Wähl dein Karma wohlbedacht

 

Tränenüberströmt taumelte Nasri durch das Lichttor in die Halle der Wächter. Blue war erst vor wenigen Minuten angekommen, um sich mit ein paar anderen Wächtern über die neuen Tore zu beraten und darüber, was sie in den Wohnungen gefunden hatten. Als Nasri an ihnen vorbeistürmte, das alabasterweiße Haar zerzaust um die Schultern, ihr grauer Umhang verschmutzt, ließ er die anderen stehen und folgte ihr. Die Dolmen-wächterin hockte in einer Krypta und zitterte am ganzen Leib. Ihr Blick war leer, ihre Lippen bebten.

„Nasri? Was ist passiert?“ Er kniete sich neben sie und berührte ihren Arm. Sie schien ihn nicht wahrzunehmen.

„Ich hab das nicht gewollt … doch nicht gewollt … nicht gedacht …“, stammelte sie und umschlang ihre Knie.

„Was, Nasri? Was hast du nicht gewollt?“

Als sie immer noch nicht reagierte, fasste er sie an den Schultern und schüttelte sie sanft. Endlich hob sie den Blick, starrte ihn voller Angst an und wurde von einem weiteren Weinkrampf geschüttelt. Sie klammerte sich an ihn, schluchzte und beteuerte immer wieder, dass es nie ihre Absicht gewesen wäre. Dass sie es nicht gewusst hatte. Blue wurde aus ihren Worten nicht schlau, begriff aber, dass er nicht mehr aus ihr herausbekam, solange sie in dieser Verfassung war.

Shit! Ihm lief die Zeit davon. Der Computer-Boy würde bestimmt bald aufwachen. Und die Nacht brach bereits herein. Er wollte zu Mel, sobald sie erwachte, um keine Zeit zu verlieren. Aber er konnte Nasri in diesem Zustand nicht allein lassen. Ob er einen anderen Dolmenwächter bitten konnte, auf sie aufzupassen? Sein Instinkt riet ihm ab. Da war was im Busch. Er konnte es spüren. Was auch immer Nasri so aufwühlte, es war nichts, was er ignorieren durfte.

Während er sie im Arm hielt, fühlte er sich wie auf heißen Kohlen. Und die Nähe ihres weiblichen Körpers erinnerte ihn an Mel. Verdammt, diese Gefühle konnte er jetzt nicht brauchen. Ihm riss der Geduldsfaden.

Möglich, dass er etwas grob war, aber im Angesicht des möglichen Weltuntergangs konnte man das wohl rechtfertigen. Jemand hätte diese verdammten Mayas kaltmachen sollen, ehe sie mit ihrem blöden Kalender überhaupt angefangen hatten. Wieso musste ein Lycanerkrieg ausgerechnet 2012 ausbrechen?

„Nasri, jetzt reiß dich mal zusammen und hör mit dem Gestammel auf. Wir haben echt andere Sorgen. Was ist los, dass du dir die Augen aus dem Kopf heulst und wie ein Drogenjunkie Löcher in die Luft starrst?“

Die Panik, von der sie geschüttelt wurde, konzentrierte sich jetzt zumindest – und zwar auf ihn. Aber das war zu vernachlässigen. Was sie sagte, dagegen keineswegs.

„Die Sternenwölfe sind frei.“

In Zeitlupe glitten seine Hände von ihren Schultern, als wögen sie Tonnen. Blue fühlte sich wie in einem Zeit-Raum- Kontinuum. Nein, wie in einem schwarzen Loch. Zur Hölle, er fühlte nichts. Da hätte Panik sein müssen, aber Fassungslosigkeit hielt dagegen. Er wollte Nasri schütteln, ihr verbieten, solch einen Quatsch zu erzählen, wenn er nicht ganz sicher gewesen wäre, dass es keiner war. Seine Haut war eiskalt und brannte gleichzeitig, in seinem Kopf spielten unzählige Grauensvisionen Fangen. Die Sternenwölfe – das konnte nicht sein. Und doch passte es so haargenau ins Gesamtbild, dass er Nasri glauben musste.

Als er sie wieder packte, stöhnte sie unter seinem Griff auf, aber darauf nahm er keine Rücksicht. „Bist du wahnsinnig? Was redest du da? Was soll das heißen, die Wölfe sind frei?“

Sie schüttelte abermals nur den Kopf, kämpfte mit Tränen und biss sich auf die Lippen. Ihre hellen Augen sahen aus, als wären sie aus Milchglas. „Ich hab sie hingebracht“, krächzte sie.

„Nasri, wir sind für die Wölfe verantwortlich. Wir wachen über sie. Nur unsere Tore führen zu ihnen und das aus gutem Grund. Wenn sie auf die Welt losgelassen werden …“

Nasri konnte ihm nicht länger in die Augen sehen und wandte den Kopf ab.

Blue ließ sie los und trat ein paar Schritte zurück. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte zu realisieren, was das bedeutete. Schließlich stemmte er eine Hand in die Hüfte und hielt die andere erhoben, nicht sicher, ob er weiteres Unheil symbolisch abwenden oder Nasri den Hals umdrehen wollte. „Dir ist klar, dass es da draußen keinen Tag dauert, bis die beiden buchstäblich über sich hinauswachsen?“

Ruckartig hob sie den Kopf. Ihr Blick gefiel ihm nicht. „Sie … sie haben schon …“

Er schüttelte den Kopf, obwohl ihm klar war, dass das nichts ändern konnte. Nasri duckte sich, als erwartete sie, dass er sie tatsächlich schlug, doch Blue gab nur ein verächtliches Schnauben von sich. So tief sank er nicht. „Wen hast du hingebracht, und was ist passiert?“ Den drohenden Blick hatte er immer schon gut draufgehabt, die Warnung, dass er nicht zögern würde, in ihrer Seele Tore zu erzeugen, wenn sie nicht sofort redete, tat ein Übriges. Nasri erzählte ihm alles. Von ihrer ersten Begegnung mit Domeniko, wie er sie überredet hatte, ihm zu helfen, den erzeugten Toren bei den Hackern, damit er sie entführen und zwingen konnte, für ihn zu arbeiten. Dem Eindringen in die Midgard-Höhle, der Befreiung der Totenwölfe und schließlich der Sternenwölfe. In Hels Reich war sie mit Domeniko allein gegangen und beide nur knapp entkommen. Die Sternenwölfe überließ er seinem Handlanger und schickte einen Trupp Lycaner mit, um auf Nummer sicher zu gehen.

„Ich wollte nicht gehen. Bitte glaub mir. Bei den Sternenwölfen wollte ich mich weigern, aber ich konnte nicht. Ich steckte schon viel zu tief drin. Und weil ich dachte, dass sie den Kerl sowieso zerfetzen würden, ehe er die Schlösser öffnet, habe ich es riskiert. Ich konnte nicht ahnen …“

„Sei still!“, fuhr er sie an. Nicht ahnen können! Dass er nicht lachte. Diese zwei Bestien waren hochintelligent. Dazu ausersehen, den Weltuntergang einzuläuten. Und sie hatte ihnen nicht nur einen Befreier gebracht, sondern auch noch das erste Futter. Um wie viel mochten sie bereits gewachsen sein? Wo tauchten sie in der Welt der Menschen auf? Und wann?

Er stöhnte auf. Hels Totenwölfe waren draußen unterwegs. Aber die mochten zwar groß sein, doch Licht und Lärm schreckte sie eher ab. Sie würden sich nicht gleich in die Citys stürzen. Die Sternenwölfe hingegen machten vor nichts Halt. Wenn sie erst mal Menschengeruch in der Nase hatten … Er wollte nicht darüber nachdenken. Und dann gab es immer noch den Hacker. Er musste sich um ihn kümmern. Ihn zu Mel bringen. Jetzt mehr denn je. Shit! Wie sollte er ihr das mit den Wölfen erklären? Was es bedeutete, dass sie los waren? „Warum, Nasri? Wir verdanken Mel und ihren Freunden so viel. Wie konntest du sie verraten?“

Die Wächterin wich seinem Blick aus und ihre Stimme zitterte, als sie antwortete. „Weil ich an das geglaubt habe, was Domeniko mir versprach. Ich hatte keine Ahnung, was er wirklich plante. Mir sagte er nur, dass er die Menschen mit ihren eigenen Mitteln schlagen und in ein altes Zeitalter zurückführen will.“ Sie hob den Kopf, in ihren Augen stand Verzweiflung über die Erkenntnis ihrer eigenen Taten, aber keine Tränen mehr. „Ich wollte deine Vampirfreundin nicht verraten. Ich dachte doch, ich tue das Richtige. Auch für ihresgleichen. Wenn die Menschen erst von ihrem Blendwerk befreit wären, hätten sie keine andere Wahl mehr, als zu den alten Pfaden zurückzukehren. Zur Magie. Das Gleichgewicht wäre wieder vorhanden. Dann wären die Tore auch wieder Teil ihres Lebens geworden und unser Fortbestand gesichert. Das, wozu wir einst erschaffen wurden. Ich will leben, Blue. Ist das so verwerflich?“

Er schüttelte stumm den Kopf. Sprachlos ob des Gesagten. Er verstand Nasri – das, was sie fühlte. Aber nicht ihre Naivität. „Ich muss jetzt gehen. Du bleibst hier. Wir haben später noch zu reden. Mögen die Götter geben, dass deine Taten nicht unser aller Verderben werden.“

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Die Vampirdichte in London war vermutlich nie zuvor so hoch gewesen. Meinem Ruf waren fast alle gefolgt und täglich strömten mehr Bluttrinker in die britische Hauptstadt, sodass es langsam schwierig wurde, sie überall unterzubringen. Viele besaßen zwar hier oder in der näheren Umgebung Immobilien, doch manche waren auch auf Gastfreundschaften angewiesen. Armand und ich hatten Lemain und Sophie bei uns aufgenommen. Außerdem stellten wir unsere Zweitwohnung, in die wir uns zurückgezogen hatten, als die Lux Sangui hinter mir her waren, Steven und Thomas zur Verfügung, sobald sie in London ankamen. Sie waren angesichts der neuen Entwicklungen schon auf dem Weg hierher. Dank den Verbindungen der beiden und Luciens Unterstützung verfügten wir so auch in Kürze über einen entsprechenden Vorrat an Blutkonserven. Es wäre undenkbar gewesen, den Bedarf an den Bürgern der Stadt zu decken. Einfach zu auffällig.

Einige adlige Vampire besaßen ebenfalls Reserven, die sie bereit waren zu teilen. Bei Besuchen und Unterredungen auf deren Landsitzen ereilte mich zuweilen das Gefühl, in die Vergangenheit gereist zu sein, und nicht in den Vorbereitungen eines Krieges, sondern eines Festbanketts der feinen Gesellschaft zu stecken.

Unsere Freunde aus dem einstigen Paranormalen Untergrund blieben auch nicht untätig. Viele schlossen sich uns an und gewannen weitere für unsere Sache. Wir würden Domeniko ebenbürtig entgegentreten können.

Das war umso wichtiger, als wir von Pettra, die mit Slade, Ben und einer jungen Frau ankam, erfuhren, dass Steven und Thomas ihr kurz vor ihrer Abreise nach Washington bereits von einer verletzten Lupin erzählt hatten, die nun verschwunden war. Weitere Nachforschungen zeigten, dass auch andere Leitwölfinnen wie von der Bildfläche verschluckt schienen. Domeniko musste wohl die gesamten Rudel der Lupins an sich gebunden haben, indem er sich deren Leitwölfinnen unterwarf. Ich wollte nicht daran denken, auf welche Weise. Kein Wunder, dass Steven darauf bestanden hatte, umgehend nach London zu kommen.

Eloin und Anelu standen in Corelus Haus unter ständiger Bewachung. Tagsüber patrouillierten Lycaner auf dem Grundstück, nachts wurde es von Vampiren beschattet. Saphyro und Kortigu wechselten sich mit ihren Familien ab. Das beruhigte mich. Den beiden vertraute ich.

Etliche Gestaltwandler, Bajangs und Gefs, die vor sieben Jahren mit Kaliste sympathisiert hatten, befanden sich nun unter Domenikos Leuten, wie Alwynn und Rugo herausgefunden hatten. Das machte uns wachsam. Spione konnten überall sein, sogar in Gestalt von Freunden. Alwynn machte ein betrübtes Gesicht, als er sich mit uns auf Gorlem Manor traf. Ich konnte ihn verstehen, denn er hatte große Hoffnung auf den Rat der Gestaltwandler gesetzt. Doch nun war er auseinandergerissen und seine Mitglieder standen wieder auf zwei unterschiedlichen Seiten.

„Ich hatte immer damit gerechnet, dass sich die paranormalen Spezies irgendwann in zwei Lager spalten würden. Für und gegen die Menschen. Aber es war immer meine Hoffnung, dass es nicht so ausarten würde.“ Er seufzte. „Das hier übertrifft meine schlimmsten Befürchtungen.“

Ich legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Dabei fiel mein Blick auf Ben und die fremde Frau. Er hatte bisher nur gesagt, dass sie Sally hieß und er sie aus dem Weißen Haus gerettet hatte, kurz bevor dieses in die Luft flog. Die Nachrichten waren voll mit diesen Meldungen. Es wurde Zeit, mehr über die Geschehnisse dort zu erfahren, und dass Sally immer noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war vielleicht gar nicht so schlecht.

Wie würde sie auf all das hier reagieren? Jemand, der noch nie in seinem Leben wissentlich Kontakt zu übernatürlichen Wesen gehabt hatte. Und an keinem Ort auf der Welt dürfte es schwerer sein, deren Existenz vor ihr zu verbergen als hier. Es wimmelte nur so von ungewöhnlichen Kreaturen. Wenn sie erwachte, würde sie denken, in einem X-Men-Film gelandet zu sein. Aber darüber konnten wir uns Gedanken machen, wenn es so weit war. Ein paar Tage war es sicher möglich, sie an ungewöhnlichen Begegnungen der Dritten Art vorbeimanövrieren. Ich lächelte Ben an und setzte mich zu ihm.

„Ist de facto mal wieder ganz schön was los bei dir“, meinte er und rang sich ein Grinsen ab, das aber die Sorge nicht aus seinem Blick vertreiben konnte.

„Ja, scheint so, als zöge ich das magisch an.“

Er strich Sally übers Haar und wiegte sie auf seinem Schoß.

„Was kannst du mir über das sagen, was im Weißen Haus passiert ist?“

Er sah zu Pettra und Slade hinüber.

„Die beiden haben mir nur gesagt, dass ihr die Sicherheitssysteme aufrüsten wolltet und euer Programm missbraucht wurde. Außerdem sagt Slade, dass die Sprengladungen von Gefs angebracht worden sind.“

Ben nickte. „Viel mehr kann ich dir auch nicht sagen.“

„Und sie?“ Ich deutete auf die schlafende Schöne, vermied es allerdings, sie zu berühren.

Er seufzte und strich ihr abermals über den Kopf. „Ich musste sie retten. Ich konnte sie unmöglich dort lassen, nachdem wir wussten, dass alle sterben würden.“

„Du liebst sie.“

„Wir sind uns in den letzten Wochen nähergekommen. Ich wusste, dass niemand auf mich hören würde, wenn ich versuche, zu erklären, was vor sich geht. Es ging mir nur um sie.“

Ich hoffte für ihn, dass sie seine Gefühle im selben Maß erwiderte. Und dass sie einigermaßen damit klarkam, welche Geschöpfe sie jetzt umgaben. Ob sie Familie hatte? Wir konnten nicht riskieren, irgendwen zu benachrichtigen. Die Situation war zu brenzlig.

„Slade hält es für möglich, dass Domeniko hinter der Sprengung und dem Trojaner steckt. Es passt auch zu der Sache mit den Lupins, von der Steven erzählt hat. Was denkst du?“

Als er nur die Stirn runzelte und die Augen schloss, merkte ich, dass er dafür im Augenblick keinen Kopf hatte. Er war voller Sorge um Sally, auch wenn er Pettra ihren deftigen Kinnhaken nicht vorwarf. Vermutlich fürchtete er sich auch mehr vor ihrer Reaktion, wenn sie unter Vampiren und Gestaltwandlern erwachte.

„Mel!“

Steven kam sofort auf mich zu, als er den Raum betrat, und schloss mich in die Arme. Es tat so gut, von ihm festgehalten zu werden. Der Erste, der mir ohne Furcht, aber auch ohne Erwartung entgegentrat, nachdem ich Kaliste besiegt hatte. Für ihn, das spürte ich, war ich immer noch dieselbe. Erst seine Nähe machte mir die Spannung bewusst, die zwischen mir und den anderen herrschte. Ich gönnte mir einen Augenblick der Schwäche und verweilte länger als nötig in seinen Armen. Steven spürte genau, was in mir vorging und hielt mich fest. Er verstand auch ohne Worte, wie hoch der Druck war, der auf mir lastete, obwohl er nur die Hälfte von dem wusste, was mir Sorge bereitete.

Auch Armand und er begrüßten sich mit einer brüderlichen Umarmung, während ich Thomas einen Kuss auf die Wange gab. Es freute mich für Steven, dass ihre Beziehung hielt.

„Also dann“, meinte Steven, ganz Mann der Tat, „bring uns mal auf den neuesten Stand. Dass Ärger in der Luft liegt, kann man riechen.“

Mit einem vielsagenden Blick gab er mir zu verstehen, dass ihm die Vampirpopulation in unserer Umgebung nicht verborgen geblieben war und er sich denken konnte, dass es dafür einen Grund gab.

„Wir wissen bisher nur, dass Domeniko Fürst der Lycaner werden und Eloin stürzen will. Er hat Corelus während der Zeremonie erstochen. Darüber hinaus haben Gefs das Weiße Haus in die Luft gesprengt, nachdem irgendjemand das neue Sicherheitssystem, das Ben, Slade und Pettra dort installiert haben, benutzt hat, um die Kontrolle über die Waffensysteme der USA zu übernehmen. Es sieht so aus, als wäre die Midgardschlange befreit worden und der ehemalige PU hat sich in zwei Lager gespalten, wovon eine Seite mit Domeniko paktiert. Alles in allem scheint es, als würden bei ihm die Fäden zusammenlaufen. Was wir noch nicht klären konnten, sind hohe Aktivitäten von Dolmentoren. Es werden ständig neue erzeugt, die an Orte in der Unterwelt und zu menschlichen Wohnungen führen. Blue kümmert sich gerade darum herauszufinden, wer dort gewohnt hat.“

Steven hob eine Braue und sah zwischen mir und Armand hin und her. Ich biss mir auf die Zunge, aber mein Geliebter beantwortete die unausgesprochene Frage.

„Es ist ausgeschlossen, dass Blue die Tore erzeugt. Er kam von sich aus zu Ash und hat ihm davon erzählt.“

Dass weder Armand noch Ash viel von Blue hielten, wusste Steven. Auch wenn es bei Armand mal anders gewesen war.

„Ihr traut ihm? Dann sag ich nichts dazu. Ihr kennt ihn besser.“ Er bemerkte Sally. „Was ist mit ihr?“

„Sie war im Weißen Haus“, erklärte ich. „Ben hat sie rausgeholt, bevor die Sprengsätze gezündet wurden.“

Thomas kniete sich schon vor das Sofa und kontrollierte Sallys Vitalfunktionen. „War das wirklich nötig?“, fragte er Ben, als er die blaue Verfärbung am Kiefer betastete, die bis zur Schläfe reichte.

Pettra räusperte sich. „Das … war ich.“ Sie machte eine hilflose Geste und rieb sich nervös die Hände an ihrer Jeans. „Manchmal unterschätze ich mich wohl. Aber für Worte hatten wir keine Zeit.“

Steven konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und bat Franklin um einen Erste-Hilfe-Koffer. Thomas hob Sally auf die Arme und trug sie nach oben in eines der Zimmer. Ben folgte ihm auf dem Fuß.

Ich atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Daran hätten wir gleich denken sollen. Sie brauchte Ruhe. Aber wir waren alle ziemlich durch den Wind.

Ash kam herein und hatte Raphael und Tizian bei sich. Letzterer sah mitgenommen aus. Besorgt wollte ich nach ihm sehen, aber er winkte mit müdem Lächeln ab.

„Er wurde in der Rankenhöhle verletzt, aber es geht ihm schon wieder gut“, erklärte Raphael. „Wir haben ein ganz anderes Problem.“

Ich harrte zwar weiterer Neuigkeiten, um das Puzzle langsam zusammenzusetzen, damit wir anfangen konnten, unsere Gegenstrategie zurechtzulegen, doch mein Gefühl sagte, dass mir nicht gefallen würde, was Rafe zu sagen hatte.

„Nicht nur die Midgard ist frei, Loki hat uns wissen lassen, dass auch Fenris’ Ketten zerschlagen wurden. Und zu allem Überfluss ist er nicht bereit, uns zu helfen. Die Menschenwelt kümmert ihn nicht.“

Ich stöhnte auf. Das war absolut nicht gut. Ich kannte Fenris nur aus Sagen, aber wenn ich die Berichte von der Midgard hörte – oder der prähistorischen Seeschlange, wie die Medien es nannten – die eine Flotte aus Forschungs- und Marineschiffen im Pazifik verschlungen hatte, bekam ich eine unbestimmte Ahnung, dass der Wolf wohl ebenfalls ein größeres Exemplar war als die Tiere, die durch unsere Wälder streiften.

Hoffnungsvoll drehte ich den Kopf zur Tür, als ich den vertrauten Klang von Blues Schritten hörte. Im Moment hielt ich viel von ihm und seiner Hilfe. Da, wo unsere Möglichkeiten beschränkt waren, kam er spielend weiter. Und er stand auf unserer Seite. Daran zweifelte ich nicht.

Blue war in Begleitung von ein paar anderen Dolmenwächtern, die in ihren traditionellen Gewändern wie Geister wirkten. Unwirklich und mit der Umgebung verschmelzend. Er hob sich drastisch von ihnen ab. Wer ihn nicht kannte, hätte ihn nie mit ihnen in Verbindung gebracht. Zerschlissene Jeans, rotkariertes Holzfällerhemd und eine schwarze Fliegerjacke. Dazu derbe Stiefel. Seine schulterlangen dunklen Haare wirkten zerzaust und er war unrasiert. Ein verwegener Haudegen, dachte ich schmunzelnd. Ganz anders der schüchterne junge Mann in ihrer Gesellschaft mit bunten Haaren, die wild in alle Richtungen abstanden. Er heftete den Blick starr auf den Boden. Sein häufiges Schulterzucken zeigte, wie unwohl er sich fühlte. Er war schmächtig, sehr blass und roch streng. Wo hatte Blue den aufgegabelt? Und was konnte er mit der Sache zu tun haben?

„Das ist Dusty“, erklärte Blue. „Was er zu sagen hat, wird dich interessieren.“

Damit schob er ihn in meine Richtung und klopfte Dusty aufmunternd auf die Schulter, der gleich noch ein paar Zentimeter in sich zusammenschrumpfte. Kein Wunder bei der versammelten Gesellschaft. Die paranormale Essenz im Raum war so stark, dass selbst ein Atheist sie nicht hätte leugnen können. Was aber noch viel auffälliger war als Dustys Unbehagen, war Blues Anspannung. Ich runzelte die Stirn, blickte fragend zu Armand, der kaum merklich die Achseln zuckte. Entweder Dustys Informationen hatten es in sich oder Blue wartete noch mit weiteren unguten Neuigkeiten auf. Ich lächelte freundlich und hielt dem jungen Punk meine Hand hin.

„Hi, Dusty. Ich bin Mel. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, hier bist du unter Freunden.“ Osira hustete unterdrückt. Wörtlich wollte sie das nicht nehmen. Gut, dass der Junge sie nicht hören oder sehen konnte. Das wäre wohl zu viel für seine Nerven gewesen. Dusty nagte an seiner Unterlippe, knetete den Bund seiner schmutzigen Jacke, die in den letzten Tagen wohl oft durchnässt gewesen war. Gleiches galt für den Rest seiner Kleidung. Himmel, wo hatte er denn gehaust? Blue hätte ihm wenigstens saubere Klamotten geben können. Allerdings war es, wenn man sich die beiden ansah, mehr als fraglich, ob seine Sachen dem Jungen passen würden. „Möchtest du etwas essen? Etwas Warmes trinken?“

„Wofür hältst du mich? Er hat von meinem Tellerchen gegessen, aus meinem Becherchen getrunken und in meinem Bettchen geschlafen. Na ja, ich geb zu, Letzteres war die Couch. Aber die ist auch bequem.“

So viel Fürsorge hätte ich bei Blue nicht erwartet.

„Ich würde trotzdem gern Kaffee haben“, wagte Dusty zum ersten Mal etwas zu sagen.

Franklin ergriff den Hörer und bat Vicky, unsere Köchin, um ein kleines Gedeck. Kurz darauf kam die dralle Irin mit den roten Krauselocken herein und trug ein Tablett mit Kaffee und Ingwerkeksen vor sich her. Dusty hatte in dem Moment ihr Herz erobert, als er sich wie ein Kind am Weihnachtstag mit seligem Grinsen im Gesicht über die Plätzchen hermachte. Wir schmunzelten alle. Immerhin festigte es sein Vertrauen, dass ihm hier keiner an den Kragen wollte.

„Biff und ich haben nur Spaß gemacht“, erklärte er und schob kauend die Unterlippe vor.

„Biff?“, hakte ich nach.

„Ist der coolste Typ überhaupt. Keiner ist besser als er.“

Das war schön für Biff, mir ging nur nicht auf, wovon er überhaupt sprach. Blue machte es mir einfacher.

„Wir haben rausgefunden, was die alle gemein hatten. Die Kerle, die aus ihren Wohnungen verschwunden sind. Überall heruntergekommenes Mobiliar, aber top Computeranlagen. Hacker. Und zwar welche, die wussten, was sie taten.“

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Hacker? Und das nach dem, was Ben, Slade und Pettra uns erzählt hatten? Letztere ließ sich gerade auf einem Sessel nieder. Ihre Lippen zitterten und ihre Augen waren groß wie Teetassen.

„Was habt ihr gemacht?“, stellte sie Dusty die Frage, die auch mir auf der Zunge lag.

„Wir … wir wollten nix Böses. Ehrlich nicht. Biff sagt, man soll immer wissen, wo die Grenze ist. Nur zeigen, dass die das nicht machen können. Aber nie sich selbst die Taschen vollmachen. Haben wir nie gemacht.“

„Ich glaube dir. Aber wo habt ihr euch zuletzt eingehackt? Und was ist mit Biff?“

Der Junge wurde so bleich, dass ich mich fragte, ob ich gleich durch ihn hindurchsehen könnte. Seine Augen schimmerten verräterisch, während er mit rauer Stimme erzählte, dass sie sich bei einem Pharmakonzern eingeschleust hatten. Wochenlange Arbeit. Schwelle für Schwelle. Die Gesichter von Pettra und Slade zeigten mir, dass ich trotz meiner Unerfahrenheit richtig lag mit meiner Vermutung, dass dieses Vorgehen absolut professionell war für einen guten Hacker.

An dem Abend sollte jedenfalls die Stunde X sein. Der Zeitpunkt, an dem sie dem Konzern eine Lektion erteilten. Aber dazu kam es nicht mehr.

Der Lichtblitz, von dem Dusty sprach, stimmte mit den typisch-visuellen Begleiterscheinungen einer Dolmentoraktivierung überein. Darum war er in Panik geraten, als dieses Phänomen sich wiederholte, während er in der Wohnung nach Spuren von Biff suchen wollte.

„Er hat mir doch das Leben gerettet. Und ich hab ihn im Stich gelassen. Ich musste zurückkommen und schauen, ob er’s auch geschafft hat. Aber Biff ist weg. Die haben ihn mitgenommen. Vielleicht ist er schon tot.“

Bei dem Gedanken brachen bei Dusty die Dämme und er heulte wie ein kleines Kind.

„Weißt du, wer ihn mitgenommen hat?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein“, schluchzte er. „Aber das waren ganz komische Kerle. Die sahen aus wie … wie … Wölfe.“

Ich räusperte mich und stellte fest, Osira wäre tatsächlich zu viel für seine Nerven gewesen. Man brauchte kein kriminalistisches Gespür, um zu kombinieren, dass Domeniko Computerhacker hatte entführen lassen, um sich in wichtige Sicherheitssysteme zu hacken – wie zum Beispiel das Waffensystem im Weißen Haus. Ob dieser Biff derjenige war, der sich dort eingehackt hatte, war zwar fraglich, aber ich zweifelte nicht daran, dass irgendeiner der Entführten das getan hatte.

„Dad?“ Mein Vater verstand mich ohne weitere Worte.

„Dusty, ich könnte mir vorstellen, dass Sie vielleicht eine heiße Dusche und saubere Kleidung schätzen würden.“

Ich liebte ihn für dieses warme Lächeln, dem sich niemand verschließen konnte. Auch Dusty nicht. Mit breitem Grinsen folgte er meinem Vater, lud sich zuvor noch einige Ingwerkekse auf die Hand.

Ich atmete auf. Blue verstand noch nicht ganz, aber zumindest so viel, dass er seine Brüder ebenfalls fortschickte.

Nun waren wir unter uns. Armand, Blue, Pettra, Slade, Alwynn, Rafe, Tizian und ich.

„Was meint ihr?“, wandte ich mich an Pettra.

„Es ist ein Anhaltspunkt. Hacker gehen in den Grundzügen alle ähnlich vor.“

Sie tauschte einen Blick mit Armand. „Da gebe ich ihr recht. Es könnte sein, dass wir den Code knacken, wenn wir einen Einstieg bekommen.“

„Was kein Problem ist“, ergänzte Slade. „Da es eher unwahrscheinlich ist, dass die im Weißen Haus unseren separaten Zugang gefunden haben und Domeniko nicht weiß, dass wir ihm auf den Fersen sind, könnte unsere Hintertür noch offen sein. Damit kommen wir rein und können ein bisschen Fangen spielen.“

Er grinste mit boshafter Vorfreude.

Ein Hoffnungsschimmer, der an Strahlkraft verlor, als sich Blue verhalten räusperte. In mir reifte die ungute Ahnung, dass es nicht Dustys Offenbarung war, die für seine Anspannung verantwortlich zeichnete. Er hatte die Arme halb verschränkt und rieb sich mit der rechten Hand übers Kinn.

„Blue?“

Er holte tief Luft. „Ich weiß seit ein paar Stunden, wer die Tore zu den Hackern geöffnet hat.“

Das war grundsätzlich eine gute Nachricht. Warum nur wollte sich bei mir kein Gefühl von Erleichterung einstellen?

„Nasri, eine junge Wächterin, hat mir gestanden, was sie in den letzten Wochen für den Lycanthropen auf die Beine gestellt hat.“

Die Gänsehaut auf meinen Armen und die Härchen im Nacken, die sich elektrisiert aufstellten, sagten mir, dass das üble Ende noch kam.

„Die Midgard geht tatsächlich auf sein Konto.“

Wir wussten zwar noch immer nicht wie, aber das war uns klar gewesen. Vor allem, weil er den Fenriswolf laut dem, was Raphael bei Loki erfahren hatte, auch losgelassen hatte.

„Aber er hat auch die Totenwölfe von Hel und die Sternenwölfe befreit.“

Ich runzelte die Stirn. Was das bedeutete, war mir nicht klar. Rafe und Tizian hingegen hielten den Atem an. Kein gutes Zeichen. „Was sind das für Geschöpfe und was hat er mit ihnen vor?“

Blue bezweifelte, dass er konkret etwas mit ihnen vorhatte, weil man diese vier Wölfe schwer bis gar nicht kontrollieren konnte. Es ging wohl vielmehr darum, dass sie möglichst viel Schaden anrichten sollten. Als er sie beschrieb und einen kurzen Abriss über ihre Natur gab, wurde mir übel.

„Sie werden wachsen mit jedem Opfer, das sie verspeisen. Na ja, und an Futter mangelt es ihnen nicht.“

Auch Armand verzog das Gesicht. Es stimmte, dass wir die Menschen ebenfalls als Nahrungsquelle betrachteten, nur war das Ausmaß deutlich geringer. Mal ganz abgesehen davon, dass nicht jedes Opfer sterben musste – schon gar nicht, indem es entzweigerissen und verschlungen wurde.

„Könnt ihr die Tore nicht für sie verschließen?“, wandte ich mich hoffnungsvoll an Blue. „Das würde sie zumindest eine Weile einbremsen, oder?“

Blue lachte bitter auf und schüttelte den Kopf. Seine Miene machte mir Angst, noch ehe er die Worte aussprach. „Kleines, du verstehst es nicht. Die brauchen keine Tore.“

Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt
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