- Eickert Annette
- Burning Wings
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Die Schatten der
Lügen
Vor Staunen fehlten mir die Worte. Eljakim führte mich
durch den Palast, vorbei an goldenen und silbernen Statuen in
unterschiedlichen Kriegerposen. Einmal mit Engelsflügeln, einmal
ohne, mit Schwert oder Speer bewaffnet. Von den hohen Decken hingen
Kristallleuchter herab. Ich vermutete, dass sie in der Nacht, wie
ich inzwischen schon zweimal gesehen hatte, von einer unbekannten
Quelle gespeist würden, um die Gänge in künstliches Licht zu
tauchen. Doch zurzeit glitzerten sie im Sonnenlicht. Ihre Facetten
warfen verspielte Schatten an die Wände und auf den Boden. Die
Gänge selbst waren lang und von etlichen Biegungen unterbrochen,
die man von außen nie vermutet hätte. Schließlich erreichte ich mit
Eljakim eine abseits gelegene Treppe. Er verbot mir unter Androhung
einer Strafe, niemals die Haupttreppe zu benutzen, welche direkt
von der Vorhalle nach oben führte. Diese wäre nur für Metatron, die
Throne und den Himmelsrat bestimmt. Auch das Eingangsportal dürfte
ich ab sofort nur in Begleitung von Eljakim nutzen. Für jeden
anderen galt es, den Palast über den Dienstboteneingang im Westen
zu betreten. Die genaue Betonung, die er dabei an den Tag legte,
erschreckte mich, aber ich ließ mir nichts anmerken. Wüsste ich es
nicht besser, so glaubte ich, er hätte vor irgendetwas Angst. Nur
Angst wovor?
Eljakim wechselte
schnell das Thema und erklärte mir, wo sich was in diesem riesigen
Gebäude befand. Die Küche lag im Keller. Das Erdgeschoss
beherbergte den Himmelsrat und verschiedene Verwaltungsbüros. Im
ersten Stock waren die öffentlichen und privaten Räume der Throne
untergebracht. In der zweiten Etage befanden sich offizielle
Räumlichkeiten für Anlässe aller Art. Im dritten Stockwerk
residierte der Herrscher Metatron persönlich, und es war jedem
strengsten untersagt, dieses zu betreten, wenn man vorher nicht
dazu ausdrücklich befugt wurde. Das vierte Geschoss würde künftig
mein Zuhause sein, denn dort lagen Eljakims Räume, aber auch die
Unterkünfte der Erzengel.
Kaum hatten wir den
letzten Absatz erreicht, schwirrte mir von seinen Worten der Kopf,
und ich war völlig außer Puste. Eljakim war förmlich die Stufen
nach oben gerannt und wirkte kein bisschen atemlos. Wieder einmal
bewunderte ich ihn dafür. Allerdings erweckte sein plötzlich
verändertes Verhalten bei mir den Eindruck, als hätte er
tatsächlich Angst. Hier ein fahriger Blick über die Schulter, dort
ein abruptes Innehalten, um sofort weiter zu hetzen. Vielleicht war
es weniger Angst, sondern mehr das Gefühl, als sollte uns niemand
sehen, was ich nicht verstand. Ich wollte schon nachfragen, da
scheuchte er mich bereits weiter und meinte:»Erklärungen folgen
später.«
So schlichen wir
weiter und passierten mehrere Flure, bis wir vor einer Tür
anhielten. Sie hatte einen goldenen Griff, und der Rest des dunklen
Holzes, welches im starken Kontrast zu den weißen Marmorwänden
stand, war reich mit verschnörkelten Schnitzereien
verziert.
Nie im Leben würde
ich mir den Weg merken können.
Als hätte Eljakim
meine Gedanken gelesen, sagte er:»Es ist die vierte Türe
nach der dritten Biegung.«
»Und das soll mich beruhigen? Ist dir schon aufgefallen,
dass hier jede Tür und jeder Gang gleich
aussieht?« Mein Zynismus war zurück.
Da war es wieder,
dieses schelmische Leuchten in seinen smaragdfarbenen
Augen.»Das kommt dir nur so vor, Damian. Merke dir einfach
meine Worte.« Es stand außer Frage, dass er sich auf meine Kosten
amüsierte.
»Wäre ich jetzt nicht so verdammt neugierig, wie ein
Engel wohnt, würde ich dir eine schlagkräftige Antwort
entgegenschleudern. Aber ich will wissen, wie es hinter der Tür
aussieht.« Gedanklich fügte ich hinzu: Ich will wissen, wie du lebst.
Eljakim schenkte mir
ein breites Lächeln und schnippte mit den Fingern. Wie von
Geisterhand glitt die Tür geräuschlos auf und gab mir den Blick auf
seine Räume frei. Sein privates Reich entpuppte sich als Wohnung
mit zwei Zimmern, die durch Türen miteinander verbunden waren.
Zuerst begrüßte mich eine Bibliothek. Die Wände waren vollgestellt
mit Regalen, darin unzählige Bücher und Pergamente. Sie reichten
fast bis zur vier Meter hohen Decke. In der Mitte des Zimmers stand
ein Diwan, überzogen mit weinrotem Samtpolster, der zum Verweilen
einlud. Daneben ein Tischchen mit einem fünfarmigen Kandelaber und
gleich daneben ein Schreibtisch aus dem gleichen schwarzen Holz wie
die Türen, nur ohne jedwede Verzierungen. Kirschholz, vermutete
ich. Er war leer, nur eine einsame Schreibfeder bewachte die blank
polierte Oberfläche. Von der Bibliothek ging es links in ein
Schlafzimmer. Es war kleiner, aber nicht weniger überraschend. Ein
schlichter Holzschrank, ein Sessel mit dem gleichen roten Samtbezug
und eine Wand mit verschiedenen Ölgemälden, Karten und Skizzen
enttäuschten mich etwas. Ich hatte etwas Eindrucksvolleres, etwas
Außergewöhnliches erwartet. Die einzige Ausnahme bildete das breite
Himmelbett. Ein schwarzer Baldachin und weiße Laken stachen mir ins
Auge. Eine ungewöhnliche Mischung, und trotzdem schien das Bett für
diesen Palast gemacht worden zu sein. Vom Schlafzimmer führte eine
weitere Tür in ein kleines Badezimmer. Es machte eher mit
Schlichtheit auf sich aufmerksam. Ein mannshoher Spiegel, eine
Messingwanne, eine weiße Porzellanschüssel mit Wasserkrug und zwei Handtücher
über einem Hocker. Mehr gab es nicht zu sehen.
Vielleicht war es
doch nicht so eine gute Idee, ein Sklave sein zu wollen, wenn er in
solch einfachen Verhältnissen lebte. Das absolute Kontrastprogramm
zum Rest des Gebäudes.
Nachdem ich mit
meinem Rundgang durch Eljakims Räumlichkeiten fertig war und zurück
in die Bibliothek kam, saß er auf dem Diwan und starrte mich
interessiert an. Neben ihm auf dem Tischchen stand ein Tablett mit
einem abgedeckten Teller und einem silbernen Becher. Beides war
vorher nicht da gewesen.
»Eine Stärkung für dich«, sagte er und stand
auf.»Du wartest auf mich, ich bin gleich
zurück.«
Bevor ich etwas
antworten konnte, war er bereits an der Tür und huschte
hinaus.
»Ich lass mich auch immer alleine zurück“, brummte ich
vor mich hin und zog einen Schmollmund. Eljakim hatte mir vorhin
besser gefallen. Nicht so merkwürdig distanziert. Ich seufzte und
wandte mich dem Tablett zu. Neugierig, wie ich war, hob ich die
Abdeckung des Tellers hoch. Zum Vorschein kamen gebratener Fisch,
gekochte Erbsen und eine handvoll Kartoffeln. Der Duft war
verführerisch. Wie auf Kommando knurrte mein Magen, und ich leckte
mir mit der Zunge über die Lippen.
Bis eben hatte ich
weder Hunger noch Durst verspürt, aber das änderte sich bei diesem
Anblick. Mit Messer und Gabel bewaffnet, die ebenfalls bereit
lagen, stürzte ich mich auf das Essen. Für einen Moment fragte ich
mich, ob ich jemals so etwas Vorzügliches gegessen hatte. In meinem
Mund fand eine wahre Geschmacksexplosion in ganz großem Stil statt,
und innerlich lobte ich den Koch. Der Becher war gefüllt mit
gekühltem Weißwein und rundete das Mahl zu meiner vollsten
Zufriedenheit ab.
Satt lehnte ich mich
auf dem Diwan zurück.
»Und ich dachte, es gibt in Zukunft nur noch
Engelsnektar und Tochee für mich«, nuschelte ich in meinen nicht
vorhandenen Bart und grinste.
Wieder einmal taten
mir Naz und Joel leid, denn mit dem, was ich bisher erlebt und
gehört hatte, hätten sie sicherlich nie gerechnet, vermutlich wären
sie sogar neidisch.
Mein Blick wanderte
unverfänglich durch den Raum und blieb bei den Büchern hängen. Mit
der Frage, was ein Engel las, schlenderte ich an den Regalen vorbei
und war wieder einmal ernüchtert. Fast alle Bücher waren in edles
Leder gebunden, aber die Bedeutung der Titel blieb mir
verschlossen. Ein Durcheinander aus unverständlichen Wörtern und
äußerst eigenartigen Symbolen machten es mir unmöglich zu
verstehen, was Eljakim las. Selbst als ich mehrere Bücher
vorsichtig in die Hand nahm und darin herumblätterte, verstand ich
nicht, was darin geschrieben stand. Das einzig Interessante waren
die filigran gearbeiteten goldenen Lettern auf den Einbänden.
Sicherlich war jedes Buch in dieser Bibliothek besonders kostbar,
höchstwahrscheinlich unbezahlbar und unersetzlich.
Frustriert wandte ich
mich ab und tigerte in Richtung Tür. Neugierig legte ich ein Ohr an
und lauschte. Draußen war alles ruhig. Das konnte nur bedeuten,
dass der Gang verlassen war. Einen kurzen Moment haderte ich mit
meinem Gewissen, aber mein Wissensdurst errang schnell den Sieg.
Eljakim war seit mindestens zwanzig Minuten verschwunden, und mir
war langweilig. Ich überlegte nicht lange und drückte die Klinke
nach unten. Und tatsächlich, die Tür war unverschlossen und öffnete
sich. Wachsam steckte ich den Kopf hinaus und schaute mich zu
beiden Seiten um. Weit und breit war niemand zu sehen.
Eine bessere
Gelegenheit bekomme ich vielleicht so schnell nicht
wieder.
Leise schlich ich
mich in den Flur. Die Tür lehnte ich nur an. So stellte ich sicher,
zurück in Eljakims Räume zu finden.
Wenn du mich so lange
warten lässt, darfst du später auch nicht sauer sein.
Dennoch verspürte ich
erste Gewissensbisse, weil ich an seine Worte dachte.
‚Du wartest auf mich, ich bin gleich
zurück’, hatte er gesagt. Aber er
hatte versäumt zu erwähnen, wo ich warten sollte. Nur das
Eingangsportal und die prächtige Treppe waren für mich tabu. Von
einem Rundgang in der vierten Etage hatte er nichts gesagt,
geschweige denn ihn mir verboten.
Mein Entschluss stand
fest. Langsam lief ich in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Der Weg führte mich an den Fenstern vorbei, durch die das warme
Sonnenlicht hereinschien und meine Laune ein wenig hob. Sie
ermöglichten einen fantastischen Blick in den Vorhof und auf den
Schlossgarten. Wäre da nicht die zwei Meter dicke, schwarze Mauer,
die im Hintergrund wie ein Mahnmal aufblitzte, hätte ich mich wie
ein Prinz in einem Märchenschloss gefühlt. Aus diesem Grund vermied
ich die Fenster und sah stur geradeaus. Ich versuchte den Gedanken
an die bewaffneten Wachsoldaten zu verdrängen, welche die schöne
Palastidylle trübten und das Gelände eher in eine Festung
verwandelten. Niemand kam unbefugt herein. Aber auch keiner konnte
ungesehen verschwinden.
In Gedanken versunken
erreichte ich die erste Biegung und konnte gerade noch rechtzeitig
einen Schritt nach hinten machen, als ich plötzlich aus dem Gang
Stimmen vernahm. Sie kamen schnell näher. Mit einem hastigen Blick
über die Schulter vergewisserte ich mich, dass ich an drei
geschlossenen Türen vorbei gekommen war. Das hieß für mich,
ungefähr dreißig Meter trennten mich von Eljakims Bibliothek. Ich
machte auf dem Absatz kehrt und wollte loseilen, doch ich konnte
nicht. Auch die Besitzer der Stimmen hatten Halt gemacht. Nur
wenige Meter um die Ecke entfernt hörte ich ganz deutlich Eljakim
sprechen.
»Uriel, bitte. Nur
noch dieses eine Mal. Ich verspreche es dir.«
Ich hätte es nicht
für möglich gehalten, aber Eljakim klang verzweifelt. Irgendwie
stimmte es mich traurig, obwohl ich den Grund nicht verstand.
Traurigkeit passte einfach nicht zu ihm. Eigentlich hätte ich
sofort zurück in die Bibliothek gehen sollen, denn ich wollte
keinen Ärger mit meinem Wächter. Mit diesem Gedanken verschwand
auch meine Abenteuerlust spurlos. Aber ich konnte es nicht. Die
folgenden Worte der Person, die Eljakim Uriel nannte, klangen
ebenso verzweifelt.
»Das kannst du nicht von mir
verlangen.«
»Ich dachte, wir sind Freunde? Wir waren zusammen im
Krieg …«
»Und haben nicht auf der gleichen Seite gekämpft, falls
ich daran erinnern soll.«
»Du willst mir einen
Vorwurf machen?« Eljakims Stimme wurde mit einem Mal lauter. Er war enttäuscht, und das gefiel
mir noch weniger.
»Nein. Ich erinnere dich nur.« Es folgte ein Seufzer,
als würde Uriel seine Worte bereuen. Dann fuhr er leise
fort:»Eljakim, du bist mein Freund. Es macht mich traurig,
weil du nicht vorsichtig bist. Bisher können wir von Glück reden,
dass noch niemand Verdacht geschöpft hat. Von mir aus könnte es
auch lange so bleiben. Bisher meint das Schicksal es gut … vor
allem mit dir. Aber vergiss nie, wir stehen alle unter Beobachtung.
Noch lenkt sie ihn ab, doch keiner weiß, wie lange. Vielleicht
schon bald …«
»Pssst. Ich glaube, da kommt jemand.«
Beide verstummten.
Ich hielt die Luft an und traute mich nicht einmal zu blinzeln, aus
Angst, mich zu verraten. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich sogar
meinen Herzschlag angehalten, der plötzlich lauter geworden
war.
»Er ist weg«, hörte ich nach
etlichen anspannenden Sekunden Eljakim sagen. »Es war nur ein
Diener.«
Noch immer traute ich
mich nicht zu atmen, obwohl mir allmählich die Luft ausging. Umso
erleichterter schnappte ich nach Atem, als Eljakims Stimme wieder
an mein Ohr drang. Ich wollte nicht beim Lauschen erwischt werden.
Daher drehte ich mich um, doch bei den nächsten Worten schlug mir
mein Herz bis zum Hals, und ich blieb wie versteinert
stehen.
»Uriel, er ist hier. Dieses Mal bin ich mir ganz sicher.
Ihm fehlen allerdings alle …«
»Bist du wahnsinnig?
Hat dich jemand gesehen? Weiß jemand davon? Wo ist er?«
»Nein. Keiner weiß irgendwas oder ahnt auch nur etwas.
Ich habe ihn versteckt, wo ihn keiner vermutet.«
»Sag mir, mein Freund: Woher willst du wissen, dass er
es ist? Du kennst den Fluch und auch seine Auswirkungen. Zwei Jahre
sind eine verdammt lange Zeit, beinahe eine Ewigkeit. Der Fluch war
stark, und Metatron ist der Älteste. Seine Macht übertrifft alle
unsere Fähigkeiten. Nur Luzifer hat die Kraft, so einen
Fluch …«
»Du sagst es.«
Eljakim schien zu grinsen.
»Das glaube ich nicht. Du lügst. Wie … wie hast … wie
hast du? Das ist ein Tabu.«
»Ganz einfach, Uriel. Nicht alles an meiner Strafe ist
so schrecklich, wie Metatron denkt. Es gibt immer noch Verbündete,
und einer von ihnen hat mir geholfen. Er wiederum hat auch
Verbindungen.«
»Das heißt, du warst wirklich in Oxan? Bei
ihm?« Uriel wirkte wie vor den Kopf gestoßen. Ich konnte ihn
bildlich vor mir sehen, mit weit aufgerissenen Augen, offenem Mund
und ungläubigem Blick.
»Das war ich, und du siehst, mir ist nichts
passiert«, verkündete Eljakim stolz. »Und dieses Mal ist alles
anders. Luzifers Macht ist inzwischen genauso stark wie Metatrons.
Er hat ihn gefunden. Und genau deswegen brauche ich deine Hilfe.
Niemand wird es erfahren. In seinen Gedanken konnte ich zwar noch
nichts Eindeutiges lesen, aber du kannst in seine Seele
…«
»Sei leise«,
unterbrach ihn Uriel schnell.»Es darf niemand
wissen. Sonst war alles, was wir getan haben,
umsonst.«
»Entschuldige. Ich bin nur so wahnsinnig
aufgeregt.«
Es entstand eine
Pause. Ich konnte nur erahnen, dass sich beide anschauten und über
das Gesagte nachdachten. Mir wirbelten die Worte im Kopf herum.
Metatron. Fluch. Strafe. Luzifer. Gedankenlesen. Was sollte ich
davon halten? Eine befremdliche Ahnung erweckte bei mir den
Eindruck, als hätte ich alles schon einmal gehört, was unsinnig
war. Mein Verstand stritt es vehement ab, aber mein Bauchgefühl
sprach eine ganz andere Sprache. Vielleicht war mein schlechtes
Gewissen daran schuld, weil ich sie ohne ihr Wissen belauschte.
Nichtsdestotrotz ging plötzlich meine Phantasie auf Reisen und
reimte sich aus den unzusammenhängenden Gesprächsfetzen ein
kurioses Bild zusammen.
Zwei Engel hielten
jeweils einen Speer in der rechten Hand. Sie taxierten sich mit
ihren Blicken und keiner wollte seine Position aufgeben. Blitze
leuchteten auf, Donner hallte über ihren Köpfen. Und dann standen
beide inmitten einer Steinwüste. Die Sonne schien erbarmungslos vom
Himmel, Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn. Lautes Gebrüll
und Schlachtrufe erfüllten die Luft. Schließlich griffen sich die
Engel gegenseitig an. Die Speere hoch erhoben, schossen Feuerkugeln
und dunkle Schatten aus den Spitzen. Einer wich aus, der andere
wurde von einer Feuerkugel am Oberarm getroffen. Im Hintergrund
wälzte sich ein schwarzer Streifen auf die beiden Kämpfenden zu,
die sich mit jedem weiteren Schritt in schemenhafte Krieger
verwandelten. Engel, mit Schwertern, Pfeil und Bogen bewaffnet,
stürmten unaufhaltsam vorwärts.
Verwirrt schüttelte
ich den Kopf und versuchte diese kuriose Szene abzuschütteln. Doch
es fiel mir schwer. Die Bilder schienen so real zu sein. Für einen
Moment glaubte ich sogar, das alles schon einmal mit meinen eigenen
Augen gesehen zu haben. Unmöglich. Mein Geist war jedoch fest davon
überzeugt.
Das ist dein
schlechtes Gewissen, meldete sich
meine innere Stimme. Und du hast
eine blühende Phantasie. Also reiß dich zusammen und verschwinde,
bevor sie dich entdecken.
Eljakim wollte ich
nicht enttäuschen. Vorsichtig, sodass er und Uriel mich nicht
bemerkten, schlich ich zurück in die Bibliothek. Ich musste mich
jetzt unbedingt ablenken und wollte dabei brav auf Eljakim
warten.
Kaum hatte ich die
Tür hinter mir geschlossen und mich umgedreht, hätte ich vor
Schreck beinahe aufgeschrien. Ich war nicht alleine. Auf dem Diwan
saß eine verführerisch aussehende, junge Frau. Sie verströmte einen
herrlichen Rosenduft im Zimmer.
Sie starrte mich mit
unverblümter Neugier aus veilchenblauen Augen an. Ihr langes,
schwarz gelocktes Haar war kunstvoll auf ihrem Kopf drapiert,
während ein paar Strähnen auf schmale Schultern fielen. Ihre Miene
schien sanft, aber dennoch unnachgiebig zu sein. Rote Lippen
verzogen sich zu einem dünnen
Lächeln. Aber das Lächeln erreichte nicht ihre Augen. Die Frau
erhob sich und rückte ein marineblaues Seidenkleid zurecht. Sie und
das Kleid erinnerten mich an einen berühmten Film. Darin hatte eine
heißblütige Südstaatenschönheit während des amerikanischen
Bürgerkriegs um einen Mann gebuhlt, den sie nicht haben konnte. Aus
Frust, Sturheit und eiskalter Berechnung hatte sie sich schließlich
in eine Ehe mit einem anderen Mann gestürzt und alles getan, um zu
überleben.
»Wer bist du?« Ihre
Stimme war ein wunderschöner Sopran. Die perfekte Stimme zu einer
perfekt aussehenden Frau. Für mich
stand außer Frage, auch sie war ein Engel.
Unweigerlich schoss
mir das Blut ins Gesicht, und ich fühlte mich nicht zum ersten Mal
an diesem Tag ertappt. Ich schämte mich. Ganz besonders wegen
meiner einfachen Sachen am Leib, die nicht zu ihrem glanzvollen
Auftreten passten. Eine Königin in der Gegenwart eines
Bettlers.
»D … Da … Damian«, brachte ich
stotternd heraus. Ich schluckte merklich. Benimm dich wie ein Mann, du Idiot!
Eine quälende Sekunde
lang glaubte ich, mich in der Tür geirrt zu haben. Aber ein
prüfender Blick verriet mir, ich befand mich wieder in Eljakims
Bibliothek. Und Eljakim würde bestimmt gleich
auftauchen.
»Und wer bist du? Diese Räume gehören
…«
»Eljakim. Ich weiß.
Und genau ihn hatte ich gehofft hier anzutreffen.« Ihr Lächeln
wurde breiter, und ihre Augen nahmen
einen sehnsüchtigen Ausdruck an. »Er hat die letzte Nacht nicht im
Palast verbracht. Daher habe ich mir Sorgen gemacht. Einen Damian
wollte ich eigentlich nicht besuchen.« Sie zwinkerte mir auf fesche
Weise zu und näherte sich mir.
Langsam umrundete sie
mich und schien dabei jeden Quadratzentimeters meines Körpers zu mustern. Das
gefiel mir. Trotzdem konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren,
als prüfe sie mich wie ein Stück frisch geschlachtetes Fleisch, um
anschließend dem Koch zu sagen, welchen Teil von mir er zubereiten
sollte. Aber ich war genauso neugierig wie sie und folgte ihr mit
meinem Blick, bis sie wieder vor mir stand.
Plötzlich raste mein
Puls, meine Kehle war trocken, meine Hände nass. In meiner
Lendengegend machte ein verräterisches Ziehen auf sich aufmerksam.
Diese Frau und ihr einladendes Dekolleté waren auf
jeden Fall eine Sünde wert, und ich wäre nur zu gerne
bereit.
Verdammt! Reiß dich
zusammen!
»Bist du Eljakims
neues Spielzeug?« Sie kicherte. Ihre Augen wanderten von meinem
Gesicht bis zur Körpermitte und wieder zurück. Anschließend nickte
sie verzückt.
Wiederholt schluckte
ich und bemerkte, dass mein Mund offen stand. Ich stierte sie an
und konnte mir eine Menge mit ihr vorstellen, bis mir der Sinn
ihrer Worte klar wurde.
Was hatte sie gesagt?
Eljakims neues Spielzeug? Was sollte das denn bedeuten?
Und von einem Moment zum nächsten begann
der Zauber, der sie umgab, zu bröckeln. Es klang wie eine
Beleidigung, und ich wollte nicht, dass sie über Eljakim so
herablassend sprach. Ganz besonders nicht vor mir.
»Verrätst du mir, wer
du bist?« Auf eine förmliche Anrede verzichtete ich
geflissentlich.
»Du weißt nicht, wer
ich bin?« Ihr darauf folgendes
Lachen war laut. Sie schien sich offensichtlich köstlich zu
amüsieren. »Wo hat er dich denn aufgegabelt? In der Gosse? Lass
mich raten, bestimmt in Agnon. Dort ist er gerne. Agnon ist schon
fast zu seiner zweiten Heimat geworden. Das ist so typisch für ihn.
Nur nicht sehr förderlich, wenn man noch Aufgaben zu erfüllen hat
und seinen Pflichten deswegen nicht immer rechtzeitig
nachkommt.«Nach einer kunstvollen Pause, während ihre scharfen
Worte bei mir wie Gewehrkugeln einschlugen, ballte ich säuerlich
die Hände. Schließlich fügte sie feierlich hinzu:»Mein Name lautet
Aurie. Ich bin …«
»Die Mätresse von Metatron. Verschwinde, Aurie. Du hast
hier nichts zu suchen.«
Erschrocken schaute
ich über meine Schulter. Hinter mir
stand Eljakim. Wenn Blicke töten könnten, wäre diese Aurie auf der
Stelle tot umgefallen. Seine schönen Augen waren zu Schlitzen
verengt, seine Lippen fest aufeinander gepresst. Ich hätte es zwar
nie öffentlich zugegeben, aber ich war froh, ihn zu sehen. Nur noch
ein paar Minuten länger und ich hätte wahrscheinlich freiwillig die
Flucht ergriffen. So atemberaubend schön Aurie war, so hässlich war
ihr Charakter. Lediglich mein Körper machte mir einen Strich durch
die Rechnung. Er reagierte zwar nicht mehr so heftig wie
anfänglich, aber das Ziehen hatte nicht nachgelassen. Innerlich
verfluchte ich mich und machte eilig einen Schritt zur Seite,
sodass Eljakim und Aurie sich gegenüberstanden. Niemand sollte
etwas mitbekommen.
»Da bist du ja«,
meinte sie, als hätte er gar nichts gesagt. Ich schien ihr auch
nicht mehr wichtig, denn sie konzentrierte sich nun einzig und
alleine auf Eljakim. »Du wurdest
vermisst.« Über das Thema Mätresse schwieg sie, aber gerade dieser
Teil begann mich zu interessieren.
»Uriel hat es mir
schon gesagt«, sagte er kalt und kam auf sie zu, bis sich beide
fest in die Augen sahen. »Und falls es dir
entfallen sein sollte, ich bin weder dir noch jemand anderem
Rechenschaft schuldig, wo ich meine Nächte verbringe. Ich
unterstehe Oriphiel.«
»Schon gut«, lenkte sie
überraschend ein.»Du musst mir nichts
erzählen. Ich kann es mir auch so denken. Vermutlich hat es mit ihm
zu tun.« Sie wedelte lapidar mit der Hand in meine
Richtung.
»Damian hat damit nichts zu tun«, erwiderte er
schnell.
Für meinen Geschmack
ein bisschen zu schnell. Aurie hingegen grinste wissend. Falls sie
tatsächlich dachte, ich hätte mit Eljakim eine Nacht verbracht,
dann war sie damit gewaltig auf dem Holzweg. Genau das wollte ich
ihr auch sagen, doch er kam mir zuvor.
»Damian, bitte geh
ins Nebenzimmer«, befahl er mir streng und unterstrich seine
Weisung mit einem eisernen Blick. »Jetzt.«
Konsterniert sah ich ihn an. Er blieb unnachgiebig. Dann
fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Er schickte mich
absichtlich weg. Er wollte nicht, dass ich Aurie eine
Angriffsfläche bot, damit sie ihn wiederum nicht angreifen konnte.
Also nickte ich und machte mich auf den Weg ins Schlafzimmer. Aber
wenn er dachte, ich würde wie ein Hund den Schwanz einziehen und
mich brav ins Körbchen zurückziehen, dann irrte er sich gewaltig.
Ich schloss langsam die Tür hinter mir, nur um sie gleich darauf
wieder zu öffnen, als beide weitersprachen, als hätte es keine
Unterbrechung gegeben. Die Tür war nur einen winzigen Spalt breit
offen, gerade ausreichend, ihre Silhouetten erkennen zu können.
Hören konnte ich gut.
»Was ist? Willst du mir dein neues Spielzeug
vorenthalten? Du enttäuschst mich. Was würde wohl Oriphiel sagen,
wenn er wüsste, dass du … ausgerechnet du … der immer so korrekte
Raphael …Oriphiels Liebling … einen aus der Stadt in den Palast
holt. Eigentlich dachte ich, du würdest immer noch um Seraphiel
trauern. Dein geliebter, toter …«
»Aurie, es reicht!
Was willst du wirklich?« Eljakims Stimme war kälter als Eis und so
scharf wie ein Samuraischwert. Es wäre den beiden nicht
aufgefallen, wenn sie plötzlich in der Antarktis
gestanden hätten, die Temperatur war
bereits weit unter Null gesunken.
Auf ihre Antwort war
ich so gespannt, dass ich automatisch den Atem anhielt. Zum einen
aus Angst, mich zu verraten, andererseits um keines ihrer Worte zu
verpassen. Innerhalb weniger Minuten belauschte ich zum zweiten Mal
ein Gespräch, nur mit einem Unterschied, dieses Mal konnte Eljakim
sich denken, was ich tat. Daher meldete sich auch mein schlechtes
Gewissen nicht. Allerdings gefiel es mir ganz und gar nicht, dass
Aurie mich ständig als Spielzeug betitelte. Ich war kein Toy-Boy.
Für niemanden! Der Rest ihrer Vorwürfe war mir schleierhaft.
Genauso wie die Tatsache, dass sie ihn mit dem Namen Raphael
angesprochen hatte.
Und ich dachte, er
heißt Eljakim.
Was verbarg er vor
mir?
Was wollte Aurie
wirklich von ihm?
»Nimm seinen Namen
nie wieder in den Mund«, giftete Eljakim sie an. »Niemand darf mehr
seinen Namen aussprechen. Vor allem du nicht, und ganz besonders nicht dein verlogener
Geliebter.«
Als Antwort lachte
Aurie. Sie lachte so laut und unbarmherzig, dass sich mir die
Nackenhaare stellten. Ich kannte die Person nicht, um die es ging,
aber ich rechnete es Eljakim hoch an, dass er sie selbst nach ihrem
Tod verteidigte.
»Mach dich nicht lächerlich, Raphael«, sagte sie, nachdem
sie abrupt wieder ernst wurde.
Für mich stand eines
ganz deutlich fest: Aurie war eine wahre Augenweide, aber sie besaß
einen scheußlichen Charakter.
Schade eigentlich,
sie wäre genau mein Typ.
»Soll ich mich jetzt geehrt fühlen, weil du mich mit
meinem wahren Namen ansprichst? Ich glaube kaum«, beantwortete er
seine Frage selbst. »Aber mir ist es egal, ob du Raphael oder
Eljakim zu mir sagst. Jedes Wort aus deinem Mund ist eine
Beleidigung. Also nenne mir endlich den Grund für dein Erscheinen.
Dann verschwinde von hier, dahin, woher du gekommen bist. Metatron
wird dich bestimmt schon schmerzlich vermissen.«
Statt wiederholt in
schallendes Gelächter auszubrechen oder ihm einen zynischen
Kommentar entgegenzuschleudern, konnte ich sehen, dass sie ihn ernsthaft anschaute. Als
sie sprach, klang ihre Stimme auf einmal sanfter. »Glaub mir oder nicht,
aber ich vermisse ihn. Mehr, als du es dir vorstellen kannst. Ich
hatte ihn geliebt, bist du und deine verräterischen Freunde
aufgetaucht seid. Was passiert ist, hatte er zum Schluss ganz
alleine zu verantworten. Und wäre er nicht gewesen, hätte es dich
ebenso gut treffen können. Oder einen anderen.«
»Du
meinst wohl Luzifer. Er und Seraphiel waren
loyal. Und Seraphiel hat sich für uns alle geopfert«, fügte Eljakim
hinzu. »Das ist ein Wesenszug, der dir fremd ist, Aurie. Du bist
einfach nur blind, um die Wahrheit zu sehen.«
»Schluss jetzt!«Aurie stemmte wütend
die Hände in die Hüften.»Ich bin nicht
gekommen, um von dir Lobeshymnen zu hören. Wenn ich könnte, würde
ich dich und all seine verbliebenen Anhänger nach Oxan verbannen
und das Tor für immer verschließen. Dann hätte ich endlich meine
Ruhe. Und deine geheuchelten Worte gehen mir langsam auf die
Nerven.«
»Dann geh einfach.«
»Nicht, bevor ich dir Metatrons Nachricht überbracht
habe. Er will dich und alle Erzengel morgen Abend vor dem
Himmelsrat sehen. Neue Truppen haben sich formiert. Noch ist nicht
sicher, ob sie einen Angriff planen.«
Es entstand eine
Pause zwischen ihnen. Dann hörte ich Eljakim ungläubig
fragen:»Ein neuer Krieg?«
Aurie zuckte mit den
Schultern.»Keine Ahnung.«
Sie kam noch ein Stückchen näher, und beide
sahen sich fest in die Augen. »Wenn ja, wirst du gegen deine
Freunde kämpfen.« Und im selben Moment beugte sie sich nach vorne
und drückte ihre Lippen auf Eljakims Mund.
»Verschwinde!«, rief er zornig und
holte mit der Hand aus, als er sich ihr entzogen hatte.
Doch Aurie war flink
und wich gerade noch seiner Ohrfeige aus. Ihr schien seine Reaktion
nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil. Sie lachte, aber beeilte
sich trotzdem, zur Tür zu gelangen, während er sich zu ihr umdrehte
und aus Wut am ganzen Körper bebte.
Ich wollte zu ihm.
Ihn beruhigen, wie er es schon bei mir getan hatte. Aus diesem
Grund stieß ich die Schlafzimmer auf, zur gleichen Zeit, als Aurie
aus der Bibliothek verschwand. Mit einem»Viel Spaß mit deinem
Spielzeug« flog die Tür hinter ihr zu.
Wie vom Blitz
getroffen stand ich im Türrahmen und starrte Eljakim sprachlos
an.
Was sollte ich
denken?
Wie sollte ich mich
verhalten?
Er nahm mir diese
Fragen ab, indem er mir bedeutete, auf dem Diwan Platz zu nehmen.
Er setzte sich mit gesenktem Kopf neben mich. Nur langsam schien er
sich wieder zu beruhigen. Ich konnte es ihm nicht verübeln. An
seiner Stelle hätte ich Aurie wahrscheinlich schon längst an den
Schultern gepackt und sie hochkant rausgeworfen. Ihre Dreistigkeit
wurde nur noch von ihrer Hartnäckigkeit überflügelt.
»Das alles war nicht für deine Ohren bestimmt. Es tut
mir leid, dass du …«
»Hey, ich schweige wie ein Grab«, unterbrach ich ihn
und hob wie zu einem Schwur meine rechte Hand, die linke legte ich
auf meinen Brustkorb, wo mein Herz heftig schlug.»Versprochen. Und wenn
es dir hilft, ich kann diese Aurie nicht leiden.«
Eljakim hob den Kopf
und schaute mir schließlich direkt
in die Augen. Eine unausgesprochene Sehnsucht lag in seinem Blick
verborgen. Am liebsten hätte ich ihn tröstend in den Arm genommen.
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schmalen Lächeln, aber
einem ehrlichen Lächeln.»Früher war alles
einmal anders. Willkommen im Palast der Lügen und
Intrigen.«
Fortsetzung
folgt
in
Burning Wings – Die
Mächte