Ein Unglück kommt selten allein

 

Seufzend schaute ich aus dem Fenster. Draußen begann es bereits zu dämmern. Das orangefarbene Sonnenlicht glühte am Horizont und tauchte die Stadt Agnon in einen atemberaubenden Glanz. Der weiße Kalk, aus dem die Gebäude bestanden, reflektierte auf ganz besondere Weise die letzten Sonnenstrahlen. Es sah aus, als stünde die Stadt in Flammen. Ein einzigartiges Schauspiel.

Aber Agnon brannte nicht, obwohl ich es mir wünschte. Nicht einmal einen halben Tag war ich hier und schon sehnte ich mich zurück in das Verlies ohne Tür. Ich wollte überall sein, nur nicht zurück zu diesem allumfassenden Feuer und dieser bizarren Bettenstatt. Erklären konnte ich es mir nicht, aber selbst der dämmrige Raum mit den brennenden Fackeln schien mir besser als Agnon. Es war seltsam. Ich wollte weder etwas hören noch etwas sehen. Am liebsten wollte ich dorthin zurück, woher ich gekommen war.

Das war ein Wunsch, der sich nicht erfüllte.

Vor ein paar Stunden war ich mitten auf einem großen Platz aufgetaucht. Mit mir fünf weitere Menschen, darunter auch eine junge Frau. Verwirrt und sprachlos standen wir da, bis uns ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar begrüßte. Oder sollte ich lieber sagen: er hieß uns im Namen der Arbeiterstadt Agnon willkommen. Sein ständiges Lächeln wirkte auf mich aufgesetzt und heuchlerisch. Er erklärte uns, dass wir zwar wie Menschen aussahen – und ich fühlte mich genauso –, aber wir keine mehr wären. Wir hätten unser irdisches Dasein hinter uns gelassen. Von nun an würden wir nur noch in der Existenzebene der Himmelssphäre leben. Anschließend überreichte er jedem eine dünne Decke, damit wir wenigstens notdürftig unsere Blöße bedecken konnten. Schweigend und im Gänsemarsch folgten wir ihm durch schmale Gassen und erklommen über einen alten Pfad einen Hügel. Ich war nur froh, dass uns auf dem Weg niemand begegnete.

Das Ziel war eines von dreißig identisch aussehenden Gebäuden. Wie die Stadt selbst, schienen diese Häuser einfach aus dem Boden gewachsen zu sein, nicht erbaut. Wie ein Baum, dessen Wurzeln tief in der Erde verwurzelt waren und man nur den Stamm und die Äste sehen konnte. Es war merkwürdig, ich konnte es mir aber nicht anders erklären. Als hätte sie jemand gepflanzt. Doch in Anbetracht dessen, was bereits hinter mir lag, wunderte mich kaum noch etwas.

Ich hatte ein kleines Zimmer im dritten Stock in Haus Nummer 24 zugewiesen bekommen. Insgesamt besaß das Gebäude vier Stockwerke. In dieser sterilen Räumlichkeit, anders konnte ich das fünf auf fünf Meter große Zimmer nicht bezeichnen, befanden sich ein einfaches Bett, eine Kommode, ein Tischchen und ein Stuhl. Spartanisch, dennoch funktionell eingerichtet. Wände, Decke und Fußboden bestanden aus terrakottafarbenem Stein. Das Zimmer wirkte auf mich wie eine Gefängniszelle, nur ohne Gitter vor dem Fenster. Auch der Rest des Hauses hatte Ähnlichkeit mit einer Haftanstalt. Allerdings fehlten die Wärter.

Inzwischen trug ich richtige Kleidung. Sie bestand aus einer dunkelbraunen Baumwollhose, einem beigefarbenen Baumwollhemd und ein paar Sandalen. Absolut unmodisch, aber damit fiel ich nicht sonderlich auf. Jeder hier trug dasselbe, nur Frauen statt Hosen lange Röcke. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, aber alles – die Kleidung, die Häuser, die Straßen, selbst die nähere Umgebung von Agnon – schien dem späten Mittelalter entsprungen. Als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt und die Zeit angehalten. Andererseits hatte ich heute Dinge gesehen, bei denen ich unweigerlich an einen Science-Fiction-Film dachte.

Darüber wollte ich momentan lieber nicht rätseln. Für einen Tag hatte ich genug Neues erfahren, obgleich ich nicht einmal die Hälfte davon verstand.

Die WortDamian, du hast dich des Vergehens schuldig gemacht und Selbstmord begangen« gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ebenso dieses Wesen, welches sie ausgesprochen hatte. Ich wusste noch immer nicht, wer oder was es war. Sollte ich einem wahrhaftigen Engel gegenübergestanden haben?

»Lächerlic, murmelte ich und schüttelte dabei mehrmals den Kopf.

Das war unmöglich. Engel gab es nicht. Sie waren nur uralte Phantasiegebilde früherer Zeiten. Ein Rettungsanker für all diejenigen, die in ihrer Trauer Trost suchten. Ich war nicht gläubig. Für mich gab es keinen Gott, keinen Himmel und keine Hölle.

Alles Unsinn!

Aber wie sollte ich mir auf rationale Weise erklären, was passiert war? Gab es dafür überhaupt eine vernünftige Erklärung?

»Könnte ich mich nur erinner, fluchte ichIch weiß nicht einmal, ob ich wirklich Damianheiße.«

Frustriert schlug ich mit der Faust auf den kleinen Tisch neben mir. Ich konnte mich zwar nicht an die Dinge erinnern, die meine Person betrafen, aber dafür wusste ich allgemeine, wesentliche Dinge. J. F. Kennedy wurde bei einem Attentat in Dallas erschossen, das Eis in der Arktis schmolz zu schnell und gefährdete damit nachhaltig das Klima der Erde, und Wissenschaftlern war es gelungen, Wasser auf dem Mars nachzuweisen. Doch wer war ich? Woher kam ich? Nichts davon existierte in meinen Erinnerungen. Ich war wie ein neugeborenes Kind, das sich erst selbst kennenlernen musste.

Das brachte mich zurück an den Anfang. Seufzend wandte ich mich vom Fenster ab und setzte mich aufs Bett. Wenn ich mich nicht ständig im Kreis drehen wollte, musste ich anfangen, das Ganze anders anzupacken. Also spielte ich mit meinen Gedanken.

Mitten in den wildesten Phantasien hörte ich plötzlich eine Glocke läuten. Für einen Sekundenbruchteil glaubte ich, sie würde direkt über meinem Kopf schweben, so laut und intensiv vernahm ich den Glockenschlag. Wie ich schon ahnte, war nichts dergleichen in diesem Zimmer zu finden.

Ein zweiter – und kurz darauf ertönte noch ein dritte Glockenschlag. Das hatte etwas zu bedeuten.

Plötzlich vernahm ich lautes Fußgetrappel und Stimmen auf dem Flur. Neugierig ging ich zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Meine Mitbewohner stürmten aus ihren Zimmern und auf die Treppe zu. Aus dem Stimmengewirr fing ich ein paar Wortfetzen auf. Es war Zeit zum Essen.

Zum ersten Mal seit meiner Ankunft wurde mir klar, dass ich bisher weder etwas getrunken noch gegessen hatte. Aber ich verspürte auch kein Bedürfnis nach Nahrung. Nach kurzem Überlegen übernahm jedoch die Neugier meine Handlungen.

Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Eigentlich alles und dann wieder nichts. Aber in einem Punkt war ich mir sicher, es gab noch Dinge, die mich zu überraschen vermochten. Im Erdgeschoss fand ich einen großen Speisesaal vor.

An zwanzig länglichen Tischen, jeder bot für mindestens zwanzig Leute Platz, setzten sich meine Mitbewohner auf einfache Holzbänke. Vor ihnen standen leere Teller und für jeden ein Tonbecher. Bestecke sah ich nicht, auch keine Speisen. Nicht einmal jemand mit einem Essenswagen voller dampfender Töpfe, um die Teller zu füllen. Verwirrt schaute ich mich um. Wieder fiel mir nur der Vergleich zu einem Gefängnis ein.

Während mein Blick über die Menge schweifte, betrachtete ich sie mir näher. Hier waren hauptsächlich junge Menschen verschiedener Hautfarbe versammelt. Jeder trug diese nichtssagende Kleidung, und jeder einzelne von ihnen schien schon länger hier zu sein. Da kam mir eine Idee. Wieso sollte ich nicht versuchen, einen von ihnen auszufragen? Ich wollte endlich Antworten.

»Hey, du! Du da! Ja, d, rief es plötzlich über die Köpfe der anderen hinweg.

Instinktiv drehte ich mich zu der Stimme um. Sie gehörte einem jungen, blonden Mann, der nun auch noch winkte. Ich schaute schnell über beide Schultern, um mich zu vergewissern, dass auch wirklich ich gemeint war. Überraschend stellte ich fest, dass bereits jeder saß, nur ich stand unschlüssig im Türrahmen.

»Neuer, dein Platz ist hie, sagte der Blonde, dieses Mal lauter.

Geht das auch ein bisschen leiser?, fluchte ich im Stillen.

Nun starrten mich alle an. Langsam lief ich den schmalen Gang zwischen den Tischen entlang und steuerte auf den hintersten Tisch zu. Dabei versuchte ich geflissentlich, die neugierigen Blicke zu ignorieren, die wie Ameisen unter meine Haut krochen und jede Faser meines Körpers inspizierten. Endlich am Tisch angekommen, setzte ich mich eilig auf die Holzbank, womit sich der unangenehme Augenblick in Luft auflöste. Sofort wurde wieder geredet und gelacht, ich war nicht mehr interessant.

»Ich bin Nazary. Aber alle nennen mich Na, stellte sich der Rufer vor, der nun neben mir saß. Er streckte mir die Hand entgegen.

Für einen Moment wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Eigentlich war es genau das, was ich vorhatte zu tun. Einen aus der Menge ansprechen und mit Fragen bombardieren. Das erste hatte sich von alleine erledigt, aber ich war kritisch, ob Naz auch der Richtige dafür war.

Gab es in diesem Fall überhaupt den Richtigen oder Falschen?

Ich musterte Naz. Er wirkte auf mich sehr jung – vielleicht sechzehn oder siebzehn –, er besaß strahlend blaue Augen und lächelte mich aufrichtig an. Seine blonden Haare waren kurz geschnitten und leicht verwuschelt. Das verlieh ihm einen verwegenen Touch, aber es schien auch zu ihm zu passen. Also versuchte ich mein Glück.

»Hi, ich bin Damian Ich nahm seine Hand und schüttelte sie.

»Cooler Name.«

»Kann sein.«

»Und ich bin Joe, sagte eine zweite Stimme.

Diese gehörte dem Dritten am Tisch, ansonsten war er leer. Er saß mir gegenüber.

»Freut mich, dich kennenzulerne, meinte Joel, und auch er reichte mir die Hand.

Joel schien offensichtlich älter zu sein als Naz. Ich schätzte ihn auf fünfundzwanzig, vielleicht auch ein paar Jahre jünger oder älter. Seine braunen, langen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In seinen braunen Augen glänzte die Neugier. Allerdings stachen auch deutliche Augenringe hervor. Er hatte wohl in letzter Zeit nicht viel Schlaf bekommen.

Als ich Naz und Joel ein weiteres Mal näher in Augenschein nahm, wurde ich mir zweier Dinge bewusst: Erstens, sie waren freundlich, und ihre Gesichter strahlten Ehrlichkeit aus. Was aber nicht gleich bedeutete, dass wir Freunde werden würden. Zweitens, ich hatte keine Ahnung wie ich selbst aussah. Diese Erinnerung existierte ebenso wenig wie die Antworten darauf, wer ich wirklich war.

»Mein Magen knurr, unterbrach Naz meine Gedanken.

»Ich könnte gleich zwei Portionen verschlinge, schloss sich ihm Joel an.

»Und was gibt es zu essen Verwirrt starrte ich den leeren Teller vor mir an. Ich konnte mir nicht vorstellen, was geschehen sollte. Und als es geschah, begriff ich es nicht. Wie aus dem Nichts tauchte ein seltsam hellgelber Brei auf dem Teller auf. Zuerst hielt ich es für Griesbrei, doch als er sich vor meinen Augen in eine harte, feste Masse verwandelte, sah er eher aus wie missratener Zwieback. Joel nahm sein Stück in die Hand und biss herzhaft hinein. Naz hob seinen Tonbecher an den Mund und trank.

Verblüfft schielte ich in meinen eigenen Becher, der inzwischen gefüllt war. Der Inhalt ähnelte normaler Milch, doch ich bezweifelte, dass es sich auch darum handelte. Interessiert nippte ich daran. Nichts hätte mich auf dieses Geschmackserlebnis vorbereiten können. Die Flüssigkeit war angenehm kalt, aber nicht zu kalt, und schmeckte nach frischem Quellwasser mit einem Schuss Kräuter. Zu meiner großen Überraschung fand ich es sehr gut und erfrischend, woraufhin ich gleich den ganzen Becher leertrank.

»Ihm schmeckt´s Das kam von Joel, der Naz zuzwinkerte.

»Und was ist das?«

Noch bevor ich die Frage zu Ende gestellt hatte, war mein Becher wieder bis zum Rand gefüllt. Ich stellte ihn verwundert ab.

»Das wird Engelsnektar genann, sagte Joel und deutete mit dem Kinn auf seinen Teller. »Und das hierist Tochee. Versuch es mal. Ein Stück, und du denkst, du hättest ein 3-Gänge-Menü verputzt.«

Ich ließ mich nicht lange bitten. Plötzlich hatte ich Hunger, und ich war neugierig, wie es schmecken würde. Es war einfach köstlich. Der Geschmack war unbeschreiblich, einfach himmlisch. Nun ergab es auch Sinn, wieso es hier keine Bestecke oder dampfende Töpfe gab. In einem atemberaubenden Tempo hatte ich mein Tochee gegessen, einen weiteren Becher von dem Engelsnektar getrunken und lehnte mich satt und zufrieden zurück.

»Du hast es also auch getan?«

Diese Frage, die eher eine Feststellung war, kam unerwartet und rüttelte mich wach. Ich starrte Naz fragend an, obwohl ich ahnte, was er damit sagen wollte.

»Selbstmord«, sprach er es schließlich aus. Seine fröhliche Miene war einem ernsten Ausdruck gewichen. Er wirkte auf einmal viel älter und weiser.

Soll das bedeuten, dass an diesen Tischen Selbstmörder sitzen?

Ein grausiger Gedanke. Ein Gedanke, der mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Ich fing an zu zittern. Wenn dem so war, dann hatte auch ich meinem Leben de facto ein Ende gesetzt. Nur warum und wieso? Sollte das alles nun meine Strafe dafür sein? Ich glaubte noch immer, tief in mir verborgen, dass ich nur in einem Albtraum gefangen war und nicht wusste, wie ich ihm entfliehen konnte. Womöglich lag ich sogar in einem Krankenhaus im Koma, und mein Gehirn spielte mir schlechte Streiche.

»Naz, er ist neu, gib ihm Zeit«, hörte ich Joel sagen. »Damian muss sich erst daran gewöhnen. Du weißt doch, wie es bei …«

»Also ist es wahr, platze es aus mir heraus, bevor ich darüber nachdachteIhr wollt mir sagen, ich habe Selbstmord begangen? Dann wäre es auch wahr, dass ein Engel über mich gerichtet hat und mich hierher brachte. Wie auch immer er das getan hat.«

Meine Augen waren aufgerissen, mein Herz raste, und ich umklammerte den Tonbecher so fest, dass meine Knöchel weiß hervorstachen. Ich musste mich an etwas festhalten, sonst wäre ich vermutlich rückwärts von der Bank gekippt.

»Gut zusammengefasst. Trink noch einen Schluck, danach geht es dir besser. Versprochen.«

Automatisch tat ich, was Joel mir riet, und trank den ganzen Becher leer. Der Engelsnektar erfrischte mich, aber das war auch schon alles.

»Das ist doch nur ein Scher, presste ich hervorGleich kommt so ein dämlicher Moderator durch die Tür und ruft: ‚Versteckte Kamera!’Stimmt’s, JungsMein Tonfall wurde hysterischHa … ha … ha … ihr habt mich reingelegt, und ich bin drauf reingefallen. Jetzt könnt ihr damit aufhören. Ich glaub’s euch ja. Ihr habt es geschafft.«

»Damian, komm zu dir. Das ist kein Scherz Naz rüttelte mich an den Schultern.

»So leid es mir tut, aber ich muss Naz recht geben Aus den Augenwinkeln sah ich Joel, der aufstand und Naz ein Zeichen gab. Ich achtete nicht darauf. Mir was es egal. Ich wartete verzweifelt auf die Pointe, die einfach nicht kommen wollte.

»Weißt du was …«, hörte ich Joel, der nun neben mir auftauchteund eine Hand auf meine bebende Schulter legte. Am liebsten hätte ich sie wegschlagen und gesagt, er soll abhauen und mich in Ruhe lassen. Aber ich tat es nicht. Insgeheim war ich froh, nicht mehr alleine zu seinWir werden jetzt woanders hingehen, und ich erzähle dir ein wenig von uns.«

Im ersten Moment sträubte ich mich hartnäckig dagegen. Ich war fest davon überzeugt, wenn ich meinen Platz jetzt verließ, würde ich das Ende des makabren Streichs verpassen. Aber ein Teil meines Unterbewusstseins hatte schon längst akzeptiert, dass ich hier in Agnon gestrandet war, auch wenn ich es mir bewusst nicht eingestehen wollte. Alles, was ich bisher gesehen und gehört hatte, entsprach der Realität. Doch ich weigerte mich, sie anzunehmen. Das war die unumstößliche Wahrheit.

Daran halte ich fest, bis ich vom Gegenteil überzeugt bin!

 

 

Ich wusste nicht mehr, wie ich in dieses Zimmer gekommen war, aber eines stand fest, von dessen Existenz wussten sicherlich nicht viele. Auf den ersten Blick wirkte es wie mein eigener Schlafraum. Doch hier gab es Dinge. Nicht nur ein Bett, eine Kommode, einen Tisch und einen Stuhl. Auf der Kommode stand eine einzelne brennende Kerze. Überraschenderweise reichte ihr Licht aus, um die gesamten fünf auf fünf Meter auszuleuchten. Laut Joel, dem das Zimmer gehörte, brannte diese Kerze ewig. Man musste sie niemals löschen oder neu anzünden. Auf meine Frage, woher er sie hatte, schwieg er beharrlich. Selbst aus Naz bekam ich keine Informationen heraus. Nicht einmal über die anderen Dinge, die sich hier tummelten. Ich ließ es vorerst auf sich beruhen. Umso mehr genoss ich es, endlich auch mal etwas anderes zu sehen.

Auf dem Tisch lagen Pergamente – uraltes Pergamentpapier, wie es im Mittelalter benutzt wurde –, und daneben stand ein kleines Tintenfässchen mit einer Schreibfeder. Was darauf geschrieben stand, hatte ich nicht lesen können, denn Joel hatte das Pergament beim Eintreten ins Zimmer mit zwei Büchern abgedeckt. Die Bücher interessierten mich nicht, obwohl sie mit ihren goldenen Lettern und dem dunklen Ledereinband wunderschön alt und wertvoll aussahen. Doch ich bezweifelte, dass dies hier in Agnon dieselbe Bedeutung hatte, wie ich sie kannte.

An der Wand über dem Bett hing eine seltsame Karte. Sie schien genauso alt wie das Pergamentpapier zu sein. Darauf war eine merkwürdige Zeichnung zu sehen. Ein Kreis, der in der Mitte von einer dicken Linie waagerecht unterbrochen war. Laut der Beschriftung stellte die obere Hälfte die Himmelssphäre, die untere einen Ort namens Oxan dar. Interessiert begutachtete ich sie, bis mich Joel ablenkte.

»Die Karte erkläre ich dir ein anderes Mal. Ich habe etwas für dich, das dich mehr interessieren wird.«

Und damit traf er genau ins Schwarze. Er zog hinter der Kommode einen halbmannshohen Spiegel hervor. Ich war so überrascht, dass ich keinen Ton herausbrachte. Die Karte war vergessen. Als er ihn auf die Kommode stellte und mich davor positionierte, konnte ich nicht glauben, was ich dort sah. Mein eigenes Spiegelbild zog mich völlig in seinen Bann.

Ich fragte erst gar nicht, wie er in den Besitz des Spiegels gekommen war. Auch wieso er ihn versteckte. Fasziniert starrte ich mein Konterfei an.

Das bin also ICH, dachte ich und drehte mich von links nach rechts, schaute über meine Schultern und konnte kaum genug davon bekommen.

Mein schwarzes Haar war kurz geschnitten. Halsnussbraune Augen musterten mich. Ich hatte eine kleine Nase, schmale Lippen und sanfte Gesichtszüge. Wenn ich meinen beiden neuen Freunden glauben wollte – denn genau das waren sie in der letzten Stunde für mich geworden, obwohl ich sie auch nicht länger kannte –, wäre ich ein attraktiver junger Mann. Ich selbst bezeichnete mich eher als normal, weder schön noch hässlich. Meine Haut besaß einen leicht bräunlichen Teint, der mir vorher nicht aufgefallen war. Und noch etwas stach mir ins Auge: Auf meinem rechten Oberarm hatte ich ein Tattoo. Eine schwarze Flamme, die alles auf ihrem Weg auslöschte. Sie bedeckte fast den halben Oberarm. Darunter stand in kursiver und gotischer Schrift ‚The Light of Darkness‘ geschrieben.

»Ich wüsste gerne, was die Flamme und die Worte für eine Bedeutung für dich hatten Naz stand inzwischen neben mir und konnte sich kaum daran sattsehen. Beinahe hatte ich das Gefühl, er wäre neidisch.

»Naz, setz dic, bedeutete JoelUnd Damian zieht sich besser wieder das Hemd an. Vorher gibst du eh keine Ruhe.«

Es klang zwar mehr wie ein Befehl als wie eine Bitte, aber ich tat es. Ich hatte mich genug bewundert. Zugegeben, ich stellte mir die gleiche Frage wie Naz, aber ich konnte mich noch immer nicht an mich selbst erinnern. Das Einzige, was passiert war, ich war ein wenig ruhiger geworden, und mein Spiegelbild hatte wesentlich dazu beigetragen.

Ich streifte mir wieder mein Hemd über, das ich zuvor ausgezogen hatte, knöpfte es zur Hälfte zu und beobachtete Joel, wie er den Spiegel wieder hinter der Kommode verschwinden ließ. Ich setzte mich neben Naz aufs Bett, Joel nahm auf dem Stuhl Platz.

»Für einen Neuling hast du heute mehr erfahren als andere vor di, sprach Joel geheimnisvoll, nachdem wir uns ein paar Minuten schweigend angeschaut hattenIch vertraue darauf, Damian, dass alles, was wir hier in diesem Zimmer reden, nicht diesen Raum verlassen wird.«

Mit diesen Worten verwirrte er mich, trotzdem nickte ich. »Verrätst du mir auch, wieso?«

»Das ist, weil …«, setzte Naz an, wurde jedoch mit einem barschen Wink von Joel vom Weiterreden abgehalten.

Ich versuchte, mich davon nicht ablenken zu lassen, aber merkwürdig war es doch. Immer, wenn Naz mir etwas sagen wollte, ging Joel dazwischen. Als hätten sie ein Geheimnis, das nicht für meine Ohren bestimmt war.

»Lass es für heute gut sein, Damian.« Joel versuchte, eine versöhnliche Miene zu machen, versagte aber kläglich. Er verbarg etwas vor mir, das stand für mich fest. »Für den ersten Abend haben wir erst einmal genug geredet, auch wenn es nicht viel war. Wir haben noch eine Menge Zeit vor uns. Du wirst es irgendwann vielleicht erfahren. Aber nicht jetzt. Du musst dich ausruhen. Morgen früh solltest du vorbereitet sein.«

In Gedanken wiederholte ich das Wort vielleicht mehrmals. Vielleicht werde ich es erfahren. Vielleicht auch nie. Ich war versucht nachzufragen, warum er so kryptisch tat. Andererseits hatten wir uns gerade erst kennengelernt. Ich erwartete zu viel. Höchstwahrscheinlich hätte ich genauso reagiert und nicht sofort jede Kleinigkeit ausgeplaudert. Doch er hatte mich mit in sein Zimmer genommen. Das musste etwas bedeuteten. Ein mulmiges Gefühl sagte mir, dass seine Dinge nicht dorthin gehörten, wo er sie aufbewahrte. Das Wieso und Warum blieb mir jedoch verwehrt. Vorerst ließ ich die Sache auf sich beruhen. Es nützte eh nichts, wenn ich darauf bestand. Ich würde damit höchstens die einzigen Menschen vergraulen, die sich mit mir unterhielten, an einem Ort, den ich nicht kannte, in einer Stadt, die mir völlig fremd war, in einem Land, von dem ich niemals gehört hatte. Noch während ich darüber nachdachte, wurde mir eine andere Bedeutung seiner letzten Worte bewusst.

»Wieso muss ich auf morgen früh vorbereitet sein?«

»Liegt das nicht auf der Hand?« Joel hob skeptisch eine Augenbraue. »Du bist jetzt wie wir … ein Arbeiter. Du bist in Agnon – der Stadt der Arbeiter. Ab morgen wirst du wie wir arbeiten. Alles andere erklärt dir dein künftiger Wächter.«

»Wächter Unweigerlich kam mir wieder der Vergleich mit einem Gefängnis in den Sinn. Besser gesagt mit einer Sträflingsanstalt.

Ich merkte, dass Naz etwas sagen wollte, aber Joel hielt ihn erneut davon ab.

Na gut, wenn er mir nichts sagen will, dann will ich es auch nicht wissen.

Obwohl ich mir das einredete, fühlte ich die Enttäuschung. Oder war es Ärger? Vielleicht eine Mischung aus beidem.

»Morgen wirst du es erfahren, Damia, sagte Joel im gleichen Moment, als ich es dachteIhr beide geht jetzt besserschlafen.«

Okay. Joel warf uns raus. Wir standen geschlossen auf und liefen gemeinsam zur Tür. Bevor ich hinter Naz in den Flur trat, wünschte er ihm noch eine gute Nacht, ich schloss mich ihm murmelnd an. Danach standen wir alleine im Gang, die Tür war hinter uns mehr schlecht als recht zugeworfen worden. Das war mir egal. Er wollte nicht mehr, ich wollte auch nicht mehr.

Der Gang war von einem sanften Glühen erleuchtet, auch wenn ich wieder keine Lichtquelle ausmachen konnte. Es überraschte mich nicht, genauso wie der unsanfte Rauswurf. Da hätte schon ein leibhaftiger Dämon vor mir auftauchen müssen, um mich heute Abend noch aus der Fassung zu bringen.

»Ist er immer so, flüsterte ich.

Naz nickteDu gewöhnst dich dran. Normalerweise macht er um Neulinge einen großen Bogen. Aber du faszinierst ihn.Das hat er mir heimlich zugeflüstert.«

Er kennt mich doch noch gar nicht, antwortete ich im Stillen. Ich kenne mich nicht einmal selbst. Was sollte ich davon halten? War ich für ihn vielleicht ein exotisches Tier, welches er zum ersten Mal mit eigenen Augen sah? Bitteschön. Eigentlich hatte ich weder große Lust noch Interesse, mir weiterhin über Joels Verhalten Gedanken zu machen. Stattdessen kreisten sie um den kommenden Morgen und den erwähnten Wächter.

Naz führte mich zur Treppe. Aber dort verabschiedeten wir uns nicht, wie ich dachte, sondern es stellte sich heraus, dass sein Zimmer nur zwei Türen neben meinem lag. Diese Tatsache beruhigte mich ein wenig. Es war wie ein kleiner Hoffnungsschimmer in der Trostlosigkeit, die sich bei mir eingeschlichen hatte, seitdem ich Joels Zimmer verlassen hatte.

»Kannst du mir etwas über den Wächter erzählen, fragte ich Naz, als wir vor meiner Tür standen und er mir eine erholsame erste Nacht wünschte.

Er zuckte mit den SchulternNein.«

Naz sagte zwar ‚nein‘, aber ich sah ihm an, dass er mehr wusste, es nur nicht zugeben wollte. Damit musste ich mich wohl oder übel zufrieden geben. Außerdem wollte ich ihn nicht weiter bedrängen, denn es schien ihm unangenehm zu sein. Doch eines stand fest, ich begann ihn zu mögen. Er hatte eine aufrichtige und fröhliche Art an sich, auch wenn er sie momentan nicht mehr zeigte. Innerlich stellte ich mich bereits auf eine schlaflose Nacht ein. Ich hatte immer noch so viele Fragen und keine Antworten. Dann die ganzen Eindrücke. Alles wirbelte chaotisch in meinem Kopf umher, sodass ich mich wunderte, überhaupt noch klar denken zu können.

»Schlaf jetzt besser. Wir sehen uns spätestens morgen beim Essen Naz lächelte mich verständnisvoll an und verschwand.

Ich öffnete meine Tür und trat in den eintönig eingerichteten Raum, der künftig mein Zuhause sein sollte.