- Eickert Annette
- Burning Wings
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Ein Unglück kommt
selten allein
Seufzend schaute ich aus dem Fenster. Draußen begann es
bereits zu dämmern. Das orangefarbene Sonnenlicht glühte am
Horizont und tauchte die Stadt Agnon in einen atemberaubenden
Glanz. Der weiße Kalk, aus dem die Gebäude bestanden, reflektierte
auf ganz besondere Weise die letzten Sonnenstrahlen. Es sah aus,
als stünde die Stadt in Flammen. Ein einzigartiges
Schauspiel.
Aber Agnon brannte
nicht, obwohl ich es mir wünschte. Nicht einmal einen halben Tag
war ich hier und schon sehnte ich mich zurück in das Verlies
ohne Tür. Ich wollte überall sein, nur
nicht zurück zu diesem allumfassenden Feuer und dieser bizarren
Bettenstatt. Erklären konnte ich es mir nicht, aber selbst der
dämmrige Raum mit den brennenden Fackeln schien mir besser als
Agnon. Es war seltsam. Ich wollte weder etwas hören noch etwas
sehen. Am liebsten wollte ich dorthin zurück, woher ich gekommen
war.
Das war ein Wunsch,
der sich nicht erfüllte.
Vor ein paar Stunden
war ich mitten auf einem großen Platz aufgetaucht. Mit mir fünf
weitere Menschen, darunter auch eine junge Frau. Verwirrt und
sprachlos standen wir da, bis uns ein Mann mittleren Alters mit
schütterem Haar begrüßte. Oder sollte ich lieber sagen: er hieß uns
im Namen der Arbeiterstadt Agnon willkommen. Sein ständiges Lächeln
wirkte auf mich aufgesetzt und heuchlerisch. Er erklärte uns, dass
wir zwar wie Menschen aussahen – und ich fühlte mich genauso –,
aber wir keine mehr wären. Wir hätten unser irdisches Dasein hinter
uns gelassen. Von nun an würden wir nur noch in der Existenzebene
der Himmelssphäre leben. Anschließend überreichte er jedem eine
dünne Decke, damit wir wenigstens notdürftig unsere Blöße bedecken
konnten. Schweigend und im Gänsemarsch folgten wir ihm durch
schmale Gassen und erklommen über einen alten Pfad einen Hügel. Ich
war nur froh, dass uns auf dem Weg niemand begegnete.
Das Ziel war eines
von dreißig identisch aussehenden Gebäuden. Wie die Stadt selbst,
schienen diese Häuser einfach aus dem Boden gewachsen zu
sein, nicht erbaut. Wie ein Baum,
dessen Wurzeln tief in der Erde verwurzelt waren und man nur den
Stamm und die Äste sehen konnte. Es war merkwürdig, ich konnte es
mir aber nicht anders erklären. Als hätte sie jemand gepflanzt.
Doch in Anbetracht dessen, was bereits hinter mir lag, wunderte
mich kaum noch etwas.
Ich hatte ein kleines
Zimmer im dritten Stock in Haus Nummer 24 zugewiesen bekommen.
Insgesamt besaß das Gebäude vier Stockwerke. In dieser sterilen
Räumlichkeit, anders konnte ich das fünf auf fünf Meter große
Zimmer nicht bezeichnen, befanden sich ein einfaches Bett, eine
Kommode, ein Tischchen und ein Stuhl. Spartanisch, dennoch
funktionell eingerichtet. Wände, Decke und Fußboden bestanden aus
terrakottafarbenem Stein. Das Zimmer
wirkte auf mich wie eine Gefängniszelle, nur ohne Gitter vor dem
Fenster. Auch der Rest des Hauses hatte Ähnlichkeit mit einer
Haftanstalt. Allerdings fehlten die Wärter.
Inzwischen trug ich
richtige Kleidung. Sie bestand aus einer dunkelbraunen
Baumwollhose, einem beigefarbenen Baumwollhemd und ein paar
Sandalen. Absolut unmodisch, aber damit fiel ich nicht sonderlich
auf. Jeder hier trug dasselbe, nur
Frauen statt Hosen lange Röcke. Ich konnte mich des Eindrucks nicht
erwehren, aber alles – die Kleidung, die Häuser, die Straßen,
selbst die nähere Umgebung von Agnon – schien dem späten
Mittelalter entsprungen. Als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt
und die Zeit angehalten. Andererseits hatte ich heute Dinge
gesehen, bei denen ich unweigerlich an einen Science-Fiction-Film
dachte.
Darüber wollte ich
momentan lieber nicht rätseln. Für einen Tag hatte ich genug Neues
erfahren, obgleich ich nicht einmal die Hälfte davon
verstand.
Die
Worte»Damian, du hast dich des Vergehens schuldig gemacht und
Selbstmord begangen« gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ebenso dieses
Wesen, welches sie ausgesprochen hatte. Ich wusste noch immer
nicht, wer oder was es war. Sollte ich einem wahrhaftigen Engel
gegenübergestanden haben?
»Lächerlich«, murmelte ich und
schüttelte dabei mehrmals den Kopf.
Das war unmöglich.
Engel gab es nicht. Sie waren nur uralte Phantasiegebilde
früherer Zeiten. Ein Rettungsanker für all
diejenigen, die in ihrer Trauer Trost suchten. Ich war nicht
gläubig. Für mich gab es keinen Gott, keinen Himmel und keine
Hölle.
Alles
Unsinn!
Aber wie sollte ich
mir auf rationale Weise erklären, was passiert war? Gab es dafür
überhaupt eine vernünftige Erklärung?
»Könnte ich mich nur erinnern«, fluchte
ich.»Ich weiß nicht einmal, ob ich wirklich
Damianheiße.«
Frustriert schlug ich
mit der Faust auf den kleinen Tisch neben mir. Ich konnte mich zwar
nicht an die Dinge erinnern, die meine Person betrafen, aber dafür
wusste ich allgemeine, wesentliche Dinge. J. F. Kennedy wurde bei
einem Attentat in Dallas erschossen, das Eis in der Arktis schmolz
zu schnell und gefährdete damit nachhaltig das Klima der Erde, und
Wissenschaftlern war es gelungen, Wasser auf dem Mars nachzuweisen.
Doch wer war ich? Woher kam ich? Nichts davon existierte in meinen
Erinnerungen. Ich war wie ein
neugeborenes Kind, das sich erst selbst kennenlernen
musste.
Das brachte mich
zurück an den Anfang. Seufzend wandte ich mich vom Fenster ab und
setzte mich aufs Bett. Wenn ich mich nicht ständig im Kreis drehen
wollte, musste ich anfangen, das Ganze anders anzupacken. Also
spielte ich mit meinen Gedanken.
Mitten in den
wildesten Phantasien hörte ich plötzlich eine Glocke läuten. Für
einen Sekundenbruchteil glaubte ich, sie würde direkt über meinem
Kopf schweben, so laut und intensiv vernahm ich den Glockenschlag.
Wie ich schon ahnte, war nichts dergleichen in diesem Zimmer zu
finden.
Ein zweiter
– und kurz darauf ertönte noch ein dritte
Glockenschlag. Das hatte etwas zu bedeuten.
Plötzlich vernahm ich
lautes Fußgetrappel und Stimmen auf dem Flur. Neugierig ging ich
zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Meine Mitbewohner
stürmten aus ihren Zimmern und auf die Treppe zu. Aus dem
Stimmengewirr fing ich ein paar Wortfetzen auf. Es war Zeit zum
Essen.
Zum ersten Mal seit
meiner Ankunft wurde mir klar, dass ich bisher weder etwas
getrunken noch gegessen hatte. Aber ich verspürte auch kein
Bedürfnis nach Nahrung. Nach kurzem Überlegen übernahm jedoch die
Neugier meine Handlungen.
Keine Ahnung, was ich
erwartet hatte. Eigentlich alles und dann wieder nichts. Aber in
einem Punkt war ich mir sicher, es gab noch Dinge, die mich zu
überraschen vermochten. Im Erdgeschoss fand ich einen großen
Speisesaal vor.
An zwanzig länglichen
Tischen, jeder bot für mindestens zwanzig Leute Platz, setzten sich
meine Mitbewohner auf einfache Holzbänke. Vor ihnen standen leere
Teller und für jeden ein Tonbecher. Bestecke sah ich nicht, auch
keine Speisen. Nicht einmal jemand mit einem Essenswagen voller
dampfender Töpfe, um die Teller zu füllen. Verwirrt schaute ich
mich um. Wieder fiel mir nur der Vergleich zu einem Gefängnis
ein.
Während mein Blick
über die Menge schweifte, betrachtete ich sie mir näher. Hier waren
hauptsächlich junge Menschen verschiedener Hautfarbe versammelt.
Jeder trug diese nichtssagende Kleidung, und jeder einzelne von
ihnen schien schon länger hier zu sein. Da kam mir eine Idee. Wieso
sollte ich nicht versuchen, einen von ihnen auszufragen? Ich wollte endlich
Antworten.
»Hey, du! Du da! Ja, du«, rief es plötzlich
über die Köpfe der anderen hinweg.
Instinktiv
drehte ich mich zu der Stimme um. Sie
gehörte einem jungen, blonden Mann, der nun auch noch winkte. Ich
schaute schnell über beide Schultern, um mich zu vergewissern, dass
auch wirklich ich gemeint war. Überraschend stellte ich fest, dass
bereits jeder saß, nur ich stand unschlüssig im
Türrahmen.
»Neuer, dein Platz ist hier«, sagte der Blonde,
dieses Mal lauter.
Geht das auch ein
bisschen leiser?, fluchte ich im
Stillen.
Nun starrten mich
alle an. Langsam lief ich den schmalen Gang zwischen den Tischen
entlang und steuerte auf den hintersten Tisch zu. Dabei versuchte
ich geflissentlich, die neugierigen Blicke zu ignorieren, die wie
Ameisen unter meine Haut krochen und jede Faser meines Körpers
inspizierten. Endlich am Tisch angekommen, setzte ich mich eilig
auf die Holzbank, womit sich der unangenehme Augenblick in Luft
auflöste. Sofort wurde wieder geredet und gelacht, ich war nicht
mehr interessant.
»Ich bin Nazary. Aber alle nennen mich
Naz«,
stellte sich der Rufer vor, der nun neben mir saß. Er streckte mir
die Hand entgegen.
Für einen Moment
wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Eigentlich war es genau
das, was ich vorhatte zu tun. Einen aus der Menge ansprechen und
mit Fragen bombardieren. Das erste hatte sich von alleine erledigt,
aber ich war kritisch, ob Naz auch der Richtige dafür
war.
Gab es in diesem Fall
überhaupt den Richtigen oder Falschen?
Ich musterte Naz. Er
wirkte auf mich sehr jung – vielleicht sechzehn oder siebzehn –, er
besaß strahlend blaue Augen und lächelte mich aufrichtig an. Seine
blonden Haare waren kurz geschnitten
und leicht verwuschelt. Das verlieh ihm einen verwegenen Touch,
aber es schien auch zu ihm zu passen. Also versuchte ich mein
Glück.
»Hi, ich bin Damian.« Ich nahm seine Hand
und schüttelte sie.
»Cooler Name.«
»Kann sein.«
»Und ich bin Joel«, sagte eine zweite
Stimme.
Diese gehörte
dem Dritten am Tisch, ansonsten war
er leer. Er saß mir gegenüber.
»Freut mich, dich kennenzulernen«, meinte Joel, und
auch er reichte mir die Hand.
Joel schien
offensichtlich älter zu sein als Naz. Ich schätzte ihn auf
fünfundzwanzig, vielleicht auch ein paar Jahre jünger oder älter.
Seine braunen, langen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz
zusammengebunden. In seinen braunen Augen glänzte die Neugier.
Allerdings stachen auch deutliche Augenringe hervor. Er hatte wohl
in letzter Zeit nicht viel Schlaf bekommen.
Als ich Naz und Joel
ein weiteres Mal näher in Augenschein nahm, wurde ich mir zweier
Dinge bewusst: Erstens, sie waren freundlich, und ihre Gesichter
strahlten Ehrlichkeit aus. Was aber nicht gleich bedeutete, dass
wir Freunde werden würden. Zweitens, ich hatte keine Ahnung wie ich
selbst aussah. Diese Erinnerung existierte ebenso wenig wie die
Antworten darauf, wer ich wirklich war.
»Mein Magen knurrt«, unterbrach Naz meine
Gedanken.
»Ich könnte gleich zwei Portionen
verschlingen«, schloss sich ihm Joel an.
»Und was gibt es zu essen?« Verwirrt starrte ich
den leeren Teller vor mir an. Ich konnte mir nicht vorstellen, was
geschehen sollte. Und als es geschah, begriff ich es nicht. Wie aus
dem Nichts tauchte ein seltsam hellgelber Brei auf dem Teller auf.
Zuerst hielt ich es für Griesbrei, doch als er sich vor meinen
Augen in eine harte, feste Masse verwandelte, sah er eher aus wie
missratener Zwieback. Joel nahm sein Stück in die Hand und biss
herzhaft hinein. Naz hob seinen Tonbecher an den Mund und
trank.
Verblüfft schielte
ich in meinen eigenen Becher, der inzwischen gefüllt war. Der
Inhalt ähnelte normaler Milch, doch ich bezweifelte, dass es sich
auch darum handelte. Interessiert nippte ich daran. Nichts hätte
mich auf dieses Geschmackserlebnis vorbereiten können. Die
Flüssigkeit war angenehm kalt, aber nicht zu kalt, und schmeckte
nach frischem Quellwasser mit einem Schuss Kräuter. Zu meiner
großen Überraschung fand ich es sehr gut und erfrischend, woraufhin
ich gleich den ganzen Becher leertrank.
»Ihm schmeckt´s.«
Das kam von Joel, der Naz
zuzwinkerte.
»Und was ist
das?«
Noch bevor ich die
Frage zu Ende gestellt hatte, war mein Becher wieder bis zum Rand
gefüllt. Ich stellte ihn verwundert ab.
»Das wird Engelsnektar genannt«, sagte Joel und
deutete mit dem Kinn auf seinen Teller. »Und das hierist Tochee.
Versuch es mal. Ein Stück, und du denkst, du hättest ein
3-Gänge-Menü verputzt.«
Ich ließ mich nicht
lange bitten. Plötzlich hatte ich Hunger, und ich war neugierig,
wie es schmecken würde. Es war einfach köstlich. Der Geschmack war unbeschreiblich,
einfach himmlisch. Nun ergab es auch Sinn, wieso es hier keine
Bestecke oder dampfende Töpfe gab. In einem atemberaubenden Tempo
hatte ich mein Tochee gegessen, einen weiteren Becher von dem
Engelsnektar getrunken und lehnte mich satt und zufrieden
zurück.
»Du hast es also auch getan?«
Diese Frage, die eher
eine Feststellung war, kam unerwartet und rüttelte mich wach. Ich
starrte Naz fragend an, obwohl ich ahnte, was er damit sagen
wollte.
»Selbstmord«, sprach er es
schließlich aus. Seine fröhliche Miene war einem ernsten Ausdruck
gewichen. Er wirkte auf einmal viel älter und weiser.
Soll das bedeuten,
dass an diesen Tischen Selbstmörder sitzen?
Ein grausiger
Gedanke. Ein Gedanke, der mir einen eiskalten Schauer über den
Rücken jagte. Ich fing an zu zittern. Wenn dem so war, dann hatte
auch ich meinem Leben de facto ein Ende gesetzt. Nur warum und
wieso? Sollte das alles nun meine Strafe dafür sein? Ich glaubte
noch immer, tief in mir verborgen, dass ich nur in einem Albtraum
gefangen war und nicht wusste, wie ich ihm entfliehen konnte.
Womöglich lag ich sogar in einem Krankenhaus im Koma, und mein
Gehirn spielte mir schlechte Streiche.
»Naz, er ist neu, gib
ihm Zeit«, hörte ich Joel sagen. »Damian muss sich erst daran
gewöhnen. Du weißt doch, wie es bei …«
»Also ist es wahr?«, platze es aus mir
heraus, bevor ich darüber nachdachte.»Ihr wollt mir sagen,
ich habe Selbstmord begangen? Dann wäre es auch wahr, dass ein
Engel über mich gerichtet hat und mich hierher brachte. Wie auch
immer er das getan hat.«
Meine Augen waren
aufgerissen, mein Herz raste, und ich umklammerte den Tonbecher so
fest, dass meine Knöchel weiß hervorstachen. Ich musste mich an
etwas festhalten, sonst wäre ich vermutlich rückwärts von der Bank gekippt.
»Gut zusammengefasst.
Trink noch einen Schluck, danach geht es dir besser.
Versprochen.«
Automatisch tat ich,
was Joel mir riet, und trank den ganzen Becher leer. Der
Engelsnektar erfrischte mich, aber das war auch schon
alles.
»Das ist doch nur ein Scherz«, presste ich
hervor.»Gleich kommt so ein dämlicher Moderator durch die Tür
und ruft: ‚Versteckte
Kamera!’Stimmt’s,
Jungs?«Mein Tonfall wurde hysterisch.»Ha … ha … ha … ihr
habt mich reingelegt, und ich bin drauf reingefallen. Jetzt könnt
ihr damit aufhören. Ich glaub’s euch ja. Ihr habt es
geschafft.«
»Damian, komm zu dir. Das ist kein
Scherz.« Naz rüttelte mich an den Schultern.
»So leid es mir tut,
aber ich muss Naz recht geben.« Aus den Augenwinkeln
sah ich Joel, der aufstand und Naz ein Zeichen gab. Ich achtete
nicht darauf. Mir was es egal. Ich wartete verzweifelt auf die
Pointe, die einfach nicht kommen wollte.
»Weißt du was …«, hörte ich Joel, der
nun neben mir auftauchteund eine Hand auf meine bebende Schulter
legte. Am liebsten hätte ich sie wegschlagen und gesagt, er soll
abhauen und mich in Ruhe lassen. Aber ich tat es nicht. Insgeheim
war ich froh, nicht mehr alleine zu sein.»Wir werden jetzt
woanders hingehen, und ich erzähle dir ein wenig von
uns.«
Im ersten Moment
sträubte ich mich hartnäckig dagegen. Ich war fest davon überzeugt,
wenn ich meinen Platz jetzt verließ, würde ich das Ende des
makabren Streichs verpassen. Aber ein Teil meines Unterbewusstseins
hatte schon längst akzeptiert, dass ich hier in Agnon gestrandet
war, auch wenn ich es mir bewusst nicht eingestehen wollte. Alles,
was ich bisher gesehen und gehört hatte, entsprach der Realität.
Doch ich weigerte mich, sie
anzunehmen. Das war die unumstößliche Wahrheit.
Daran halte ich fest,
bis ich vom Gegenteil überzeugt bin!
Ich wusste nicht
mehr, wie ich in dieses Zimmer gekommen war, aber eines stand fest,
von dessen Existenz wussten sicherlich nicht viele. Auf den ersten
Blick wirkte es wie mein eigener Schlafraum. Doch hier gab es
Dinge. Nicht nur ein Bett, eine Kommode, einen Tisch und einen
Stuhl. Auf der Kommode stand eine einzelne brennende Kerze.
Überraschenderweise reichte ihr Licht aus, um die gesamten fünf auf
fünf Meter auszuleuchten. Laut Joel, dem das Zimmer gehörte,
brannte diese Kerze ewig. Man musste sie niemals löschen oder neu
anzünden. Auf meine Frage, woher er sie hatte, schwieg er
beharrlich. Selbst aus Naz bekam ich keine Informationen heraus.
Nicht einmal über die anderen Dinge, die sich hier tummelten. Ich
ließ es vorerst auf sich beruhen. Umso mehr genoss ich es, endlich
auch mal etwas anderes zu sehen.
Auf dem Tisch lagen
Pergamente – uraltes Pergamentpapier, wie es im Mittelalter benutzt
wurde –, und daneben stand ein kleines Tintenfässchen mit einer
Schreibfeder. Was darauf geschrieben stand, hatte ich nicht lesen können, denn Joel hatte das
Pergament beim Eintreten ins Zimmer mit zwei Büchern abgedeckt. Die
Bücher interessierten mich nicht, obwohl sie mit ihren goldenen
Lettern und dem dunklen Ledereinband wunderschön alt und wertvoll
aussahen. Doch ich bezweifelte, dass dies hier in Agnon dieselbe
Bedeutung hatte, wie ich sie kannte.
An der Wand über dem
Bett hing eine seltsame Karte. Sie schien genauso alt wie das
Pergamentpapier zu sein. Darauf war eine merkwürdige Zeichnung zu
sehen. Ein Kreis, der in der Mitte von einer dicken Linie waagerecht unterbrochen war.
Laut der Beschriftung stellte die obere Hälfte die Himmelssphäre,
die untere einen Ort namens Oxan dar. Interessiert begutachtete ich
sie, bis mich Joel ablenkte.
»Die Karte erkläre ich dir ein anderes Mal. Ich habe
etwas für dich, das dich mehr interessieren wird.«
Und damit traf er
genau ins Schwarze. Er zog hinter der Kommode einen halbmannshohen
Spiegel hervor. Ich war so überrascht, dass ich keinen Ton
herausbrachte. Die Karte war vergessen. Als er ihn auf die Kommode
stellte und mich davor positionierte, konnte ich nicht glauben, was
ich dort sah. Mein eigenes Spiegelbild zog mich völlig in seinen
Bann.
Ich fragte erst gar
nicht, wie er in den Besitz des Spiegels gekommen war. Auch wieso
er ihn versteckte. Fasziniert starrte ich mein Konterfei
an.
Das bin also
ICH, dachte ich und drehte mich von
links nach rechts, schaute über meine Schultern und konnte kaum
genug davon bekommen.
Mein schwarzes Haar
war kurz geschnitten. Halsnussbraune Augen musterten mich. Ich
hatte eine kleine Nase, schmale Lippen und sanfte Gesichtszüge.
Wenn ich meinen beiden neuen Freunden glauben wollte – denn genau
das waren sie in der letzten Stunde für mich geworden, obwohl ich
sie auch nicht länger kannte –, wäre ich ein attraktiver junger
Mann. Ich selbst bezeichnete mich eher als normal, weder schön noch
hässlich. Meine Haut besaß einen leicht bräunlichen Teint, der mir
vorher nicht aufgefallen war. Und noch etwas stach mir ins Auge:
Auf meinem rechten Oberarm hatte ich
ein Tattoo. Eine schwarze Flamme, die alles auf ihrem Weg
auslöschte. Sie bedeckte fast den halben Oberarm. Darunter stand in
kursiver und gotischer Schrift ‚The
Light of Darkness‘ geschrieben.
»Ich wüsste gerne, was die Flamme und die Worte für eine
Bedeutung für dich hatten.«
Naz stand inzwischen neben mir und konnte
sich kaum daran sattsehen. Beinahe hatte ich das Gefühl, er wäre
neidisch.
»Naz, setz dich«, bedeutete
Joel.»Und Damian zieht sich besser wieder das Hemd an. Vorher
gibst du eh keine Ruhe.«
Es klang zwar mehr
wie ein Befehl als wie eine Bitte, aber ich tat es. Ich hatte mich
genug bewundert. Zugegeben, ich stellte mir die gleiche Frage wie
Naz, aber ich konnte mich noch immer nicht an mich selbst erinnern.
Das Einzige, was passiert war, ich
war ein wenig ruhiger geworden, und mein Spiegelbild hatte
wesentlich dazu beigetragen.
Ich streifte mir
wieder mein Hemd über, das ich zuvor ausgezogen hatte, knöpfte es
zur Hälfte zu und beobachtete Joel, wie er den Spiegel wieder
hinter der Kommode verschwinden ließ. Ich setzte mich neben Naz
aufs Bett, Joel nahm auf dem Stuhl Platz.
»Für einen Neuling hast du heute mehr erfahren als
andere vor dir«, sprach Joel geheimnisvoll, nachdem wir uns ein paar
Minuten schweigend angeschaut hatten.»Ich vertraue darauf,
Damian, dass alles, was wir hier in diesem Zimmer reden, nicht
diesen Raum verlassen wird.«
Mit diesen Worten
verwirrte er mich, trotzdem nickte ich. »Verrätst du mir auch,
wieso?«
»Das ist, weil …«,
setzte Naz an, wurde jedoch mit einem barschen Wink von Joel vom
Weiterreden abgehalten.
Ich versuchte, mich
davon nicht ablenken zu lassen, aber merkwürdig war es doch. Immer,
wenn Naz mir etwas sagen wollte, ging Joel dazwischen. Als hätten
sie ein Geheimnis, das nicht für meine Ohren bestimmt
war.
»Lass es für heute
gut sein, Damian.« Joel versuchte, eine versöhnliche Miene zu
machen, versagte aber kläglich. Er verbarg etwas vor mir, das stand
für mich fest. »Für den ersten Abend haben wir erst einmal genug
geredet, auch wenn es nicht viel war. Wir haben noch eine Menge
Zeit vor uns. Du wirst es irgendwann vielleicht erfahren. Aber
nicht jetzt. Du musst dich ausruhen. Morgen früh solltest du
vorbereitet sein.«
In Gedanken
wiederholte ich das Wort vielleicht mehrmals. Vielleicht werde ich es
erfahren. Vielleicht
auch nie. Ich war versucht nachzufragen,
warum er so kryptisch tat. Andererseits hatten wir uns gerade erst
kennengelernt. Ich erwartete zu viel. Höchstwahrscheinlich hätte
ich genauso reagiert und nicht sofort jede Kleinigkeit
ausgeplaudert. Doch er hatte mich mit in sein Zimmer genommen. Das
musste etwas bedeuteten. Ein mulmiges Gefühl sagte mir, dass
seine Dinge nicht dorthin gehörten, wo er sie aufbewahrte. Das
Wieso und Warum blieb mir jedoch verwehrt. Vorerst ließ ich die
Sache auf sich beruhen. Es nützte eh nichts, wenn ich darauf
bestand. Ich würde damit höchstens die einzigen Menschen
vergraulen, die sich mit mir unterhielten, an einem Ort, den ich
nicht kannte, in einer Stadt, die mir völlig fremd war, in einem
Land, von dem ich niemals gehört hatte. Noch während ich darüber
nachdachte, wurde mir eine andere Bedeutung seiner letzten Worte
bewusst.
»Wieso muss ich auf
morgen früh vorbereitet sein?«
»Liegt das nicht auf
der Hand?« Joel hob skeptisch eine Augenbraue. »Du bist jetzt wie
wir … ein Arbeiter. Du bist in Agnon – der Stadt der Arbeiter. Ab
morgen wirst du wie wir arbeiten. Alles andere erklärt dir dein
künftiger Wächter.«
»Wächter?«
Unweigerlich kam mir wieder der Vergleich
mit einem Gefängnis in den Sinn. Besser gesagt mit einer
Sträflingsanstalt.
Ich merkte, dass Naz
etwas sagen wollte, aber Joel hielt ihn erneut davon
ab.
Na gut, wenn er mir
nichts sagen will, dann will ich es auch nicht wissen.
Obwohl ich mir das
einredete, fühlte ich die Enttäuschung. Oder war es Ärger?
Vielleicht eine Mischung aus beidem.
»Morgen wirst du es erfahren, Damian«, sagte Joel im
gleichen Moment, als ich es dachte.»Ihr beide geht jetzt
besserschlafen.«
Okay. Joel warf uns
raus. Wir standen geschlossen auf
und liefen gemeinsam zur Tür. Bevor ich hinter Naz in den Flur
trat, wünschte er ihm noch eine gute Nacht, ich schloss mich ihm
murmelnd an. Danach standen wir alleine im Gang, die Tür war hinter
uns mehr schlecht als recht zugeworfen worden. Das war mir egal. Er
wollte nicht mehr, ich wollte auch nicht mehr.
Der Gang war von
einem sanften Glühen erleuchtet, auch wenn ich wieder keine Lichtquelle ausmachen konnte. Es
überraschte mich nicht, genauso wie der unsanfte Rauswurf. Da hätte
schon ein leibhaftiger Dämon vor mir auftauchen müssen, um mich
heute Abend noch aus der Fassung zu bringen.
»Ist er immer so?«, flüsterte
ich.
Naz
nickte.»Du gewöhnst dich dran. Normalerweise macht er um
Neulinge einen großen Bogen. Aber du faszinierst ihn.Das hat er mir
heimlich zugeflüstert.«
Er kennt mich doch
noch gar nicht, antwortete ich im
Stillen. Ich kenne mich nicht einmal
selbst. Was sollte ich davon halten?
War ich für ihn vielleicht ein exotisches Tier, welches er zum
ersten Mal mit eigenen Augen sah? Bitteschön. Eigentlich hatte ich
weder große Lust noch Interesse, mir weiterhin über Joels Verhalten
Gedanken zu machen. Stattdessen kreisten sie um den kommenden
Morgen und den erwähnten Wächter.
Naz führte mich zur
Treppe. Aber dort verabschiedeten wir uns nicht, wie ich dachte,
sondern es stellte sich heraus, dass sein Zimmer nur zwei Türen
neben meinem lag. Diese Tatsache beruhigte mich ein wenig. Es war
wie ein kleiner Hoffnungsschimmer in der Trostlosigkeit, die sich
bei mir eingeschlichen hatte, seitdem ich Joels Zimmer verlassen
hatte.
»Kannst du mir etwas über den Wächter
erzählen?«, fragte ich Naz, als wir vor meiner Tür standen und er
mir eine erholsame erste Nacht wünschte.
Er zuckte mit den
Schultern.»Nein.«
Naz sagte zwar
‚nein‘, aber ich sah ihm an, dass er mehr wusste, es nur
nicht zugeben wollte. Damit musste ich mich wohl oder übel
zufrieden geben. Außerdem wollte ich ihn nicht weiter bedrängen,
denn es schien ihm unangenehm zu sein. Doch eines stand fest, ich
begann ihn zu mögen. Er hatte eine aufrichtige und fröhliche Art an
sich, auch wenn er sie momentan nicht mehr zeigte. Innerlich
stellte ich mich bereits auf eine schlaflose Nacht ein. Ich hatte
immer noch so viele Fragen und keine Antworten. Dann die ganzen
Eindrücke. Alles wirbelte chaotisch in meinem Kopf umher, sodass
ich mich wunderte, überhaupt noch klar denken zu
können.
»Schlaf jetzt besser. Wir sehen uns spätestens morgen
beim Essen.« Naz lächelte mich verständnisvoll an und
verschwand.
Ich öffnete meine Tür
und trat in den eintönig
eingerichteten Raum, der künftig mein Zuhause sein
sollte.