KAPITEL 22
Etwas … vieles zog mit aller Kraft an mir, doch es war stärker und wärmer als die Schwerkraft.
Aber ich will die Schwerkraft! beschwerte sich mein Herz, fuhr seine Stacheln aus und wühlte wütend in meiner Brust. Mein Körper jedoch war zu kraftlos, um zu spüren, was außen war, zu erschöpft, um der Weisung meines Herzens Folge zu leisten, und zu schwach sogar, um nur die Augenlider zu heben.
Erst langsam durchdrangen wieder Geräusche meine Agonie.
„Ell.“ Das war Corazon. Ich erkannte die Ungeduld in ihrer Stimme.
„Ell!!!“ Den hysterischen Unterton kannte ich auch. Victoria. „Ell, kannst du mich hören?“
„Hol ein Handtuch.“
Dann ein Klatschen. Etwas Weiches, viel zu Warmes auf meinem Bauch und meinem linken Arm. Mehr Klatschen und dazu die vage Empfindung von Schmerz in meinem Gesicht. Ich wurde wütend. Konnten sie mich nicht mal in Ruhe sterben lassen?!
„Autsch, verdammt“, stieß ich aus und schlug die Augen auf.
Mehr Schmerz, obwohl die Schläge auf meine Wangen ausblieben. Soviel Schmerz, dass ich nach Atem rang, aber das tat noch mehr weh, deswegen hielt ich die Luft wieder an. Ein braunes und ein grünes Augenpaar wurden im grauen Einerlei sichtbar. Wo kamen sie her?
„Habt ihr endlich den Schlüssel?“, murmelte ich verwirrt. Der Schlüssel war irgendwie einmal wichtig gewesen, das wusste ich noch.
„Ja, wir sind in das Gästezimmer geschlichen, in dem deine Mutter die letzte Nacht geschlafen hat, und haben ihre Kleidung von gestern durchsucht. Sie hatte den Schlüssel noch in der Tasche“, erklärte der Mund unter den braunen Augen schnell.
„Ell, alles ist gut. Louis ist am Leben“, sagte der Mund, der zu den grünen Augen gehörte.
„Nein … Wart ihr nicht dabei? Sie haben ihn … sie haben …“, stammelte ich.
„Haben sie nicht. Er lebt. Er ist frei“, unterbrach mich Corazon harsch.
„Was Corazon sagt, stimmt. Dem Schnuckel geht’s gut. Wir wissen nicht, was passiert ist. Aber er war nicht unter den Männern, die hingerichtet wurden.“
Mein Blick wanderte zu Victoria, und ich erkannte, dass sie die Wahrheit sagte. Ein Zittern durchfuhr mich, gefolgt von einem tiefen Glücksgefühl. Dann wurde ich bewusstlos.
Alles war grässlich grell. Ich blinzelte vorsichtig zwischen meinen Wimpern hindurch, aber ich konnte nichts sehen; die tiefstehende Herbstsonne schien mir direkt ins Gesicht. Ich wollte mich vom Fenster wegdrehen, aber sobald ich meine Bauchmuskeln anspannte, fuhr mir ein stechender Schmerz durch den Leib. Ich ließ mich auf die Matratze zurückfallen und schnappte nach Luft.
„Schwing die Hufe, du unnütze Kröte, und schließ die Vorhänge“, keifte es an meiner Seite.
Kröte, dachte ich verwirrt. Ich sammelte Kraft, um zu erwidern, dass ich es sofort erledigen würde, wenn ich mich wieder würde rühren können, da vernahm ich ein verächtliches „Pfff“ und das Rattern der Laufrollen in der Vorhangschiene. Durch meine Augenlider erkannte ich, dass sich der Raum verdunkelte.
„Wenn du schon stehst, kannst du mir gleich noch eine Decke holen und einen Tee bringen. Und mach die Tür hinter dir zu. Na los! Ich bin alt, lange kann ich nicht darauf warten!“ Auch diese Worte, die zweifelsfrei von Philippa stammten, waren nicht an mich gerichtet.
Ich schlug die Augen auf und sah Polly gerade noch mit genervter Miene das Zimmer verlassen.
„Na, endlich bist du wach.“ Die alte Dame schob sich mit ihrem Rollstuhl in mein Blickfeld. „Naja, als ich in deinem Alter war, konnte ich auch noch schlafen wie ein Murmeltier.“
„Murmeltier.“ Meine Stimme war immer noch heiser.
Sie sah mich eine Weile streng und skeptisch an, dann brach es aus ihr heraus: „Was hast du dir nur dabei gedacht, du dumme Gans.“
„Gans.“
„Dante hat dir doch ausrichten lassen, dass du dir keine Sorgen machen sollst! Und du hast nichts Besseres zu tun, als dich aus dem Fenster zu stürzen. Und das so halbherzig, dass du verblutet wärst, bevor du unten angekommen wärst, wenn deine Schwestern dich nicht gerettet hätten. Wenn du dich entleiben willst, mach’s richtig und stürz dich in dein Schwert, wie es sich gehört. Die Jugend hat einfach keinen Stil.“ Sie schüttelte indigniert den Kopf.
Meine Erinnerung kam mit einem Schlag zurück und mein Herz begann vor Schreck und Glück in meiner Brust zu flattern. Louis lebte! Plötzlich hatte ich ein Lachen im Bauch, aber als ich den Mund öffnete, um es auf die Welt loszulassen, schoss mir erneuter Schmerz durch die Muskeln. Die akute Heiterkeit verging mir. Ich hob die Decke, schob das alberne Krankenhemdchen hoch, in das man mich gesteckt hatte, und fand meinen Unterbauch mit allerlei weißen Kompressen abgeklebt. Außerdem entdeckte ich in meinem linken Handrücken eine schlauchlose Infusionsnadel und stellte fest, dass meine Hände und Arme bandagiert waren und wehzutun begannen. Offenbar waren sie schon mit der Last der leichten Deckte überfordert, also ließ ich sie wieder sinken.
Aber ich verstand immer noch nicht, was genau passiert war. „Wieso sollte ich mir keine Sorgen machen?“
„Weil ich mich um die Sache gekümmert habe.“
„Wie das?“
„Nun, ich habe unserer lieben Paiti ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnte.“
„Du hast sie erpresst?“ Ich riss die Augen auf. „Womit?“
„Ganz Themiskyra und alle Gemeinschaften des Landes hätten erfahren, wie tugendhaft und ehrlich die Unbeugsame wirklich ist, wenn sie von ihrem Vorhaben nicht abgelassen hätte.“
Ich begriff es immer noch nicht. Philippa war böse und hatte vielleicht einfach Freude daran, anderen bösen Menschen, wie beispielsweise Atalante, einen Strich durch die Rechnung zu machen, aber dass sie zu solchen Mitteln greifen würde, ging mir nicht in den Kopf. „Nur um Louis zu retten?“
Sie gab einen knurrenden, abwertenden Laut von sich und winkte ab. „Der elende Nichtsnutz geht mir sonstwo vorbei. Aber er muss sich um seinen Vater kümmern, das ist mir persönlich wichtig, deshalb muss er am Leben und in Themiskyra bleiben. Und Dante hat mich gebeten, etwas zu unternehmen, also habe ich beschlossen, meinen Einfluss auf Atalante unter Berücksichtigung der delikaten Details auszutesten, die ich dank dir in Erfahrung bringen konnte. Sie wird ihm kein Haar krümmen.“
„Dank mir? Das stimmt nicht und das hast du ihr hoffentlich auch nicht so erzählt!“ Sonst konnte ich gleich wieder ein Fenster einwerfen und einen erneuten Versuch wagen …
„Jajaja. Du bist fein raus, dafür habe ich schon gesorgt. Immer gleich die panische Spitzmaus.“
Das war wohl der netteste Tiername, mit dem sie mich je bedacht hatte. Ihre Miene entglitt ihr und für einen kurzen Moment sah ich Milde und Sorge darin. Sie würde es bestreiten, aber ich wusste, dass sie es, wenn auch nur zu einem geringen Bruchteil, für mich getan hatte.
„Danke“, sagte ich aus tiefstem Herzen.
„Dank mir nicht. Du wirst trotzdem in dein Verderben stürzen, soviel ist sicher. Und ich hoffe, du bist dir bewusst, dass du für mich als vollwertige Amazone gestorben bist. Dich mit einem Mashim einzulassen! Wie primitiv.“ Sie verzog angewidert das Gesicht.
Aber mich konnte sie nicht provozieren. „Du lässt dich doch selber mit einem ein.“ Außerdem glaubte ich nicht mehr an Verderben durch Liebe.
„Ha!“, fuhr sie mich an. „Mein Leben ist vorbei, da kann ich es auch nochmal krachen lassen. Aber du bist einfach nur dumm. Du hast die Aussicht, Paiti der größten hiesigen Amazonengemeinschaft zu werden, auf Macht, Ruhm und Ehre, aber stattdessen verlierst du dein Herz und pfuschst bei den Konsequenzen. Armselig.“ Brüsk wendete sie ihren Rollstuhl. „Und deine Schwester ist eine Pennschnecke sondersgleichen. Falls sie in diesem Jahrhundert noch einmal auftaucht, sag ihr, sie soll mir den Tee auf mein Zimmer bringen. Und zwar flott.“
Kopfschüttelnd und wütend vor sich hin murmelnd verließ sie den Raum, ohne mich eines weiteren Blicks zu würdigen. Keine Minute später erschien Deianeira. Sie stellte ein Tablett mit Essen auf dem Nachttisch ab, fuhr das Kopfteil meines Betts hoch und drehte die flexible Tischplatte so zu mir, dass ich im Liegen essen konnte. Unter der Abdeckhaube kamen gegrilltes Fleisch und dampfendes Gemüse zum Vorschein; es roch gut und mein Magen knurrte, aber ich hatte keinen Appetit.
„Alles klar bei dir?“, fragte sie und sah mich prüfend an.
„Ja. Danke fürs … Zusammenflicken.“ Widerwillig aß ich eine Gabel Gemüse, dann schwenkte ich die Tischplatte wieder von mir weg.
„Dafür bin ich hier. Du hast eine Arterie erwischt und jede Menge Blut verloren. Die Schnitte waren teilweise ziemlich tief. Aber bis auf ein paar Narben wirst du wieder, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
Was kümmerten mich Narben! Mit einem Lächeln lehnte ich den Kopf zurück. Meine Lider waren mit einem Mal unendlich schwer. Ich wollte wachbleiben, bis Polly wiederkam, aber es gelang mir nicht, und als ich das nächste Mal erwachte, war Deianeira verschwunden und es dämmerte bereits. Die Tür stand offen. Ich hörte eine Stimme auf dem Gang, die mich offenbar geweckt hatte.
„Lass mich vorbei, ich will zu meiner Tochter.“
Atalante. Mein Herz sank. Ich schloss die Augen wieder und drehte meinen Kopf weg. Wenn ich mich schlafend stellte, entkam ich ihr vielleicht noch eine Weile.
„Was ist? Hast du nicht gehört?“ Sie klang ungeduldig. Jemand stand ihr ihm Weg.
Ich vernahm keine Erwiderung, aber als sie das nächste Mal sprach, war ihre Stimme ganz die der Anführerin, herrisch und gefährlich ruhig. „Geh mir augenblicklich aus dem Weg.“ Niemand würde sich ihr widersetzen, wenn sie sich in diesem Modus befand.
Nur ich, dachte ich mit einem Hauch von Stolz, auch wenn ich dabei keinen Erfolg gehabt hatte.
Ich hatte recht mit meiner Vermutung. Ein paar Sekunden passierte überhaupt nichts, dann vernahm ich Schritte, leise, die zögernd gingen, und entschlossene, die in mein Zimmer traten. Die Tür fiel ins Schloss. Mit Mühe unterdrückte ich ein Schaudern. Geschlossene Räume in Verbindung mit Atalante würde ich in Zukunft vermeiden müssen, wenn ich nicht ein ausgewachsenes Trauma entwickeln wollte.
„Mein liebes Kind.“ Ihre Stimme troff vor Besorgnis. Ich stellte mich tot, obgleich es mich eiserne Beherrschung kostete, nicht zurückzuzucken, als sie mir mit ihrer kühlen Hand über die Wange streichelte. „Was machst du nur für Sachen.“
Ich spürte, wie Atalante sich auf die Bettkante setzte. Mein scheinbarer Schlummer hielt sie nicht davon ab, vor sich hin zu monologisieren.
„Ich ahnte nicht, dass du es so schwer nehmen würdest. Dass deine Gefühle so tiefgehend sind, dass du …“ Sie stockte. „Es tut mir leid, dass ich dich eingesperrt habe. Ich wusste mir einfach nicht zu helfen. Aber es war natürlich falsch und wenn ich gewusst hätte, wie du reagierst, wäre ich selbstverständlich nie soweit gegangen.“ Ihre Worte klangen so betroffen, dass ich sie fast glaubte. Aber was sie dann sagte, zerstörte mein aufkeimendes Vertrauen wieder komplett. „Ich hätte ihm doch nie etwas getan, das weißt du doch, nicht wahr?“
Das war so falsch und klang doch so ehrlich, dass mir ein leises, verächtliches Schnauben entkam, mit dem ich mich verriet. Dennoch hielt ich die Augen geschlossen. Ich wollte sie nicht sehen. Nie wieder.
Sie zog die Hand zurück und ihre Stimme klang nun kühler. „Es hat mich einige Mühe und Nerven gekostet, deine Aktion von heute Morgen wieder hinzubiegen.“ Das glaubte ich ihr nun schon eher. „Offiziell war es ein Unfall und ich rate dir nachdrücklich, dich an diese Version zu halten.“
Ich werde gar nichts dazu sagen, dachte ich nur. Ich will nicht mehr lügen. Ich darf nicht mehr lügen.
„Ich konnte schlecht erzählen, dass du dich in deinem Wahn aus dem Fenster stürzen wolltest“, fuhr sie fort, „sei es, weil du in hirnloser Liebe entbrannt oder mit den Nachwirkungen der Schlacht nicht zurechtgekommen bist. Beides wäre deiner zukünftigen Position abträglich gewesen.“
Nun platzte mir doch der Kragen. Obwohl meine Bauchmuskeln und Arme protestierten, fuhr ich herum, setzte mich halb auf und funkelte sie an. „Das ist das Einzige, was für dich zählt, oder? Hauptsache, der Schein ist gewahrt, egal, was wirklich los ist!“
„Ich tue das für dich!“, fauchte sie.
„Sicher.“
Sie holte Luft und setzte zu einer ungehaltenen Erwiderung an, da trat Sevishta ins Zimmer.
„Wie geht es dir?“, fragte sie mich, nachdem sie die Paiti begrüßt hatte.
„Sie hat Schmerzen“, schaltete sich Atalante ein, bevor ich dazu kam, auf ihre Frage einzugehen. „Gib ihr etwas dagegen.“
„Sie hat schon Medikamente bekommen und …“
„Dann erhöhe die Dosis“, beharrte Atalante. „Damit sie gut schlafen kann. Sie ist vollkommen erledigt.“
Furcht prickelte in meinem Nacken. Ich werde wirklich paranoid.
Sie wird dir nichts tun. Wenn sie das vorhätte, hätte sie dir schon vor fünf Minuten einfach das Kissen ins Gesicht drücken können, deduzierte mein Verstand.
Beruhigend.
Bevor ich Einwände erheben konnte, hatte mich Sevishta schon mit routinierten Handbewegungen wieder am Infusionsschlauch angeschlossen und versetzte die Kochsalzlösung mit etwas, von dem ich inständig hoffte, dass es mich so hochdosiert nicht um die Ecke bringen würde.
No risk, no fun, echote Polly in meinem Kopf und schon dämmerte ich wieder ins Dunkel hinüber.
Die ersten Stunden schlief ich wie erschlagen. Danach fiel ich in einen unruhigen Halbschlaf. Ich träumte wirre, verstörende Dinge, die jedoch so flüchtig waren, dass ich sie nicht erfassen konnte, wenn ich schweißgebadet erwachte – falls ich überhaupt erwachte. Vielleicht waren die Wachphasen, in denen ich glaubte, dass der Raum voll lebendiger, auf mich einstürzender Schatten war, auch nur Albträume.
Erneut schreckte ich aus undefinierbarem Grauen empor. Offenbar hatte die Wirkung des Medikaments nachgelassen, denn brennender Schmerz wühlte wieder in meinen Wunden, obwohl der Rest meines Körpers und mein Geist noch wie betäubt waren. Gerade, als ich mich wieder zurücklehnen wollte, nahm ich im Augenwinkel wahr, wie sich die Tür öffnete und eine Gestalt geräuschlos ins Zimmer glitt.
Nicht schon wieder. Ich wusste, dass es nur ein Albtraum war, aber ich war zu benebelt, um mich selbst aus ihm herauszureißen, deswegen machte ich nur die Augen zu und beschloss, den grusligen Besucher zu ignorieren. Irgendwann würde die Sonne wieder aufgehen und alle Schreckgestalten in Wohlgefallen auflösen. Allerdings hatte ich mal gehört, dass die Zeit im Traum viel schneller verging. Das heißt, wenn ich fünf Stunden schlafen musste, bis es wieder Tag wurde, konnte das bedeuten, dass ich noch gut und gerne fünfundzwanzig Stunden im Albtraum gefangen war …
Ein Schatten floss über meine Augenlider, schirmte das bisschen Fackellicht von mir ab, das aus dem Hof durch das Fenster drang. Ich schluckte.
Plötzlich fühlte ich eine leichte Berührung an meiner Hand.
Zu real, stellte mein Verstand fest und das war der Hinweis, den ich brauchte, um vollends in Panik zu verfallen. Ich riss die Augen auf und holte Luft, doch eine Hand presste sich auf meinen Mund, erstickte den Schrei, der sich in meiner Kehle aufgebaut hatte und zweifelsohne die gesamte Belegschaft der Klinik auf den Plan gerufen hätte. Ohne meine Verletzungen zu beachten, bäumte ich mich auf und kämpfte gegen die Hand an, aber ich schaffte es kaum, meine bleischweren Arme zu heben.
„Ell. Schsch! Ich bin’s.“
Ich erkannte Louis’ Stimme im selben Moment, in dem ich seinen Duft wahrnahm, und hörte auf, mich zu wehren. Er nahm seine Hand weg, doch ich konnte nichts erwidern, denn sie wurde augenblicklich durch seine Lippen ersetzt.
Schmetterlinge, unbeeindruckt von Medikamenten jeglicher Art, stoben auf. Sie vertrieben meine Benommenheit zumindest soweit, dass es mir gelang, mich mit einer Hand an ihm festzuklammern, während sich die andere an seine Brust drückte und mit grenzenloser Erleichterung das Klopfen seines Herzens erspürte. Nicht, dass ich gedacht hätte, dass er als Zombie in mein Krankenzimmer gewackelt gekommen wäre, aber es war die letzte Versicherung, die ich noch brauchte, um wirklich zu realisieren, dass er überlebt hatte.
Erst, als er mir Feuchtigkeit von den Wangen streichelte, merkte ich, dass ich weinte.
„Entschuldigung. Das liegt an den Drogen, die sie mir hier verabreichen.“ Ich wollte es nicht einreißen lassen, dass ich bei jedem unserer kostbaren Treffen in Tränen zerfloss, das machte mit Sicherheit keinen guten Eindruck.
„Wie geht es dir?“, fragte er besorgt.
„Mir?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wie geht es dir? Louis, es tut mir leid! Ich habe mich mit Atalante gestritten und sie ist durchgedreht … Was haben sie mit dir gemacht? Was ist mit deinem Bein? Und der Wunde am Kopf?“ Ich strich ihm die Haare zurück, aber in der Finsternis konnte ich nicht erkennen, wie schlimm die Verletzung war.
„Alles halb so wild.“
„Es tut mir so leid.“ Ich zögerte, sagte es dann aber doch. Ich musste wissen, woran ich war. „Bereust du … was wir getan haben?“
Vorsichtig schob er seine Arme unter meinen Rücken und zog mich an sich. Ich war so schwach, dass ich es geschehen ließ, ohne mitzuhelfen. Schon die paar Zentimeter Höhendifferenz zwischen Liegen und Sitzen überforderten meinen Kreislauf. Mein Sichtfeld wurde von grauem Rauschen überlagert, bis ich Louis’ nahe, liebevolle Augen wieder wahrnehmen konnte. „Niemals.“
Eine Welle von Erleichterung raubte mir erneut fast die Sinne. „Gut. Ich auch nicht.“
„Mach dir keine Sorgen.“
Ich musste wider meinen Willen lachen, aber es steckte eine Menge Verzweiflung darin. „Das sagen neuerdings alle zu mir. Wie sollte ich mir keine Sorgen machen!? Ich dachte, du seist tot! Ich wäre fast wahnsinnig geworden. Ich hätte mich fast …“
„Ich weiß“, unterbrach er mich mit heiserer Stimme und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Das wenige Licht, das in den Raum driftete, genügte, um mir sein Entsetzen zu offenbaren. „Deine Schwester hat mir alles erzählt. Mach das nie wieder.“
„Ich habe dir ja gesagt, dass ich ohne dich nicht mehr leben kann.“ Das sollte lässig klingen, aber meine Stimme zitterte dabei.
„Dann überzeug dich das nächste Mal davon, ob ich’s wirklich bin“, meinte er scherzhaft.
Darüber konnte ich nicht lachen. „Louis, das war der schrecklichste Moment in meinem Leben. Ich möchte nie wieder ein nächstes Mal erleben.“
„Was war denn genau los, nachdem …“ Er machte eine vage Kopfbewegung. „… deine Mutter dich abgeholt hat?“
Die Erinnerung an das Streitgespräch mit Atalante und die damit einhergehende Verzweiflung und Wut stand mir mit einem Mal wieder ganz deutlich vor Augen. „Sie ist verrückt. Sie hat mir offenbart, dass ich später Anführerin werden soll und nicht Polly und dass ich dich nie wieder sehen darf und … Louis, lass uns abhauen.“ Kurzentschlossen riss ich mir mit einem Ruck die Infusionsnadel aus dem Handrücken und kämpfte meine schweren Beine unter der Bettdecke hervor.
„Ell …“
„Jetzt rechnen sie nicht damit. Es ist der perfekte Zeitpunkt. Bis morgen früh sind wir schon lange über alle Berge.“ Mit plötzlicher Energie erfüllt sprang ich aus dem Bett. Ich versuchte es zumindest. Doch meine Knie machten mir einen Strich durch die Rechnung und gaben unter meinem Körpergewicht nach. Louis reagierte sofort. Er hielt mich fest und half mir, mich wieder hinzusetzen. Mein Herz raste vor Anstrengung und Tränen der Frustration stachen mir in den Augen, aber ich schluckte sie hinunter.
„Ich würde sofort mit dir fliehen. Nach allem, was geschehen ist, lieber heute als morgen“, flüsterte er und strich mit dem Finger über die Kontur meines Gesichts. „Aber du bist noch zu schwach und bald kommt der erste Schnee.“
„Drecksschnee“, murmelte ich trotzig.
„Wir haben nichts, wo wir unterkommen können, und nicht genug Vorräte, um den Winter zu überstehen.“
Doch, es gibt einen Ort …
„Louis …“, begann ich – und verstummte. Wenn ich ihm sagte, wo er seine Vatersfamilie finden würde, würde er sich womöglich sofort aufmachen. Dann würde er mich verlassen. Ich wusste, es war selbstsüchtig von mir, aber ich brachte es nicht über mich, ihm davon zu erzählen. Ich brauchte ihn.
Ein leises, einmaliges Klopfen an der Tür unterbrach meinen inneren Konflikt. Ich hielt vor Schreck die Luft an.
„Ich muss los“, informierte mich Louis.
„Was war das?“
„Victoria. Sie schiebt Wache.“
„Sie passt auf, damit sie dich warnen kann, falls jemand kommt?“, fragte ich ungläubig.
„Polly, Corazon und sie bewachen dich die ganze Zeit“, berichtigte er. „Sie wechseln sich ab. Immer ist eine von ihnen vor deiner Tür.“
„Aber vor Atalante können sie mich nicht beschützen.“
Er wiegte den Kopf. „Sie wirken ziemlich entschlossen. Ich hatte Glück, dass Victoria da war. Corazon hätte mich wahrscheinlich nicht zu dir gelassen. Sie scheint nicht besonders gut auf mich zu sprechen zu sein.“
Es war ein Wunder, dass sie überhaupt zu mir hielt, nachdem sie erfahren hatte, dass ich mich so daneben benommen hatte. Wärme und Dankbarkeit für die Loyalität meiner Freundinnen machten sich in meinem Herzen breit.
Ein erneutes, lauteres Klopfen ertönte. Louis half mir zurück ins Bett und deckte mich zu.
„Geh nicht weg“, flehte ich in plötzlicher Panik und klammerte mich an seinem Hemd fest. Ich fürchtete die Einsamkeit meines Zimmers und die Albtraumgestalten, die mich heimsuchen würden, sobald er den Raum verlassen hätte.
Er sah mich gequält an. „Ich muss. Wenn ich bleibe, erwischt mich Sevishta und dann wird mir auch Philippas Einfluss nicht helfen können.“
Das wollte ich natürlich nicht, aber ich konnte meine Faust nicht dazu bewegen, den Stoff loszulassen.
„Schlaf dich gesund, meine Ell.“ Er gab mir einen Kuss, löste sanft meine verkrampfte Hand aus seinem Hemd und küsste auch sie. Dann war er weg, geräuschlos wie er gekommen war. Sehnsucht überfiel mein Herz, sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Doch die Albträume blieben aus.
Am nächsten Tag fühlte ich mich besser. Ich zwang mich dazu, sämtliche Mahlzeiten zu verzehren, die man mir ans Bett lieferte, und ließ den Verbandwechsel ohne Klagen über mich ergehen. Da ich weniger schlief, war mir langweiliger und ich wartete darauf, dass Polly mich besuchte, aber vergebens. Es kam mir vor, als miede sie mich. Schon wieder. Wieso sonst sah sie nicht nach mir?
Victoria aber kam mich am Vormittag besuchen.
„Erzähl“, forderte sie mich mit einem breiten Grinsen auf. „Alles.“
„Alles?“
„Restlos alles.“
Also erzählte ich. Restlos alles und nicht nur, weil ich der Meinung war, dass sie ein Recht darauf hatte, ins Vertrauen gezogen zu werden, sondern auch weil es mir gut tat, endlich mit einem verständnisvollen Menschen darüber zu reden. Sie hing an meinen Lippen, litt und freute sich mit mir, als ob sie damit ihr Herz mit Emotionen aufstocken konnte, die ihr vermutlich niemals vergönnt sein würden.
Corazon, die am späten Nachmittag vorbeischaute, ging hingegen gar nicht auf dieses Thema ein, sondern konzentrierte sich darauf, mich über die Geschehnisse außerhalb der Klinik in Kenntnis zu setzen. Über sie erfuhr ich, dass die gefallenen Amazonen an diesem Tag gemäß den Traditionen im heiligen Hain verbrannt und ihre Asche unter den Bäumen vergraben worden war. Auch Cosima war eine solche Bestattung zuteil geworden und ich war dankbar dafür, dass meine Schwestern so entschieden hatten. Ich weiß nicht, ob es ihr dort, wo sie nun war, Genugtuung verschaffte, aber so hatte sie wenigstens posthum ihr Ziel erreicht, eine Amazone zu werden.
Die umgekommenen und hingerichteten Andraket hatte man bereits gestern in einem Massengrab an den Grenzen der Ländereien verscharrt, nachdem man sie auf etlichen Ochsenkarren dorthin gebracht hatte. Die Aufräumarbeiten gingen voran, die Renovierung der Lagerhalle hatte bereits begonnen. Die Lebensmittel waren rationiert worden, aber wir würden während der Zaya nicht verhungern.
„Wie geht es deinem Arm? Und deinem Sprunggelenk?“ Sie nahm für mich viel auf sich, dafür, dass sie eigentlich Ruhe geben sollte.
„Alles in Ordnung. War ein glatter Bruch, der Arm wird wieder wie neu. Und mein Fuß ist fast nicht mehr blau.“
„Was ist mit Tetra?“, fragte ich.
Corazon zuckte ratlos mit den Schultern. „Sie ist noch nicht aufgewacht.“
„Sie schläft immer noch?“
„Die ganze Zeit.“
Ich vermisste sie. Und ich wusste, dass Atalante in ihrem Wahn nie so weit gegangen wäre, wenn Tetra an ihrer – und meiner – Seite gewesen wäre. Noch mehr vermisste ich allerdings Polly.
Nachdem Corazon gegangen war, fielen mir die Augen zu, und als ich sie wieder öffnete, sah ich gerade, dass sich meine Zimmertür schloss.
„Polly!“, rief ich. Ich wusste nicht ob sie es war, aber einen Versuch war es wert. „Polly? Bitte!“
Nach ein paar Sekunden öffnete sich die Tür langsam wieder und meine Schwester streckte vorsichtig den Kopf in den Raum. Mit Schrecken nahm ich zur Kenntnis, wie mitgenommen sie aussah. So, als hätte sie nächtelang kein Auge zugetan und den Rest der Zeit nur gehungert und geweint. Zögernd kam sie auf mich zu. Ich streckte die Arme nach ihr aus – und sie warf sich hinein. Ich biss die Zähne zusammen und rutschte etwas zur Seite, um ihr auf dem Krankenbett Platz zu machen, legte den Arm um sie und fragte: „Wie geht’s dir?“
Lange Zeit antwortete sie nicht, ich spürte nur die Stoßseufzer, die ihren Körper in regelmäßigen Abständen erschütterten.
„Warum wolltest du weg?“, brachte sie schließlich hervor.
Das hatte sie schon einmal gefragt und auch damals hätte mich eine leichtfertige Aktion fast das Leben gekostet. Da erst wurde mir bewusst, was ich meiner Schwester angetan hatte.
„Ich wollte gar nicht weg. Ich konnte nicht mehr denken und wollte nur, dass es aufhört.“
„Was, es?“
„Alles.“ Ich gestikulierte hilflos mit meiner freien Hand. „Der ganze Irrsinn und der Schmerz.“
Sie drehte mir den Kopf zu und ihre braunen Augen schwammen vor Kummer. „Ich konnte nichts machen. Atalante hat mich erwischt und eingesperrt.“
„Ich weiß. Aber die anderen Mädels haben sich an deine Anweisungen gehalten. Vielen Dank, Polly.“
„Ich habe der Hinrichtung vom Zimmer aus zugesehen. Und plötzlich kam das ganze Glas von oben.“ Sie schauderte und schloss die Augen. „I could live again if you just stay alive for me“, flüsterte sie nach einer langen Pause kaum hörbar.
„Es tut mir so leid.“ Ich drückte sie an mich.
„Sind der Irrsinn und der Schmerz jetzt vorbei?“
„Ich hoffe es. Keine Ahnung, was Atalante sich als nächstes einfallen lässt.“
„Wir haben sie im Auge. Und dich.“
„Ihr seid die Besten.“ Mir fiel etwas ein. Ich hätte es ihr gerne in diesem Augenblick erspart, aber unser Deal verlangte von mir, dass ich ihr nichts mehr verschwieg. „Polly?“
„Ja?“
„Der Streit mit Atalante ist so eskaliert, weil sie … weil sie möchte, dass ich ihre Diadoka werde.“
Polly reagierte nicht und ich befürchtete, dass sie sauer sei.
„Ich habe gesagt, dass ich keinen Bock habe und …“
Ihr Kopf fuhr zu mir hoch und mit Erleichterung sah ich sie schräg grinsen. „Du hast ihr ins Gesicht gesagt, dass du nicht willst? Du hast dich geweigert? Du hast Nerven.“ Sie lachte sogar auf. „Damit hast du dich als Paiti perfekt qualifiziert.“
„Kein Interesse. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Ich will dich als Anführerin.“
„Auch kein Interesse.“
Das klang jetzt wieder so leblos, dass ich nachfragte: „Wie geht es deinem Herz?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Passt schon. Tut immer noch weh, aber das vergeht. Behaupten manche.“
Am nächsten Morgen wurde ich entlassen. Bevor ich die Klinik verließ, legte ich einen Zwischenstopp bei Tetra ein. Sie lag da wie tot, weiße Haut auf weißer Bettwäsche, umrahmt von rotblonden Locken, aber als ich näher hintrat, erkannte ich, dass sich ihre Brust hob und senkte und die Augen sich unter ihren Lidern bewegten.
Auch mir gelang es nicht, sie an die Oberfläche zu holen, obwohl ich ihr in Kurzfassung von den jüngsten Ereignissen erzählte und immer wieder beteuerte, wie sehr ich sie gerade brauchte. Irgendwann gab ich auf. Ich konnte nur hoffen, dass es angenehme Träume waren, die sie dort festhielten, wo auch immer sie war.
Deianeira stützte mich auf dem Weg über den Verbindungsgang in die Kardia. Ich war immer noch schwach auf den Beinen und mein Blutdruck durch den Blutverlust und das lange Liegen zu niedrig, sodass die Strecke einem Gewaltmarsch gleichkam. Wir befanden uns im zweiten Stock und ich wollte nach unten in unser Zimmer gehen, doch Deianeira hielt mich auf.
„Wir müssen nach oben. Ich soll dich zu Atalante bringen“, teilte sie mir mit.
Ich schluckte eine patzige Erwiderung herunter, die die Ärztin nicht verdient hätte, und meinte ausweichend: „Ich möchte lieber in mein Zimmer. Ich bin müde.“
„Sie hat mir strikte Anweisungen gegeben.“ Deianeira schob mich zur Treppe, die nach oben führte. Ich versuchte, ihr meinen Arm zu entziehen, aber ihr Griff gab nicht nach, und so fügte ich mich widerstrebend. Nach Luft ringend kam ich im dritten Geschoss an und hielt mich für einen kurzen Moment der Erholung am Geländer fest. Dabei warf ich einen Blick ins Atrium hinunter und traf den Corazons, die wachsam zu mir aufsah. Sie nickte mir knapp zu, dann zog die Ärztin mich schon weiter.
Egal, was passiert, Corazon weiß, wo ich bin. Atalante wird mich nicht einfach auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen können. Oh Artemis, ich werde paranoid. Genau wie sie.
„Atalante? Hier ist deine Tochter.“ Deianeira bugsierte mich in das Studierzimmer.
Die Paiti kam uns mit einem Lächeln entgegen und bedankte sich bei der Ärztin. Doch auch, als diese den Raum verlassen hatte, behielt sie ihren freundlichen Gesichtsausdruck bei.
„Geht es dir besser? Hast du dich beruhigt?“, erkundigte sie sich.
Es gibt nichts zu beruhigen, dachte ich. Aber mir war nicht nach Konversation, deshalb biss ich die Lippen zusammen und schwieg.
„Setz dich doch. Du musst erschöpft sein.“
Ich spürte die Schweißperlen auf meiner Stirn und wie angestrengt mein Herz klopfte. Aber ich hatte nicht vor, so lange zu bleiben, dass es sich für mich lohnte, es mir bequem zu machen. Sie runzelte die Stirn über meine stumme Weigerung.
„Aella, sei doch nicht so unversöhnlich. Es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe, das habe ich dir schon gesagt. Ich möchte doch nur dein Bestes.“
Wohl kaum.
„Nun, vielleicht brauchst du noch ein bisschen Zeit, um das zu begreifen.“
In meinem Blick erkannte sie offenbar etwas, das ihr nicht zusagte, und ihr Lächeln zerfiel. Mit einem Ruck wandte sie sich von mir ab, ging zum Fenster und blickte in die Ferne. Ich erlaubte mir einen Moment der Schwäche und hielt mich tief durchatmend an der Rückenlehne der Couch fest.
„Und Zeit wirst du genug haben. Da ich mich nun, wie du zweifelsohne mitbekommen haben dürftest, gezwungen sehe, diesen Arbeiter hier zu behalten, wirst du sie im Dienst der Göttin verbringen, bis du wieder bei Sinnen bist.“
Hausarrest. Ich schluckte. Nichts anderes bedeutete das, das war mir klar, auch wenn ich nicht genau wusste, was mich erwarten würde. Zwar hatte ich gelernt, dass sich manche, die sich dazu berufen fühlten, für religiöse Dienste meldeten. Seit ich hier war, war dieser Posten jedoch unbesetzt gewesen. Der durchschnittlichen Wald-und Wiesenamazone war es viel zu langweilig, als Hiery mehrere Monate in einsamer Kontemplation fernab der Natur zu verbringen. Allein der Gedanke daran verursachte mir klaustrophobisches Unbehagen.
Ich muss weg!
Du kannst nicht weg. Nicht jetzt. Noch nicht.
Aber … Louis! Ich vermisste ihn jetzt schon höllisch.
Stell dich nicht so an. Du schaffst es. Wenn du fügsam und artig bist, kommst du bald wieder raus … bei guter Führung quasi. Und dann machst du dich vom Acker, sobald ein bisschen Gras über die Sache gewachsen ist und Atalante nicht mehr damit rechnet.
Atalante schien mein Schweigen als Zustimmung zu deuten. Sie drehte sich zu mir um, ich nahm eilig die Hand von der Couch und verschränkte sie in der anderen.
„Die Ruhe wird dir gut tun, glaub mir. Es war alles ein bisschen viel für dich in letzter Zeit. Auch die Sache mit Hippolyta.“ Misstrauen machte sich in ihrem Gesicht breit. „Ich nehme an, ihr desolater Zustand hat auch mit deiner leichtfertigen Liebschaft zu tun? Du solltest dich schämen, sie damit zu belasten.“
Obwohl ich nicht an allem, was Polly erleiden hatte müssen, die Schuld trug, stieg schlechtes Gewissen in mir auf und ich schlug die Augen nieder. „Das tut mir leid“, sagte ich leise.
Meine Reue besänftigte sie offensichtlich. Sie trat wieder auf mich zu und ich konnte die Erschöpfung der letzten Tage in ihrem blassen Gesicht erkennen. Ich empfand kein Mitleid, aber ich merkte, wie mein Hass auf sie um ein µ nachließ.
Atalante hatte Louis umbringen lassen wollen, daran bestand kein Zweifel, auch, wenn sie behauptete, dass das nie ihre Intention gewesen sei. Doch ich wusste auch, dass es eine kopflose Kurzschlussreaktion gewesen war und dass sie in ihrer Panik nicht bedacht hatte, was sein Tod für mich bedeuten würde. Und sie konnte vor niemandem, auch nicht vor sich selbst, zugeben, wie nah sie dran gewesen war, durchzudrehen, denn das würde sie als Anführerin disqualifizieren – auch in ihren eigenen Augen.
Ich würde es ihr nie verzeihen, vor allem, da sie mich ignoriert hatte, obwohl sie mich in meiner Verzweiflung toben gehört haben musste. Womöglich konnte ich sie irgendwann wieder als Paiti akzeptieren, aber niemals wieder als Mutter. Als sie meine Hand in ihre nahm, entriss ich sie ihr wieder.
„Lass die Mädels in Ruhe“, forderte ich. „Sie haben nichts getan, außer mir das Leben zu retten, und ich habe ihnen nichts erzählt, was unsere Vergangenheit anbelangt. Sie machen sich einfach Sorgen um mich.“
„Das ehrt sie. Und nur deswegen habe ich von einer Bestrafung dafür abgesehen, dass sie sich Zutritt zu meinen Räumen verschafft und mich bestohlen haben.“ Erst dachte ich tatsächlich, sie meine mich, doch dann begriff ich, dass sie vom Schlüssel sprach. „Dennoch sollten sie sich zu benehmen wissen. Corazon ist wirklich dreist.“
Ich zuckte mit den Schultern. Mangel an Respekt fand ich super, wenn er mich nur rettete.
„Dann bringe ich dich jetzt in dein neues Zimmer.“
„Was? Jetzt?“ Erschrocken riss ich die Augen auf. Ich musste doch Louis noch einmal sehen!
„Unverzüglich.“ Sie war nicht dumm. Und ich selbst hatte ihr gezeigt, wozu ich fähig war, wenn es um Louis ging.
„Nein, ich muss noch Sachen aus meinem Zimmer holen und …“
„Hippolyta wird dir alles bringen, was du brauchst.“ Sie ergriff meinen Arm und machte eine Kopfbewegung auf die Tür zu. „Los jetzt.“
Ich starrte sie an. Aufsässig. Sie starrte mich an. Unbeugsam.
Ich hatte es so satt, dauernd nur herumgeschubst zu werden. Seit Tagen durfte ich keinen Schritt alleine machen. Allerdings war ich auch so erschöpft, dass ich alleine nicht besonders weit kam. Unser stiller Machtkampf dauerte nur eine Minute, dann gab ich auf. Welche Wahl hatte ich? Ich konnte ihr ja schlecht davonlaufen. Und selbst wenn ich versuchte, es Philippa gleichzutun und Atalante zu erpressen – was ich kategorisch ablehnte – würde sie mich nur umso länger wegsperren.
Sie führte mich den Gang entlang, bis wir zwei Flügeltüren erreichten, aus deren dunklem Holz florale Ornamente herausgeschnitzt waren. Ich kannte den Zugang, doch ich hatte nie die Gelegenheit gehabt, in die Räumlichkeiten dahinter einen Blick zu werfen, die lapidar als Tempel bezeichnet wurden. Atalante drückte die Türen auf und mit Entsetzen erkannte ich, dass das Tempelzimmer keine Fenster hatte.
Ich starrte ins Dunkel vor mir. Das Exil.