KAPITEL 6

Unter Pollys fragendem Blick entwand ich mich hastig ihrer Umarmung, zappelte die Decke weg und untersuchte meinen linken Unterschenkel. Vom Knie an zog sich an der Innenseite eine etwa fünfzehn Zentimeter lange Abschürfung abwärts.

Nur ein Traum? Louis! Mit diesem panischen Gedanken machte ich einen Satz aus dem Bett und begann mir kopflos irgendwelche Kleidungsstücke überzuwerfen.

„Ell!“ Meine Schwester packte mich fest am Arm. „Was ist denn nur los?“

„Ich muss zu Louis.“

„Jetzt?!“

„Jetzt. Sofort.“

„Warum?“

„Ich muss wissen, ob es ihm gut geht.“

„Natürlich geht es ihm gut“, versuchte sie mich zu beruhigen. „Du hast nur schlecht geträumt.“

„Nein, das war mehr …“ Ich konnte ihr das jetzt nicht erklären, ich hatte keine Zeit. Also zeigte ich nur auf meinen abgeschürften Unterschenkel. „Das ist mir im Traum passiert.“

Polly zog mir kurzerhand mein Bein vom Boden weg, um es kritisch zu inspizieren. Das stoppte meine Hektik zwangsläufig, weil ich mich an der Schranktür festklammern musste, um nicht umzufallen.

„Das ist alt“, stellte sie fest.

„Wirklich?“

„Ja. Da ist es schon halb verheilt, siehst du? Und da ist Schorf.“

Misstrauisch beäugte ich die Bereiche, auf die sie zeigte, und musste ihr recht geben. Ich konnte mich nicht erinnern, mich beim Kampf mit den Marodeuren an dieser Stelle verletzt zu haben, aber vielleicht hatte ich es im Eifer des Gefechts und der darauffolgenden Schockstarre einfach nicht bemerkt. Wahrscheinlich hatte ich den Schmerz einfach in meinen Traum eingebaut.

„Trotzdem. Ich muss nach Louis sehen“, beharrte ich eisern und schlüpfte in meine Stiefel.

„Gut, dann komme ich mit.“

„Musst du nicht.“

„Nie und nimmer lasse ich dich jetzt alleine durch die Gegend steuern. Du bist komplett durch den Wind und siehst aus, als hättest du Gespenster gesehen. “

„Habe ich auch“, murmelte ich. „Mehr als eins.“

Es musste spät sein, denn das Atrium lag verlassen und dunkel da, alle anderen hatten sich schon lange zurückgezogen. Aber ich registrierte, dass sich die Ruhe von der totalen, beängstigenden Stille aus meinem Traum unterschied. Ich konnte das Haus hören, Leitungen, in denen es gluckerte, und knarzendes Holz; irgendwo schlug gedämpft eine Tür zu, vermutlich Corazons Werk, die noch durch die Gegend geisterte. So wie wir.

Auch das Knirschen meiner Schritte im gekiesten Hof vernahm ich erleichtert, obwohl mich Polly stirnrunzelnd ansah und sich offenbar wunderte, warum ich so elefantöse Schritte machte. Ein paar Minuten später standen wir vor der Tür zu Dantes und Louis’ Hütte und ich klopfte vorsichtig. Polly bedeutete mir, stärker zu klopfen, indem sie mit der Faust kräftig in die Luft hämmerte. Aber es war nicht nötig, denn die Tür öffnete sich und Louis stand vor mir, verschlafen, mit wirren Haaren und nur einer langen Hose bekleidet, aber komplett lebendig.

Erleichtert fiel ich ihm um den Hals, fühlte die Wärme seiner Haut und seinen Herzschlag. Polly wandte sich demonstrativ ab, verschränkte die Arme und observierte die umliegenden Hütten.

„Was ist denn los?“, flüsterte er überrumpelt und schlag seine Arme um mich.

„Nichts.“ Ich atmete tief durch, brachte es aber nicht über mich, ihn loszulassen. „Alles ist gut.“

Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme, als er leise sagte: „Okay.“

„Sie hat schlecht geträumt“, erklärte Polly und obwohl sie leicht genervt klang, war es das erste Mal, dass sie freiwillig und ohne Groll Worte an ihn richtete. Dennoch wollte ich ihre Geduld nicht überstrapazieren.

„Ich muss jetzt wieder gehen“, teilte ich Louis mit und löste mich aus der Umarmung.

„Schade.“

Ich registrierte neben offensichtlichem Bedauern auch Anzüglichkeit in seiner Stimme, folgte seinem Blick und sah an mir herunter. Offenbar hatte ich in der Eile eine ziemlich wilde und für Louis’ Empfinden auch reizvolle Kleiderwahl getroffen: Stiefel, meine kurze Sommerhose, darüber mein Nachthemd und meine dicke Fellweste. Noch ein Imkerhut, Fäustlinge und eine Botanisiertrommel und mein Freak-Outfit wäre perfekt gewesen.

„Pfff“, machte Polly entrüstet und zog nachdrücklich an meinem Arm. „Ell, wir gehen jetzt wirklich.“

Noch während wir uns zurück in die Kardia stahlen, murmelte sie empört vor sich hin. Aber ich hörte ihr gar nicht zu. Louis ging es gut. Alles war nur ein Traum gewesen.

 

Doch auch in den Nächten danach quälten mich Albträume, wirre Bilder von Heng und Lenno, verstörende Gefühle von Versagen, Verrat und Verlust traten an die Oberfläche, der Wald, plötzlich beängstigend, vermischte sich mit der Gegend um die alte Mühle, und immer war ich auf der Suche, aber wusste nicht, wonach, fand es nie, kam nie ans Ziel, egal wie verzweifelt ich suchte und wie lange ich lief. Mehr als einmal schreckte ich schweißgebadet und mit rasendem Herzen hoch und oft dauerte es Stunden, bis ich wieder Schlaf fand.

Und so sehr ich den Wald liebte, ich fühlte mich nie mehr so sicher dort wie früher. Es war, als würde seit jenem Abend eine dunkle Bedrohung in den Schatten zwischen den Baumstämmen lauern. Meine Angst war irrational, das war mir bewusst, nur der Spiegel meiner Albträume, die mich langsam aber sicher paranoid machten, aber ich fand erst Ruhe, wenn Louis mich in seine Arme schloss. Was mich dabei am meisten schmerzte, war, dass die Panik meinen erleuchteten Zustand überschattet hatte – mein Gefühl, eins mit der Natur und der Welt zu sein. Es war aus der Balance geraten; ich konnte ihm nicht mehr trauen, sah Finsternis, wo keine war und vernahm Stimmen, die für alle anderen unhörbar waren.

Ich bemerkte, dass Polly sich um mich Sorgen machte – sie bekam es ja hautnah mit, wenn ich schreiend aus meinen schlimmen Träumen hochfuhr. Sie tat, was sie konnte, um mir zu helfen, aber ich konnte ihr nicht begreiflich machen, was mir so zusetzte, da ich ihr meinen Verrat verschwiegen hatte. Ein Gutes hatte es allerdings, denn sie wetterte nicht mehr ganz so schlimm gegen Louis. Anscheinend hatte sie registriert, dass ich an den Abenden, an denen ich ihn traf, weniger bedrückt war und in den Nächten ruhiger schlief.

Mit der Zeit wurden die Albträume seltener und wenn ich im Wald unterwegs war, fuhr ich nicht mehr so oft panisch herum in der Meinung, hinter mir ein Geräusch gehört zu haben. Als ich dann endlich von Clonie mein Schwert erhielt, das schönste und beste Schwert, das meiner, aber auch Clonies Meinung nach jemals in Themiskyra gefertigt worden war, kehrte langsam mein amazonisches Selbstvertrauen zurück.

„Ich weiß, du glaubst nicht daran, weil du nicht hier aufgewachsen bist, und auch Atalante hält nicht viel davon, aber ich habe es nach den alten Traditionen hergestellt“, gestand mir die Feuerfühlende, als sie es mir überreichte. Für den Job, den sie machte, war sie ziemlich zierlich und die hellblonden, kurzen Haare, die in alle Richtungen von ihrem Kopf abstanden, ließen sie jünger wirken, als sie sein musste. „In jedem Hammerschlag steckt eine Schutzformel. Es macht dich nicht unbesiegbar, aber Artemis sollte nun schon ein besonderes Auge auf dich haben.“

Bewundernd strich ich über die glänzende Klinge und besah mir den Knauf, den verschlungene Muster um eine Hirschkuh zierten, ähnlich dem Amulett, das ich stets um den Hals trug. Zuerst war mir das Schwert vergleichsweise klein vorgekommen, doch als ich es nun testweise herumwirbeln ließ, merkte ich, dass Gewicht und Länge perfekt für mich waren – eine perfekte, tödliche Verlängerung meines Arms, kein fremder, widerwilliger Gegenstand, wie ich es am Anfang meines Schwertkampftrainings empfunden hatte.

Ich umarmte Clonie voll Begeisterung. „Oh, ich halte sehr viel davon. Vielen Dank!“

Ein Schutzzauber, Humbug oder nicht, war jetzt genau das, an was ich mich gedanklich klammern konnte, wenn der Verfolgungswahn wieder zuschlug. Und tatsächlich, die bedrohlichen Schatten schmolzen. Aber sie verschwanden nie ganz.

 

Meine Mutter hielt Wort. Eine Woche, nachdem ich ihr meine strategische Abhandlung übergeben hatte, sprach sie in der Versammlung nach dem Abendessen ein zentrales Thema daraus an – die medizinische Versorgung der Arbeiterschaft.

Sie hatte es mit Angelegenheiten wie der gärtnerischen Gestaltung des Atriums in den Triga-Monaten ganz hinten auf die Tagesordnung gesetzt, damit dem Ganzen nicht zu viel Bedeutung beigemessen und der Vorschlag mehr oder weniger durchgewinkt wurde. Selbstverständlich erwähnte sie mit keiner Silbe meine Mitarbeit, aber ich sah im Augenwinkel, wie Pollys Kopf zu mir herumfuhr, als meine Mutter die Problematik darstellte.

„Das ist doch dein Werk!“, flüsterte meine Schwester mir hinter vorgehaltener Hand zu.

„Womöglich“, gab ich leise zurück und unterdrückte ein Lächeln.

Wie ich mir erhofft hatte, fand meine Empfehlung Zustimmung, zukünftig eine Arbeiterin in der Klinik fest anzustellen, die von den Ärztinnen eingewiesen wurde und sich dort um Krankheitsfälle und Arbeitsunfälle kümmern sollte – alles natürlich zugunsten höherer Produktivität und mehr Arbeitsleistung. Die soziale Verantwortung Themiskyras ihren Werktätigen gegenüber wurde nicht thematisiert, aber das war mir in diesem Augenblick egal. Ich wollte die Amazonen ja nicht zu besseren Menschen machen, mein Anliegen war nur das Wohlergehen der Arbeiter.

Jetzt, nach diesem ersten Erfolg, konnte ich auch Louis erzählen, was ich abgesehen von der Planung der Sonnenfeier und der erfolglosen Vaterrecherche in der Bibliothek gemacht hatte. Bisher hatte ich ihm Details meiner Arbeit bei Atalante verschwiegen, weil ich nicht wollte, dass er zu viel Hoffnung in meine Tätigkeit setzte.

„Du hast was gemacht?“, fragte er mich so ungläubig, dass ich das unbestimmte Gefühl bekam, mal wieder auf irgendeine Art und Weise sein Missfallen erregt zu haben. Ich hatte nicht bedacht, dass ihm diese Neuerung womöglich gegen den Strich gehen könnte, weil er sich dann noch abhängiger von den Amazonen fühlte …

„Meinen Einfluss bei Atalante und meine hervorragenden analytischen und kreativen Fähigkeiten genutzt, um die Welt ein bisschen besser zu machen?“, fragte ich, an mir selbst zweifelnd. „Ich weiß, dir bringt es nicht viel, aber denk an Dante. Wenn wir ihn bei seiner Lungenentzündung einfach ins Krankenhaus hätten bringen können, wäre er sehr viel schneller gesund geworden. Deianeira und Sevishta sind zwar weiterhin nur für die Amazonen zuständig, aber so bekommen die Arbeiter zumindest Zugang zu Medikamenten und der Behandlung mit medizinischen Gerätschaften und –“ Louis’ Kusssalve stoppte meine Ausführungen ziemlich abrupt. Und ziemlich angenehm.

 

Obwohl meine Zeit in der Verwaltung abgelaufen war und ich eigentlich bei der Töpferei und der Korbherstellung eingeteilt war, bat mich Tetra, noch bis nach Yazama zu bleiben und bei deren Planung mitzuhelfen. Und da ich mir im Leben nichts Gehirntötenderes vorstellen konnte, als Körbe zu flechten, stimmte ich dankbar zu. Allerdings war es komplexer, als ich gedacht hatte, ein solches Fest aufzuziehen, bei dem nichts schiefgehen durfte, und ich hatte das Gefühl, tagelang nur mit flatternden Listen von einem Ende Themiskyras zum anderen zu rennen.

Dennoch nahm ich mir an Yazama selbst vormittags Zeit und sah bei Padmini vorbei. Als ich in ihr Zimmer trat, begrüßte sie mich mit einem unbegeisterten: „Was willst du denn hier?“, aber ich sah zu meiner Erleichterung keine Tränenspuren in ihrem Gesicht.

„Nur fragen, ob du wieder Hilfe mit dem Kleid brauchst“, sagte ich vorsichtig und schloss die Tür hinter mir.

„Das schaff ich schon.“ Sie stand vor ihrem Schrank und warf nachlässig und ohne erkennbares System Kleidung in eine lederne Reisetasche, die neben ihr auf dem Boden stand.

„Oder mit den Haaren?“

„Nö.“

„Ist alles in Ordnung?“

„Klar.“

So hatte sie auch letztes Jahr versucht, mich abzuspeisen, aber damals war ganz und gar nichts in Ordnung gewesen. „Hm, ich meine … was ich eigentlich sagen wollte …“

„Ell, wenn du was wissen willst, frag einfach, anstatt so erbärmlich herumzueiern“, unterbrach mich Padmini ungeduldig und wandte sich mir ganz zu. „Aber ich weiß ohnehin, was du mit deinem Gestammel bezweckst – und kann dich beruhigen: Ich ziehe freiwillig los. Und dieses Jahr werde ich erfolgreich nach Themiskyra zurückkehren.“ Sie hob ihr Kinn und lächelte mich siegesgewiss an.

„Areto hat nichts damit zu tun?“, versicherte ich mich.

„Nein.“

„Gut“, sagte ich und lächelte zurück. „Und, ja, meine Lippen sind versiegelt. Kein Grund, mich plattzumachen.“

„Gut“, sagte auch meine Cousine und fuhr fort zu packen, ohne mich eines weiteren Blicks zu würdigen.

„Dann … viel Spaß!“

„Was weißt du schon, du Sumpfhuhn.“

Nichts, dachte ich, während ich die Tür zu Padminis Zimmer hinter mir schloss. Aber das kann sich in nächster Zeit ändern.

Ich atmete kurz durch und hetzte weiter.

Im Endeffekt ging auf der Sonnenfeier alles glatt, Tetra lobte mich, Atalante war zufrieden und sogar das Wetter spielte mit – allerdings erklärte mir Polly, dass das Wetter an Yazama grundsätzlich schön war. Das war schon immer so gewesen und würde auch bis in alle Ewigkeit so sein, quasi ein ungeschriebenes Gesetz und Artemis’ Dank für die Feierlichkeiten zu ihren Ehren.

Für mich war der Tag wegen der organisatorischen Herausforderungen allerdings wenig feierlich, da ich auch während des Festes noch genug zu tun hatte. Ich hatte gerade das spätere Entzünden der Fackeln delegiert und wollte mich endlich zu Polly, Victoria und Corazon absetzen, die schon zum Fluss spaziert waren, da spürte ich, wie sich mir eine schwere Hand auf die Schulter legte.

„Aella!“, ertönte eine Stimme hinter mir, die so süßlich klang, dass sie nur Übles verheißen konnte. Ergeben drehte ich mich um und unterdrückte ein Seufzen.

„Wir haben uns ja entsetzlich lang nicht mehr gesehen“, sagte Zawadi und ihr Lächeln spiegelte ihren Tonfall wider. „Seltsam eigentlich, nicht wahr?“ Dann verschwand auf einen Schlag alle Pseudofreundlichkeit aus ihrem Gesicht. „Du schuldest mir noch ein paar Säcke Ginster“, teilte sie mir finster mit.

Verdammt. Der Ginster. Den hatte ich überkochen lassen, nachdem Dante in der Färberei halb erstickt war. Dass ich Zawadi Ersatz dafür versprochen hatte, hatte ich in all dem verliebten Trubel ganz vergessen – oder eher verdrängt. Ginsterernte in großem Stil bedeutete tage-, wenn nicht wochenlange Abwesenheit von Themiskyra und, was noch viel schlimmer war, von Louis. Allein der Gedanke daran bereitete mir Bauchschmerzen.

„Ich hatte eigentlich erwartet, dass du das selbst in die Hand nimmst und ich dich nicht erst daran erinnern würde müssen“, rügte sie mich und sah mich dabei wie einen besonders hässlichen Webfehler in einem ihrer Dekorationsstoffe an. „Noch dazu, weil ich davon abgesehen habe, Atalante von deinem Versagen zu erzählen.“

„Stimmt. Entschuldige. Danke“, stotterte ich. „Ich werde mich darum kümmern. Wirklich.“

„Dann halt dich ran“, schnauzte sie mich an. „In zwei Monaten ist alles verblüht.“

„Okay. Mach ich“, erwiderte ich niedergeschlagen und schlich unter ihrem strafenden Blick von dannen.

Nach der Begegnung mit Zawadi konnte mir der Wald heute keine Angst machen. Es fiel es mir nicht schwer, eingebildete Schatten und Geräusche im Dickicht zu ignorieren, weil ich nur damit beschäftigt war, mir zu überlegen, wie ich die Ginsterernteaktion in Rekordzeit hinter mich bringen konnte. Dabei hatte ich mich damals noch darauf gefreut, für eine gewisse Zeit von Themiskyra wegzukommen. Aber das war gewesen, bevor der tollste Apfelpflücker auf Erden mir seine Liebe gestanden hatte.

Als ich bei meinen Schwestern am Fluss ankam, begrüßte mich Polly mit einem sorgenvollen „Hey little sister, what have you done?

Meine Miene schien Bände zu sprechen, auch die anderen blickten mir fragend entgegen. Frustriert ließ ich mich ins Gras fallen und starrte düster in das strudelnde Wasser zu meinen Füßen.

„Ich muss Ginster pflücken. In großem Stil.“ Missvergnügt erzählte ich ihnen von meiner Begegnung mit Zawadi, wobei nur Polly ansatzweise wirklich begriff, was ich daran so schlimm fand.

„Ich komme mit“, beschloss sie kurzerhand, als ich geendet hatte.

Überrascht sah ich auf. „Wirklich?“

„Natürlich. Atalante kann dich unmöglich alleine gehen lassen. Wer weiß, was da wieder passiert.“

Ich sah sie warnend an. Die anderen beiden wussten nicht, was bisher alles passiert war, und das sollte auch so bleiben.

„Alleine wäre es doch viel zu langweilig und gefährlich. Du brauchst mich!“, fuhr sie enthusiastisch fort.

„Ich weiß aber nicht mal, wo wir hinmüssen. Keine Ahnung, wo das Kraut wächst“, sagte ich vorsichtig, aber die Aussicht darauf, dass ich meine Expedition doch nicht alleine in Angriff würde nehmen müssen, hellte meine Stimmung beträchtlich auf.

„Werden wir schon finden.“ Polly winkte ungerührt ab. „Wir checken einfach mal die Karten und machen einen Schlachtplan.“

Langsam begann ich, mich für die Sache zu erwärmen. „Cool, das ist ja dann wie Urlaub.“

„Wir wollen auch mit!“, meldete sich Corazon zu Wort und Victoria nickte eifrig.

„Ihr seid wirklich die Besten“, sagte ich gerührt. Dass sie mein trauriges Ginsterschicksal mit mir teilen wollten, bewies mir mal wieder, wie viel unsere Freundschaft wert war.

„Urlaub“, sagte Corazon versonnen. „Ich habe davon gelesen.“

„Naja, ob es wirklich entspannend wird, weiß ich nicht“, relativierte ich, doch das tat ihrer Vorfreude keinen Abbruch.

Alles, was ihnen Kopfschmerzen bereitete, war die Frage: „Wo kriegen wir für den Trip möglichst unauffällig möglichst viel Met her?“

 

Unsere Vorfreude bekam einen Dämpfer, als Atalante uns einige Tage später verbot, uns zu viert auf die Reise zu begeben. Zwar hatten wir alles sehr geschickt formuliert, ihr den Ausflug als lehrreiche Exkursion zum Wohle Themiskyras verkauft – im strategischen Schönreden war ich inzwischen ziemlich gut – und gebettelt, was das Zeug hielt, aber meine Mutter blieb hart.

„Dass ihr euren Unterricht verpasst, könnte ich vielleicht noch hinnehmen, aber dass vier Amazonen gleichzeitig ausfallen, geht nicht.“ Damit bezog sie sich auf unseren Nachmittagsdienst. Wir hatten die Aktion im nächsten Monat anberaumt, zu dieser Zeit war ich für die Wäscherei und die Gebäudereinigung eingeplant, ein Arbeitsbereich, der relativ problemlos auf mich und ich wohlgemerkt auch auf ihn verzichten konnte. Polly war für den Stalldienst, Victoria in der Klinik und Corazon in der Schmiede eingeteilt – und meiner Meinung nach wäre die Arbeit auch dort ohne ihre Mithilfe reibungslos weitergelaufen. Ich hatte eher die Vermutung, dass meine Mutter nichts einreißen lassen wollte, weil sie befürchtete, dass dann auch andere Amazonen auf den Geschmack gekommen wären und Urlaub beantragt hätten. Ferien gab es eben nicht.

Wir murrten und schwangen hitzige Reden, als wir von der Besprechung mit der Unbeugsamen zurückkehrten, aber wir kannten sie gut genug, um zu wissen, dass wir sie nicht würden umstimmen können. Immerhin erlaubte sie, dass Polly mich begleitete, und wir hatten durchsetzen können, dass die anderen beiden Mädels uns an einem Wochenende besuchen durften.

Tags drauf breiteten Polly und ich Kartenmaterial auf dem großen Tisch in der Bibliothek aus, darunter Straßenkarten, die kurz vor dem Verfall gedruckt worden waren und Landkarten, die dem frühen Pleistozän zu entstammen schienen und die man kaum anzufassen wagte aus Angst, dass sie einem in der Hand zerbröselten. Von Dante hatte ich mir eine Liste geben lassen, wo ich mit größeren Vorkommen von Ginster zu rechnen hatte und wo er für die Färberei üblicherweise geerntet wurde.

Als ich etwas überfordert auf eine der riesigen Karten herabsah und versuchte, einen Zusammenhang zwischen der Realität und ihrer zweidimensionalen, angeblich naturgetreuen Abbildung herzustellen, fiel mir plötzlich auf: „Da ist ja Citey!“

Ich zeigte auf das große, graue Vieleck, in dem unzählige weiße, gelbe und rote Linien entsprangen, die sich verzweigten und über das ganze Land verteilten – Straßen, inzwischen mit Sicherheit zum Großteil überwuchert, aufgebrochen, gesprengt.

„Jep“, sagte Polly unbeeindruckt und warf einen Blick auf Dantes Liste. „Da gibt’s aber keinen Ginster.“

„Und wo sind wir genau?“

„Hier.“ Sie zeigte auf einen nicht gekennzeichneten Fleck inmitten eines großen, grünen Quadranten.

Ich weiß nicht, wieso ich davon so gefesselt war. Vielleicht, weil ich mich immer noch unbewusst wie in einer anderen Welt fühlte. Natürlich war spätestens mit dem Auftauchen der Marodeure offensichtlich geworden, dass ich immer noch Teil einer womöglich irreversibel zerstörten, verdorbenen Welt war, auch wenn in Themiskyra vergleichsweise Milch und Honig flossen. Aber auf einmal schwarz auf weiß eine Verbindung zwischen meinem alten und meinem neuen Leben zu sehen, stürzte mich zugleich in Verwirrung und Faszination.

„Wo war Themiskyra früher? Wo ist Dangkulo? Wo sind die Plantagen? Und wo sind die Sommerhäuser?“, fragte ich aufgeregt.

Polly zeigte mir geduldig nacheinander alle Orte.

„Dann bin ich ja …“ Ich fuhr mit dem Finger auf der Landkarte herum, „underground von hier … bis hierhin gelaufen.“ Das kam mir plötzlich ganz schön weit vor. Aber es war tatsächlich weit gewesen, ich hatte nur die lange, lichtlose Zeit im Tunnel verdrängt. Mein Gedächtnis hatte sie gnädigerweise auf einige dunkle Bilder zusammenschnurren lassen.

„Nicht ganz. Hier hat dich Tetra aufgesammelt“, berichtigte Polly und tippte auf einen grünen Fleck, ein paar Zentimeter von Themiskyra entfernt.

„Basowald“, entzifferte ich. „Stimmt. Da ist die alte Mühle.“

„Da ist auch Ginster!“, rief meine Schwester plötzlich.

„Wirklich?“ Ich warf einen Blick auf die Liste in ihrer Hand.

„Nicht direkt im Wald, aber hier“, zeigte sie. „Warte mal.“ Sie zog eine alte Wanderkarte mit einem größeren Maßstab hervor. „Hier müsste Ginster in großem Stil zu finden sein. Das ist zu Pferde etwa eine halbe Stunde von der alten Mühle entfernt.“

„Dann könnten wir in der Mühle unser Lager aufschlagen und sparen uns den ganzen Campingkrempel.“

„Campingkrempel“, wiederholte Polly nachdenklich. Mal wieder ein Wort, mit dem sie nichts anfangen konnte.

„Zeltzeug“, versuchte ich. „Biwakpack.“

„Okay. Ja, das ist eine gute Idee. Aber willst du wirklich dorthin zurück?“ Sie sah mich zweifelnd an.

„Nein. Ja.“ Das erste Bild, das ich mir von der Gegend gemacht hatte – sanfte Hügel im Abendlicht, weite Täler mit saftig grünen Wiesen, totale Idylle – wechselte sich mit dem zweiten Bild ab, das ich eingespeichert hatte – Dunkelheit, Panik und Lenno, der hinter mir her war – und spiegelte sich offenbar auch in meinem Gesicht wieder.

„Muss ja nicht sein“, sagte Polly schnell und deutete auf der Karte herum. „Wir können unseren Campingkrempel einfach hierhin schleppen. Oder dorthin. Da ist laut Dante ohnehin mehr zu holen.“

„Nein“, sagte ich mit fester Stimme. „Es ist traumhaft dort. Und ich lasse mir traumhafte Orte nicht verderben. Von niemandem. Nicht den Wald und auch nicht die alte Mühle.“ Und wenn ich irgendeine Chance hatte, mich von meinen Ängsten zu lösen, dann dort. Konfrontation mit dem Ort des Geschehens. Jawohl.

Meine Schwester war von meinem Therapieansatz anscheinend nicht überzeugt. „Du kannst es dir ja jederzeit anders überlegen.“

Aber meine Entscheidung war gefallen. „Ich bin trainiert, habe meine Power-Schwester dabei und mein Zauberschwert. Was soll schon passieren?“

„Was sagt denn Louis dazu, dass du für eine gewisse Zeit seinem Dunstkreis entschwindest?“

Damit berührte sie einen, den wunden Punkt. Dennoch nahm ich mit Wohlwollen wahr, dass sie nicht boshaft klang, als sie mir die Frage stellte. Eher betont neutral mit einem Hauch Neugierde.

„Ist zuversichtlich, dass ich zurückkehre“, antwortete ich knapp. In der Tat hatte er wesentlich weniger dramatisch reagiert, als ich befürchtet hatte und als ich es empfand.

„Ist doch nur für ein paar Tage“, hatte er gesagt.

„Zu lang“, hatte ich mich beschwert.

„Es wird schnell vergehen.“ Ich wusste zwar, dass er mir nur Mut zusprechen wollte, aber das klang mir jetzt fast zu gleichgültig.

„Dir vielleicht“, sagte ich anklagend.

„Ganz im Gegenteil. Hier werden sich die Stunden in die Länge ziehen, aber du wirst viel Neues sehen und die Zeit wird verfliegen.

„Neuen Ginster“, schnaubte ich. „Spannend.“

Anscheinend merkte Louis, dass man mir mit rationalen Argumenten im Moment nicht zu kommen brauchte und so schloss er mich einfach in die Arme und …

„He!“, rief Polly und riss mich aus meinen Gedanken. „Hörst du mir überhaupt zu?“

„Äh, Karte kopieren, Proviant und Ausrüstung planen, Atalante in Kenntnis setzen“, gab ich die Stichworte wieder, die in der letzten Minute von weit weg an mein Ohr gedrungen waren.

Und mit solcherlei Aktivitäten vergingen die nächsten Wochen, nebenher lernte ich zu töpfern und Körbe zu flechten – eine Tätigkeit, die sich im Übrigen ganz hervorragend für verliebte Tagträumereien eignete, wie ich feststellte. Immer wieder mischten sich jedoch auch ungerufene Bilder aus meinen Albträumen und alternative Schreckensszenarien dazwischen, von denen ich mich nur mit Mühe lösen konnte. An der Oberfläche war ich unbeschreiblich glücklich zu dieser Zeit, aber tief in mir brodelten Angst und Zweifel, ob ich mich im Wald wirklich richtig entschieden hatte, die Vatwaka laufen zu lassen.

 

Im Morgengrauen eines strahlend schönen Hochsommertags brachen Polly und ich mit Sack und Pack auf. Von unserer Mutter und den Mädels hatten wir uns schon am Abend zuvor verabschiedet; der Vorteil einer Amazonenmutter ist wohl, dass sie einen nicht mit unzähligen Ermahnungen und guten Ratschlägen aufhält, bevor sie einen ziehen lässt.

Der Abschied von Louis war mir, wie zu erwarten, wesentlich schwerer gefallen und im Gegensatz zu meiner Mutter hatte er nicht davon abgesehen, mir immer wieder Verhaltensmaßregeln einzuschärfen und Tipps zu geben, was ich geduldig über mich ergehen ließ, auch wenn ich gefühlte tausend Mal „ich weiß!“ sagen musste.

Am Morgen erwartete er mich im Stall, half mir, Hekate zu satteln und das Gepäck zu verstauen. Nun war er es, dem es unglaublich schwer fiel, mich gehen zu lassen.

„Ich muss jetzt los“, wiederholte ich schließlich die Worte, die mir mein Verstand schon seit geraumer Zeit soufflierte.

„Ich weiß.“

„Ich werde mich beeilen und versuchen, ganz schnell wieder zurückzukommen.“

„Okay.“

„Dann gehe ich jetzt.“

„In Ordnung.“

„Jetzt.“

„Gut.“

Pause.

„Louis?“

„Ja?“

„Du müsstest mich loslassen, sonst komme ich nicht weg.“

Pause.

„Geht nicht.“

„Was machen wir da jetzt?“

„Weiß nicht.“

„Würde ein Abschiedskuss helfen?“

„Bestimmt.“

So und so ähnlich ging es noch eine ganze Weile, bis wir uns von einander loseisen konnten. Polly tappte inzwischen so ausgiebig mit ihrem Fuß auf dem Boden herum, dass ich befürchtete, sie würde mit ihrem ungeduldigen Gestampfe alle wecken.

Keine Menschenseele begegnete uns unterwegs, und obgleich ich mich in den Wäldern, die wir durchritten, zu oft und ganz genau umsah – ein Bestandteil meiner Paranoia, den ich noch nicht hatte ablegen können – konnte ich kein Anzeichen von menschlicher Präsenz geschweige denn von Vatwaka feststellen.

Wir brauchten viel länger als bei meinem ersten Ritt mit Tetra in die entgegengesetzte Richtung, dennoch kam mir der Weg viel kürzer vor. Immer wieder hatte ich unterwegs versucht, mich an die Strecke zu erinnern, aber die Situation jetzt hatte so wenig mit der damals gemein, dass es mir nicht gelang. Als die Pfeilsichere mich gerettet und mitgenommen hatte, hatte kühle Dunkelheit weite Teile der Landschaft verschluckt, jetzt brannte die Sonne auf uns herab und wo keine Wälder unseren Pfad säumten, sah man kilometerweit. Aber auch die jetzige Ell war eine völlig andere als die, die sich vor über einem Jahr krampfhaft an Pferd, Tetra und Sattelknauf festgeklammert hatte, ängstlich, traumatisiert und überfordert.

Meine liebe, stolze Schwester auf dem Weg vor mir, mein Schwert an meiner Seite und mein Herz voller Hoffnung und Liebe. Die Welt gehörte mir und meine Seele sang.

Dani Aquitaine - Themiskyra 02 – Das Versprechen
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