich denn da? Ich bin nicht nur eigentlich glücklich verheiratet. Ich bin es. Punkt.

Und doch ist da ein Teil in mir, der ihn noch immer will. Es wäre ja nur das eine Mal. Hast du sie noch alle? Wie kannst du so etwas überhaupt denken? Da gibt es gar keine Diskussionen. Stimmt. Ich liebe Tobias. Das tue ich doch, oder? Natürlich tust du das. Mein Dämon ist begeistert. Er jubiliert. Genau diesen Zwiespalt wollte er. Ich weiß nicht, wie lange ich bereits schweigend neben dem Tisch stehe, doch es erscheint mir lang. Und deswegen zwinge ich mich hochzuschauen. Und da ist dieses Lächeln. Dieses Lächeln, das einen Kurzschluss in meinem Hirn auslöst und mir den Befehl erteilt, mich ihm auf der Stelle an den Hals zu werfen. Und plötzlich verstehe ich auch die Aufforderung in seinen Augen. Sie ist unüberhörbar. „Ich muss jetzt gehen.“, sage ich und bin überrascht über die Festigkeit meiner Stimme. „Tobias erwartet meinen Anruf.“

„Bist du sicher?“, fragt er noch immer lächelnd. In meinem Brustkorb setzt das Techno-Lied wieder ein. „Ich kann warten.“

„Das ist nicht nötig.“, sage ich und gehe einen Schritt rückwärts in Richtung Foyer. „Gute Nacht, Julian.“

„Gute Nacht, Anja.“

„Ja, mir geht es gut.“, lüge ich. In Wirklichkeit geht es mir beschissen. Es ist zwar nicht ganz so schlimm, wie die Tintenfisch-Erfahrung, aber auch nicht wirklich weit weg. „Ich werde bald schlafen gehen. Das war ein langer Tag.“

„Ich vermisse dich unbeschreiblich.“

Mit geschlossenen Augen stelle ich mir Tobias Gesicht vor. Zumindest versuche ich es. Doch das Tobias-Gesicht in meinem Kopf hat Julians Augen und auch sein Lächeln. „Ich dich auch.“

„Ich habe heute eingekauft, und die Betten mit der blauen Bettwäsche bezogen.“ Schuldgefühle klopfen an die Innenseite meines Schädels. „Und ich habe dieses Brot geholt, das du so magst. Du weißt schon, das mit den Sonnenblumenkernen. Und ich habe ein kleines Vermögen an der Frischetheke ausgegeben.“ Das Klopfen wird lauter. Inzwischen schlagen die Gewissensbisse mit den Fäusten gegen meine Schläfen. „Wir können morgen Abend kalt essen, wenn du kommst. Was meinst du? Wann soll ich dich eigentlich vom Flughafen abholen?“

„Das klingt fantastisch, aber ich weiß noch nicht, welchen Flieger ich morgen nehmen kann“, antworte ich und frage mich, warum ich lüge. „Die Verhandlungen sind zäher, als ich vermutet habe.“

„Aber sie werden investieren?“ Er klingt aufrichtig besorgt. „Ich meine, davon hängt doch das gesamte Projekt ab, oder nicht?“

„Ja, ich denke, wir werden schon eine Einigung finden.“ Ich hasse mich. Wieso tue ich das? Wir haben uns längst geeinigt. Der Deal steht. Ich könnte morgen früh nach Hause fliegen. Genau genommen, könnte ich jetzt zum Flughafen fahren. Vielleicht sollte ich das. Bei diesem Gedanken nickt mir mein Gewissen energisch zu. Und ich weiß, dass es recht hat. Ich bin verheiratet. Mit Tobias. Ich liebe Tobias. Wir sind gut zusammen. Und wir haben uns ein gemeinsames Leben aufgebaut. Ich kann doch nicht aus einer seltsamen Laune heraus alles gefährden, was bis vorgestern noch meine gesamte Welt war. „Ich rufe dich morgen an, wenn ich mehr weiß.“

„Ich freue mich schon so auf dich.“

Gott, ich bin ein grauenhafter Mensch. Ich bin ein wirklich abscheulicher Mensch. „Ich freue mich auch auf dich.“ Das stimmt. Ich freue mich auf ihn. Aber das ist leider nur ein Bruchteil der Wahrheit.

„Schlaf schön, Schnecke.“

„Du auch.“

„Das klappt eh nicht“, sagt er lachend. „Ich habe langsam die Hoffnung aufgegeben, ohne dich einzuschlafen“ Ich stehe mit dem Rücken zur Wand. „Aber lange muss ich es ja nicht mehr aushalten.“

„Nein, spätestens Übermorgen bin ich zurück.“

„Ich liebe dich“ Ich höre ihn lächeln. „Manchmal glaube ich, du weißt gar nicht wie sehr.“

Seufzend setze ich mich aufs Bett. Was machst du denn? Und warum machst du es? Aber ich mache doch gar nichts. Ich bin gegangen. Ich bin alleine in meinem Zimmer. Aber du hast gelogen. Und das nicht nur ein Mal. Ich höre meinem Gewissen nicht zu. Es interessiert mich nicht, was es denkt. Und auch, wenn du vorgibst, mich nicht zu hören, weiß ich, dass du gerade gerne woanders wärst. Ja, gut, mag sein, aber Fakt ist doch, dass ich hier bin. Allein.

Ich sitze auf dem Bett, den Kopf in die Hände gestützt. Mein Dämon gibt mir ein Zeichen, den Augenblick zu nutzen. Lebe den Tag. Ja und dann? Was ist danach? Wenn der Schweiß getrocknet und das Gewissen wieder wach ist? Es wäre doch nur ein Mal. Und was, wenn es nicht bei einem Mal bleibt? Keine Ahnung. Was wäre denn dann? Sag du es mir doch. Ich weiß nicht. Was ist mit Tobias? Er hat das nicht verdient. Ja, ich weiß. Das hat er nicht. Außerdem liebst du Tobias. Ja, das tue ich. Und? Was wirst du jetzt tun? Nichts. Aber du willst es tun. Ja, stimmt. Du bist eine Heuchlerin. Ach, lass mich doch in Frieden. Ich will nichts mehr hören.

Wie kann Julian so etwas sagen? Gestern sagt er noch, ich wäre keine Katja und dann so was. Wie kann das für ihn nicht schwierig sein? Gut, er ist nicht verheiratet. Und er und Katja sind noch nicht wirklich lange zusammen. Aber sie sind zusammen. Und sie liebt ihn. Das ist offensichtlich. Er würde jemanden betrügen. Und ich würde jemanden betrügen. Und Tobias ist ein toller Jemand. Was bildet er sich eigentlich ein, so etwas zu sagen? Für wen hält er sich? Denkt er denn tatsächlich, dass sich gar nichts geändert hat? Denkt er, dass er nur mit den Fingern schnippen muss, und ich komme gesprungen? Das war einmal. Diese Zeiten sind vorbei. Julian mag einmal meine Droge gewesen sein. Doch ich habe den Entzug überlebt. Ich habe ihn überlebt. Und ich bin eine andere geworden. Eine Frau, die sich nicht über einen Mann definiert. Ich bin frei.

Für einen kurzen Augenblick fühle ich mich gut. Doch dann steigt die Frage in mir auf, warum ich mich so fühle, wie ich mich fühle, wenn ich doch angeblich so frei bin. Frei von was? Frei von Julian? Frei von Gewissensbissen, weil ich mich zusammenreiße? Ist doch alles Blödsinn. Ich bin nicht frei. Und ich habe Gewissensbisse. Und die Wahrheit ist, dass sich vielleicht doch nicht so viel geändert hat, wie ich gerne hätte. Und ich weiß, es ist schrecklich, so etwas überhaupt nur zu denken, aber gerade habe ich das Gefühl, als wäre ich niemals so wenig frei gewesen wie in diesem Moment. Ich bin gefangen in meiner Ehe. Und während mein Dämon sich zufrieden die Hände reibt, benutzen die Eichhörnchen meinen Magen als Trampolin.

Wie kann ich so etwas denken? Tobias ist fantastisch. Er ist aufmerksam und liebevoll. Er ist mein zu Hause. Der Mensch, der immer zu mir steht. Ich schaue aus dem Fenster. Der Himmel erinnert mich an diese kitschigen Gemälde von Bob Ross. Viel zu viel Rosa und Rot. Fast zu künstlich, um natürlich zu sein. Und beim Anblick dieses Himmels, denke ich an Julians und meinen ersten Kuss. Und bei diesem Gedanken, rastet mein Dämon völlig aus.

Ich gehe auf und ab. Mein Blick fällt auf den gemusterten Teppichboden, dann auf seine Zimmertür. 605. Komisch. Gestern war der sechste Mai. Dann fällt mein Blick wieder auf den Teppich. Solche Muster gibt es wirklich nur in Hotels. Was mache ich hier eigentlich? Ich sollte im Bett liegen und schlafen. Oder besser noch in einem Taxi in Richtung Flughafen sitzen. Hätte ich ihn doch nie wieder gesehen. Ich wünschte, er wäre einfach für den Rest meines Lebens ein verschwommener Schatten der Vergangenheit geblieben, der sich ab und an als plötzlicher stechender Schmerz in meine Gedanken drängt und dann wieder verschwindet. So wie vorher eben.

Ich habe einen guten Mann. Einen Mann, der mich liebt und respektiert. Einen Mann fürs Leben. Und Julian ist ein Mann für gewisse Stunden. Er ist ein flatterhafter Egomane, dem es eigentlich immer nur um sich selbst ging. Und alles, was sich ihm und seinen Zielen in den Weg gestellt hat, wurde überfahren. Kollateralschäden. Ich war so einer. Wenn ich das alles weiß, was mache ich dann hier? Warum nehme ich nicht einfach eine Schlaftablette – oder auch fünf – und ersticke die Gedanken. Na, weil es nicht geht. Julian ist wie ein Tinnitus, den man nicht mehr loswird. Er lässt sich nicht ignorieren. Er findet einen Weg in meinen Kopf. Er hat sich dort eingenistet und er scheint nicht vorzuhaben, so schnell wieder abzuhauen. Wieso bin ich so wütend? So kenne ich mich gar nicht. Oder zumindest lange nicht mehr. Ich bin so wütend, dass ich mich fast ein bisschen vor mir selbst fürchte. Mein Verstand versucht, mich davon zu überzeugen, dass es fatale Folgen haben könnte, wenn ich nicht auf der Stelle in mein Zimmer zurückgehe. Doch anstatt auf den gut gemeinten Rat meines Verstandes zu hören, klopfe ich ruppig an seine Tür. Und wenig später geht sie auf.

 

  1. Kapitel 17  

Als ich die Hotel-Lobby betrete, grummelt mein Magen. Wie konnte ich nur zusagen? Warum habe ich nicht einfach den Abend mit Tobias verbracht? Er sagt, dass ihn dieser Tag komplett überrascht hat und was mache ich? Ich bringe es fertig, zu duschen, Reizwäsche auszusuchen, mich in ein Kostüm zu werfen und loszufahren. Wie schaffe ich das? Wie schaffe ich es, Tobias noch einen Kuss zu geben und dann zu Julian zu fahren? Und während ich mich all das frage, gehe ich zielstrebig zur Rezeption und höre mich nach seiner Zimmernummer fragen. Und ich klinge wie eine andere Frau. Eine Fremde, die mir irgendwie doch vertraut ist.

So, als wäre ich zwei verschiedene Frauen. Eine liebt Tobias und hasst sich für jede Lüge und jede gestohlene Nacht mit Julian. Die, die gerade nach der Zimmernummer gefragt hat und in diesem Augenblick lächelnd einen Schlüssel entgegennimmt, will Julian. Und das Schlimmste ist, diese Frau will nicht nur mit ihm schlafen. Nur so kann ich es mir erklären, dass wir hier sind. Es ist nicht nur Sex. Es ist Liebe. Und bei dieser Erkenntnis spüre ich nicht nur meinen Dämon, ich spüre auch das Eichhörnchen. Und damit weiß ich, dass es stimmt.

Ich steige in den Aufzug. Und während ich auf die sechs drücke, schießt mir die Möglichkeit durch den Kopf, doch noch kehrt zu machen. Noch könnte ich umdrehen und zu Tobias gehen. Ich könnte mich ein einziges Mal selbst überraschen und stärker sein, als die Frau, die ich im Stillen verachte, weil sie für alles steht, was falsch ist. Sie ist die Betrügerin, sie ist die, die nur sich sieht und das was sie will. Sie lebt den Augenblick und kostet das Leben aus. Und sie kümmert sich nicht um die Konsequenzen. Sie kennt keine Reue und keine Gewissensbisse. Warum auch? Die überlässt sie dann schließlich mir.

Mit einem sanften Bling öffnen sich die Aufzugtüren. Mein Dämon sticht mich in die Seite, so als wollte er mir einen Ruck geben. Doch ich bewege mich nicht. Die Türen schließen sich wieder. Und weil ich nicht fähig bin, eine Entscheidung zu treffen, beschließe ich dreißig Sekunden zu warten. Wenn der Aufzug dann noch immer im sechsten Stockwerk steht, dann gehe ich zu Julian. Wenn er aber nach oben oder unten fährt, gehe ich nach Hause zu meinem Mann.

Ich schaue auf die Uhr. Zehn Sekunden sind bereits vergangen und ich stehe noch immer im sechsten Stock. Mein Dämon reibt sich bereits dreckig lachend die Hände. Weitere zehn Sekunden später ist noch immer nichts passiert. Noch vier Sekunden, noch drei. Und gerade, als ich anfange mir albern vorzukommen und meine Hand ausstrecke, um auf den Knopf mit den beiden Pfeilen zu drücken und auszusteigen, macht der Aufzug einen Ruck und fährt nach unten. Mein Dämon brüllt und das Eichhörnchen senkt traurig seinen kleinen Kopf, doch dieses Mal halte ich mich an mein Versprechen. Ich steige im Erdgeschoss aus, gebe den Schlüssel wieder ab und gehe in Richtung Ausgang.

Ich sitze im Auto und starre an die Wand des Parkhauses. Mein Dämon ist wütend. Er ist unbeschreiblich wütend. Sein elendes Gebrüll dröhnt in meinem Kopf. Es ist viertel nach acht. Ich denke an Julian, der in Zimmer 605 sitzt und sich fragt, wo ich bleibe. Und ich denke an Tobias, der vermutlich gerade fernsieht und darauf wartet, dass ich nach Hause komme. Von einem wichtigen Geschäftsessen. Mal wieder. Eigentlich wartet er immer auf mich.

Und plötzlich kommt es mir so vor, als würde ich Julian mit Tobias betrügen. Ich habe ihn noch nie versetzt, noch nie warten lassen. Er kam immer an erster Stelle. Vielleicht, weil ich wusste, dass Tobias warten würde und Julian nicht. Er ist nicht die Sorte Mann, die wartet. Und schon gar nicht auf mich. Es ist schon seltsam, aber in meinen Augen ist Julian der Typ, der innerhalb von einer Woche eine neue hätte. Eine Katja, die ihn anhimmelt und Sommersalate ohne Öl bestellt. Und genau deswegen habe ich ihn nie warten lassen. Ich hatte immer Angst, er würde mich ersetzen. Ich hatte immer Angst, er könnte gehen.

Ich greife nach dem Gurt und schnalle mich an. Mein Dämon realisiert, dass er diesen Kampf verloren hat. Es ist der erste seit Langem. Vielleicht ist es der erste jemals.

Als ich aus der Tiefgarage fahre, steigen mir Tränen in die Augen. Das war es also. Julian wird wissen, was das heute Abend zu bedeuten hat. Er hat einmal gesagt, dass es so kommen wird. Er wusste, dass ich eines Tages einfach nicht auftauchen würde. Und er hat recht gehabt. Es ist die Vernunft, die siegt. Sicher nicht nur, aber auch. Die Frau, die Tobias liebt, hat viel mehr zu verlieren. Den Ehemann, die Geborgenheit, das Zuhause, die Schwiegereltern, die Routine, die gemeinsamen Freunde. Die andere Frau hat nur Julian zu verlieren. Julian und das Abenteuer. Die gestohlene Geborgenheit. Und leider auch das Lachen und die Liebe zu einem Mann, der einmal alles bedeutet hat. Einem Mann, mit dem die Sonne auf- und untergegangen ist. Den Mann, der einmal meine gesamte Welt war. Und in dem Augenblick, als ich an der Ampel am Luise-Kisselbach-Platz zum Stehen komme, frage ich mich, ob ich damit leben kann, all das zu verlieren. Und die Wahrheit ist, ich weiß es nicht. Im Grunde ist das Blödsinn. Natürlich kann ich ohne Julian leben. Ich habe es einmal geschafft und ich würde es auch ein zweites Mal schaffen. Ich könnte auch ohne Tobias leben. Man überlebt alles. Das einzige, was bleibt, sind Narben. Und diese Narben erinnern einen an den Verlust, an das Gefühl der Leere und der Verzweiflung. Doch man überlebt es. Nur ein Fragment in einem stirbt. Ein klitzekleiner Teil. Die Frage ist nur, was dieser Teil im Gesamtbild ausmacht. Und das weiß man leider immer erst hinterher.

 

  1. Kapitel 18  

Es ist halb zwölf, als ich das Gartentor öffne. Die Sonne brennt vom Himmel und vereinzelte wattebauschartige Wolken kriechen über endlos wirkendes Dunkelblau. Gott, wie ich den Sommer liebe. Ich habe nicht einmal fünf Stunden geschlafen, aber meine Droge hält mich wach.

Ich sperre die Haustür auf. Es ist kühl und erfrischend. Mein Bruder und seine Freundin sitzen auf der Terrasse und lesen. Er ein Buch, sie eine Zeitschrift. Beide schauen hoch und lächeln mich an, dann widmen sie sich wieder ihrer Lektüre. Meine Mutter ist im Garten und gießt die Blumen.

„Schätzchen, da bist du ja...“ Sie kommt auf mich zu und drückt mir einen Kuss auf die Wange. „Wie war es bei Petra?“

„Ganz gut...“, sage ich und grinse. „Wo sind Lena und Hannes?“

„Die schlafen noch.“

„Ich geh’ mal duschen...“, sage ich und gehe in Richtung Haus.

„Ach ja, es hat jemand für dich angerufen.“

Ich bleibe abrupt stehen und drehe mich um. „Und wer?“

„Ein Julian.“

Er hat angerufen. Er hat tatsächlich angerufen. Am liebsten würde ich laut schreien. Stattdessen frage ich ruhig, „Und was hat er gesagt?“

„Na, er hat gefragt, ob er dich sprechen kann.“

„Und?“, frage ich leicht ungehalten.

„Ich habe ihm gesagt, dass du nicht da bist.“

„Ja, und dann?“

„Nichts und dann. Wir haben aufgelegt.“

Das Eichhörnchen tobt durch meinen Brustkorb. „Er hat keine Nummer hinterlassen?“

„Nein, hat er nicht.“

„Na, wunderbar“, sage ich leise. „Ich gehe dann mal duschen.“

„Wer ist dieser Julian überhaupt?“, fragt sie neugierig.

Mein Fleisch gewordener Traum. „Ein Typ, den ich gestern kennengelernt habe.“

„Und was ist mit Christoph?“

„Mit dem ist Schluss.“

„Ach, Liebes, das tut mir leid.“ Sie kommt auf mich zu und legt mir die Hand auf die Schulter. „Was ist denn passiert?“

„Kathi.“

„Unsere Kathi?“, fragt sie irritiert.

„Genau die.“

„Und dieser Julian...“

„Was willst du denn wissen?“, frage ich etwas gereizt.

„Na, er scheint dir ja zu gefallen.“

„Mama, ich will wirklich duschen...“, weiche ich ihr aus. „Mir hat gestern jemand Bier übers T-Shirt geschüttet.“

„Ist gut, dann geh mal. Wenn Julian noch einmal anrufen sollte, frage ich nach seiner Nummer. Versprochen.“

„Nein“, sage ich bestimmt. „Bitte ruf mich.“

„Aber du willst doch duschen.“

„Egal, dann komme ich eben aus der Dusche.“

„Ist gut“, sagt sie schmunzelnd. Und einen Teil in mir nervt dieses Schmunzeln. Es ist so ein erwachsenes Schmunzeln. Ein, och wie süß, sie ist verliebt Schmunzeln.

Hastig stelle ich das Wasser ab und horche. Doch da ist nichts. Genauso wenig wie die vorherigen acht Mal. Ich mache das Wasser wieder an und wasche mir das Shampoo aus den Haaren. Gerade als ich anfange, mir die Beine zu rasieren, höre ich die Stimme meiner Mutter. Ich springe aus der Wanne und werfe mir ein Handtuch um. Vor lauter Eile, rutsche ich auf dem Badvorleger aus, fange mich an Bademantel meines Bruders und reiße die Badezimmertür auf. Ich binde mir die Haare zusammen und renne hastig in den Flur. Zu hastig, denn ich bleibe mit dem kleinen Zeh am Türrahmen hängen. Tränen schießen in meine Augen. Ich bleibe einen Augenblick wie versteinert stehen. Ein dumpfer, pochender Schmerz kriecht mein Bein hinauf. Dann beiße ich die Zähne zusammen und hinke in Richtung Treppenhaus. Der Rasierschaum läuft zäh über mein Knie, hinunter zu meinem Fuß.

„Was ist?“, rufe ich meiner Mutter entgegen.

„Telefon.“ Sie reicht mir das Telefon durch die Sprossen des Treppengeländers. „Ein Julian.“ Sie grinst.

„Julian?“

„Ja, hi, wie geht’s dir?“ Beim Klang seiner Stimme springt das Eichhörnchen aufgeregt gegen meinen Brustkorb und rempelt gegen meinen Magen.

„Ganz gut und dir?“ Meine Stimme hält sich gut. Ich klinge tatsächlich gelassen. Gar nicht wie die ungeliebte Stiefschwester.

„Auch gut.“ Schweigen. Jetzt fragt er sich sicher, warum er überhaupt angerufen hat. „Und? Was machst du heute noch?“

„Ich hab’ noch nichts vor, du?“ Bitte frag mich, ob wir etwas machen wollen. Bitte.

„Kai und ich wollten heute Abend weggehen.“ Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf seine Stimme. „Vielleicht habt ihr ja Lust mitzukommen?“

„Caro und ich?“

„Ja, also ich meine, wir gehen da mit paar Kumpels hin, aber es wäre schön, wenn du auch kommst.“

„Ja, klar, gerne.“ Der Rasierschaum bedeckt inzwischen meinen gesamten Fuß.

Er räuspert sich. „Ich würde dir noch mal Bescheid geben, wann wir uns wo treffen.“

„Ist gut.“

„Gut, dann melde ich mich später.“

„Ich freu mich.“ Meine Hände zittern. Ich wünschte, es wäre schon Abend.

„Ich mich auch.“

Eine Weile halte ich noch das Telefon in der Hand. Ich bin wie betäubt. Ich spüre nicht einmal mehr meinen schmerzenden Zeh. Das war vermutlich das verkrampfteste Telefonat der Geschichte, doch das macht nichts. Er hat angerufen. Gleich zwei Mal. Der Julian mit den schwarzen Augen hat mich angerufen. Tagträumend gehen das Eichhörnchen und ich zurück ins Bad. Ich bemerke das Radio nicht. Ich höre nur noch Geigen.

 

  1. Kapitel 19  

„Warum hast du das gesagt?“, frage ich als er die Tür öffnet. Seine Haare sind zerzaust. So mochte ich sie immer am liebsten. Seine zusammengekniffenen Augen kämpfen gegen die unvermittelte Helligkeit, die Stirn liegt in Falten. „Denkst du ehrlich, du brauchst nur mit den Fingern zu schnippen und ich springe mit dir ins Bett?“

„Nein, das denke ich nicht.“

„Ich bin verheiratet, Julian.“ Wir schauen uns in die Augen. „Verheiratet. Du hast vielleicht davon gehört, das ist dieses Versprechen, sich für immer treu zu sein und sich zu lieben.“

„Hör zu, ich...“

„Nein, ich höre dir nicht zu“, unterbreche ich ihn. „Denkst du, ich riskiere das alles für eine Nacht mit dir?“

„Es geht mir nicht nur um eine Nacht.“ Und das verschlägt mir die Sprache. „Aber du hast recht, du bist verheiratet, für dich steht etwas auf dem Spiel. Für mich nicht.“

„Was ist mit Katja? Ich dachte, sie wäre die Frau deines Lebens.“

„Katja ist... unkompliziert.“

„Und was genau willst du damit sagen? Im Gegensatz zu mir, oder was?“

Er legt seine Hände auf meine Schultern. „Ich hätte das nicht sagen sollen, okay? Das war ein Fehler.“

Ich nehme seine Hände weg und gehe einen Schritt rückwärts. „Du wusstest das auch bevor du es gesagt hast. Du wusstest, dass ich verheiratet bin. Du wusstest, dass es ein Fehler ist. Ich kenne dich und ich weiß, dass du es gewusst hast. Du wusstest, was du tust. Warum hast du es trotzdem gesagt?“

„Keine Ahnung“ Er lehnt sich gegen den Türrahmen. „Ich kann es dir ehrlich nicht sagen. Ich habe nicht groß drüber nachgedacht.“

„Das sieht dir ähnlich.“

Eine Weile schauen wir uns nur an. Die Eichhörnchen schmelzen bei seinem Anblick dahin. Sie schmachten und versinken in seinen Augen. „Eine Sache verstehe ich aber nicht ganz.“

„Und zwar?“, frage ich und ignoriere die gefühlsduseligen Eichhörnchen.

„Nur um mir das zu sagen, kommst du um drei Uhr morgens extra hierher?“ Und ich muss zugeben, ich hasse diese Frage. „Du hättest morgen in aller Früh den Flieger nehmen können. Genau genommen, könntest du jetzt in einem Flugzeug nach München sitzen. Du hättest ohne ein Wort verschwinden können. Aber stattdessen stehst du hier.“

„Das habe ich vor.“ Ich klinge wie ein trotziges Kind. Und ich kann mich nicht leiden, wenn ich so klinge. Das bedeutet nämlich entweder, dass ich nervös bin, oder dass Julian in meiner Nähe ist. In diesem Fall also beides. „Das mit dem Flieger meine ich. Also das mit dem Abreisen.“

„Und warum liegst du dann nicht im Bett und schläfst?“

„Weil ich nicht schlafen konnte.“

„Wegen den Eichhörnchen?“

„Was?“ Ich fasse es nicht, dass er jetzt damit kommt. Vielleicht fasse ich es aber auch nur nicht, wie wenig ich mich verändert habe. Die unabhängige Anja. Pah. Dass ich nicht lache.

„Sind es die Eichhörnchen oder dein Dämon?“ Und dann lächelt er sein Lächeln. In seinen pechschwarzen Augen glänzt eine unergründliche Sehnsucht. Und ich weiß nicht genau, ob es die Eichhörnchen sind oder vielleicht doch eher mein Dämon. Ich weiß nicht, wer oder was in mir entscheidet. Vielleicht ist es gar keine Entscheidung. Vielleicht ist es ein Kurzschluss.

Ein letztes Mal versucht mein Verstand mich zurückzuhalten. Er zeigt mir Tobias Gesicht. Aber all das ändert nichts. Ich denke nicht, frage mich nicht, ob es richtig oder falsch ist. Die Folgen interessieren mich nicht. Ich küsse ihn. Und in der Sekunde, als ich seine Lippen schmecke, ist da wieder das Feuerwerk in meinem Gehirn und Millionen winziger Explosionen auf meiner Haut. Jedes Härchen an meinem Körper richtet sich wie in Zeitlupe auf. Seine warmen Hände, die mich halten, sein Duft, der mich an eine Zeit erinnert, in der alles möglich zu sein schien. An eine Zeit, in der er mein Leben war.

 

  1. Kapitel 20  

Ich schließe die Haustür und lege meine Sachen ab.

„Du bist schon zurück?“ Tobias schaltet den Fernseher auf stumm und kommt auf mich zu. „Wie war der Termin?“ Er nimmt mich in die Arme. Eine Weile stehen wir einfach nur da. Ich spüre seinen Herzschlag und denke bei mir, dass es die richtige Entscheidung war. Bestimmt war es das. Er geht einen Schritt zurück und schaut mich an. „Ist alles okay, du wirkst irgendwie verstört.“

„Ich habe nur Hunger.“ Und während ich das sage, weiß ich, dass dieser simple Satz Fragen nach sich ziehen wird. Und ein Teil in mir scheint es darauf anzulegen, denn ich habe diese ewigen Lügen langsam satt.

„Wieso Hunger? Du warst doch gerade essen.“ Er mustert mich irritiert. Genau jetzt könnte ich reinen Tisch machen. Ich könnte ihm sagen, dass ich gar keinen wichtigen Termin hatte. Zumindest keinen geschäftlichen. Keinen, den ich nicht hätte verschieben können, oder absagen. „Süße, was ist denn los? Du bist ganz blass.“

„Ich war nicht essen.“

„Das verstehe ich nicht. Und wo warst du dann?“

„Ich war dort, habe es mir dann aber anders überlegt.“ Das ist nicht gelogen. Es ist nur nicht die ganze Wahrheit.

„Aber doch nicht etwa meinetwegen, oder?“

„Doch, deinetwegen.“ Und auch das ist nicht gelogen. „Machst du mir vielleicht jetzt ein Sandwich?“ Tobias lächelt und gibt mir einen Kuss. Und während ich ihm dabei zusehe, wie er mir ein üppiges Sandwich belegt, versuche ich zu begreifen, wie es soweit kommen konnte. Ich versuche zu verstehen, warum ich getan habe, was ich getan habe. Konnte mir Tobias nicht geben, was ich brauche? Oder war die Anziehungskraft einfach zu stark? Hat die Geschichte mit Julian überhaupt etwas mit Tobias zu tun? Ich meine, einmal abgesehen davon, dass ich ihn mit Julian betrüge. Oder sollte ich sagen, betrogen habe.

Ich habe heute Nachmittag mit Tobias geschlafen. Kann das sein? War das wirklich heute? Es war erst vor ein paar Stunden. Das gute Gefühl ist jedenfalls weg. So als hätte es dieses Gefühl nie gegeben. Ich habe es erstickt, es in die Flucht geschlagen.

Irgendwie ist das gestört, aber heute Morgen ging es mir besser. Da waren alle Fronten geklärt und das Leben war irgendwie vorhersehbar. Geordnet. Mit Tobias war ich verheiratet und mit Julian habe ich geschlafen. Das war simpel. Na gut. Ich habe nicht nur mit ihm geschlafen, aber das Prinzip war simpel. Mit Tobias war ich die Erwachsene, die Vernünftige, die Planerin. Und mit Julian die junge Wilde, die Lebendige, die Ungestüme, die Träumerin. So, als könnte ich nicht beides auf einmal mit nur einem Mann sein. Ich könnte mit Tobias nicht so sein, wie mit Julian und umgekehrt. Zumindest denke ich das. Versucht habe ich es ehrlich gesagt nie.

Ich muss zugeben, dass ich die Anja in Julians Gegenwart irgendwie lieber mag. Die ist zwar die böse Betrügerin und ich finde nicht richtig, dass sie nie an Konsequenzen denkt, aber sie ist auch diejenige, die mich überrascht, die Situationen einfach nutzt, die sich fallen lassen kann. Sie ist neugierig und mutig. Sie ist lebendig und frei. Diese Anja schüttelt alles ab. Sie lässt den Alltag, den Stress, die Arbeit, einfach alles hinter sich. Sie lässt all das zu Hause. Zu Hause bei Tobias. Irgendwie habe ich Angst, dass Julian all das in mir auslöst. Was, wenn ich ihn brauche, um so sein zu können? Und was ist, wenn ich Tobias und dieses Zuhause brauche, um bei Julian so frei zu sein?

Ich hatte einmal Prinzipien. Werte wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Treue, waren einmal mehr als reine Worthülsen. Ich habe sie gelebt. Und was ist daraus geworden? Ich betrüge meinen Mann. Ich lüge und erfinde mir Geschichten, die ich so oft wiederhole, bis ich sie mir selbst glaube. Inzwischen weiß ich manchmal nicht mehr, was ich mir ausgedacht habe und was wirklich passiert ist. Es ist wie ein zähflüssiger Brei in meinem Gehirn. Ein Klumpen aus Notlügen, völlig haarsträubenden Angst-Lügen und Bequemlichkeits-Lügen.

Früher gab es in meinem Leben nur ab und an einmal eine Notlüge. So wie bei jedem Menschen. Nichts Dramatisches jedenfalls. Kleinigkeiten.

Anfangs ist mir das Lügen noch richtig schwer gefallen. Ich konnte nachts nicht mehr schlafen, lag ewig wach und habe versucht, diese Lügen vor mir selbst zu rechtfertigen. Ich habe nach plausiblen Erklärungen gesucht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich das mit Julian beenden muss. Zumindest bis ich ihn getroffen habe, um es zu beenden. Dann wusste ich, dass ich es nicht schaffe. Und irgendwann war es nicht mehr so schwer zu lügen. Und dann, eines Tages, war es keine Lüge mehr. Es war eben eine andere Art Realität. So wie ein Spiel, das Kinder spielen. Da geben Fünfjährige ja auch vor, Mütter und Väter zu sein und niemand nimmt es ihnen übel. Es ist eben ein Spiel. Fantasie. So habe ich es mir auch verkauft. In meiner Welt gab es zwei von einander völlig unabhängige Realitäten. Parallelexistenzen, von denen niemand etwas wissen durfte, außer mir. Ich habe die Regeln gestaltet, die mich jetzt von innen auffressen. Und obwohl ich weiß, dass ich etwas tun muss, scheint es mir unmöglich, auf eine der beiden Anjas zu verzichten.

Ich sitze auf dem Sofa und genieße mein Sandwich. Und während ich vorgebe, die Nachrichten zu verfolgen, frage ich mich, wie es Julian geht. Ich frage mich, wie sehr es ihn verletzt, dass ich nicht gekommen bin. Oder ob es ihn überhaupt verletzt. Was, wenn es ihm gleichgültig ist? Mit diesen Gedanken habe ich meinen Dämon geweckt. Und er ist immer noch wütend. Er ist es eben nicht gewohnt, gegen meine Vernunft zu verlieren.

„Die hätten es alle verdient, hingerichtet zu werden. Jeder einzelne. So darf man Menschen nicht behandeln. Ich meine, es ist doch einfach unfassbar, wie in manchen Ländern die Menschenrechte mit Füßen getreten werden“, sagt Tobias kopfschüttelnd. Als ich nicht reagiere, schaut er zu mir rüber.

„Findest du nicht?“

„Doch, das ist wirklich furchtbar.“

Während sich Tobias neben mir in Rage redet, wird mir ganz plötzlich übel. Mein Magen zieht sich zusammen, mein Herz rast, mir ist schwindlig, meine Knie fühlen sich an, als wären sie aus Gummi, meine Hände und Füße sind eiskalt. Ich habe Schweißausbrüche. Meine Stirn, die Achseln, sogar die Kniekehlen sind durchgeschwitzt. So stelle ich mir Entzugserscheinungen vor. Genau so muss es sich anfühlen. Ich habe meine Droge nicht bekommen. Ich habe mich ihr verweigert. Und es war ziemlich naiv von mir zu denken, dass das keinerlei Auswirkungen haben würde.

„Es ist sowieso die Frage, ob es der Euro schafft. Ganz zu schweigen, was passiert, wenn die Scheiß-Rating-Agenturen die gesamte Euro-Zone runterstufen. Und stufen die die USA herab? Nein, natürlich nicht. Ich frage mich langsam echt, wie es weitergehen soll. Eigentlich haben wir es auch nicht anders verdient. Ich möchte gar nicht wissen, wie viel...“

„Tobias.“, falle ich ihm ins Wort.

„Was ist?“ Er dreht sich zu mir. „Was hast du?“

„Ich habe eine Affäre.“ So. Jetzt ist es raus.

 

  1. Kapitel 21  

Wir sitzen auf dem warmen Asphalt und unterhalten uns. Die laue Abendluft umgibt mich wie Wasser und ich drohe in seiner Stimme zu ertrinken. So, als gäbe es mich gerade gar nicht. Ich bin da, aber irgendwie auch nicht. Das Eichhörnchen springt aufgeregt in meinem Brustkorb umher und mein Dämon ist ungewohnt friedlich. Er liegt zusammengerollt und schnurrend in meinem Unterleib.

„Willst du lieber reingehen?“

Ich schüttle den Kopf. „Du?“

„Ich auch nicht.“

Die Welt um mich herum scheint irgendwie weiter weg zu sein als sonst. Sie wirkt seltsam unscharf und irgendwie unwichtig. Aus der Disko dröhnt der Kommerz. Doch ich höre ihn nur dumpf, so als hätte ich Watte in den Ohren. Und am Rand bemerke ich ein paar Betrunkene, die an uns vorbeitorkeln. Doch das Einzige, was ich gestochen scharf wahrnehme, ist er. Seine Stimme, sein Gesicht und sein Duft, den der Wind in unregelmäßigen Abständen zu mit hinüber trägt. So als wollte er mich quälen.

Das künstliche Licht durchbricht die Nacht. Die sommerliche Luft streift meine Haut und ich stelle mir vor, es wären seine Fingerkuppen. Bei diesem Gedanken läuft es mir eiskalt über den Rücken, meine Beine hinunter zu meinen Füßen und wieder zurück. Das Leben bitzelt durch meine Adern. Wir sind allein, und doch scheint es so, als wäre eine dritte Person anwesend. Sie heißt Nervosität und sitzt zwischen uns.

Als ich aus dem Auto steige, ist der Himmel bereits rosa gefärbt. Er sieht aus wie aus einem Bild von Bob Ross. Kitschig und unecht. Julian begleitet mich zur Tür. Und die dritte Person folgt ihm.

„Das war ein schöner Abend.“, sage ich und drehe mich zu ihm um, während meine zitternden Hände mit dem Hausschlüssel spielen.

„Ja, finde ich auch.“

Das Eichhörnchen springt, der Dämon grollt und ich lächle. „Gute Nacht.“, sage ich und gehe einen Schritt auf ihn zu. Küss mich. Jetzt küss mich doch endlich. Doch er tut es nicht. Er wird mir wieder diese zwei albernen Küsschen auf die Wangen geben. Mein Dämon boxt mir in den Magen. Und wie auf Kommando, stelle ich mich auf die Zehenspitzen, nehme sein Gesicht zwischen meine Hände und küsse ihn. Und dieser Kuss ist unbeschreiblich. Er ist wie ein Feuerwerk in meinem Kopf, wie Millionen winziger Explosionen auf meiner Haut. Mein Dämon war noch nie so glücklich.

„Ich störe nur ungern...“, höre ich Kai flüstern, „... aber Caro möchte nach Hause.“

Julians Lippen lösen sich von meinen. Als ich die Augen öffne, strahlen mich seine an. Das war mit Abstand der absolut wunderbarste Augenblick meines Lebens. Ich bin abhängig. Hoffnungslos verfallen.

„Ich muss los.“ In seiner Stimme höre ich Bedauern.

„Du kannst hier schlafen.“, höre ich mich antworten. Und ich bin selbst überrascht über dieses Angebot.

Er wirkt irritiert. „Bist du sicher?“ Ich nicke. „Was wird deine Mutter sagen?“

„Es wird ihr nichts ausmachen.“ Ich versuche überzeugend zu klingen, weil ich mir eigentlich gar nicht so sicher bin, was sie dazu sagen wird. „Bleib hier.“

Einen Moment lang mustert er mich eindringlich, dann dreht er sich zu Kai. „Ihr könnt fahren, ich bleibe.“

„Du bleibst?“, fragt Kai grinsend. Julian und ich nicken, wie zwei artige Schulkinder. „Na, dann. Schlaft schön.“

 

  1. Kapitel 22  

Tobias starrt mich an, sagt aber nichts. Zumindest nicht gleich. Und so sehr es mich auch irritiert, es fühlt sich wunderbar an, es endlich gesagt zu haben. Endlich dazu zu stehen. Zu ihm zu stehen. Diese ewige Lügerei frisst einen langsam von innen auf. Es ist wie ein schleichender Tod. Und ja, ich weiß, er hat es nicht verdient, meinetwegen zu leiden. Und ich weiß auch, dass die Erleichterung meines Gewissens, ihn belastet und sein Leiden bedeutet, aber in diesem Moment fühle ich mich zum ersten Mal seit Langem frei, fast schwerelos.

„Ich wusste es.“ Er sagt es so leise, dass ich Mühe habe, ihn zu verstehen. „Ich habe es die ganze Zeit gewusst.“ Seine Stimme klingt leer und irgendwie fremd.

„Du hast es gewusst?“

„Ich wollte es nicht glauben, aber ich habe es gewusst.“ Ich schaue Tobias lange an, der lediglich seine Hände betrachtet. „Wer ist es?“ Ich wünschte, diese Frage wäre erst später gekommen. Nein, stimmt nicht. Ich wünschte, diese Frage wäre nie gekommen. Ich hatte mit einem Warum? gerechnet oder einem Wie konntest du das tun? oder einem Hau ab! Sogar mit einer Ohrfeige im Affekt. Aber nicht mit dieser Frage. „Kenne ich ihn?“

„Du hast ihn nie gesehen“, antworte ich und bin stolz auf diese Formulierung.

„Wie lange schon?“

Und wieder überrascht er mich. Und das nicht mit der Frage, sondern mit dieser Ruhe. „Seit einem Jahr.“ Und ich muss meine Stimme nicht verstellen, um schuldbewusst zu klingen.

„Seit einem Jahr.“, wiederholt er meine Antwort. Und dann, ganz unvermittelt schaut er mich an. „Genf.“ Und in dieser Sekunde weiß ich, dass er es weiß. „Hat es in Genf angefangen?“

Ich seufze. „Ja, hat es.“

„Bitte nicht mit ihm.“ Vielleicht sollte ich lügen. Ich meine, so viel Anstand könnte ich haben. Ich habe ihm vom der Affäre erzählt und bis jetzt trägt er es mit Fassung. Aber wenn ich jetzt nicht lüge, dann wird die Fassung verpuffen. Er wird ausrasten. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, wie es aussieht, wenn Tobias ausrastet. Tobias rastet nicht aus. Nie. Er denkt nach und sucht nach rationalen Lösungen für irrationale Probleme. Ich schaue ihn an. In seinen Augen sammeln sich Tränen, dann lächelt er. Und dieser Anblick bricht mir das Herz. „Du brauchst nicht zu antworten...“ Tobias schaut in seinen Schoß und atmet tief ein. „Liebst du ihn?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du weißt es nicht.“

„Nein, Tobias, ich weiß es nicht.“

„Hast du es beendet?“

„Indirekt.“

„Das am Telefon heute...“ Er schaut mich an. „... war er das?“ Ich nicke. „Julian Bartig, also. Der Mann, an dem du alle Männer gemessen hast. Du hast mir nie gesagt, wie er mit Nachnamen heißt.“ Und in diesem Augenblick, in dem alles auf dem Tisch liegt, frage ich mich, warum ich es ihm gesagt habe. Warum etwas beichten, das man auch einfach hätte verschweigen können? War das selbstsüchtig? War es, damit ich mich besser fühle? Was habe ich mir gedacht? Alles, was vor einer halben Stunde noch irgendwie zu retten gewesen wäre, liegt nun in Scherben vor mir. Und ich tue unbeteiligt, obwohl ich diejenige war, die die Ordnung mit einem Baseballschläger in tausend Stücke gefetzt hat. „Warum hast du es mir gesagt?“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich meine, wenn du es beendet hast, hättest du es mir doch einfach verschweigen können. Du hast ein Jahr lang nichts gesagt, warum jetzt? Warum, wenn du es beendet hast?“ Ich betrachte meine Fingernägel. „Willst du mich verlassen? Ist es das, was du willst?“

„Ich...“

„Ich habe dir vertraut“, fällt er mir ins Wort.

„Ich weiß“, sage ich und kämpfe mit den Tränen.

„Na, wenigstens kann man in diesem Fall nicht wirklich von fremdgehen sprechen.“ Tobias schaut mich an. „Er ist schließlich nicht fremd.“ Ich wische mir mit dem Handrücken über die Wange. „Ich muss schon sagen, ich bewundere dich fast ein bisschen.“

„Du bewunderst mich?“, frage ich und schlucke.

„In einem Jahr nicht ein Fehler“, sagt er anerkennend. „Ich meine, kein Versprecher, keine Lügen, die nicht im Bereich des Möglichen gewesen wären, nichts. Das ist beeindruckend.“

„Und trotzdem hast du es gewusst.“

„Seit Genf hatten wir nur zwei Mal Sex, mit heute Nachmittag, drei Mal.“ Er reibt seine Fingerkuppen aneinander. „Und du warst anders. Du bist als Anja weggefahren und als Fremde zurückgekommen. Ich hätte es gleich wissen müssen, als du erzählt hast, dass du ihn getroffen hast. Und ich Idiot dachte doch tatsächlich, es hätte dich einfach mitgenommen, ihn nach so langer Zeit plötzlich wiederzusehen.“ Er schaut mich lange an. „Warum hast du mir damals überhaupt erzählt, dass du ihn getroffen hast? Ich meine, du hättest es mir verschweigen können. So wie den Rest auch.“

Ich massiere meine Schläfen. „Ich habe dir davon erzählt, bevor etwas zwischen uns passiert ist.“

„Sonst hättest du vermutlich nichts gesagt.“

„Nein, wohl eher nicht.“ Seine sonst so gütigen Augen sind leer, ohne jeden Ausdruck liegen sie fremd in seinem Gesicht. „Falls es dich irgendwie tröstet, mein schlechtes Gewissen hat mich fast umgebracht“, sage ich nach einer Weile.

„Aber abhalten konnte es dich nicht.“

„Was ist jetzt mit uns?“

„Es gibt kein uns mehr“, sagt er nüchtern. „Ich liebe dich Anja, ich liebe dich wirklich. Und vielleicht hätte ich dir einen Seitensprung noch verzeihen können, vielleicht auch eine kurze Affäre mit einem Fremden, aber das...“ Ich weine lautlos. Eine Träne nach der anderen läuft über mein Gesicht. „Ich kann dir nicht mehr vertrauen und ich denke, ich kann dir auch nicht verzeihen.“

„Ich liebe dich Tobias.“

Er schaut mich an. „Warum hast du es dann getan?“

„Ich weiß es nicht“, antworte ich schluchzend.

„Ich verstehe nicht, warum du es mir gesagt hast. Du hättest einfach zu mir zurückkommen können. Weißt du, ich dachte, du wärst heute Nachmittag zu mir zurückgekommen.“

„Deswegen bin ich heute ja auch nicht zu ihm gegangen.“

„Jetzt, wo du es mir gesagt hast, ist es zu spät.“ Er schüttelt den Kopf. „Ich habe immer gewusst, dass er in deinem Kopf ist, immer mal wieder. Ich habe immer gewusst, dass er die Liebe deines Lebens war. Aber ich wollte es nicht sehen.“

„Tobias, ich liebe dich.“

„Das glaube ich dir sogar.“ Er legt seine Hand auf meine. „Auf deine seltsame Art liebst du mich. Aber nicht, wie du ihn liebst.“ Gerade als ich Luft hole, legt er mir den Zeigefinger auf die Lippen. „Bitte tu das nicht.“

„Was soll ich nicht tun?“, frage ich schluchzend.

„Lügen.“ Tobias steht langsam auf und geht in Richtung Flur.

Wie kann er so ruhig sein? Keine Wut, keine Vorwürfe. Was hat das bitte mit Liebe zu tun? Oder wenigstens mit Gefühlen und Leidenschaft? Was ist mit Eifersucht? „Wie kannst du so ruhig sein?“, frage ich aufgebracht. „Ich habe dich ein Jahr lang betrogen und du bist kein bisschen wütend?“

„Jetzt habe ich also auch noch falsch auf deine Affäre reagiert? Das tut mir wirklich leid“, sagt er sarkastisch.

„Du willst wissen, warum ich es getan habe?“

Tobias bleibt stehen und dreht sich um. „Warum?“

„Genau deswegen. Weil du so rational bist, du handelst nie nach Impulsen, bist nie spontan, du liebst nur mit dem Kopf.“ Ich stehe auf. „Sicher habe ich dich betrogen, aber du bist an dieser Geschichte nicht ganz unbeteiligt.“

„Ach so? Jetzt habe ich es provoziert?“

„Wenn du so willst, ja.“

„Du bist ja völlig geisteskrank.“

„Was ist mit uns passiert?“, frage ich und gehe auf ihn zu.

„Keine Ahnung“, sagt er seufzend. „Du hast dich so verändert.“

„Und du bist so gleich geblieben.“ Und in diesem Augenblick scheint es mir wie Schuppen von den Augen zu fallen. Ich wollte den sicheren Hafen. Ich wollte den Fels in der Brandung. Zumindest dachte ich das. Ich wollte das Gegenteil von Julian. Einen verlässlichen Mann, einen Anker. Keinen Dramatiker. Und schon gar keinen Träumer. Und genau das habe ich bekommen. Einen Pragmatiker, der meine Seele liebt. Jemanden, mit dem ich alt werden kann. Mit Werten und Prinzipien. Und dann begegne ich Julian. Und ich fühle mich lebendig. Ich sauge seine Leidenschaft in mich auf und schwelge in Tagträumen. Tobias hat recht. Ich liebe Julian. Habe ich immer. Und ich habe nie wirklich damit aufgehört. Das Problem war und ist, dass ich Julian nicht wirklich traue. Ich wollte den Hafen nicht verlassen und gleichzeitig an Bord gehen. Und ich konnte mich nicht entscheiden zwischen dem Sog des Abenteuers und der Geborgenheit. Ich wollte die Sicherheit und den Nervenkitzel und deswegen konnte ich weder Tobias verlassen noch die Affäre mit Julian beenden.

Tränen laufen über mein Gesicht. Tränen der Enttäuschung und der Erkenntnis und der Ernüchterung über meine eigene Täuschung. Das Wohnzimmer wirkt in diesem Moment noch größer als es eigentlich ist und Tobias scheint unendlich weit weg. Vielleicht, weil es sich so anfühlt. Was wird jetzt passieren? Ich meine, nichts ist mehr so, wie es war. Vielleicht wollte ich das.

Dieses Haus ist mein Refugium. Tobias hat fast drei Jahre an den Entwürfen gefeilt, bis alles perfekt war. Ich wollte große Fenster und habe sie bekommen. Ich wollte offene, luftige Räume. Ich habe sie bekommen. Ich habe alles von ihm bekommen. So wie ein Kind. Seine Liebe zum Detail und mein Geld haben diesen Traum verwirklicht.

„Ich liebe dieses Haus“, sage ich nach einer Weile. Tobias steht noch immer regungslos am Treppenabsatz und schaut mich an. „Jedes Detail unterstreicht, wer du bist. Du hast dieses Haus entworfen, wir haben es gemeinsam gebaut...“

„Wo wir gerade dabei sind“, sagt er und schaut mir direkt in die Augen. „Ich will, dass du ausziehst.“

„Du willst das Haus?“

„Ich habe es entworfen.“ Sein Tonfall ist bestimmt. „Es ist mein Haus.“

„Wie man es nimmt“, sage ich ebenso bestimmt. „Ich habe es bezahlt.“

„Du hast was?“, fragt er mit weit aufgerissenen Augen.

„Vergiss es“, sage ich und seufze. „Das Haus gehört dir.“

 

  1. Kapitel 23  

Es ist unbeschreiblich heiß. Und wir wurden gewarnt. Alle haben uns davon abgeraten, in diese Dachgeschosswohnung zu ziehen. Und damit meine ich wirklich jeden, den wir kennen. Kai meinte, wir sterben im Schlaf an einem Hitzschlag. Und Caro war der Auffassung, dass man in so einer winzigen Wohnung unmöglich zu zweit leben kann. Julians Eltern haben nichts gesagt, doch ihre Blicke haben keinen Zweifel daran gelassen, dass diese Wohnung nichts für ihren Sohn ist. Und meine Eltern. Na ja. Sie haben versucht, aufmunternd zu schauen, aber es wurde dann eher ein mitleidiger Gesichtsausdruck. Meine Geschwister haben einfach nur gelacht. Aber was verstehen die schon? Julian und ich brauchen nicht viel Platz. Und ich finde es schön, auf München zu blicken. Über uns ist nur der Himmel. Der kleine Balkon ragt über die Dächer der Stadt. Wir sind abgeschnitten vom Treiben der anderen. Wir kennen die anderen nicht. Und genau das macht diese Wohnung wundervoll, auch, wenn das außer uns keiner so sieht.

Wir sitzen auf dem Balkon. Wir sitzen auf dem Boden, weil wir keine Stühle haben. Und damit meine ich nicht Balkonstühle. Wir haben gar keine. Noch nicht. Im Grunde haben wir fast gar nichts. Das Beste daran, fast gar nichts zu haben, ist, wenn man trotzdem nichts vermisst. Wir haben eine Matratze, und eine Kleiderstange. Wir haben ein paar Töpfe und Pfannen und eine alte Kommode. Und natürlich ein paar Teller und Tassen und so ein Zeug. Aber sonst nichts. Und mehr brauchen wir nicht. Die Küche ist etwas heruntergekommen, das Bad schrecklich gefliest. Eigentlich ist alles an dieser Wohnung schäbig. Aber das stört mich nicht. Das alles ist unwichtig.

„Ich habe etwas für dich.“ Julian streckt mir eine kleine Schachtel entgegen.

„Für mich?“, frage ich überrascht.

„Heute vor genau zwei Jahren hast du mich zum ersten Mal geküsst.“ Ich fasse es nicht, dass er sich das gemerkt hat. Ich dachte, es wäre so eine typische Mädchen-Sache, sich so ein Zeug zu merken. „Es gibt niemanden, der mir so wichtig ist wie du.“ Ich schaue in seine schwarzen Augen, dann öffne ich die kleine dunkelgraue Schachtel. Auf einem glänzenden Samtkissen liegt eine winzige Muschel. Sie glitzert silbern im Sonnenlicht. „Ich weiß, wie gerne du wegfahren wolltest, und dann habe ich diesen Anhänger gesehen und musste sofort an dich denken.“ Ich kann nicht sprechen. Ich möchte etwas sagen. Ich möchte mich bedanken, doch es geht nicht. Meine Kehle ist zugeschnürt. Und meine Muskeln versteinert. „Ich weiß, das ist nicht das gleiche wie wegfahren, aber ich dachte...“

„Danke.“, krächze ich. „Ich liebe die Kette.“

„Sie gefällt dir?“ Er klingt erleichtert.

„Ich werde sie immer tragen.“

Wir stehen unter der Dusche. Das kühle Wasser rettet mein Leben. Und nach Julians entspanntem Gesicht zu urteilen, geht es ihm ähnlich. Ich könnte ewig hier stehen bleiben. Mit ihm. Seine Haut an meiner.

„Mit geschlossenen Augen ist das fast wie Urlaub“, sage ich leise und denke an die kleine Muschel, die um meinen Hals hängt.

„Mir ist völlig egal, wo ich bin, Hauptsache, du bist auch dort.“

Als wir uns wenig später abtrocknen, turnen die Eichhörnchen in meinem Brustkorb herum. Sie toben und springen. Und ich muss lachen.

„Warum lachst du?“

„Ach, das ist albern.“

„Na und?“ Er grinst mich an. „Sag schon.“

„Aber das ist so kindisch.“

„Wen interessiert’s? Dann ist es eben kindisch.“

„Wenn du mich nervös machst oder ich deinetwegen aufgeregt bin, dann spüre ich in meinem Brustkorb Eichhörnchen.“

„Was?“, fragt er lachend.

„Na, es fühlt sich eben so kribbelig an, so als wären da Eichhörnchen in meinem Brustkorb.“

„Eichhörnchen.“ Er lacht noch immer.

„Ich hätte es dir nicht sagen sollen“, sage ich peinlich berührt. Und ich hasse die Tatsache, dass meine Eichhörnchen mir plötzlich peinlich sind. Das waren sie nie.

„Das ist mit Abstand der wundervollste Vergleich, den ich je gehört habe.“

„Das sagst du jetzt doch nur so.“

„Nein, im Ernst.“ Er hält mich am Arm fest. „Wegen genau solcher Dinge werde ich dich für immer lieben.“

 

  1. Kapitel 24  

Wir liegen atemlos nebeneinander. Ich japse nach Luft. Eine Überdosis Hormone tanzt durch meinen Körper. Mit geschlossenen Augen genieße ich seinen Duft. Die Mischung aus Schweiß und Parfum.

Die Sonne geht bereits auf. Der Tag bringt das Licht. Und mit dem Licht die reale Welt. Die, in der ich verheiratet bin und meinen Mann betrogen habe. Ich bin eine böse Betrügerin. Eine Ehebrecherin. Nach dieser Definition ist meine Ehe gebrochen und damit bin ich nicht mehr verheiratet. Und wenn ich nicht mehr verheiratet bin, bin ich ab jetzt auch keine Ehebrecherin mehr. Oder kann man eine Ehe immer wieder brechen. So wie einen Knochen. Habe ich Schuldgefühle, weil ich mit Julian geschlafen habe? Oder habe ich Schuldgefühle, weil ich keine habe?

Julian dreht sich zu mir. „Bist du müde?“ Ich schüttle den Kopf. „Du denkst nach. Worüber denkst du nach?“

„Ich habe meinen Mann betrogen“, sage ich nüchtern. „Darüber denke ich nach.“

„Du bereust es.“