6. KAPITEL
Am Heiligabend schimmerte der Schnee im Mondschein. Es sah so aus, als seien Myriaden winziger Sterne auf die Erde gefallen, deren Lichtschein Chloe und Egan auf der Fahrt zum Haus der O’Briens begleitete. Aus dem Autoradio erklangen Weihnachtslieder. Chloe und Egan unterhielten sich angeregt, und Chloe dachte, einen vollkommeneren Abend habe es noch nie gegeben.
“Was, glaubst du, machen die Mädchen jetzt?” fragte Egan.
Chloe hatte entschieden, dass das Heim unerschütterliche Weihnachtstraditionen brauche, auf die die Mädchen in jedem Fall vertrauen konnten, ganz gleich, was in ihrem Leben durcheinander ging. Deshalb wusste sie genau, was die Mädchen jetzt taten.
“Sie setzen sich zu dem Abendessen zusammen, das sie sich ausgesucht haben.” Chloe hatte die Stimmzettel selbst ausgezählt. Schinken und Roastbeef hatten gewonnen, und es hatte ein einstimmiges Votum dafür gegeben, dass keinerlei Grünes dabei serviert werden sollte. “Und sie werden ihr Bestes geben, um sich für einen Abend wie vollkommene Damen zu verhalten.”
“Kein Fluchen, keine Sticheleien?”
“Nicht an diesem Abend. Als wir abfuhren, waren sie noch am Überlegen, was sie anziehen sollten. Nach dem Essen werden sie Geschenke austauschen. Es muss etwas sein, das sie füreinander selbst gemacht haben. Es kann aber auch ein Versprechen sein, wie, bei der Hausarbeit zu helfen oder den Abwasch für ein anderes Mädchen zu übernehmen.”
“Eine gute Idee.”
“Dann führen sie ein kleines Stück auf.”
“Ich hörte, dass der Weihnachtsmann … dass Mona durch den Schornstein herunterkommen wollte und du das nicht zugelassen hast.”
“Sie wird sich hinter dem Kaminschirm verstecken und herausspringen müssen. Sie spielen ‘Es war die Nacht vor Weihnachten’, und Jenny spielt den Rudolph. Sie hat eine eigene Version des Stückes geschrieben.”
“Schade, dass mir das entgeht.”
“Ich musste ihnen versprechen, dass du morgen kommst, um es dir anzusehen.”
“Wie schön. Ich werde natürlich kommen.”
“Mit den Armen voller Geschenke?”
“Nur ein paar Kleinigkeiten.”
“Wirklich?”
“Es sei denn, du änderst deine Meinung noch, bevor die Läden in …” Egan schaute auf die Uhr, “… in fünfzehn Minuten schließen.”
“Glaubst du, dass du innerhalb von fünfzehn Minuten alles kaufen könntest, was du den Mädchen schenken möchtest?”
“Ich kenne Verkäufer überall in der Stadt, die nur auf mein Stichwort warten.”
“Darauf möchte ich wetten.”
“Im Kofferraum ist ein Autotelefon.”
“Natürlich.”
“Mit automatischer Wähleinrichtung.”
“Ich sage es dir nur ungern, Egan, aber wir sind gar nicht mehr in Pittsburgh.”
“Damit ist wieder einmal eine gute Idee gestorben.” Egan bog auf die Straße ab, die zum Haus seiner Eltern führte. “Du hast ein schönes Weihnachten für die Mädchen vorbereitet, Chloe. Sie machten einen glücklichen Eindruck.”
“So glücklich, wie Kinder sein können, die die Feiertage nicht mit ihrer Familie verbringen.”
“Verlässt jemand morgen das Heim?”
“Einige bleiben für eine Übernachtung weg, andere bekommen Besuch -- aber es sind zu wenige.”
“Umso wichtiger ist es, was du für die Kinder tust.”
Chloe lächelte. “Morgen wird ein schöner Tag für sie. Ich werde mir jedenfalls die größte Mühe geben.”
“Wird es auch für mich ein schöner Tag?”
Für einen Moment befürchtete Chloe, Egan erwarte nun eine Antwort auf seinen Heiratsantrag. Die vergangene Woche war wunderbar gewesen, intim und zärtlich und ohne Forderungen. Aber Chloe wusste, dass Egans Geduld nicht unerschöpflich war. Er hatte sie gebeten, ihn zu heiraten, und sie würde ihm bald eine Antwort geben müssen.
Egan hob fragend die Augenbrauen, und nun verstand Chloe seine Frage. Sie war erleichtert. Unschuldsvoll fragte sie: “Ich weiß nicht, was du meinst.”
“Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir zu Weihnachten nur, einige Zeit mit meinem Mädchen allein sein zu können.”
Sie lachte. “Warst du artig oder unartig, junger Mann?”
Egan lächelte, aber das kostete ihn einige Mühe. Er fragte sich, wie Chloe sein Verhalten beurteilen würde, wenn der Abend vorbei war. Er hatte Angst, dass ihre Beziehung unter der Überraschung leiden würde, die er für sie vorbereitet hatte.
“Nun, der Weihnachtsmann wird sehen, was sich machen lässt”, sagte Chloe.
Das Haus der O’Briens war in das hektisch flackernde Licht vieler grüner und roter Lampen getaucht, die so schnell an- und ausgingen, dass Chloe die Augen schließen musste, um nicht schwindlig zu werden. “Das sieht aber sehr weihnachtlich aus”, sagte sie, als Egan um den Wagen herumgekommen war und die Tür für sie offen hielt.
Bevor sie aussteigen konnte, bückte er sich und küsste sie. Der Kuss war unerwartet leidenschaftlich, wenn man berücksichtigte, dass die ganze Familie zusah.
“Schau nach unten, ich werde dich führen”, sagte Egan, als er schließlich von Chloe abließ. “Wir werden im Nu im Haus sein.”
Die Hunde liefen ihnen zur Begrüßung entgegen, die Familie folgte. Offensichtlich wollte niemand das Risiko eingehen, übersehen zu werden.
Auf der Veranda drückte Dick Chloe einen Becher mit heißem gewürzten Apfelwein in die Hand, während Dottie lautstark darauf bestand, dass sich jemand sofort daranmachte, die Lichterkette richtig einzustellen. Das geschah auch umgehend, das Geflacker endete. Nachdem Dottie zufrieden war, dass ihr Haus nicht mehr wie ein Schnellimbiss an der Landstraße wirkte, gingen alle hinein.
Im Kamin brannte ein Feuer. In der Asche rösteten Kastanien. Das Haus duftete nach Ingwerbrot und in Butter gebratenem Truthahn.
Als die beiden Frauen allein in der Küche waren, legte Dottie den Arm um Chloes Schultern. “Ich fürchte, wir sind nicht sehr auf Formen bedacht. Ich habe zu Heiligabend immer darauf bestanden, dass die Jungen während der gesamten Mahlzeit am Tisch sitzen blieben und dabei Schuhe trugen, aber mehr konnte ich nicht durchsetzen.”
“Es wäre mir sehr unangenehm, wenn alles steif und förmlich wäre. Dies …”
“Was, meine Liebe?”
“Nun, dies ist ein Zuhause, und ihr seid eine Familie.”
“Du gehörst dazu, das weißt du. Wir alle lieben dich.”
Chloe wusste nicht, woher ihre Tränen kamen. Eben noch hatte sie an einer unverbindlichen Plauderei teilgenommen, und nun waren ihre Augen plötzlich feucht, und die Kehle war ihr wie zugeschnürt.
Chloe drehte sich zu Dottie um, die beiden Frauen umarmten sich. “Vielen Dank. Ich liebe euch auch alle.”
“Es ist wirklich eigenartig. Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht. Natürlich war ich mit den Jungen nicht unglücklich. Vom Moment ihrer Geburt an war ich ganz verrückt nach ihnen. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass in meinem Leben etwas fehlt. Ich sagte zu Dick, dass ich mir eine Tochter zu Weihnachten wünschte. Er lachte immer und meinte, er werde tun, was er könne. Aber es fehlte stets das richtige Chromosom. Nun jedoch ist das egal. Es sieht so aus, als würde Egan mir dieses Jahr zu Weihnachten eine Tochter schenken.”
Chloe konnte nicht antworten.
“Oh, bestimmt habe ich zu viel gesagt.” Dottie tätschelte besorgt Chloes Schulter. “Ich möchte auf keinen Fall irgendeinen Druck auf dich ausüben. Du und Egan solltet euch Zeit nehmen. Ich habe nicht vor, dich zu überreden, schon morgen zu heiraten. Und selbst wenn du ihn nicht heiraten willst, hoffen wir doch, dass …”
Chloe hob den Kopf. “Du hast dir wirklich eine Tochter zu Weihnachten gewünscht?”
“Das ist töricht, nicht wahr? Ich wusste alles über die Bienen und die Vögel, und ich war zu alt, um an den Weihnachtsmann zu glauben.”
“Ich habe mir eine Familie gewünscht.”
Dottie wischte eine Träne von ihrer Wange und dann eine von Chloes Wange. “Nun, die hast du jetzt.”
Egan kam in die Küche. “Was ist denn hier los?”
Dottie lächelte Chloe an. “Oh, nur etwas Frauengerede, sentimentales Frauengerede.”
“Über was?”
Chloe drehte sich um und warf sich Egan in die Arme. “Weihnachtsgeheimnisse.”
Egan hielt sie fest umschlungen und überlegte, ob er diese Stellung den ganzen Abend einhalten sollte. “Ich weiß nicht, womit ich das verdient habe, aber ich nutze es gern aus.”
“Wie wäre es, wenn du den Truthahn ins Esszimmer brächtest?” sagte Dottie. “Wenn du mit deiner jetzigen Beschäftigung fertig bist.”
Das Essen war sehr lecker. Dottie hatte zum Nachtisch eine Schokolade-Pfefferminz-Torte gebacken, und zu Ehren von Chloe gab es eine Platte mit Baklava.
Nach dem Essen machten alle zusammen einen Spaziergang. Sie stampften über verschneite Wege um einen zugefrorenen Teich hinter dem Haus. Egan zeigte auf eine Waldlichtung, die der ideale Platz war, um eine Reitbahn anzulegen, und Dick beschrieb zwei Pferde, die ein Nachbar verkaufen wollte. Chloe umarmte beide Männer.
Sie hinterließen Körner für die Vögel und bewarfen einander mit Schneebällen, während sie zum Haus zurückwanderten.
Schließlich war die Zeit gekommen, um die Geschenke auszupacken.
Noch nie hatte sich Chloe so wunderbar gefühlt. Das Kaminfeuer hatte ihre klammen Zehenspitzen und Finger wieder gewärmt, sie prickelten angenehm. Dass Egan seinen Arm um sie gelegt hatte, verursachte ein noch stärkeres Prickeln. Sie lehnte sich an ihn und dachte an die künftigen Jahre und an die Weihnachtsfeste, die sie wie dieses miteinander verbringen konnten. Eines Tages würden ihre Kinder ein Teil der glücklichen Familie sein, sie würden Tanten und Vettern haben, sobald Egans Brüder ebenfalls geheiratet hatten.
Wenn sie Ja sagte, konnte sie den Mann bekommen, den sie liebte, der sie liebte. Sie würde eine richtige Familie haben, die sie ebenfalls liebte. Jetzt besaß sie bereits ihre Katze Angel. Das war fast schon genug, um in ihr die Überzeugung zu wecken, dass der Weihnachtsmann ihre Wunschliste all die Jahre aufbewahrt hatte, um sie im richtigen Moment zu erfüllen.
Das nächste Geschenk machte Chloe besonders glücklich. Die meisten Geschenke waren bereits verteilt, als Dottie und Dick einen riesigen Karton vor Chloe stellten. Gary, Rick und Joe, die Süßigkeiten besonders liebten, hatten die Schachteln mit selbst gemachten Pralinen und Schokolade-Mandel-Trüffeln geöffnet, die Chloe ihnen geschenkt hatte. Man musste Dick von der Lektüre eines brandneuen Abenteuerromans seines Lieblingsschriftstellers losreißen, und Dottie war immer noch entzückt, dass sie den handbestickten Pullover bekommen hatte, den sie auf einer ihrer Einkaufstouren mit Chloe bewundert hatte.
Chloe konnte sich nichts Schöneres vorstellen als die sorgfältig ausgesuchten Geschenke -- Parfüm und Halstücher -- von Egans Brüdern. Sie wusste, dass sie noch monatelang lächeln würde, wenn sie daran dachte, wie jeder von ihnen etwas so entschieden Weibliches gekauft hatte.
Als sie das Band um den riesigen Karton löste, schauten alle zu. Es war ein Geschenk von Dick und Dottie. Wegen seiner Größe schätzte Chloe, dass es ein Kratzbaum für das Kätzchen sei.
Sie klappte die Kartondeckel auf und enthüllte ein Puppenhaus -- die genaue Nachbildung der “Letzten Zuflucht”.
“Es ist noch längst nicht fertig”, entschuldigte sich Dottie. “Dick und ich haben zwar schon viel Arbeit hineingesteckt. Er hat den Entwurf angefertigt und die Tischlerarbeiten erledigt. Aber wir hatten noch keine Zeit, um die Inneneinrichtung ganz fertig zu stellen. Einige der Kamine …”
“Ein Puppenhaus.” Chloe war überwältigt. Es war nicht etwa nur ein gewöhnliches Puppenhaus, sondern etwas, das sie ihr ganzes Leben lang wie einen Schatz hüten konnte. Es stellte ihre Vergangenheit als Pflegekind dar, ihre jetzige Stellung als Leiterin eines Pflegeheims und wahrscheinlich auch ein großes Stück ihrer Zukunft. Ein Puppenhaus hatte sie sich immer gewünscht, und sie war noch nicht zu alt -- sie würde nie zu alt sein --, um es mit Freude entgegenzunehmen. “Ein Puppenhaus.” Tief gerührt schüttelte sie den Kopf.
“Ich werde es für dich aus dem Karton heben”, bot Egan an.
Chloe sah zu, wie Egan und Dick es herausholten und vor ihr auf den Fußboden stellten. “Es hat Beleuchtung”, sagte sie.
“Ja, natürlich”, bestätigte Dottie. “Ich habe einige Nachforschungen angestellt. Alma Benjamin hatte elektrische Beleuchtung in ihrem Haus anbringen lassen, sobald es sie gab. Sie dachte sehr fortschrittlich. Soweit ich es beurteilen kann, muss das Haus um die Jahrhundertwende so ausgesehen haben -- bevor diese Burschen hier und andere ihrer Art damit anfingen, ihre so genannten Verbesserungen anzubringen.”
“Mutter will damit ausdrücken, dass wir das Haus auf das angemessene Niveau gebracht haben”, warf Egan ein.
“Gefällt es dir?” fragte Dottie.
Chloe schaute einen nach dem anderen an. Sie warteten auf ein einfaches Ja oder Nein. Aber sie hatte sehr viel mehr zu sagen. Und sie konnte es sagen, das wusste sie jetzt. Sie konnte ihnen von dem kleinen Mädchen in ihr erzählen, weil sie das große Mädchen liebten, und das kleine Mädchen war ein Teil von ihr.
“Als ich noch klein war”, begann sie mit leiser Stimme, “hatte ich zu Weihnachten eine Wunschliste. Jedes Jahr wünschte ich mir dasselbe. Aber ich bekam es nie. Ich war nicht richtig unglücklich. Man kümmerte sich um mich, und ich habe einige gute Freundschaften geschlossen. Ich bin stolz auf das, was ich geworden bin.”
Chloe sah Egan an. Sie wollte aus seinem Anblick Kraft gewinnen. Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. “Aber irgendwann hörte ich auf, an Weihnachten und den Weihnachtsmann zu glauben und daran, dass ich etwas bekommen könnte, nur weil ich es mir wünschte. Dann bin ich euch allen begegnet.”
Sie wandte sich von Egan ab und schaute die anderen an.
In ihren Gesichtern las sie Verständnis und Zuneigung. In Dotties Augen standen Tränen.
“Ich habe euch noch nie von meiner Liste erzählt, aber jetzt möchte ich das tun. Ich wünschte mir ein Kätzchen, ein Puppenhaus mit Beleuchtung und eine Familie, die allein mir gehörte -- eine Mutter, die mit mir Weihnachtskekse backen und Geschenke einkaufen würde, einen Vater, der mich liebte, und Brüder und Schwestern, die mein Leben ständig begleiteten und nicht immer wieder verschwanden.”
Chloe spürte, dass Egan ihre Hand drückte. Sie erwiderte seinen Händedruck. “Als ich alt genug war, um Verständnis für die Liebe zu haben, wünschte ich mir einen Mann in meinem Leben, der mich liebte, einen, den ich ebenso lieben konnte wie er mich.” Sie lächelte strahlend. Die Tränen, die sie in der Küche vergossen hatte, waren vergessen.
“Ich danke euch allen sehr, dass ihr die Wünsche auf meiner Liste erfüllt habt. Ich danke jedem Einzelnen von euch, besonders aber dir, Egan.”
Sie drehte sich langsam zu ihm um. Was ihr Herz sagte, spiegelte sich in ihrem Blick wider. Sie wusste jetzt, dass sie nie wirklich an Egan gezweifelt hatte oder daran, dass ihre Vereinigung vollkommen sein würde. Sie hatte es zugelassen, dass Furcht sie lähmte, die Furcht eines Kindes, dem nie gegeben worden war, was es sich am meisten gewünscht hatte.
Aber dieses Kind war jetzt erwachsen -- es war ein erwachsener Mensch geworden, der plötzlich an Wunder glaubte, an die Liebe.
“Chloe.” Egan umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. Seine Augen schimmerten verdächtig.
“Ich werde nie wieder sagen, dass ich nicht an den Weihnachtsmann glaube, Egan.”
Als Egan sie schließlich losließ, drängte sich die ganze Familie darum, Chloe zu umarmen. Sie lachte und erwiderte alle Umarmungen. Die Zuneigung dieser Menschen machte sie sehr glücklich. Als alle an der Reihe gewesen waren, schmiegte sich Chloe wieder in Egans Arme. Dies war der schönste Platz auf der ganzen Erde. Hier wollte sie immer bleiben. Sie würde bestimmt einen Weg finden, Egan das zu sagen, sobald sie mit ihm allein war.
Dann fiel Chloe auf, dass alle schwiegen, so, als sei noch etwas zu erwarten.
“Ich habe noch ein Geschenk für dich, Chloe”, sagte Egan. “Genauer gesagt, ist es von Rick und von mir.”
Überrascht erwiderte Chloe: “Aber du hast mir doch bereits Angel geschenkt, und von Rick habe ich die Ohrringe bekommen.”
“Was wir jetzt haben, unterscheidet sich davon ein wenig.”
Chloe hörte, dass Egans Stimme eine gewisse Anspannung verriet. Sie ernüchterte ein wenig -- von unbeschreiblicher Freude zu gewöhnlichem Glück. Sie sah, dass Egan zögerte, und glaubte den Grund dafür zu kennen. Bestimmt würde er jetzt seinen Heiratsantrag wiederholen, hier, vor der ganzen Familie, und der arme Mann wusste nicht, dass sie ihn freudig annehmen würde. Sie konnte sich allerdings nicht vorstellen, was Rick damit zu tun hatte.
Egan griff in die Jackentasche. Aber was er herauszog, war kein sorgfältig verpacktes Schmuckkästchen. Es war ein Briefumschlag, den Egan Chloe wortlos reichte.
Sie las die Anschrift auf dem Umschlag, auf dem ihr unbekannte ausländische Briefmarken klebten. “Er ist an dich adressiert, Egan.”
“Öffne ihn.”
Sie betrachtete den Briefumschlag genauer. Die Worte verschwammen vor ihren Augen. Für einen Moment verstand sie nicht. “Der Brief kommt aus Griechenland”, sagte sie schließlich.
“Öffne ihn.”
Eigenartigerweise schienen ihre Hände eher als ihr Verstand zu begreifen. Sie zitterten ein wenig, als sie zwei Briefbogen aus dem Umschlag nahmen. Fotos fielen ihr auf den Schoß, aber sie achtete nicht auf sie. Sie begann, den Brief sorgfältig zu lesen. Doch erst als sie bereits im zweiten Absatz war, begannen die Wörter für sie einen Sinn zu ergeben.
Sie schaute auf. “Meine Tante?”
Egan nickte. “Helena Palavos. Palavos ist dein ursprünglicher Familienname. Dein Vater hat ihn geändert, als er mit deiner Mutter in dieses Land kam.”
“Dann heiße ich Chloe Palavos?”
“Wenn du den Namen wieder annehmen willst, brauchst du einen Gerichtsbeschluss.”
“Sagt sie, weshalb mein Vater seinen Namen geändert hat?”
Egan merkte, dass Chloe unter einem Schock stand. Er wusste, dass sie den Brief später genau durchlesen, dass sie ihn vielleicht sogar auswendig lernen würde. Aber jetzt brauchte sie erst einmal Zeit, um die Neuigkeit zu verarbeiten, und sie brauchte schnelle Antworten.
“Er begegnete deiner Mutter und verliebte sich in sie, als sie in Griechenland Urlaub machte. Seine Familie wollte nicht, dass er eine Amerikanerin heiratete. Sie hatte Angst davor, dass er vergessen werde, wer er war. Aber sie konnte ihn nicht überreden, deine Mutter aufzugeben. Als sein Vater -- dein Großvater -- ihm sagte, er werde den Namen deines Vaters nie wieder aussprechen, wenn er deine Mutter heiratet, nahm dein Vater ihn beim Wort. Er verschwand eines Tages einfach. Er begleitete deine Mutter in die Vereinigten Staaten und brach jede Verbindung zu seiner Familie ab. Sein Vater wollte noch jahrelang nichts mehr von ihm hören, aber seine Brüder wollten ihn finden …”
“Brüder?”
“Du hast eine Menge Verwandte”, sagte Egan.
“Wo?”
“Die meisten leben auf der Insel Zante in der Nähe einer Stadt, die Zakinthos heißt. Sie sind Bauern. Deine Tante sagt, sie haben Olivenhaine. Wenn sie auf einer bekannteren Insel lebten, hätten unsere Behörden sie nach dem Tod deiner Eltern vielleicht finden können. Aber den ursprünglichen Nachnamen deines Vaters …”
“Wie hast du …”
“Ihn herausbekommen? Das hat Rick übernommen. Du weißt ja, dass er für die Einwanderungsbehörde arbeitet.”
“Das war mir eigentlich nie so richtig bewusst.”
Rick erläuterte: “Ich wusste, welche Unterlagen ich einsehen musste und wo sie waren. Ich brauchte nur einige Stunden, bis ich deinen Vater unter dem neuen Namen fand, seinen ursprünglichen Namen herausbekam und seine Herkunft bis nach Zante verfolgt hatte.”
“Nur einige Stunden?”
Egan konnte nachvollziehen, was sie empfand. Nur einige Stunden Mühe, ein paar Fragen an die richtigen Leute, und schon wäre sie in Griechenland aufgewachsen, inmitten einer Familie, ihrer Familie. “Sie möchten dich kennen lernen, Chloe. Als wir den Namen und den Geburtsort deines Vaters hatten, waren sie leicht aufzufinden. Ich konnte mit deiner Tante telefonieren.”
Chloe fielen dazu keine Worte ein. Sie konnte sich vorstellen, was ihre Tante gefühlt hatte.
“Sie war traurig”, fuhr Egan fort, “als ich ihr von deinem Vater und deiner Mutter erzählte. Sie hatte immer befürchtet, dass ihnen etwas zugestoßen sei. Sie glaubte, dein Vater würde den Streit schließlich beigelegt haben, wenn er noch lebte. Als er nicht wieder nach Haus kam, ahnte sie schon Schlimmes.”
“Hat jemand versucht, mich zu finden?”
“Ja. Dein Großvater gab schließlich nach und ließ zu, dass deine Onkel suchten. Aber die Familie hatte damit ebenso wenig Erfolg wie umgekehrt der Staat Pennsylvania mit ihnen. Sie kamen einfach nicht an die richtigen Quellen heran.”
“Mein Großvater?”
“Er starb vor zehn Jahren.” Egan streichelte Chloes Wange. “Deine Großmutter ist achtzig. Sie sagt, sie wolle nicht sterben, ohne dich vorher gesehen zu haben. Sie alle möchten, dass du möglichst bald zu ihnen fliegst.”
Chloe dachte an das Geld, das sie gespart hatte und das sie für einen Privatdetektiv hatte ausgeben wollen. Aber das war nicht mehr auf ihrem Konto.
“Nach Griechenland …”, sagte sie leise.
“Sie haben Fotos geschickt. Dieses hier wird dich besonders interessieren.” Egan nahm eines von ihrem Schoß.
Sie betrachtete es und sah die Gesichter ihrer Eltern -- Gesichter, die sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Den Wohnungsbrand hatten keine Fotos überstanden. Wie vieles andere hatte sie im Laufe der Zeit auch vergessen, wie ihre Eltern ausgesehen hatten.
Egan schaute zu, wie sie jede Einzelheit in sich aufnahm. “Dieses Bild wurde gemacht, kurz bevor sie Griechenland verließen. Deine Tante hatte es versteckt und die ganze Zeit über aufbewahrt.”
Chloe sah sich die anderen Fotos an und erblickte zum ersten Mal die Familie, von der sie nichts gewusst hatte. Schließlich seufzte sie. “Was könnte ich dazu nur sagen?”
“Du könntest sagen, dass du nicht böse bist.”
“Böse? Weshalb sollte ich das sein?”
“Ich weiß, dass du seit Jahren Geld gespart hast, um sie zu finden. Und ich weiß auch, wie viel dir daran liegt, deine Angelegenheiten selbst zu erledigen.”
“Ich hätte bestimmt noch viele Jahre gebraucht, bis ich Erfolg gehabt hätte.”
“Jahre?”
Chloe nickte, erklärte ihre Behauptung aber nicht. “Meine Großmutter wäre dann wahrscheinlich schon tot gewesen. Jetzt habe ich die Chance, sie noch einmal zu sehen.”
“Dann bist du uns wirklich nicht böse?”
“Ich liebe dich.” Sie stand auf und küsste Egan. “Ich liebe euch alle.”
Die ganze Familie atmete erleichtert auf. Es gab weitere Umarmungen und gute Wünsche, und von nun an lief alles wieder normal. Chloe steckte den Brief ihrer Tante in die Jackentasche. Sie würde ihn später, wenn sie allein war, in aller Ruhe lesen. In den folgenden Monaten würde sie oft genug darüber nachdenken können, was es bedeutete, Mitglied der Familie Palavos zu sein, und sie würde Briefe schreiben. Sie war also doch nicht völlig verwaist, sondern es gab Menschen, die mit ihr blutsverwandt waren und die auf einer Insel mit dem Namen Zante auf sie warteten, weit weg.
Nun war sie mit einer anderen Familie zusammen, einer Familie, mit der sie keine Blutsbande vereinigten. Aber es war die Familie, die sie liebte, ohne dafür einen weiteren Grund zu haben, und die ihr vermutlich immer am nächsten stehen würde.
Die Fahrt zurück nach Hause verlief fast schweigend. Es waren nur wenige Leute unterwegs. Immer noch wurden im Radio Weihnachtslieder gespielt. Chloe schloss die Augen und dachte über all die wunderbaren Dinge nach, die sie bekommen hatte, seit Egan in ihr Leben getreten war. Egan warf ihr von Zeit zu Zeit einen Blick zu und freute sich, dass sie so zufrieden aussah.
“Ich wünsche mir, du könntest jetzt mit zu mir kommen”, sagte er, als er vor dem Heim hielt.
Sie lächelte ihn an. “Das wäre wirklich eine gute Idee. Aber ich habe Martha versprochen, noch einmal zu überprüfen, ob alles für die Bescherung morgen früh unter dem Baum liegt und in den Strümpfen steckt. Und so wie ich die Mädchen kenne, werden sie schon bald nach Mitternacht aufstehen und behaupten, es sei schon Weihnachten.”
“Ich weiß. Ich kann einfach nichts für meine Wünsche.”
“Oh, ich wünsche es mir auch. Du weißt gar nicht wie sehr. Aber wir werden morgen Abend zusammen sein.”
Sie gaben sich einen vielversprechenden Kuss vor der Haustür. Chloe wollte nicht hineingehen. Die Nacht war völlig still. Es schneite lautlos. Der Mann, der sie umarmte, reichte völlig aus, um sie warm zu halten und sie für immer glücklich zu machen. Sie hielt ihn fest, sie wollte diesen Augenblick verlängern. Aber dann schlug es zwölf, und vom Kirchturm her wurde der Weihnachtsmorgen eingeläutet.
“Fröhliche Weihnachten”, sagte Egan.
Sie küsste ihn noch einmal, ihre Zunge spielte mit seiner. Sie wollte Egan zeigen, dass dies das glücklichste Weihnachtsfest in ihrem ganzen Leben war. Zögernd schloss sie dann die Haustür auf.
Egan folgte ihr ins Haus. Im Flur war es dunkel. Nur die Notbeleuchtung an der Treppe erhellte ihren Weg ein wenig. “Worüber hast du unterwegs nachgedacht, Chloe?”
Sie hatte darüber nachgedacht, wie sie ihm sagen konnte, dass sie ihn heiraten würde. Aber ihr waren die richtigen Worte nicht eingefallen. “Über Weihnachtswünsche und unverhoffte Geschenke. Die Familie meines Vaters zu finden war der letzte Wunsch auf meiner Liste.”
“Und der einzige, von dem du mir jemals erzählt hast.”
Sie streichelte sein Kinn. “Du hast keinen Bart. Verrate mir, bist du trotzdem der Weihnachtsmann? Ich kann ein Geheimnis bewahren.”
“Ich würde gern mein ganzes Leben damit verbringen, dich glücklich zu machen. Macht mich das zum Weihnachtsmann?”
“Es würde dich zum wunderbarsten Mann auf der ganzen Welt machen, wenn du es nicht bereits wärst.”
“Chloe.” Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände.
Sie lehnte sich an ihn und nahm ihren ganzen Mut zusammen. “Ich habe ein Geschenk für dich. Ich wollte es dir geben, sobald wir allein sind.”
“Ich habe bereits ein Geschenk von dir bekommen.”
“Aber ich glaube nicht, dass es das war, was du dir am meisten gewünscht hast.”
Egan runzelte die Stirn. “Nein?”
“Du hast doch gesagt, dass du mich haben willst.”
“Ich hatte den Eindruck, dass wir neulich einen guten Anfang gemacht haben.”
Chloes Lächeln war gefährlich verführerisch. “Nun, wenn das alles ist, was du gemeint hast …”
“Du weißt, dass das nicht stimmt.”
Plötzlich hatte sie keine Angst mehr. Sie glaubte auch nicht, dass sie sich jemals wieder fürchten würde. Sie sah Egan in die Augen. “Willst du mich immer noch heiraten?”
“Mehr als alles andere.”
“Dann lass es uns tun.”
“Wie, einfach so?”
“Den schwierigsten Teil haben wir doch schon hinter uns: Wir haben uns verliebt. Der Rest wird einfach sein, glaubst du nicht auch?”
Egan gab sich Mühe, ebenso leise zu sprechen wie Chloe. “Wirklich sehr einfach.”
“Also bald?”
“Ist morgen früh genug?”
“Das schlag dir lieber aus dem Kopf. Deine Mutter würde einen Anfall bekommen. Wir müssen Pläne machen. Ich muss dafür sorgen, dass ich Urlaub nehmen kann, damit wir hinterher eine Hochzeitsreise machen können.”
Egan griff in die Tasche und zog einen Umschlag heraus “Ich wollte dir dies eigentlich erst am Weihnachtsmorgen geben. Aber der ist ja nun bald. Mach auf.”
“Sag bloß, du hast schon die Heiratslizenz besorgt.”
“Mach den Umschlag auf.”
Sie tat es. Im schwachen Licht brauchte sie einen Moment, um die Schrift lesen zu können. In dem Umschlag waren zwei Flugtickets für eine Rundreise durch Griechenland.
“Ich dachte, du würdest mich vielleicht deiner Familie vorstellen wollen”, sagte Egan.
“Wir fliegen nach Griechenland?”
“Für die Flitterwochen, wenn du willst.”
“Ich dachte …”
“Was hast du gedacht?”
“Ich dachte, es würde noch Jahre dauern, bevor …”
“Ich wollte nicht, dass du deine ganzen Ersparnisse für das Flugticket eines Detektivs ausgibst.”
“Oh, Egan …” Chloe schloss die Augen.
“Natürlich, wenn du lieber allein fliegen willst, kann ich das verstehen. Wir können unsere Flitterwochen auch anderswo verbringen.”
“Allein? Natürlich nicht. Das wird die schönste Hochzeitsreise, die ich mir denken kann.”
“Ich freue mich, dass du das so siehst.” Egan schloss Chloe in die Arme. Für lange Zeit war es im Flur wieder still.
“Komm”, sagte Egan schließlich. “Ich helfe dir, die Geschenke zu überprüfen.”
“Nein -- ich meine, das ist nicht nötig. Du wirst von der vielen Fahrerei müde sein. Ich schaffe das schon allein.”
Egan schob sie zum Wohnzimmer mit der großen Blautanne. “Red keinen Unsinn. Das wird eine gute Übung für später sein, wenn wir eigene Kinder haben.”
Chloe versuchte ihn aufzuhalten. “Aber das brauchen wir doch jetzt nicht zu üben. Es ist zu früh. Wir haben ja noch nicht einmal den Hochzeitstag bestimmt.”
Egan schaltete die Beleuchtung im Wohnzimmer ein. Der ganze Raum wurde von hellem Licht erfüllt. “Ich wollte nur mal sehen …” Egan verstummte verblüfft.
Chloe vermied es, ihn anzusehen.
“Nein, so etwas habe ich noch nicht gesehen”, sagte Egan schließlich.
“Was denn?”
Das Zimmer war voller Geschenke. Die meisten waren eingepackt, aber einige waren dafür zu groß. An einer Wand lehnten Skibretter, die mit einem roten Band zusammengebunden waren. Eine Stereoanlage, wie Heidi sie sich gewünscht hatte, war in einer Ecke aufgestellt. Wohin Egan auch blickte, überall waren Geschenke und noch mehr Geschenke. Er vermutete, dass den Mädchen jeder Wunsch auf ihren Listen erfüllt worden war.
“Ich habe das nicht getan”, sagte er schließlich. “Glaub mir, Chloe, ich war das nicht.” Er sah sie an und legte ihr die Hände auf die Schultern. “Ein Versprechen ist ein Versprechen. Ich würde nicht gegen deine Wünsche verstoßen.”
“Meine Wünsche”, wiederholte Chloe.
“Wirklich, ich weiß nicht, woher diese Geschenke kommen. Ich habe keine Ahnung. Aber von mir oder meiner Familie sind sie nicht.”
Chloe neigte den Kopf zur Seite und tat so, als schätze sie Egan ab. “Ich glaube dir.”
“Aber wer war es?”
“Vermutlich der Weihnachtsmann.”
Egan hörte gar nicht recht hin. “Der Verwaltungsrat? Jemand vom Personal?”
Chloe schob die Hände in die Taschen. Sie waren leer, fast so leer wie das Sparkonto, das sie am Montag aufgelöst hatte. Und leer würde auch ihr Gehaltskonto sein, wenn im Januar alle ihre Kreditkartenkäufe abgebucht waren.
“Ein Nachbar? Ein heimlicher Wohltäter?” überlegte Egan weiter.
“Der Weihnachtsmann”, wiederholte Chloe.
Als sie seine Fragen wegküsste, dachte sie über Weihnachtswünsche und unverhoffte Geschenke, über besiegte Angst und gefundene Liebe nach, über die einfache, vollkommene Schönheit des Gebens.
Sie kam zu dem Ergebnis, dass sie in Zukunft noch genug Zeit haben würde, um Egan alles zu sagen, was sie über den Weihnachtsmann erfahren hatte. Sie hatte viel Zeit -- ein ganzes Leben lang.
-- ENDE --